Die Jagd nach dem Stiefel - Max Zimmering - E-Book

Die Jagd nach dem Stiefel E-Book

Max Zimmering

0,0

Beschreibung

Der Klassiker der antifaschistischen Jugendliteratur – Jetzt wieder da! Eine spannende Detektivgeschichte ab 10 Jahren Max Zimmering erzählt eine Detektivgeschichte, die in Berlin in der Zeit unmittelbar vor dem Machtantritt der Nazis spielt. Paul, der sich nach der Schule als Zeitungsausträger ein Zubrot verdient, macht auf dem Hof einer Mietskaserne eine furchtbare Entdeckung: da liegt ein Toter, ein Nachbar, er kennt ihn, »Schliemann von der Antifa«. Während die Polizei wenig interessiert die Ermittlungen aufnimmt, verfolgen Paul und seine Freunde eine heiße Spur. Auf einer Zeitung haben sie den Abdruck einer Stiefelsohle gefunden. Den Kindern ist klar, dass er nur vom Mörder stammen kann. Eine spannende Jagd beginnt. – Die 1932 geschriebene Geschichte ist ein Klassiker der antifaschistischen Jugendbuchliteratur. Mit ihrer aktionsreichen Handlung, dem anschaulich gezeichneten Zeithintergrund, der auch einen Schulalltag zeigt, der gänzlich anders ist, als ihn Kinder heute erleben, vor allem aber mit den Figuren der klug, mutig und als eingeschworene Gemeinschaft handelnden Kinder schlägt die Geschichte junge Leser immer wieder in den Bann. Zimmerings Buch für Kinder ab 10 Jahren hat eine ganze eigene Geschichte. Der Autor erzählt sie in einem Rahmentext: Das 1932 fertiggestellte Manuskript durfte in Deutschland nicht mehr erscheinen, wurde aus dem Land geschmuggelt, ins Tschechische übersetzt und kam 1936 in Prag heraus. Das deutsche Manuskript ging auf den zahlreichen Stationen der Emigration verloren. Weil aber eine Rückübersetzung eher einer Annäherung an das Original entspricht, schrieb Zimmering die Geschichte Anfang der fünfziger Jahre noch einmal auf. Das Buch schließt mit dem zweiten Teil dieses Rahmentextes, in dem Zimmering erzählt, was aus den in der Geschichte auftretenden Figuren wurde … aus den Kindern, ihren Eltern und auch aus denen, die ihre Widersacher waren und Hitler treu dienten. Mit der Auskunft etwa über das Schicksal der jüdischen Schwestern Rosel und Fanny oder das der Arbeiterjungen Paul und Jack schließt sich der Bogen von der Kriminalgeschichte zu einem Zeitbild der Nazi-Diktatur, das sich den jungen Lesern so ergreifend wie erhellend erschließt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 138

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet,

dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Eulenspiegel Kinderbuchverlag – eine Marke der

Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

ISBN E-Book 978-3-359-50098-8

ISBN Print 978-3-359-03028-7

© 2022 Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, Karoline Grunske

unter Verwendung einer Illustration von Ernst Jazdzewski

www.eulenspiegel.com

Die Geschichte einer Geschichte

Die Geschichte, die ich euch hier erzähle, ist schon viele Jahrzehnte alt. Als ich sie im Jahr 1932 schrieb, war Hitler noch nicht an die Macht gekommen, Deutschland lebte im Frieden und unsere Städte waren noch nicht von Bomben zerstört. Not und Elend gab es allerdings zu jener Zeit mehr als genug, weil es im Kapitalismus immer solche Notzeiten mit Millionen Arbeitslosen gibt. Aber die Arbeiter hatten ihre Organisationen, mit denen sie für ihre Rechte kämpfen konnten – bis dann eben der Hitler an die Macht kam und aus ganz Deutsch­land ein Gefängnis und schließlich eine Kaserne machte. Ja, und dann überfiel er mit seinem mörderischen Krieg die friedlichen Nachbarvölker und brachte Not und Jammer über die ganze Welt.

Wären damals, im Jahre 1932, die Arbeiter einig ge­wesen und hätten die Sozialdemokraten und Kommu­nisten gemeinsam gegen Hitler gekämpft, dann hätte das große Unglück des Hitlerkrieges sicherlich verhin­dert werden können. Doch leider sind die Arbeiter nicht einig geworden, obgleich sich die Kommunistische Par­tei, an deren SpitzeErnst Thäl­mann stand, alle Mühe gab, um die Einheitsfront der Arbeiterklasse im Bündnis mit den werktätigen Bauern und allen anderen friedliebenden Menschen zustande zu bringen. Ja, oft waren nicht einmal die Arbeiter­kinder einig: Die einen waren im »Jungspartakusbund« – wie damals die Organisation der Jungen Pioniere hieß –, und andere wieder gehörten zu den »Roten Falken«. Und wenn einer ein Jungpionier war, wollte er meist von einem Roten Falken nichts wissen, und ein Roter Falke wollte von einem Jungpionier nichts wis­sen, und beide wollten von den Jungen und Mädeln nichts wissen, die zu keiner dieser Kindergruppen ge­hörten, denn sie handelten nach dem alten Sprichwort, das da sagt: »Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen«. In unserer Geschichte jedoch war es anders, und gerade deshalb muss ich sie euch unbedingt er­ zählen. Und langweilig ist sie auch nicht, das haben mir schon die tschechischen Kinder gesagt, denen ich sie vor Jahren erzählte, als bei uns die Nazis am Ruder waren und viele deutsche Antifaschisten bei den gastfreund­lichen Tschechen und Slowaken hatten Zuflucht suchen müssen.

Erst nach dem Ende des Krieges kamen auch die deutschen Kinder, für die ich das Buch geschrieben habe, dazu, die Geschichte von der Jagd nach dem Stie­fel zu lesen. Und ich hoffe, dass euch Jack und Paule, Falkenauge und die beiden Schwestern Rosel und Fanny gut gefallen. Jedenfalls könnt ihr, wenn ihr die Ge­schichte aufmerksam lest, allerhand von diesen Jungen und Mädeln lernen, denn feine Kerle waren sie alle, mögen sie auch manchmal Dummheiten gemacht haben.

Gute Kameraden waren sie, das lässt sich nicht bestrei­ten, und schlau waren sie auch: Vor allem aber wussten sie, dass Einigkeit stark macht.

Aber nun wird mancher von euch fragen, wieso es kam, dass ich die Geschichte erst den Kindern in der Tschechoslowakei erzählt habe und nicht den Kindern in Deutschland. Ich sagte euch schon, dass ich »Die Jagd nach dem Stiefel« im Jahre 1932 geschrieben habe. Das war kurz bevor Hitler von den Großkapitalisten an die Macht gebracht wurde, und ehe das Buch gedruckt wer­den konnte, waren alle Druckereien der Arbeiter von den Nazis geraubt worden und in Deutschland durfte kein Buch veröffentlicht werden, das vom Kampf gegen Faschismus und Krieg berichtete. Ich selbst musste 1933, wie viele Antifaschisten, die Heimat verlassen, um nicht in die Hände der Gestapoleute – die Gestapo, das war die geheime Staatspolizei der Nazis – zu fallen. Sie waren nämlich schon hinter mir her und hatten in meiner Wohnung bereits eine Haussuchung gemacht. Aber ich war glücklicherweise nicht zu Hause. Hätten mich die Hitlerknechte erwischt, wäre es mir sehr schlecht ergangen. Sicherlich wäre ich wie viele Kommunisten, Sozial­demokraten, Juden und andere friedliebende Menschen ins Gefängnis gebracht oder ins Konzentrationslager geschleppt worden. Wer weiß, ob ich dort je lebend wie­der herausgekommen wäre. So ging ich nach Frank­reich und später in die Tschechoslowakei.

Inzwischen hatte ein guter und tapferer Genosse das Manuskript von der »Jagd nach dem Stiefel« bei Nacht und Nebel über die tschechoslowakische Grenze geschmuggelt und die Tschechen, die den verfolgten deutschen Antifaschisten Gastfreundschaft gewährten, über­setzten mein Buch in ihre Sprache. So konnten die tsche­chischen Kinder diese Geschichte vom Leben und Kampf deutscher Arbeiterkinder lesen.

Aber damit ist die Geschichte dieser Geschichte noch lange nicht zu Ende, denn ehe »Die Jagd nach dem Stie­fel« in eure Hände gelangte, hat sie noch allerhand Aben­teuer erlebt. Das kam daher, dass Hitlers Machthunger und Gier nach fremden Ländern unersättlich waren. Im März des Jahres 1939 überfiel er die friedliche Tschecho­slowakei und die deutschen antifaschistischen Emigran­ten mussten sich wieder ein anderes Land suchen, wo sie in Sicherheit vor den Mörderhänden der Gestapo leben konnten. Auch ich musste aus dem Lande der hilfsbe­reiten tschechischen Arbeiter und Bauern gehen. Es ge­lang mir gerade noch rechtzeitig, die Grenze zu über­schreiten, denn nur wenige Tage danach besetzten schon die Nazisöldner die wunderbare Stadt Prag, die mir für viele schöne Jahre eine zweite Heimat gewesen war. Über Polen und Schweden erreichte ich schließlich Eng­land. Doch was ich nicht retten konnte, war mein Buch »Die Jagd nach dem Stiefel«. Nein, das ist nicht ganz richtig: Ich brachte ein Exemplar der tschechischen Aus­gabe dieser Erzählung mit nach London.

Während des schrecklichen Hitlerkrieges führte mich mein Weg um die ganze Welt. Als ich dann endlich wieder in die Heimat zurückkehren konnte, hatte ich immer noch ein Buch bei mir, das stets in meinem Koffer mit­gereist war. Es trug den Titel: »Honba za botou«, was Tschechisch ist und nichts anderes bedeutet als »Die Jagd nach dem Stiefel«.

Was sollte ich nun machen?

Ihr könnt so wenig wie ich selbst Tschechisch lesen. Und so entschloss ich mich, da ja die Geschichte in erster Linie für euch geschrieben war, mein eigenes Buch aus der fremden Sprache zurück ins Deutsche übersetzen zu lassen.

Vielleicht denkt ihr, jetzt wäre alles in Ordnung ge­wesen. Aber weit gefehlt. So eine Rückübersetzung gleicht keineswegs dem, was man ursprünglich geschrie­ben hat. Deshalb begann ich, die ganze Geschichte noch einmal mit eigenen Worten zu erzählen. Auf diese Weise ist also »Die Jagd nach dem Stiefel« zweimal ge­schrieben worden. Es hat zwar viel Arbeit gekostet, aber das macht nichts. Die Hauptsache war, die deut­schen Kinder konnten sie nun endlich lesen, wenn auch viele Jahre seit der Zeit vergangen waren, da ich sie zum ersten Male niederschrieb.

Ja, beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen. Wenn ihr diese Erzählung lest, denkt stets daran, dass wir alles Gute, was wir heute haben, denen verdanken, die gestern und heute so kämpften und kämpfen wie die Kinder dieser Geschichte.

Euer Max Zimmering

Dresden, 1952

Eine Schulklasse wie viele

Eigentlich nahm die ganze Sache schon in der Schule ihren Anfang, und zwar in einer Schulklasse, die eine Schulklasse wie viele andere war. Da gab es Freund­schaften und Feindschaften, Spaß und Ernst, gute und schlechte Lehrer, solche, die man gern hatte, und solche, die weniger beliebt waren. Die Kinder hatten den mei­sten von ihnen Spitznamen gegeben. Einer von den Lehrern, der Geografie und Deutsch unterrichtete, hieß zum Beispiel »Zeppelin«. Warum, das wusste eigentlich keiner mehr so richtig. Den Namen hatte er nämlich schon sehr lange.

Doch schauen wir gleich mitten in die Klasse hinein. Zeppelin hatte kaum das Klassenzimmer verlassen, da ging es mit Volldampf los. Alle sprangen von ihren Plätzen, es begann ein richtiges Sportleben. Nur zwei Jungen, Paule und Lämmchen, der zweifellos der dickste in der Klasse war, standen an der Tür und passten auf, um rechtzeitig die Rückkehr des Lehrers zu melden. Die ganze Klasse gruppierte sich auf dem Podium um das grüngestrichene Katheder. Ihr könnt euch vorstel­len, was das für ein Drängeln und Drücken und Schimp­fen gab. Aber das ist im Sport leider nicht immer zu vermeiden, obgleich man sich wenigstens drum be­mühen sollte.

An der langen Seite des Katheders stand der Rote Jack und erklärte das Kathederfußballspiel. Man nannte ihn den Roten Jack, weil sein Vater bei den Kommu­nisten und Jack selbst bei den Jungpionieren war. Jack also machte auf jeder Seite des Katheders einen Strich, der das Tor darstellte. Dann zog er eine Linie quer über die ganze Pultplatte, die erst kurz vorher ge­strichen worden war, und teilte sie so in zwei gleiche Spielfelder.

»Das ist also das Fußballspiel«, sagte der Rote Jack und knallte eine alte Aluminiummünze auf den Tisch. Das Gedränge um das Katheder wurde immer bedroh­licher.

»Au! Gehst du runter von meiner großen Zehe!«, schrie Billy, der Sohn des Fleischermeisters Müller aus der Baugasse, und boxte mit dem Ellbogen, um den Ur­heber der Attacke auf seine Zehe abzuschütteln.

»Sei doch still!«, kam die ärgerliche Antwort. Die an­deren waren aufgebracht durch Billys Störung, denn Pausen sind von begrenzter Dauer und jede Minute war kostbar, wenn man eine so spannende Sache wie Jacks Fußballspiel vor sich hatte.

»So, das sind die Spieler«, setzte Jack seine Erklärung fort und legte sechs alte eiserne Groschen auf das Leh­rerpult. »Also auf jede Mannschaft entfallen drei Spie­ler. Mannschaft eins wählt Kopf, Mannschaft zwei wählt Zahl. Ein Spieler wird an der Mittellinie aufgestellt, und die beiden anderen, wie ihr Lust habt. Ver­standen? Ist ganz einfach, stimmt’s?«

In diesem Augenblick ertönte von der Tür her ein gedämpftes »Achtung!« und die Klasse gab das be­lagerte Katheder frei. Jeder drängte zu seinem Platz, einer über den anderen stolpernd. Jack ergriff blitz­schnell seine Spieler und den »Ball« und flitzte ebenfalls zu seiner Bank. Zeppelin betrat die Klasse, stieg keu­chend auf das Podium und verschwand hinter dem Katheder. Eine Weile starrte er auf die bemalte Pultplatte und blickte dann hoch.

»Was ist das für eine Schweinerei?«, fragte er mit be­rechtigtem Ärger. Er schaute sich in der Klasse um – keine Antwort. Er war in guter Laune, denn er wieder­holte seine Frage nicht, sondern begnügte sich mit einer Bitte an den Schüler, der gerade Klassendienst hatte, die »Schweinerei« abzuwischen. Dann entnahm er sei­ner Aktenmappe einen Haufen blauer Hefte. Mit der einen Hand setzte er sich seine Brille auf, mit der anderen zog er sein allen gut bekanntes und von einigen auch gefürchtetes Notizbuch aus der Tasche und öffnete es.

»Büttner«, erklang es vom Podium – aber Jack über­hörte den Aufruf, denn er war noch immer damit be­schäftigt, Paule, seinem Nachbarn, das Spiel weiter zu erklären. »Jack Büttner«, wiederholte Zeppelin ruhig, aber laut, sodass Jack es unbedingt hätte hören müssen. Jacks Nachbar, Paule, stieß den Aufgerufenen an.

Nun endlich merkte auch Jack, dass er gemeint war. Er stand also auf und wartete ruhig ab, was Zeppelin von ihm wollte, denn er hatte ein gutes Gewissen und daher auch nichts Böses vom Lehrer zu befürchten.

»Hör mal, Büttner, dir hat wohl dein Vater wieder den Aufsatz geschrieben?« Zeppelin sah mit durchdrin­gendem Blick auf Jack, der sich allerdings nicht aus der Ruhe bringen ließ, weil er seinen Aufsatz wirklich allein geschrieben hatte.

Deshalb erwiderte er auch ein wenig beleidigt: »Ich mache meine Aufgaben immer allein. Mein Vater ist tagsüber in der Fabrik, und abends gibt es noch viel für die Partei zu tun. Er hat für meine Schularbeiten gar keine Zeit übrig.«

»Na, wenn du’s sagst … Aber ich finde, manches klingt ein bisschen wie von Erwachsenen«, meinte Zeppelin. »Hier zum Beispiel schreibst du: Die Schönheiten des verschneiten Waldes kann man gar nicht genießen, wenn man zum Schulausflug mit leerem Magen und leichter Kleidung kommt und dauernd friert. Wer hungert und friert, kann sich nicht sehr an der Natur erfreuen. Das hat dir doch dein Vater diktiert, was?«

»Nein«, versicherte Jack und blickte offen und furcht­los in Zeppelins Augen.

»Nun, dann ist’s gut. Setz dich, mein Junge«, sagte Zeppelin und gab ihm das Heft wieder. Die ganze Stunde hindurch teilte Zeppelin Hefte aus. Aber die Jungen und Mädchen hörten gar nicht darauf, was Zeppelin sagte. Und daran waren Jack und sein Kathe­derfußball schuld. Jeder, der nicht gerade sein Heft in Empfang nahm, war mit dem neuen Spiel, dessen Re­geln Jack nicht hatte bis zu Ende erklären können, be­schäftigt. Jack allerdings hatte unterdessen den Fußball vergessen. Trotzdem war auch er nicht gerade aufmerk­sam, ja, hin und wieder tuschelte er sogar mit Paule.

Endlich erklang das sehnsüchtig erwartete Klingel­zeichen. Zeppelin nahm seine Mappe unter den Arm und verließ das Klassenzimmer. Vorher ging er auf Jack zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Einen guten Aufsatz hast du geschrieben – wenn dir wirklich nie­mand geholfen hat. Ein bisschen altklug manchmal, und nicht alles ist so, wie du’s schreibst, aber das ist meine private Meinung.«

Das Katheder war nun wieder frei und Jack musste, obwohl er keine rechte Lust mehr hatte, das Spiel noch einmal erklären und gleich mit Paule eine Probepartie vorspielen. Bald machten sich einige Jungen selbstständig und spielten auf den Fensterbrettern, obgleich das Feld eng war und der Ball dauernd zu Boden fiel. Auch die Mädchen begeisterten sich sofort für diesen neuen Sport. Rosel und Fanny, die schwarzhaarigen jüdischen Zwillinge, machten sich an einem der drei Fenster breit. Doch es dauerte nicht lange, bis sie von Goldzahn und dem dicken Billy vertrieben wurden.

»Macht, dass ihr verschwindet, ihr beiden Nigger­fratzen!«, sagte Billy gehässig und stieß die beiden Mäd­chen roh vom Fensterbrett weg.

Fanny ging wortlos auf ihren Platz, während Rosel sich zum Katheder begab, wo Jack und Paule stan­den.

Jack lag quer über dem Katheder und war eifrig be­müht, den Spieler so zu schleudern, dass der Ball, der ganz nahe am »Aus« lag, nur von der rechten Seite ge­troffen wurde. Gelang es ihm, dann musste der Ball knapp an dem Strich, der den Pfosten markierte, vorbei in Paules Tor gehen. Jack kniff die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen. Aus dem linken Mund­winkel guckte ihm die Zungenspitze heraus. Aber trotz größter Anstrengung verfehlte der eiserne Groschen den Ball und flog über das Katheder in die Zuschauer hinein.

Inzwischen erschien der Mathematiklehrer »Filz­schuh«. Die Jungen hatten ihn so getauft, weil er immer Kreppsohlen trug und, ohne dass dies seine Absicht war, so geräuschlos die Klasse betrat, dass er manch einen Sünder auf frischer Tat ertappte.

Aber diesmal ging alles gut, denn Lämmchen hatte aufgepasst und rechtzeitig seinen Warnungsruf ertönen lassen.

Das Rechenheft

Als Paule Filzschuh erblickte, fiel ihm wieder ein, dass er seine Rechenaufgabe nicht gemacht hatte. Seine Mut­ter war gestern plötzlich krank geworden, und da hatte er die Zeitungen allein austragen müssen.

»Wenn du deshalb keine Zeit gehabt hast, kannst du ja nichts dafür, dass du nicht zu den Schularbeiten ge­kommen bist«, sagte Jack leise und riet ihm, Filzschuh die Wahrheit zu sagen.

»Aber wenn er mir’s nun nicht glaubt?«, meinte Paule bekümmert. »Ach was, ich sage lieber gar nichts«, brummte er nach kurzem Zögern, ohne sich einzugeste­hen, dass er einfach nicht genug Mut hatte. »Weißt du was«, fuhr er fort, »sollte ich wirklich drankommen, schiebst du mir dein Heft her, und ich lese daraus vor.«

»Klar, Paule, wenn du’s willst«, flüsterte Jack, »aber leg vorsichtshalber ein anderes Heft auf deinen Platz.«

Doch es war wie verhext. Wer tatsächlich als Erster aufgerufen wurde, war Paule. Um das Heft nicht in die Hand nehmen zu müssen, blieb er sitzen, denn nach ihm kam gewöhnlich sein Freund und Banknachbar an die Reihe, und wie hätte er dann das Heft unauffällig wie­der zurückgeben sollen?

»Kannst du nicht aufstehen?«, rief Filzschuh vorwurfs­voll.

»Mach, mach, nimm mein Heft und steh auf«, flüsterte Jack seinem Freund zu. Wenn das bloß gut abgeht, dachte er dabei.

Paule nahm zögernd das Heft und bemühte sich, mit Jacks Rechenaufgaben zurechtzukommen, doch es glückte ihm nicht – er konnte die Zwischenergebnisse nicht finden.

Filzschuh aber stand, zwei senkrechte Falten auf der Stirn, vor der Tafel und blickte zu Boden, während er mehrmals leise, aber doch laut genug, dass es alle in der Klasse hören konnten, »lauter Unsinn, lauter Unsinn!« sagte. Dann sah er Paule scharf an, schwieg noch eine Weile, schüttelte den Kopf und rief: »Der Nächste!«

Das war mehr als Pech! Jack wurde krebsrot. Jetzt war es nicht mehr möglich, in den Besitz des Heftes zu kommen. Paule bemerkte Jacks Verlegenheit und wollte sich schon schuldig bekennen. Aber ehe er ein Wort sagen konnte, war Jack aufgestanden und hatte erklärt, dass er seine Aufgaben gar nicht gemacht habe.