Die Kammer - Will Dean - E-Book

Die Kammer E-Book

Will Dean

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Beschreibung

Sechs Taucher. Eine Luke. Kein Entkommen.  Irgendwo in der Nordsee: Eine Gruppe von Tauchern – fünf Männer und eine Frau –, müssen vor ihrem Einsatz bei einer Ölpipeline zum Druckausgleich mehrere Tage in einer eisernen Kammer verbringen. Für die Profis eine vermeintliche Routine – bis es in der Kammer plötzlich einen ersten Todesfall gibt, dem weitere folgen. Die verbleibenden Tage werden für die weiter schwindende Zahl an Überlebenden zu einem nervenzerfetzenden Albtraum, aus dem es kein Entkommen gibt. Denn das Öffnen der Tür würde für alle Insassen den Tod bedeuten.  Höllisch spannend und mit einem dunklen Twist: Dieser phänomenale Thriller ist ebenso unvorhersehbar wie unentrinnbar. »Ein wirklicher Pageturner und allen Lesern von Thrillern zu empfehlen.« Hans-Jürgen Strickling, Tiefseetaucher »Schon ohne Mord ist der von Dean beschriebene Tiefseetauchgang ungeheuer spannend.« Max Landorff, Die Zeit

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Seitenzahl: 414

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Will Dean

Die Kammer

Thriller

Sepp Leeb

Für Tiefseetaucher und Buchhändler.

 

Ihr seid Rockstars. Ihr arbeitet unter enormem Druck und müsst nach einer langen Schicht dekomprimieren. Ihr seid lebensnotwendig und extrem kenntnisreich und werdet nicht hinreichend gewürdigt. Ihr betreibt Multitasking auf einem völlig anderen Level. Ohne euch würde alles schnellstens den Bach runtergehen. Danke.

»Juckend sagt mein Daumen mir: Etwas Böses naht sich hier!«

William Shakespeare, Macbeth

1

Dein Herzschmerz oder deine verlorenen Lieben interessieren das Meer nicht. Deine Ängste, deine Träume, deine sterblichen Begierden sind ihm egal. Das Meer kennt nur sich selbst; die ganze Welt umrundend, bedeckt es die Tiefen und verbirgt Wahrheiten ebenso wie Schrecknisse. Das Meer kann Liebe nicht von Hass unterscheiden.

Das Meer ist einfach.

Ich lasse Aberdeen hinter mir und steige auf die Gangway der DSVDeep Topaz, unseres Taucherbasisschiffs. Die Abschiede habe ich schon hinter mir. Die Augen von der salzigen Brise, die Haut vom beißenden Wind gereizt, gehe ich mit meinem Seesack an Bord. Dort erwartet mich bereits Mike Elliot, dessen wettergegerbtes Gesicht und grüne Augen von der Sonne zum Leuchten gebracht werden, was das Silber in seinen Augenbrauen noch stärker hervorhebt.

»So hässlich und so schön hab keinen Tag ich noch geseh’n«, begrüßt er mich, sein San-Diego-Akzent von einem Jahrzehnt Nordseeleben abgeschliffen.

»Dickens?«

»Nein, der andere Kerl. Und? Wie geht’s?«

»Dasselbe Schiff, ein anderer Tag.«

Er grinst, und ich erhasche einen Blick auf die Militärtattoos auf seinen Unterarmen, manche davon mit frischer Tinte nachgestochen. Neuerfindung. Ich hole meinen Camcorder heraus, und er entschuldigt sich und lässt mich allein.

Ich richte die Kamera unbeholfen auf mich, und auf dem ausklappbaren Display erscheint mein blasses, spitzes Gesicht. Kein Make-up, keine Frisur. Die selbst gefärbten Haare fast zu kurz für einen Pferdeschwanz. Meine Mutter hat mich mal als hübsch, wenn ich mich richtig ins Zeug lege bezeichnet, und das war eindeutig wohlwollend gemeint.

»Das ist für den nächsten Monat unser Zuhause«, sage ich unsicher. »Achtundzwanzig dieser Tage werden wir unter Druck oder, wie wir es nennen, in der Tiefe sein – zumindest Mike, ich und die vier anderen Sättigungstaucher. Wir werden an Bord des Schiffes leben, in einer kleinen Druckkammer, und aus dieser dann paarweise in einer Taucherglocke auf den Meeresboden absteigen, um dort in Schichten zu arbeiten. Die Bezahlung beträgt das Fünf- bis Zehnfache von dem, was ein Bauarbeiter an Land verdient. Wir werden für die Risiken angemessen entschädigt.«

Ich beende die Aufnahme. Das Bildmaterial, das von einer der größten Tauchfirmen Schottlands zu einem kurzen Film zusammengeschnitten wird, könnte dabei helfen, mehr Frauen für diese Tätigkeit zu gewinnen. Ich betrachte es als meine Pflicht, es zumindest zu versuchen.

Tief im Bauch des Schiffs entdecke ich Jumbo, einen alten Hasen aus Liverpool. Möglicherweise nennen ihn manche meinen »Sättigungsdaddy« – er ist ein erfahrener Taucher, der mich einmal unter seine Fittiche genommen hat. Wir selbst haben dieses Wort aber nie verwendet. Jumbo ist ein dunkler Typ, klein und muskulös, mit den Augen eines wesentlich älteren Mannes. Seine Mutter ist Irin, sein Vater stammt aus St. Lucia, und er gilt als einer der besten Taucher, die in britischen Gewässern arbeiten.

»Die Ohren«, sagt er, sein Scouse-Akzent immer noch unüberhörbar, obwohl er schon seit Jahrzehnten in Cawdor, östlich von Inverness, lebt. »Lass mal sehen, Brooke.«

Ich begrüße Gonzales, die Sanitäterin.

»Ellen Brooke?«

Ich nicke, und sie fordert mich auf, mich auf den Stuhl zu setzen. Wahrscheinlich sind wir beide die einzigen Frauen auf dem Schiff. Langes, gelocktes schwarzes Haar und ein ernster, besorgter Gesichtsausdruck. Mit einem Ohrenspiegel untersucht sie meine Ohren; sie sind das menschliche Organ, das besonders empfindlich auf Druckunterschiede reagiert. Wie Jumbo vor Jahren mal zur mir gesagt hat: Sättigungstaucher brauchen Mumm und gute Ohren.

Als Gonzales meinen Blutdruck misst und meine Atmung checkt, vertiefen sich die Falten auf ihrer Stirn.

»Alles in Ordnung?«, frage ich.

Sie nickt, und wir tauschen einen Blick. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Irgendetwas scheint sie zu beunruhigen. Als Jumbo an der Reihe ist, zieht er sein Hemd aus. Spuren eines harten Arbeitslebens: Narben, innere und äußere. Dass er sein Hemd auszieht, ist kein Flirtversuch und keine Angeberei; Jum stellt nur unter Beweis, dass er noch nicht zu alt ist für den Job. Was das angeht, habe ich nie an ihm gezweifelt, aber ich fürchte, er könnte anfangen, an sich selbst zu zweifeln.

Die Sanitäter haben erstaunlich viel Macht über uns Sättigungstaucher. Sie entscheiden darüber, ob wir arbeiten oder nach Hause fahren. Sie haben Zugang zu extrem starken Medikamenten. Ihre Macht unterliegt so gut wie keiner Kontrolle, zumindest nicht an Bord des Schiffs.

Ich kenne den einen oder anderen, der diese Macht genießt.

Eine Möwe kreischt.

Die Deep Topaz dampft am östlich von Aberdeen gelegenen Offshore-Windpark Buchan Deep vorbei auf die Nordsee hinaus. Ein trostloser Horizont bar jeder Orientierungspunkte. Die Welt hier draußen erscheint kahl und unberührt, aber der Meeresgrund unter uns ist überzogen von einem ausgedehnten Gewirr aus Bohrlochköpfen und Pipelines, Hosenrohren und Verbindungsstücken. Eine unsichtbare Welt, eine Welt, zu der nur Sättigungstaucher Zugang haben.

Die Einsatzbesprechung mit Lennox, dem Kapitän, darf ich nicht filmen. In ernstem, schroffem Ton weist er uns an, keine Risiken einzugehen. Er sagt, jeder kann jederzeit einen Komplettstopp ausrufen. Das ist theoretisch zwar richtig, aber man sollte besser einen verdammt guten Grund dafür haben; schließlich kostet der Betrieb des Schiffs täglich über hunderttausend Pfund, und der einzige Grund für seinen Einsatz – und der einzige Grund, weshalb die etwa neunzigköpfige Crew bezahlt wird – besteht darin, uns sechs Taucher am Leben zu halten. Der Kapitän wiederholt immer wieder, dass Sicherheit Vorrang hat. Er weist uns an, uns Zeit zu lassen, um Verletzungen zu vermeiden.

Die anderen Taucher sind links und rechts von mir. Mike und Jumbo – kerniger, langgliedriger Amerikaner und gedrungener Brite – sind die ältesten und erfahrensten und waren beide ursprünglich beim Militär. Dann kommen dem Alter nach ich, André und Spock. Und der Jüngste ist Tea-Bag, unser Rookie.

»Ich bin Ellen Brooke«, sage ich und reiche Tea-Bag die Hand, auch wenn ich bezweifle, dass ich mich ihm vorstellen muss. »Wie bist du zu deinem Spitznamen gekommen?«

Tea-Bag zuckt mit den Achseln.

André, dessen Spitzname auf den legendären Wrestler aus den siebziger und achtziger Jahren zurückgeht, sagt: »Der Junge lässt seinen Teebeutel immer bis zum Schluss in der Tasse, stimmt’s, Tea-Bag? Du lässt ihn einfach drinnen.«

Ich schätze mal, dass Tea-Bag etwa zehn Jahre jünger ist als ich. Irgendwas um die dreißig. Dunkle Haut, große braune Augen, kantiges Kinn. Ich habe ihn mit seiner Mutter in einer anderen Sprache telefonieren hören, bevor wir an Bord gegangen sind. Man merkt, wenn jemand mit einem Elternteil spricht und dessen Bedenken auszuräumen versucht, egal in welcher Sprache er das tut.

Er sagt: »Ich mag meinen Tee einfach stärker als du, André. Ich stehe nicht auf so eine wässrige Brühe.«

André grinst breit – er hat eine beachtliche Lücke zwischen seinen vorderen Schneidezähnen –, als er auf den Rookie hinabblickt und mit breitem Nottinghamshire-Akzent fragt: »Zum dritten Mal dabei, oder?«

Tea-Bag schluckt, zieht die Schultern zurück. »Zum zweiten.«

Andrés Lächeln verfliegt ein wenig. Er wirkt jetzt verständnisvoller. »Das kriegst du schon hin, Junge.«

Wir ziehen unsere Overalls und Schutzhelme an und gehen auf Deck. Heftige Windböen, das Geräusch brechender Wellen. Die Deckarbeiter kontrollieren Ventile und Trossen, der Kranführer geht seine Checkliste durch. Ein groß gewachsener, aufrechter Mann mit einem sauber gestutzten weißen Bart und stechenden blauen Augen gesellt sich zu uns. Ich lächle, als ich ihn erkenne: Halvor Magnussen.

»Ich will euch nichts vormachen.« Trotz seiner Statur hat seine Stimme etwas Sanftes. Small Talk liegt ihm fern, und er war einmal ein gefragter Sättigungstaucher, in Zeiten, in denen die Lebenserwartung in diesem Beruf wesentlich geringer war als jetzt.

Als Halvor die einzelnen Arbeitsschritte mit uns durchgeht, kommt sein norwegischer Akzent bei manchen Wörtern stärker zur Geltung als bei anderen, und wir hören aufmerksam zu. Die See ist nicht ruhig, aber auch nicht stürmisch, und die letzten Möwen verlassen uns, als wir weiter aufs Meer hinaus fahren. Das heißt alle bis auf eine. Hinter meinen Kollegen erhasche ich einen Blick auf eine große schwarze Möwe, die mit gespreizten Flügeln auf den Holzplanken liegt. Der Hals des Vogels ist gebrochen, der Kopf hängt schlaff und in einem unguten Winkel zum Rumpf. Sein Schnabel steht leicht offen. Ich sollte mich auf Halvors Anweisungen konzentrieren, aber ich beobachte, wie ein junger Deckarbeiter mit einem Schutzhelm und Handschuhen die Möwe mit ihrem vom Wind gebauschten Gefieder und den glänzenden Edelsteinaugen behutsam hochhebt und einfach über die Steuerbordseite des Schiffs wirft.

»Irgendwelche Fragen, habe ich gesagt.«

»Nein«, schnappe ich Halvors Ansage entgegen. »Alles klar.«

»Wie gesagt, es sollte ganz einfach sein. Erster Tauchgang um null fünfhundert. Das Wetter könnte ein Problem werden. Wir nehmen es einfach, wie es kommt.«

Wir sechs machen uns auf den Weg in die Gerätekammer, und Halvor kehrt in die Dive Control, die Tauchkontrollstation, zurück, die in den nächsten vier Wochen seine Basis sein wird. Auf den meisten Schiffen ist die Brücke das Nervenzentrum, und der Kapitän genießt unangefochtene Autorität. Auf einem DSV ist das anders. Wenn die Taucher im Wasser sind, ist die Tauchkontrollstation das Nervenzentrum, und Halvor ist, im wahrsten Sinn des Wortes, Gott. Aufgabe der Brücke ist es – und auch das ist eine extrem wichtige –, das Schiff mit Hilfe von GPS und eines dynamischen Positionierungssystems ungeachtet aller äußeren Bedingungen mit Schubdüsen konstant an derselben Stelle zu halten. Bewegt sich das Schiff, bewegt sich die Taucherglocke mit ihm, und es kann einem auf dem Meeresboden arbeitenden Taucher der Versorgungsschlauch abgerissen werden. Dann ist er in der unbeleuchteten Tiefe ganz auf sich allein gestellt, ohne Kommunikation, ohne Heißwasser, ohne Luftzufuhr.

Ich frage die Jungs, ob ich sie beim Überprüfen der Ausrüstung filmen darf.

»Nein, mich nicht«, sagt Spock – der eigentlich Leo heißt – ohne eine Entschuldigung oder Erklärung. Aber das überrascht mich nicht. Er ist ein hervorragender Taucher und Ultramarathonläufer und will einfach seine Ruhe haben. Er hat auffallend glatte Haut und, wenn er nicht gerade einen Schutzhelm trägt, die ausgeprägteste Schmalzlocke, die ich jemals gesehen habe: eine Tolle, mit der er es mit jedem Boygroupstar aufnehmen kann. Er ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen und nimmt das Tauchen genauso ernst wie seine elterlichen Pflichten als Vater vier kleiner Mädchen. Während viele Sättigungstaucher es mit der Arbeit übertreiben, achtet er immer darauf, dass er genügend Zeit an Land verbringen kann, um die elterlichen Pflichten und familiären Schlüsselmomente mit seiner Frau teilen zu können. Wenn es auf diesem Schiff ein Mysterium gibt, ist es Spock.

»Kein Problem«, sage ich.

Nachdem ich meinen eigenen Helm gecheckt habe – wir nennen ihn übrigens »Hut«, ein gelbes, über zwanzig Kilo schweres Monstrum, das uns auf Arbeitstiefe am Leben hält –, filme ich André und Jumbo bei ihren Kommunikationschecks.

André bückt sich, als er die Dive Control betritt, die etwa zehn Meter von der Sättigungskammer entfernt ist, der hermetisch von der Außenwelt abgeschlossenen »Tonne«, die bald unser Zuhause sein wird. Er sagt: »Kameratest«, und Jumbo bewegt seinen Helm.

»Okay?«

»Kamera okay«, sagt André.

»Und jetzt das Licht«, erwidert Jumbo.

André drückt auf einen Knopf, einen von Hunderten in den Konsolen der Dive Control, und der starke Scheinwerfer des Helms geht an und aus.

»Licht funktioniert«, sagt Jumbo aufgekratzt.

»Dann raus aus der Kommunikation«, sagt André.

Die beiden stehen sich nah. Nicht nur, weil sie seit Jahren miteinander tauchen, sondern auch, weil sie oft gemeinsam einen trinken gehen, wenn sie wieder festen Boden unter den Füßen haben. André ist mindestens einen Kopf größer als Jumbo, und seine Haut ist zehnmal heller, aber davon abgesehen könnten sie fast Brüder sein.

Ich stelle meine Kamera auf ein Regal und filme mich selbst beim Checken meines Huts. Ich ziehe die Schrauben an und überprüfe die Verschlüsse. Das machen wir immer selbst, so wie Fallschirmspringer ihre Schirme selbst packen. Wenn man mehr als hundert Meter unter dem Meeresspiegel arbeitet, nimmt man es mit so etwas sehr genau. Dann ist man ganz von seiner Ausbildung, seinen Kollegen, seiner Ausrüstung und seinen Nerven abhängig. Gerät man in Panik, hat man schon verloren. Der entscheidende Punkt ist, dass man immer zuerst nachdenkt und nicht kopflos reagiert. Wenn etwas schiefgeht, muss man vor allem gegen seinen Urinstinkt ankämpfen, an die Oberfläche zu schießen. Die Oberfläche ist keine Rettung. Wir stehen uns selbst und den anderen bei. Uns sechs. Wenn ein Taucher beim hyperbaren Schweißen eine Hand oder einen Finger verliert – was öfter passiert, als ich mir vor Augen halten will –, flicken die anderen seines Teams ihn wieder zusammen und geben ihm Opiate.

Ich schaue in die Kamera. »Mit meinem Hut alles okay.«

Wir suchen unsere Stiefel und Heißwasseranzüge aus. Die meisten von uns haben Favoriten. Jumbo nimmt die kleinste Größe, André die größte. Ob es für Spock einen Unterschied macht, welche er verwendet, weiß ich nicht. Er macht nicht den Eindruck, als ließe er sich bei solchen Entscheidungen von Nostalgie oder Aberglauben leiten. Ich bin das genaue Gegenteil. Als ich im Golf von Mexiko gearbeitet habe, haben wir oft solche Heißwasseranzüge verwendet, aber dort ging es nicht um Leben und Tod, wenn sie nicht funktioniert haben. Hier schon, keine Frage. Auf dem Grund der Nordsee arbeiten wir in sechsstündigen Tauchgängen bei etwa drei Grad über dem Gefrierpunkt. Wenn dabei kein heißes Wasser mehr durch den Versorgungsschlauch kommt, stirbt man in wenigen Minuten an Unterkühlung.

»Filmst du uns auch beim Duschen in der Nasszelle, Brooke?«, fragt Jumbo und deutet auf meinen Camcorder.

»Da spare ich mir den Akku lieber für was Besseres«, sage ich.

An seinen Mundwinkeln bilden sich Grübchen, als er grinst und seinen Overall auszieht.

Die Kammer ist fast bereit, uns mit Haut und Haaren zu verschlucken. Ich richte die Videokamera auf das System. Rohrleitungen, Ventile, Stahlnieten. Meine Stimme hört sich nicht so zuversichtlich an, wie sie sollte. »Das ist unser neues Zuhause. Hier werden wir auf dem Schiff etwa unter demselben Druck leben wie auf dem Meeresboden in ungefähr hundert Metern Tiefe. Die Kammer ist eng, etwa so groß wie ein Kleinbus, und darin sind wir einen ganzen Monat lang eingepfercht. Sechs Schlafkojen, ein Tisch mit Sitzbänken und eine daran angrenzende Nasszelle, die als Bad, Gerätekammer und TUP-Kapsel dient. Sobald der Druck angepasst worden ist, kommen Essen, Medikamente und frische Wäsche über eine kleine Schleuse herein, die sogenannte Medlock. Wir sind nicht allzu weit von der Kombüse des Schiffs entfernt, die Mahlzeiten sollten also noch warm sein, wenn sie bei uns ankommen. Wir werden keine Luft mehr atmen, sondern Heliox, ein Gemisch aus Helium und Sauerstoff. Deshalb könnte das jetzt das letzte Mal sein, dass Sie mich ohne Untertitel verstehen.«

»Ich kann dich jetzt schon nicht verstehen«, sagt Mike. »Zu starker Cajun-Einschlag, Brooke. Zu viel Louisiana.«

Ich schenke ihm keine Beachtung. Mike kann manchmal richtig bedrohlich wirken, aber er ist ein Schatz.

»Wir sechs werden jetzt einen Monat lang in dieser engen Kammer leben, essen und schlafen«, fahre ich fort. »Im Aufenthaltsraum sind etwa dreißig Zentimeter große Fenster, durch die unsere LSTs und die Assistenten zu uns hereinschauen können und wir zu ihnen nach draußen. In den Staaten nennen wir die Assistenten »Bettys«. Sie bleiben auf dem Schiff, wenn wir sechs jeden Tag ab- und auftauchen, um auf dem Meeresboden zu arbeiten. Wir arbeiten in Zweimannschichten, von denen jede acht Stunden dauert, sechs davon in der Tiefe. Wir essen und schlafen in der Kammer unter dem Schiff und werden zu unserem Arbeitseinsatz jeden Tag in der Glocke auf den Meeresboden hinabgelassen.«

Ich beende die Aufnahme. Die Deep Topaz bockt bei jeder Welle, aber da wir in der Mitte des Schiffs sind, sind die Ausschläge hier weniger heftig. Hinter der dicken Stahlluke der Kammer liegt ein Haufen mit Beuteln, die alle mit Namen beschriftet sind.

Jumbo – oder, um ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen, Gary Pritchard, seines Zeichens ehemaliger Minentaucher der Navy – ist der Älteste in unserem Team und neben Tea-Bag einer der beiden einzigen nichtweißen Taucher, die aktuell in der Nordsee arbeiten. Jumbo, in seiner Freizeit Extremcrossläufer und passionierter Hobbykoch, ist unser Routinier, und sein dunkelgrüner Seesack und seine Laptoptasche haben schon bessere Zeiten gesehen.

Mike Elliot, ehemaliger Angehöriger der US Navy, Autofreak und Calisthenics-Fan, steht auf Corvettes und Motorradfahren. Er hat einen Matchsack und keinen Spitznamen. Wahrscheinlich hat einfach niemand daran gedacht, ihm einen zu geben. Ich habe seine langjährige Freundin Emily kennengelernt, eine wortgewandte Architektin, und fand sie sehr sympathisch. Die beiden sehen nicht so aus, als würden sie gut zusammenpassen, aber irgendwie scheint es zwischen ihnen zu funktionieren. Mike fehlt, was in diesem Beruf relativ häufig vorkommt, der größte Teil seines linken Daumens.

Spock, der stille Familienvater mit der Naturschmalzlocke, wirkt immer vollkommen emotionslos, daher der Name. Selbst seine Sporttasche ist leicht zu vergessen: ein weicher grauer Puma-Beutel. Spock hat die Statur eines NFL-Quarterback, ist aber die Bescheidenheit in Person. Einmal schlug er einen lukrativen Job im Mittelmeer aus, weil seiner Tochter die Mandeln entfernt werden mussten. Ich kenne nicht viele andere Sättigungstaucher, die sich so entschieden hätten.

André, ein drahtiger Schweißer, ehemaliger Rugbyspieler und eingefleischter Zocker, ist fast so alt wie Jumbo, aber keineswegs so vernünftig. Seine Tasche ist aus teurem braunem Leder, und wegen seiner Größe wird er oft damit aufgezogen, dass sie bei ihm wie eine Handtasche aussieht. André ist bekannt dafür, lange Passagen aus Shakespeare-Dramen zu zitieren. Mit einer Heliumstimme kann das groteske Züge annehmen. Ansteckend kann es auch sein.

Tea-Bag – oder, dem Namensschild seiner Tasche zufolge, Javad Assar – ist ein ziemliches Rätsel. Zu seinem zweiten Sättigungstauchgang hat er einen nagelneuen Rucksack mitgebracht, der, wie das bei Rookies häufig der Fall ist, wesentlich größer ist als der seiner Kollegen. Er hat sich noch nicht darauf eingestellt, wie beengt und karg unsere Unterkunft ist.

Die Taucherglocke ist eine kleine Kapsel, in der dieselben Druckverhältnisse herrschen wie in der Kammer und auf dem Meeresboden. Sie ist über einen kurzen Gang mit der Nasszelle verbunden und wird an Stahltrossen durch den Moonpool des Schiffs abgesenkt, bewegt und hochgezogen. Wir checken die Glocke, die Versorgungsschläuche und die Reservegasflaschen. Wir stellen uns im Kreis auf und lassen das Los entscheiden, wer die unteren Kojen bekommt. Nervöse Energie, gespannte Erwartung und Angst. Ich, wie sollte es auch anders sein, ziehe eins der kurzen Streichhölzer. Eine obere Koje bedeutet weniger Platz und weniger Privatsphäre. Die Jungs gehen auseinander und tun, was man eben tut in den fünf Minuten, die uns bleiben, bevor wir uns selbst einschließen. André wird eine letzte Zigarette rauchen. Jumbo wird wahrscheinlich seine Freundin anrufen, um sich von ihr zu verabschieden. Mike wird an Deck gehen, um für die nächsten vier Wochen die letzten Züge frischer – oder sonstiger – Luft zu atmen und ein paar Dehnübungen zu machen. Ich habe keine Ahnung, was Spock macht. Ich checke ein letztes Mal meinen Helm und schreibe Gilly, meiner Schwägerin in Harrogate, eine Textnachricht.

»Pass für mich auf sie auf, Sis. Auch auf den Großen x.«

Gilly antwortet sofort, denn auch nach all den Jahren ist sie noch sehr aufgeregt, wenn ich einen Sättigungstauchgang antrete.

»Ich werde auf sie aufpassen. Konzentrier du dich nur darauf, dass dir nichts passiert. Der Sonntagsbraten im neuen Pub, wenn du zurückkommst. Mach nichts zu Gefährliches. Alles Liebe xx.«

Tea-Bag steigt als Erster in die Kammer, und wir reichen ihm unsere Taschen, Hängematten und Kulturbeutel nach drinnen. Ich bin in Sweatshirt, Jogginghose und Flipflops, denn ich weiß genau, was mich erwartet. Ich steige als Letzte ein und zwänge mich durch die Luke in die Enge, wo schon zwei Kopfkissenbezüge auf mich warten: einer mit Spiderman drauf von Henrys Bett und ein blau-weiß gestreifter Laura-Ashley-Bezug von Lisa.

Der für das Lebenserhaltungssystem zuständige Techniker fragt: »Alle drinnen?«

»Alle drinnen«, sage ich.

Ein metallisches Scheppern.

Die Luke schließt sich.

2

Jumbo, in knallweißen Socken und Reebok-Badelatschen, packt die Stahlgriffe und drückt mit dem Fuß gegen die Luke.

Sie ist luftdicht verschlossen.

Der Blowdown – die Druckanpassung der Kammer – beginnt.

Was für die nächsten vier Wochen unser Zuhause sein wird, hat etwas von einem Mini-U-Boot, eine Kammer von der Größe eines Badezimmers, die jetzt zu zischen und zu knarzen beginnt. In der Dive Control erhöhen sie langsam den Druck. Stickstoff, die Hauptursache der Dekompressionskrankheit, wird ausgeleitet und allmählich von einem anderen inerten Gas ersetzt: Helium. Die Kojen sind nicht gemacht. Ein LST, den ich vor einer Stunde zum ersten Mal gesehen habe, geht außen um die Kammer herum und hält nach Lecks Ausschau. Sobald die Überprüfung abgeschlossen ist, wird der Druck weiter erhöht.

Zehn Meter.

»Alles okay, Leute?«, fragt Halvor aus der Kontrollstation. Seine unverwechselbare Stimme wird über ein Mikrophon an unsere integrierten Lautsprecher übertragen. Unsere Stimmen werden über ein Mikrophon und einen Entzerrer an ihn zurückgesendet.

»Jawohl, Chef«, sagt Jumbo. Er spricht für uns, nicht weil wir ihn zu unserem Anführer bestimmt haben oder weil er uns offiziell übergeordnet ist, sondern weil es in seiner Natur liegt zu antworten.

Wir machen unsere Kojen. Ein Grundprinzip des Tiefseetauchens ist, die Dinge so zu hinterlassen, wie man sie vorgefunden hat. In vieler Hinsicht halten wir uns an einen verwässerten Militärkodex. Wir benutzen Wendungen wie Roger, Over und Verstanden, zumindest dann, wenn wir uns nicht direkt gegenüberstehen. Deshalb müssen viele von uns erst einmal, in beiderlei Bedeutung des Worts, ein, zwei Tage dekomprimieren, bevor wir nach einem Monatseinsatz zu unseren Liebsten nach Hause können. Es ist nicht leicht, wochenlang ohne Unterbrechung in militärischen Abkürzungen zu kommunizieren und dann in ein normales Zivilistenleben zurückzukehren und sich über Beziehungen und Gefühle und das Elterntaxi zu unterhalten. Der Übergang kann für alle Beteiligten schwierig sein.

Fünfzig Meter.

Wir befinden uns noch an Bord des Schiffs, aber wir leben nicht wie der Rest der Besatzung.

Der Gasmann weiß, dass er nichts überstürzen darf, wenn er uns nicht bei lebendigem Leib kochen will. Ich bin wahrscheinlich nicht die Einzige, die Albträume von riesigen, außer Kontrolle geratenen Dampfkochtöpfen hat. Die Anzeige an der Wand klettert höher, und der abrupt eintretende Temperaturunterschied fühlt sich etwa so an, wie wenn man aus einem voll klimatisierten Flugzeug in ein tropisches Land hinaustritt. Dieser Schwall aus Hitze und Feuchtigkeit, wenn die Türen aufgehen. Die Abruptheit dieser Veränderung.

Ein lautes Ploppen, und Tea-Bag rennt die zwei Schritte zu seiner Koje.

Sein Shampoo ist explodiert und hat sich über seine Bettwäsche verteilt.

»Typischer Anfängerfehler, Tea-Bag«, sagt André und hebt die Hand an die Decke.

»Mach mal sauber«, sagt Spock ausdruckslos.

»Das ist mir bei einem meiner ersten Tauchgänge auch passiert«, sagt Jumbo grinsend. An seiner Backe klebt ein Shampooklecks. »Zweimal passiert das niemandem. Nächstes Mal musst du alle Flaschen aufschrauben, Captain.«

Es ist nicht leicht, umgeben von kräftigen Männern, die das Gleiche tun, das Bett zu machen. Wir sind stärker eingeengt als in einem U-Boot, dichter aneinandergedrängt als ein Pärchen in der Schlafkapsel eines Hotels in Tokio. Und trotzdem wissen wir, wie wir diesen Raum bewohnen können. Wir sind uns nur zu deutlich bewusst, wie viel Platz wir alle brauchen, und rempeln uns kaum an. Es ist ein feuchtes Arbeiterballett, ein seltsamer Tanz von Schweißern und ehemaligen Navytauchern, von denen es keiner erwarten kann, sich seinen eigenen Rückzugsort zu schaffen.

Tea-Bag sitzt auf der harten Bank vor dem Schlafbereich und wedelt sich mit einem blauen Handtuch Luft ins Gesicht. Keine Luft, das war einmal. Gas. Von diesem Moment an muss wegen unserer hohen, quäkigen Stimmen alles, was ich auf meinem Sony-Camcorder aufzunehmen schaffe, mit Untertiteln versehen werden.

Ich schaue Tea-Bag an und recke den Daumen; er erwidert die Geste. Auf seinen Unterarm ist ein Datum tätowiert. Ich muss diesen jungen Taucher im Auge behalten. Ich möchte ihn fragen, wie lang sein erster Sättigungstauchgang gedauert, wo er gearbeitet hat und mit wem, aber im Moment kann er diese Art von Aufmerksamkeit nicht gebrauchen. Er muss sich darauf konzentrieren, sich dem fast unwiderstehlichen Bedürfnis zu widersetzen, in Panik zu geraten und nach dem Griff der Luke zu fassen.

Der Anstieg der Anzeige erfolgt nicht so flüssig, wie man meinen könnte. Die Nadel des Druckmessers hängt immer mal ein bisschen, und am Weiß von Tea-Bags Augen kann ich erkennen, dass er gegen einen animalischen Überlebensinstinkt ankämpft, der auch mir nicht fremd ist, auch wenn ich gelernt habe, ihn zu unterdrücken.

Unter diesen Umständen kann selbst der erfahrenste und abgeklärteste Profi die Kontrolle über sich verlieren.

Mike sitzt Tea-Bag gegenüber und ist in eine Ausgabe der American Iron vertieft. Er hält die Zeitschrift auf Armeslänge von sich, während er langsam und konzentriert einen Bericht über Motorradrennen in den roten Felsen von Utah liest. Als ich ihn einmal an Land mit einer Lesebrille gesehen habe, hat er sie sofort abgesetzt. Von seiner Nase tropft Schweiß. In einer reflexartigen automatischen Bewegung sprüht er Desinfektionsmittel auf den Edelstahltisch, wischt diesen mit Küchenkrepp und steckt das Papiertuch in eine durchsichtige Tüte, die an einem Haken an der gekrümmten Metallwand hängt. Mach sofort sauber, wenn du rumsaust. Bakterien vermehren sich schnell unter diesen feuchtwarmen Bedingungen. Jeder von uns hat sich schon einmal eine Otomykose oder einen Fußpilz zugezogen. Schwere Infektionen breiten sich mit erschreckender Schnelligkeit aus. Keime setzen sich fest. Sie multiplizieren sich und mutieren. Ein Sechserteam kann in dieser engen, luftlosen Kammer binnen weniger Stunden außer Gefecht gesetzt werden. Mike weiß es. Wir alle wissen es.

»So weit alles in Ordnung?«, fragt Duncan über den Lautsprecher an der Wand. Er ist unser schottischer Superintendent, Halvors Chef, und überwacht uns aus der Dive Control.

»Ja«, sagt Mike. »Alles klar hier, Chef.«

Der Druckmesser zeigt sechzig Meter an, und ich muss mir alle ein, zwei Minuten den Schweiß aus dem Gesicht wischen. Die Betten sind alle gemacht, und der Stahltisch ist vollständig ausgezogen. Er ist von Zeitungen bedeckt: meinen und Spocks. Das gehört zu den vielen Dingen, bei denen uns die LSTs helfen. Sie laden unsere MP3-Player auf, und sie versorgen uns mit Lesestoff und Nahrung. Auf jede Marotte wird eingegangen. Einige von ihnen machen Witze darüber, dass wir ein faules Pack sind, aber die meisten würden ihre Freiheit und die frische Luft nicht gegen unsere feuchte Einkerkerung tauschen. Wir sind bei allem von ihnen und dem Rest der Schiffsbesatzung abhängig. Wenn sie wollten, könnten sie uns bei lebendigem Leib kochen oder einfrieren, vergasen oder verhungern lassen. In mancher Hinsicht ist es wie ein aus dem Ruder gelaufenes wissenschaftliches Experiment: Während wir so gut wie keine Kontrolle haben, steht ihnen eine endlose Liste von Möglichkeiten zur Verfügung, uns Schaden zuzufügen, wenn ihnen danach ist. Dem allen wohnt eine große Unausgewogenheit inne, und der einzige Grund, weshalb wir uns damit abfinden, ist die Bezahlung.

Wir werden nämlich sehr gut bezahlt. Es gibt keine anderen handwerklichen Tätigkeiten, die auch nur annähernd so viel einbringen, wie wir verdienen. Trotzdem werden die meisten Sättigungstaucher nicht reich, weil wir wie Piraten und Seeleute und andere nicht gesellschaftsfähige Outlaws dazu neigen, jeden Tag so zu leben, als wäre es unser letzter. Weil, wie meine Mutter, die aus Florida kam, immer gesagt hat: Eines Tages, meine Liebe, wirst du merken, dass das richtig war.

Unser Zuhause ist wie ein runder Gastank. Die Wände haben den speziellen beigen Grauton, den man aus psychiatrischen Kliniken und Leichenschauhäusern kennt. Anstaltsgreige, alle Oberflächen abwischbar.

Tea-Bag wendet sich Mike zu, als hätte er gute zehn Minuten lang den Mut dafür aufbringen müssen, und fragt ihn: »Warst du ein Navy SEAL?«

Mike schaut nicht von seiner Motorradzeitschrift auf. »Ich war gar nichts, Kleiner.«

»Was?«, sagt Tea-Bag.

Mike weiß, dass ihn der junge Taucher wegen des vielen Heliums, das wir jetzt einatmen, schwer verstehen kann. An unsere Cartoonstimmen muss man sich erst gewöhnen.

Der Tiefenmesser an der Wand zeigt siebzig Meter an. Mike wiederholt, diesmal langsamer: »Ich habe gesagt, ich war gar nichts.«

Tea-Bag weiß nicht, wohin er nach dieser Antwort schauen soll.

Ich gehe zu meiner Koje.

Eineinhalb Schritte.

Das wird im nächsten Monat mein einziger Rückzugsort sein, falls man ihn so nennen kann. Ich habe eine dünne Matratze, ein Kissen und ein blaues Laken. Kopfhörerbuchsen und Platz für ein Taschenbuch. Einen Vorhang. Und direkt unter meiner Koje, die an Ketten von der Decke hängt, ist die von Jumbo, mit einer kleinen FC-Liverpool-Fahne und einem Foto seiner Familie. Wenn wir fernsehen wollen, müssen wir das durch die winzigen Bullaugen tun. Wenn ich mich hinlege und ausstrecke, kann ich jede der anderen Kojen berühren. Es ist wirklich verrückt. Zu Hause, in unserem verschlafenen Dorf nördlich von Harrogate, Yorkshire, ist mein Schlafzimmer vier- bis fünfmal größer als diese Kammer. Steve und ich haben es so geplant: mit ausreichend Luft und Licht. Außerdem hat er sich eine kleine Holzhütte mit einem begrünten Dach gebaut – ein Ort, an dem er Armbanduhren warten und reparieren kann. Er hat die Bodendielen im Haus ausgesucht und ich die Tapete.

Wenn ich mich jetzt hier ausstrecke, berühren meine Füße fast Tea-Bag, der auf der Bank sitzt und über sein Gesicht wischt.

Ich hole meinen Camcorder heraus und drücke auf Aufnahme. »Drei u-förmig angeordnete Kojen. Sechs Betten. Die hinteren Kojen, das Zuhause von Spock und André, befinden sich vor der Luke, durch die wir hereingekommen sind. André hat Handcreme und eine Lesebrille, weil er alt wird.« Ich schwenke die Kamera auf den Aufenthaltsbereich. »Das ist alles.« Meine Stimme ist ein schrilles Quäken; daran lässt sich nichts ändern. Lisa nennt sie meine »Krabbenstimme«, und Henry findet, ich höre mich an wie Donald Duck. Plötzlich fehlen sie mir so sehr, dass es wehtut, weshalb ich meine Nase zuhalte und dem Camcorder erkläre, wie man Druckausgleich macht. »Eine Bank auf der linken Seite, eine auf der rechten, ein Tisch in der Mitte. Normalerweise klappen wir ihn zusammen, damit nur der Mittelteil in der Kammer hochsteht. Nur wenn wir zusammen essen, klappen wir ihn aus.«

»Glückliche Familien«, sagt Spock, wie immer mit ausdrucksloser Miene. Ich habe gehört, dass sich seine früheren Tauchbuddys in seiner Gegenwart extrem unwohl fühlten, bis sie die ersten Tauchgänge mit ihm absolviert haben. Da merkten sie dann, dass er unter Druck nicht nur total belastbar, zuverlässig und ruhig war, sondern auch einer der leistungsfähigsten – und erfahrensten – Taucher, mit denen sie je gearbeitet hatten. Im Moment liest er gerade die Financial Times.

»Irgendwelche Börsentipps?«, frage ich ihn.

Er blickt auf, kratzt sich unter seinen pechschwarzen Haaren am Kopf und sagt: »Kauf Öl.«

Deshalb sind wir hier. Öl ist der Grund, weshalb dieses riesige DSV mit über neunzig Mann an Bord und täglichen Fixkosten von hunderttausend Pfund zu einem Monat Arbeit auf hoher See nördlich von Devil’s Hole unterwegs ist. Wir sind hier, weil das Öl weiterfließen muss. Wir sind Halvor, dem Supervisor, unterstellt, obwohl Jumbo und Mike das etwas anders sehen könnten, und der ist Duncan, dem Superintendenten, und dem Nacht-Super unterstellt – wobei Letzterer in der Branche etwas umstritten ist –, und diese beiden wiederum sind dem Einsatzleiter unterstellt. Und schließlich sind alle der Ölgesellschaft und den Aktionären gegenüber rechenschaftspflichtig.

Jumbo sieht Tea-Bag an und fragt: »Bei dir alles in Ordnung?«

Tea-Bag nickt.

»Wirklich? Sag uns ruhig, wenn irgendwas ist. Wir haben hier keine Geheimnisse voreinander.«

Jumbo empfiehlt ihm nicht, mit dem Druckausgleich fortzufahren, denn das hätte was Herablassendes. Stattdessen macht Jumbo das, wenn auch etwas theatralisch, selbst, und Tea-Bag folgt seinem Beispiel. Eine stillschweigende Erziehung. Die zum Teil daraus erwächst, dass Jumbo ein anständiger Mann ist, fürsorglich und freundlich, zum Teil daraus, dass er weiß, dass Tea-Bag, auch wenn er in unserer Welt ein Rookie ist, ein extrem erfahrener Berufstaucher ist, der sich durch hervorragende Leistungen ausgezeichnet hat, um es so weit zu bringen. Sättigungstauchen ist nämlich das Nonplusultra für Berufstaucher: ein Gipfel, den jedes Jahr nur ein paar Dutzend erreichen. Ich musste acht Jahre lang als Luftschlauchtaucherin arbeiten (dabei atmet man normale Luft statt eines speziellen Gasgemischs). Das ist zwar ebenfalls sehr anspruchsvoll, aber nicht ganz so extrem wie Sättigungstauchen und deshalb auch nicht so gut bezahlt. Trotzdem hat es lang gedauert, bis ich mich durchsetzen konnte, zum Teil auch weil einige Bedenken hatten, eine Frau mit ihnen in die Tonne zu sperren. Viele waren sogar strikt dagegen.

Frauen sind in dieser Branche nach wie vor eine extreme Seltenheit.

Mir entgeht nicht, dass Jumbo weiter ein scharfes Auge auf unseren neuesten Kollegen, unseren neuesten Bruder wirft. Er stellt ihm Fragen und lacht über seine Witze.

Ich habe immer zwei Kissenbezüge dabei. So kann ich mich nach einem anstrengenden Tauchgang, einer Dusche und einer Mahlzeit hinlegen und schlafen und dabei den Geruch meiner Kinder atmen. Das hilft mir in schweren Zeiten, und auf hoher See zu arbeiten, das sind fast immer schwere Zeiten.

Ich befestige ihre Fotos mit Magneten an der gekrümmten Metallwand meiner Koje, füge noch einen Schnappschuss von Steve und mir in Rom hinzu, auf dem er mir seinen gebräunten Arm um die Schultern gelegt hat. Wir geben uns gegenseitig Halt auf dem Weg durch die unvermeidlichen Härten des Lebens. Ich war lange nicht sicher, ob ich einmal einen Mann wie ihn kennenlernen würde. Fast hatte ich schon alle Hoffnung aufgegeben.

»Blowdown abgeschlossen«, verkündet Halvor. »Bei euch alles klar?«

»Alles klar«, antwortet Mike für uns.

Wir haben weitere zwölf Stunden unter Dampf vor uns, bevor wir unser gesichtsloses Ziel erreichen: ein Set von Koordinaten, die zeigen, dass wir in etwa hundert Metern Tiefe über einem bestimmten Verteiler sind.

»Die Speisekarte kommt«, tönt es aus dem Lautsprecher an der Wand.

Ich gehe zur sogenannten Medlock, der »medizinischen Schleuse«. In neunundneunzig von hundert Fällen wird diese Durchreiche für Behälter mit heißem Wasser oder Netze mit frisch gewaschenen T-Shirts verwendet, nie für etwas auch nur annähernd Medizinisches. Trotzdem nennen wir sie so. Es handelt sich dabei um eine kleine Luftschleuse, durch die nach entsprechender Angleichung des Drucks Gegenstände von einem Raum in einen anderen gebracht werden können. Ich öffne die Luke und nehme die Speisekarte heraus.

Jumbo nimmt sie mir ab und verkündet mit seinem breiten Scouse-Akzent, der wegen des Heliums noch schwerer zu verstehen ist: »Brötchen. Steak. Hähnchenschenkel. Gebackener Schellfisch. Die üblichen Soßen. Erbsen. Blumenkohl. Obstsalat. Käse und Kekse. Schokoladenkuchen.«

Jeder von uns sagt ihm, was er haben will, und er macht mit einem Bleistift die entsprechenden Kreuzchen. Dabei hält er den Stift so elegant, als handelte es sich um eine Kalligraphieübung. Diesen Vorgang werden wir in den nächsten Wochen mehrmals am Tag wiederholen. Beim Sättigungstauchen esse ich täglich schätzungsweise fünf- bis sechstausend Kalorien, während ich zu Hause weniger als die Hälfte zu mir nehme.

Die Temperatur ist auf etwa dreißig Grad gestiegen, wie an einem der lauen Sommerabende in Lake Charles vor zwanzig Jahren, an denen ich mit einem Sechserpack und einem Kofferradio zwischen den Zypressenstümpfen des Contraband Bayou saß, KBYS hörte und meinen Träumen von einer Karriere als Taucherin nachhing.

Damals hätte ich mir mein jetziges Leben nicht vorstellen können.

Eine Stunde später kommt das Essen in Aluschalen mit Pappdeckeln. Wir essen Schulter an Schulter. Jumbo, der Kleinste unserer Crew, dann Spock, Mike, Tea-Bag, André und ich. Jeder von uns hat seine eigenen Fläschchen mit Vitaminen und seine eigenen scharfen Soßen mitgebracht. Wenn man Helium atmet, hat das neben den Cartoonstimmen noch andere physiologische Auswirkungen. Zum einen können wir unsere Körpertemperatur schlecht regulieren. Damit wir nicht frieren, muss die Kammer warm und stickig sein. Zum anderen schmecken wir aus unerfindlichen Gründen kaum etwas. Um dem entgegenzuwirken, haben wir einen inoffiziellen Soßen-Aficionado-Klub gegründet.

»Immer noch Hot Gator?«, sagt Mike mit einem Blick auf meine Flasche.

»Du meinst wohl Gator Hammock?«, sage ich. »Nein, nicht mehr. Nicht genug Punkte auf Scovilles Schärfegradskala.«

»Ray Sheckles’s Atomic Red Sauce?«, hakt er nach. Seine Stimme ist tiefer als die aller anderen, die dicken Adern an seinen Händen und Unterarmen treten deutlich hervor.

Ich schüttle den Kopf. »Ray Sheckles? Das ist doch was für Amateure. Ich habe mir Satan’s Blood Extract besorgt. Echter Raketentreibstoff.«

Wir schütteln Soße aus den kleinen Flaschen auf unser geschmackloses Essen. Damit will ich nicht sagen, dass englisches Essen langweilig ist, obwohl es das oft ist. Ich sage bloß, dass es für uns, wenn wir unter Druck stehen, nach nichts schmeckt.

Jeder von uns duscht, denn wenn man so eng aufeinandersitzt, gibt es eine ungeschriebene Regel: Körpergeruch geht gar nicht. Manchmal wird man mit Leuten zusammengesteckt, die davon noch nie etwas gehört haben, aber bei unserer Truppe ist das zum Glück nicht der Fall.

Ich drücke auf die Aufnahmetaste und sage: »Das Bad. Dann schauen Sie mal, was jetzt kommt.« Ich nehme zwei Handtücher und zwänge mich in die Nasszelle, auch bekannt als »Transfer Under Pressure Chamber« oder TUP. »Die Nasszelle ist der Übergangsbereich zwischen Kammer und Taucherglocke. Hier legen wir unsere Ausrüstung an. Außerdem duschen wir hier und gehen aufs Klo.« Ich deute auf die Edelstahlkloschüssel. »Die Männer fordern Wasser an, und dann duschen sie, trocknen sich ab und gehen mit nacktem Oberkörper und nur mit einem kleinen Handtuch um die Hüften in die Kammer zurück. Bei mir ist es nicht ganz so einfach, aber ich habe mir etwas einfallen lassen und platziere ein Handtuch strategisch immer so, dass mich kein Betty von draußen beglotzen kann. Das ist zwar gegen die Vorschriften, aber bisher hat sich niemand beschwert. Dann verlange ich Wasser. Sie machen es an. Ich dusche rasch und trockne mich ab, schlüpfe in meine Jogginghose und mein T-Shirt und verkrieche mich in meine Koje.« Eine Frau beim Sättigungstauchen ist etwas Seltenes und Unbekanntes; aber was sage ich, ein Mann in diesem Metier zu sein ist ebenfalls etwas Seltenes und Unbekanntes. Es ist einer der Gründe, weshalb ich diese Videoaufzeichnungen mache, auch wenn ich das den Jungs nicht gesagt habe. Ich würde gern mehr Frauen in dieser Branche sehen. Ich würde gern mit der einen oder anderen fähigen Frau tauchen, bevor meine Zeit vorüber ist.

Die Wände der Kammer knarzen.

Die Lebenserhaltungssysteme summen, und unzählige Rohre und Leitungen transportieren Gase zu uns oder von uns fort. Wir müssen darauf vertrauen, dass die Männer draußen diese beiden Dinge nicht verwechseln.

Die Schichten werden eingeteilt, und ich erfahre, dass ich um vier Uhr morgens mit André als Bellman den ersten Tauchgang machen werde. Ich kann es kaum erwarten, der Enge hier drinnen zu entfliehen, mich ausstrecken und bei einem Schwimmspaziergang den Meeresboden erkunden zu können. Darauf wird sich André wahrscheinlich noch mehr freuen, weil er nirgendwo in der Kammer aufrecht stehen kann – nicht einmal annähernd.

Das Licht wird schwächer, und die Unterhaltungen verstummen.

Vorhänge werden zugezogen.

In der Regel ruhen wir uns aus und schlafen, wann immer wir können. Was die meiste Zeit der Fall ist.

Ich schaue auf die Fotos an der Wand und kuschle mich in mein Kissen mit seinen wundervollen individuellen Gerüchen: so fein, dass sie kaum mehr wahrnehmbar sind, aber trotzdem tröstlich für mich. In Gedanken an ihre Gesichter und Stimmen beginne ich einzuschlafen.

Und dann, mein Verstand schaltet gerade ab und wird von Träumen verdrängt, ertönt ein schriller Alarm.

»Ins Rettungsboot, sofort.«

3

Wir machen uns auf den Weg in die Nasszelle. Obwohl wir wissen, dass es eine, wenn auch schlecht getimte, Übung ist, kann ich die Besorgnis, die den anderen in die Stirn gekerbt ist, deutlich sehen. In das hyperbare Rettungsboot zu kommen ist lästig, selbst wenn es nur eine Übung ist. Die Phantasie kennt hier keine Grenzen mehr.

»Das hätten sie sich auch vor drei Stunden einfallen lassen können«, brummt Mike, ballt die Fäuste und löst sie wieder.

Durch den Lautsprecher kommt keine Stimme zurück.

»Ich war schon eingeschlafen«, sagt Jumbo. »Ich brauche meinen Schönheitsschlaf.«

»Du brauchst ein Schönheitskoma«, sagt André.

»Zwei Scheidungen und die nächste schon im Anmarsch«, sagt Jumbo. »Da würde dir das auch nicht schaden.«

Ich überlege, ob ich die Übung filmen soll, merke aber, dass das wegen des schwierigen Aufstiegs ins Rettungsboot, der es wirklich in sich hat, nicht möglich sein wird.

Wir müssen eine Luke in der Decke öffnen und dann der Reihe nach – alle unter denselben Druckverhältnissen, unserer Arbeitstiefe – durch einen senkrechten Stahlschacht ins Rettungsboot hinaufsteigen. Sechs Würmer, die sich eine enge Röhre hinaufwinden. Sobald wir einmal alle im Rettungsboot sind, ist kein Platz mehr zwischen uns. Keine Luft. Meine Schulter drückt gegen Spocks harten Rücken, mein Bein wird von Andrés knochiger Hüfte eingequetscht. Sardinen in einer hermetisch verschlossenen Dose. Wir stehen, soweit möglich, aufrecht da, während der Supervisor die Kontrollen durchführt. Ich bin eins dreiundsiebzig groß und kann nicht gerade stehen. Aber für Mike und Spock ist es noch wesentlich schlimmer, wobei sich Mike am stärksten bücken muss. Mundgeruch: der schlechte Atem von Männern, die schon geschlafen haben oder zumindest kurz vor dem Einschlafen waren.

Ich beginne langsamer zu atmen. Eine der elementarsten, lebenswichtigsten Regeln des Tiefseetauchens: Nur keine Hektik. Es gibt viele solche Sprüche. Kriegst du Panik, bist du tot. Die Oberfläche existiert nicht. Die Glocke ist deine einzige Hoffnung. Hinterlasse alles so, wie du es vorgefunden hast. Lass dich von deiner Ausbildung leiten, nicht von deinen Instinkten.

»Das geht ja schon mal gut los«, sagt Jumbo grinsend, seine quäkende Stimme kaum zu verstehen. »Und? Gefällt’s dir, Tea-Bag?«

»Hab schon Schlimmeres erlebt«, sagt Tea-Bag betont ungerührt.

»Warum heißt du eigentlich Tea-Bag?«

»Das hatten wir doch schon.«

»Mir hast du’s aber noch nicht erzählt.«

»Was?«

»Ich hab gesagt, mir hast du noch nicht erzählt, warum.«

Tea-Bag nickt. Er ist zwar in England geboren, aber seine Eltern sind Kurden. »Als ich im Roten Meer getaucht bin, habe ich meinen Teebeutel einfach in der Tasse gelassen und meinen Tee mit dem Beutel drin getrunken. Der Name ist mir geblieben.«

Leuchtet irgendwie ein. Letztes Jahr habe ich einen ehemaligen Taucher kennengelernt, der Peanut hieß, weil er 1973 fast an einer Erdnuss erstickt wäre. Dreißig Jahre mit demselben Spitznamen am Hals.

Weitere Checks und Übungen von der Kontrollstation.

 

»Alle okay?«, fragt Jumbo.

Wir nicken und grunzen unsere Zustimmung.

So furchteinflößend dieses sogenannte Rettungsboot ist, erinnern sich ältere Taucher noch an Zeiten, in denen es so etwas noch gar nicht gab. Ich habe unzählige Anekdoten gehört, an die ich mich lieber nicht zu genau erinnere, wenn ich in der Tonne bin, wie wir es nennen, aber gelegentlich kommen sie in Unterhaltungen zur Sprache. In Stürmen sinkende DSVs. Die Schiffsbesatzung rettet sich in ihren Rettungsbooten, aber wenn kein hyperbares Rettungsboot an Bord ist, steht den Tauchern diese Option nicht offen. Sie bekommen mit, wie das Schiff kentert. Sie nehmen ihr Schicksal hin, vermute ich; es bleibt ihnen ja auch nichts anderes übrig. Der Life Support wuselt dann so lange wie möglich in panischer Hektik um die Kammer oder die Kammern herum. Vielleicht bekommen die Taucher gesagt, was ihnen bevorsteht, vielleicht lässt man sie es selbst herausfinden. Alarme und Sirenen. Die berüchtigte »Alle Mann von Bord!«-Durchsage.

Aber den Tauchern steht auch diese Option nicht offen. Wir haben überhaupt keine Optionen. Wenn jemand die Luke öffnet, sterben wir auf der Stelle. Himbeermarmelade, wie es mein erster Supervisor genannt hat. Deshalb warten die Taucher. Aus den Lautsprechern kommen keine Stimmen mehr. Die Regale für die Handtücher und Laken, die an der Außenwand der Kammer stehen, beginnen umzufallen; das ist durch die kleinen Bullaugen zu sehen, wenn sich das Schiff aufstellt. Vielleicht kriegen die Taucher mit, wie Meerwasser das Deck überspült, Treppen hinunterfließt, an den gekrümmten Außenwänden der Kammer hochsteigt. Das Schiff geht unter und sie mit ihm. Dann fällt vermutlich der Strom aus. Vollständige, totale Dunkelheit. Sechs Taucher sprechen ihre letzten Worte und denken ihre letzten Gedanken. Wenn der Meeresboden tiefer ist, als es dem Druck in der Kammer entspricht, platzen die Luken auf, und sie ertrinken dort unten. Wenn die Luken halten, sterben sie an Unterkühlung.

Das war das Schicksal vieler tapferer Taucher, die vor uns gekommen sind.

Sänke das Schiff heute, wäre unser Schicksal ein anderes, aber nicht weniger schreckliches. Manche fänden es sogar noch schlimmer. Wir wären in einen engen, starren Sitz geschnallt und kämen nicht von ihm los. In einem Rettungsboot dieser Größe würden wir alle von extrem starker Seekrankheit befallen. Ohne Toilette, ohne Waschmöglichkeit. Sechs von uns, die sich, in einer verschlossenen Kammer in ihre Sitze geschnallt, übergeben und urinieren und Schlimmeres. Wir wären dehydriert und verloren. Keine Fenster und keine Hilfe, keine Dive Control, niemand, der uns Wasser oder Decken oder Antworten gäbe, keinerlei Kontakt mit der Außenwelt. Wir wären völlig auf uns allein gestellt. Und sollten wir irgendwann von den falschen Leuten gefunden werden, von Leuten, die die Gesetze des Drucks nicht kennen, von Leuten, deren instinktive Reaktion trotz aller Warnungen vermutlich wäre, eine Luke zu öffnen und den überlebenden Tauchern zu Hilfe zu kommen, obwohl jeder von ihnen mit quäkender Stimme verzweifelt protestieren würde – ja, dann würden sie uns alle töten und dabei womöglich selbst zugrunde gehen.

Wir sitzen zu eng aufeinander.

Wir atmen dasselbe Gas, das wir gerade ausgeatmet haben.

Sättigungstauchen ist, trotz der augenscheinlichen Risiken, statistisch sicherer als Geräte- oder Höhlentauchen. Seit Piper Alpha hat die ganze Nordseeölindustrie daran gearbeitet, die Verfahren und die Ausrüstung zu optimieren.

Ich kann es kaum erwarten, dieses Rettungsboot zu verlassen. Schon in der Kammer ist es extrem eng, aber das macht mir nichts. Sie hat wenigstens Fenster. Dieses Rettungsboot hat so etwas nicht.

Ein stählerner Sarg.

»Übung beendet. Danke, Männer.«

Es macht mir nichts, dass sie mich einen Mann nennen. Ich finde es sogar gut. Wir klettern die Leiter, die wir heraufgekommen sind, wieder hinunter und quetschen uns durch den Schacht, die Metallröhre, in die Nasszelle zurück. Schweiß rinnt über mein Gesicht.

Ohne ein weiteres Wort legen wir uns alle schlafen.

An der Wand über meinem Kopf steht »Drass«. So heißt die italienische Spezialfirma, die dieses System gebaut hat. Ich sage meinen wunderbaren Kindern und meinem lieben Mann noch einmal gute Nacht, dann drehe ich mich zu der gekrümmten Metallwand, und als stiege ich aus einer Glocke in tiefes Wasser hinaus, versuche ich in Gedanken der Enge dieses Orts zu entkommen.

Mein Bett ist noch warm. Wir führen in vieler Hinsicht ein klösterliches Leben, obwohl den meisten von uns nichts fernerliegen könnte als Mönchtum. Hier drinnen gibt es keinen Handyempfang. Das Wi-Fi für die Laptops ist bestenfalls lückenhaft und häufig nicht existent. Je nach System gibt es einen Kopfhöreranschluss für Musikberieselung oder auch nicht. Wir haben ein Festnetztelefon, aber die meisten Taucher benutzen es nicht, weil unsere Angehörigen und Freunde kein Wort von dem verstehen, was wir sagen. Das letzte Mal, als ich Steve beim Sättigungstauchen angerufen habe, an unserem zehnten Hochzeitstag, konnte er nicht verstehen, was ich zu sagen versuchte, worauf wir den Anruf beide frustriert beendet haben. Es war eine Stunde Meditation à la Gilly nötig, bevor ich mich nach Hause getraut habe. Deshalb bleiben wir über lange Phasen jedes Einsatzes hinweg stumm. Die Tonne ist ein Ort zum Nachdenken, Arbeiten und Schlafen.

Vom Druck und vom Helium beginnen meine Gelenke zu schmerzen. Aber meine Nebenhöhlen, und das ist ganz wichtig, sind okay. Veränderungen des Außendrucks können je nach ihrer Intensität erhebliche Auswirkungen auf die geschlossenen Hohlräume des menschlichen Körpers haben und zu schweren Gewebeschädigungen führen. Ein solches Barotrauma gilt es unter allen Umständen zu vermeiden. Deshalb sind intakte Ohren und Nebenhöhlen für jede erfolgreiche Taucherkarriere unabdingbare Voraussetzung.

Ich weiß, dass ich um vier geweckt werde. Ich sollte dringend schlafen, muss aber ständig an das Rettungsboot denken. Jeder von uns hat Kameraden verloren. Das gehört zum Tauchen dazu. Jumbo, der auf den Falklands war, hat allerdings mehr verloren als alle von uns zusammen.

Ich habe ihn mal gefragt, ob er eine posttraumatische Belastungsstörung hatte.

Darauf hat er mich mit brennenden Augen aufgefordert, nie wieder jemandem auf hoher See eine solche Frage zu stellen.

4

»Okay, jetzt ist es vier Uhr früh, Schichtbeginn«, sagt Malcolm, der Nacht-Superintendent, mit seiner nasalen Stimme. »Wie ich höre, kommt gerade euer Frühstück. Over.«

Nach einem Unfall in norwegischen Gewässern, bei dem es vor zehn Jahren zu einer Gasverwechslung kam, wurde gegen Malcolm ermittelt. Am Ende wurde er zwar entlastet, aber sein Name ist immer noch mit dem Makel dieses Malheurs behaftet.

Als ich mich strecke und aus meiner Koje klettere, passe ich auf, keine abrupten Bewegungen zu machen, die Jumbo direkt unter mir oder einen der anderen nur wenige Zentimeter entfernten Männer wecken könnten. Nur André ist schon wach. Mit gesenktem Kopf, um ihn sich nicht an der Decke zu stoßen, zieht er den Vorhang zur Seite und geht in den Aufenthaltsbereich. Ich reibe mir mit den Fingerspitzen die Augen und folge ihm.

Die gelbliche Beleuchtung ist hart und tut André keinen Gefallen. Er sieht ausgezehrt aus, und mich macht sie wahrscheinlich auch nicht attraktiver. Das Heliox hockt schwer in meiner Lunge. Man könnte meinen, ich würde mich zu dieser unchristlichen Zeit in mein Bett zurückwünschen, aber in Wirklichkeit kann ich es kaum erwarten, in die Glocke zu klettern und der Enge der Kammer zu entkommen. Ich sehne mich danach, auf dem Meeresgrund herumzugehen und zu schwimmen und auf dem schlammigen Boden Rückwärtssaltos zu machen.

Ich freue mich darauf, ganz allein zu sein und so viel Platz zu haben.

Wir öffnen die Medlock und holen Aluschalen und Edelstahlteebüchsen herein. Frische Milch und köstlicher eiskalter Saft mit Fruchtfleisch. Essen ist wichtig, sowohl als Energiespender als auch für die Moral. Viel von dem, was die Jungs außerhalb der Kammer für uns tun, dient vor allem der Stärkung unserer Moral. Gutes Essen, heiß serviert. Knochentrocken gelieferte Tauchanzüge. Musik und Nachrichten über unsere Kopfhörer; Fußballspiele, die wir auf Bildschirmen hinter den Bullaugen verfolgen können. Briefe von zu Hause und neuer Lesestoff. Und nicht zuletzt das, was wir selbst mitgebracht haben: schwarzer Humor, wilde Geschichten, Geflachse und Kameradschaft.

Alles, damit wir ausgeglichen bleiben.

Sobald der Tisch ausgezogen ist, beginnen wir zu essen; wir haben nur eine Stunde Zeit, bevor unsere Arbeit beginnt. Wortlos verschlinge ich Kleieflocken und ein Schinkenbrötchen, dann einen Obstsalat und zwei Naturjoghurts. André verdrückt ein Würstchensandwich und dazu Kellogg’s All-Bran und Rühreier. Wir brauchen diese Energie. Außerdem brauchen wir die Kleie, denn wie ein erfahrener Kanadier bei meinem ersten Tauchgang so schön gesagt hat: »Die meistgeschätzte Fähigkeit eines jeden Tiefseetauchers ist, auf Kommando kacken zu können.« Wir können bei einem Einsatz zwar pinkeln, wann immer wir wollen – Sättigungstauchen ist meines Wissens die einzige Tätigkeit, bei der das geduldet wird –, aber alles andere ist in der Tiefe kompliziert. Es ist möglich, aber nicht schön.