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Ein eiskalter schwedischer Winter. Im tief verschneiten Värmland stürzt der Besitzer einer Fabrik vor den Augen seiner Mitarbeiter in den Tod. Unter den Zeugen ist auch die Journalistin Tuva Moodyson, die nicht an Selbstmord glaubt. Denn die zurückgezogen lebende Familie des Fabrikanten scheint vor irgendetwas große Angst zu haben. Dann wird auf dem Fabrikgelände eine weitere Leiche gefunden, und Tuva ahnt: Diese Story führt sie auf allzu dünnes Eis - unter dem ein gefährlicher Abgrund lauert ...
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Seitenzahl: 575
Veröffentlichungsjahr: 2020
Ein eiskalter schwedischer Winter. Im tief verschneiten Värmland stürzt der Besitzer einer Fabrik vor den Augen seiner Mitarbeiter in den Tod. Unter den Zeugen ist auch die Journalistin Tuva Moodyson, die nicht an Selbstmord glaubt. Denn die zurückgezogen lebende Familie des Fabrikanten scheint vor irgendetwas große Angst zu haben. Dann wird auf dem Fabrikgelände eine weitere Leiche gefunden, und Tuva ahnt: Diese Story führt sie auf allzu dünnes Eis – unter dem ein gefährlicher Abgrund lauert …
Will Dean wurde in den englischen Midlands geboren, wo er bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr in neun verschiedenen Dörfern lebte. Nach seinem Studium an der London School of Economics arbeitete er einige Zeit in der englischen Hauptstadt, bevor es ihn der Liebe wegen nach Schweden zog, wo er ein Holzhaus mitten im Wald nördlich von Göteborg baute, das er seither mit seiner Familie bewohnt. Sein Krimidebüt wurde für den beliebten Zoe-Ball-Bookclub ausgewählt und vielfach begeistert besprochen.
W I L L D E A N
TOTEN
WINTER
Kriminalroman
Aus dem Englischen vonSabine Schilasky
Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2019 by Will Dean
Titel der englischen Originalausgabe: »Red Snow«
Originalverlag: Point Blank, an imprint of Oneworld Publications, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn
Titelillustration: © shutterstock/gyn9037; © Alex Stemmer/shutterstock;© Lost Mountain Studio/shutterstock; © Photosampler/shutterstock;© Standret/shutterstock; © Piotr Wawrzyniuk/shutterstock
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-9451-1
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Alfred. Immer.
Der Volvo vor mir liegt im Graben, und zwar schon eine ganze Weile, würde ich sagen.
Ich tippe das Bremspedal meines Geländewagens an, und er bleibt brav und ohne Probleme stehen. Die Spikes tun ihren Dienst, beißen sich ins Eis, und der Wagen hält lautlos. Hier oben ist alles still. Weiß und vollkommen, vollkommen still.
Minus neunzehn Grad, meldet mir das Display des Armaturenbretts. Ich setze meine Mütze auf und ziehe die Ohrenschützer herunter, achte dabei darauf, dass sie meine Hörgeräte nicht beeinträchtigen. Dann drehe ich die Heizung auf, lasse den Motor laufen und öffne die Tür, um auszusteigen.
Der Volvo sieht aus wie ein Eiswürfel, gerade Linien und funkelnde Kristalle. Kein Lebenszeichen, keine Farben oder besonderen Merkmale. Er ist stark nach rechts geneigt, sodass ich mich ungefähr auf einer Höhe mit dem Fenster auf der Fahrerseite befinde. Meine Knöchel erzeugen in den dicken Handschuhen nur ein dumpfes Geräusch, als ich an die Scheibe klopfe. Also reibe ich mit der Hand übers Glas, aber es ist vollkommen vereist.
Ich trete zurück. Die kalte Luft beißt mir in die spröden Wangen. Ich brauche bessere Cremes, verschreibungspflichtige Cremes, extra für den Winter. Mein Handy hat keinen Empfang, deshalb blicke ich mich um, ehe ich zu meinem Pick-up zurückgehe und einen Eiskratzer hole. Ich habe drei im Türfach meines Hilux, denn man kann nie vorsichtig genug sein.
Als ich am Fenster des Volvos zu kratzen beginne, klingt es durch meine Hörgeräte, als würden Gerüststangen durch einen Häcksler gejagt. Allmählich habe ich Erfolg, die Eisscherben stieben in alle Richtungen. Dann sehe ich sein Gesicht.
Ich kratze fester. Schneller.
»Können Sie mich hören?«, brülle ich. »Geht es Ihnen gut?«
Nein, tut es nicht.
Ich kann die Eiskristalle auf seinem Schnurrbart sehen und die festgefrorenen Rotzspuren, die sich unter beiden Nasenlöchern gebildet haben. Er bewegt sich nicht.
Ich kratze weiter und reiße an der Tür, aber entweder ist sie verriegelt oder festgefroren – oder beides. Vor meinem Gesicht steigen nervös anmutende Atemwolken auf, Dampfschwaden zwischen mir und ihm, zwischen meinem billigen Mascara und seinen kristallisierten Wimpern. In den letzten sechs Monaten habe ich schon genug Tote gesehen, mehr als genug. Wieder klopfe ich ans Fenster und ziehe am Türgriff. Und nun schlägt er die Augen auf.
Vor Schreck weiche ich zurück, meine dicken Gummisohlen rutschen auf dem glitzernden Schnee weg.
Er rührt sich nicht, sieht mich einfach nur an.
»Geht es Ihnen gut?«, frage ich.
Wortlos starrt er mich an. Er regt sich nicht, bewegt den Kopf nicht, aber seine graublauen Augen sind suchend, nein, fragend auf mich gerichtet. Dann schnieft er und nickt, ein passiv-aggressives »Danke, ich habe das hier im Griff«, was einfach nur lächerlich ist.
»Ich bin Tuva Moodyson. Ich kann Sie nach Gavrik fahren. Oder ich kann jemanden für Sie anrufen.«
Der gefrorene Rotz in seinem Schnurrbart knackt und splittert, als er die Worte: »Mir geht es gut« mit den Lippen formt. Und nach über zwanzig Jahren Training kann ich ziemlich gut von seinen Lippen lesen.
Ich reiße erneut an seinem Türgriff, beginne im Nacken zu schwitzen, als etwas nachgibt, weshalb ich noch fester ziehe. Eis knackt, und die Tür öffnet sich ein wenig. In diesem Winkel ist sie ganz schön schwer.
»Wollen Sie, dass die Kabel brechen?«, fragt er.
»Wie bitte?«
»Hier draußen sind es ungefähr minus zwanzig Grad, und Sie haben eben meine Autotür aufgerissen, als wäre sie eine Schatztruhe. So brechen die Kabel vom Türgriff ganz sicher.«
»Möchten Sie sich in meinem Wagen aufwärmen?«, frage ich. »Soll ich die Pannenhilfe rufen?«
Er blickt zu meinem Pick-up hinüber, als müsste er erst überlegen, ob dieses Fahrzeug dazu geeignet ist, ihm das Leben zu retten. Ich blicke ihn an, all die Schichten Kleidung, in denen er sich regelrecht verpuppt hat. Unter seiner Jacke müssen sich noch fünf oder sechs andere befinden, so aufgeplustert, wie er aussieht. Und über seinen Knien liegen mehrere Decken, er trägt dicke Skihandschuhe, und ich kann drei Mützen ausmachen, jede hat eine andere Farbe.
Er hustet, spuckt aus und sagt: »Ich komme nur kurz mit rüber, um mich aufzuwärmen.«
Na, vielen Dank dem König aller Charmeure von Värmland für dieses großzügige Angebot!
Ich helfe ihm aus dem Wagen und stelle fest, dass er einen halben Kopf kleiner ist als ich und um die fünfundfünfzig sein muss. Auf dem Beifahrersitz liegt eine Nagelschere neben einer Tüte voller Dosen, und im Fußraum liegt eine Tüte Trockenfutter für Hunde. Er verriegelt seinen Volvo, als würden hier draußen irgendwelche schwedischen Gangs nur darauf warten, ihm seinen kaputten Scheißwagen zu klauen. Dann stapft er hinüber zu meinem Pick-up.
»Japaner?«, fragt er, als er die Beifahrertür öffnet.
Ich nicke und steige ein.
»Zehn Minuten, dann sind Sie mich los«, sagt er.
»Und Sie heißen?«
Er hustet. »Andersson.«
»Tja, Herr Andersson, ich bin Tuva Moodyson. Freut mich.«
Eine Weile schauen wir beide durch die Windschutzscheibe nach vorn, reden nicht, starren einfach nur auf das weiße Umland von Gavrik. Es sieht aus wie einer dieser leeren Joker-Steine beim Scrabble.
»Sind Sie das, die diese Artikel in der Zeitung schreibt?«, fragt er.
»Bin ich.«
»Ich gehe jetzt lieber wieder zurück zu meinem Wagen.«
»Wenn Sie wieder rausgehen, sind Sie tot. Ich sollte Sie wirklich in die Stadt fahren. Ihrem Auto passiert schon nichts.«
Er sieht mich an, als wäre ich ein begriffsstutziges kleines Kind.
»Ich bin hier schon in mehr heftigen Wintern herumgefahren, als Sie warme Mahlzeiten hatten.«
Was zum Teufel will er damit andeuten?
»Und ich kann Ihnen sagen«, fährt er fort, während er sich mit dem Jackenärmel die Nase abwischt, »dass das hier gar nichts ist. Minus zwanzig, vielleicht zweiundzwanzig, ein Witz! Jedenfalls habe ich meinem Mittleren vor drei Stunden eine Nachricht geschickt, mit meinen Standortdaten. Wenn er oben in der Papiermühle fertig ist, kommt er mich abholen. Denken Sie etwa, ich bin im Winter noch nie in einem Graben gelandet?«
»Na gut, dann gehen Sie eben«, sage ich und mache eine Pause, damit er Zeit zum Nachdenken hat. »Aber ich werde die Polizei verständigen, und dann muss Thord kommen und Sie aufsammeln. Wie wäre es, wenn wir ihm die Mühe ersparen?«
Andersson seufzt und nagt an seiner Unterlippe. Das Eis auf seinem Gesicht ist geschmolzen, und jetzt sieht es nur noch erhitzt, eingefallen und ein bisschen müde aus.
»Und Sie fahren?«, fragt er.
Ich lache genervt.
Bevor ich den Gang einlege, schalte ich beide Sitzheizungen ein. Als wir an dem vereisten Volvo vorbeifahren, blickt er so wehmütig aus dem Fenster, als würde er die Liebe seines Lebens auf irgendeinem Bahnhof zurücklassen.
»Warum kaufen Sie sich kein schwedisches Auto?«, fragt er.
»Gefällt Ihnen mein Hilux nicht?«
»Ist kein Schwede.«
»Aber er fährt.«
Unterwegs bewegt er sich unruhig auf dem Beifahrersitz, als hätte er irgendwas fallen gelassen.
»Ist mein Sitz warm?«, fragt er.
»Soll ich die Sitzheizung runterschalten?«
»Sie sollen das verdammte Ding ausschalten, ich fühle mich hier drüben gerade, als hätte ich mir in die Hosen gepinkelt!« Er sieht mich angewidert an. »Die verfluchten Japaner denken aber auch an alles.«
Okay, ich befördere hier also einen miesen Rassisten, aber es sind ja nur zwanzig Minuten bis nach Gavrik. Und überhaupt sind es heutzutage ja nie die netten, witzigen und klugen Leute, die irgendwo aufgesammelt werden müssen, oder?
»Wo soll ich Sie absetzen, Herr Andersson?«
»Lassen Sie mich einfach bei der Fabrik raus.«
»Arbeiten Sie da?«
»Könnte man so sagen. Leitender Hausmeister. Im nächsten Juni seit dreiunddreißig Jahren.«
Ich betätige die Scheibenwaschanlage, und der Geruch nach Frostschutzmittel weht durch die Lüftung herein.
»Und wie viele Hausmeister gibt es da?«, frage ich.
»Nur mich.«
»Kriegen Sie das Lakritz umsonst?«
»Gar nichts kriege ich, und das geht Sie auch nichts an. Ich bin der Hausmeister, das war’s.«
Ich fahre auf eine Kreuzung zu, eine Langlaufloipe führt darüber hinweg, und sie ist mit gelben Plastikstäben markiert, die aussehen wie Zahnstocher auf einer wunderschönen Hochzeitstorte. Die Luft bewegt sich nicht, und der Himmel ist eine einzige hängende Schneelandschaft, die nur darauf wartet herunterzubrechen.
»Von Ihnen ist die Medusa-Geschichte, oder?«
Ich nicke.
Er schüttelt den Kopf.
»Ist Ihnen klar, dass Sie diese Gegend damit so gut wie vernichtet haben? Hier gibt es einige Leute, die froh wären, wenn Sie aus der Stadt verschwinden. Ich sage bloß, was ich gehört habe.«
Diesen Mist bekomme ich immer wieder mal zu hören. Ich bin die einzige Fulltime-Journalistin hier in Gavrik und werde daher für sämtliche schlechten Nachrichten verantwortlich gemacht, dabei schreibe ich lediglich darüber.
»Dann habe ich meinen Job wohl gut gemacht«, erwidere ich.
»Ja klar, das müssen Sie ja sagen.«
»Wäre es Ihnen lieber, es würden immer noch Elchjäger im Wald erschossen?« Für eine Weile ist er still, und ich schalte die Heizung von Fußraum und Gesicht auf Windschutzscheibe.
»Ich weiß nur, dass es uns den schwer erarbeiteten Ruf gekostet hat«, antwortet er. »Und dem Himmel sei Dank, dass wir noch die Fabrik und die Papiermühle haben, die für ein wenig Stabilität sorgen. Das ist alles, was ich dazu sage.«
Ich nähere mich dem Ort, und hier liegt weniger Schnee auf der Straße. Hier wird häufiger geräumt, mehr Schnee geschippt, und die Straßenlaternen gehen gerade an. Es ist drei Uhr nachmittags, und die Laternen müssen schon eingeschaltet werden. Willkommen im Februar.
»Ich schätze mal, Sie machen bloß Ihren Job wie jeder andere auch, aber das hier ist eine Kleinstadt, und wir sind ziemlich von der Außenwelt abgeschnitten. Wir haben gelernt zusammenzuhalten. Ich habe acht Enkelkinder, um die ich mir Sorgen mache. Wenn Sie von hier wären, würden Sie das verstehen.«
Ich fahre weiter.
Die Zwillingsschornsteine der Fabrik, dem größten Arbeitgeber der Stadt, ragen vor uns auf. Es ist das größte Gebäude hier, neben dem Supermarkt. Zwei Backsteinvierecke vor weißem Hintergrund.
»Ich muss sagen, dafür, dass Sie taub sind, hören Sie ziemlich gut, was Sie jetzt hoffentlich nicht falsch verstehen.«
»Ja, ich kann Sie sehr gut hören.«
»Benutzen Sie Hörgeräte?«
Ich fühle seinen bohrenden Blick, der auf meinen Kopf gerichtet ist.
»Ja, tue ich.«
»So was brauche ich auch bald. Dieses Frühjahr werde ich einundsechzig.«
Ich fahre am Eishockeyfeld vorbei und weiter zwischen dem Supermarkt und dem Fastfood-Restaurant hindurch – den beiden Torpfosten von Gavrik – und dann über die Storgatan, die Hauptstraße des Ortes. Wir lassen den Kurzwarenladen hinter uns, das Jagdgeschäft, das Redaktionsgebäude, wo ich arbeite und wo immer noch diese armselige Weihnachtsdekoration im Fenster hängt, und die Polizeiwache. Schließlich halte ich neben der Grimberg-Lakritzfabrik-»Gegründet 1839«, wie es auf dem Tor heißt.
»Ist es hier okay?«, frage ich.
Andersson steigt wortlos aus, und ich schaue mich um. Fünf oder sechs Leute stehen hier herum, und fast alle blicken zum Himmel hinauf. Das ist ungewöhnlich, ganz sicher im Februar. Eine gebeugte Gestalt in einer braunen Jacke rutscht auf dem Eis aus, als sie weggehen will. Ich versuche, durch die Windschutzscheibe nach oben zu sehen, aber dort ist sie noch vereist. Also steige ich aus, betrete den mit Salz und Splitt gestreuten Gehweg und höre Gemurmel. Noch mehr Leute nähern sich von der Eriksgatan.
Sie sehen zu dem Schornstein hinauf, aus dem ich noch nie Rauch habe aufsteigen sehen. Dort oben ist ein Mann – zumindest glaube ich, dass es ein Mann ist –, der im Anzug über die Steighilfen seitlich am Schornstein hinaufklettert, immer höher, vorbei an den Masten und Antennen, die im Mauerwerk angebracht sind. Er trägt weder Mütze noch Handschuhe. Ich blicke hinauf in den blendend weißen Himmel. Die blassen Wolken bewegen sich schnell über uns hinweg, und der Wind frischt auf. Als ich nach oben starre, wirkt es, als würden die Schornsteine auf mich zu kippen. Und dann springt der Mann.
Er schlägt auf dem gepflasterten Bereich vor der Fabrik auf, direkt vor dem Torbogen. Sein Kopf zerplatzt wie eine Wassermelone.
Jemand schreit.
Nur eine Person.
Ein einzelnes Aufheulen, es kommt von einer Frau hinter mir.
»Holen Sie Thord«, sage ich zu Andersson. »Rufen Sie die Polizei.«
Doch er steht einfach nur da, betrachtet den Mann auf dem Pflaster, blickt hinauf zum Schornstein und wieder zu dem Toten. Noch mehr Leute kommen aus dem Gebäude, knöpfen ihre Jacken zu, richten ihre Mützen und schnappen nach Luft, als sie begreifen, was eben geschehen ist.
Ich sehe, wie jemand zur Polizeiwache eilt, die nur eine Minute von hier entfernt ist, und laufe auf das Fabrikgelände. Dort färbt sich der Schnee rot.
»Bleiben Sie bei mir«, sage ich lauter und strenger, als ich es mir zugetraut hätte, doch es ist sinnlos. Er ist der toteste Tote, den ich je gesehen habe. Seine Beine sind verdreht, und er hat die Arme fest um seinen zerbrochenen Kopf gelegt, wie ein Kind im Tiefschlaf. Ich komme mir nutzlos vor. Diesem gebrochenen Mann kann ich nicht helfen. Ich kann rein gar nichts für ihn tun.
Als Thord erscheint, tastet er nach dem Puls des Mannes und bewegt seine kalten Hände zu seinem Kopf, doch dann hält er inne. Wofür sollte das auch gut sein?
Er führt mich weg von der Leiche und dreht sich um. Nach einer Weile fährt ein Krankenwagen vor.
»Aus dem Weg!«, befiehlt einer der Sanitäter.
Sie machen sich an die Arbeit, und ich stolpere wenige Schritte rückwärts auf das Tor zu. Inzwischen hat sich halb Gavrik hier versammelt. Einige haben wohl länger gebraucht, mussten erst ihre Stiefel, die Handschuhe, die Jacken und die Pudelmützen anziehen. Aber jetzt sind sie hier.
Mir ist flau, deshalb lehne ich mich an das Torgitter und lasse mich langsam daran herabsinken. Mir fällt ein Flecken pinker Schnee an meinen Stiefeln auf, und ich glaube ohnmächtig zu werden. Und dann höre ich den zweiten Schrei.
Eine gut gekleidete Frau eilt durch den Torbogen der Durchfahrt, die das Gebäude durchschneidet, und wirft sich neben dem Toten auf den Boden. Die Sanitäter treten einen Moment zurück, als wüssten sie, wer sie ist. Und was sollten sie sonst auch tun.
»Alle zurücktreten«, sagt Thord und geht mit ausgebreiteten Armen auf die Gruppe Skijacken-Menschen zu. »Am besten gehen Sie alle wieder in Ihre Büros oder nach Hause. Treten Sie bitte zurück.«
Und das tun sie dann auch, denn sie sind Schweden, und sie können jetzt ohnehin nicht mehr viel sehen, weil ihnen der Krankenwagen die Sicht versperrt. Außerdem sind es mindestens minus neunzehn Grad.
Ein altes Paar entfernt sich über die Straße. Die beiden trösten sich gegenseitig.
Thord sieht mich an.
»Alles in Ordnung, Tuvs?«
Ich nicke.
Die Frau, die sich neben den Toten geworfen hat, weint jetzt. Ich bin ziemlich sicher, dass es der Fabrikchef war und sie seine Frau ist, Anna-Britta, soweit ich weiß. Nun schluchzt sie leise hinter dem Krankenwagen. Jetzt erscheint auch Polizeichef Björn, er sagt irgendetwas zu Thord und geht dann rüber zu der Leiche, wobei er seine Mütze abnimmt. Es wird allmählich dunkel, und alles Weiß verwandelt sich in Grautöne.
Ein Volvo-Taxi fährt langsam vorbei, und eine weitere Polizistin trifft ein. Die Neue. Sie hat letzte Woche angefangen, die Meldung hat es auf die Titelseite geschafft. Jetzt gerade hat sie mir den Rücken zugekehrt. Ihr schwarzes Haar wird von einer Schildpattspange zusammengehalten. Sie dreht sich um, und im gedämpften Licht sehe ich ihr Gesicht, sehe ich, wie sie mich flüchtig mustert.
»Wir schließen das Tor«, sagt Thord, in dessen Augenbrauen Frost glitzert. Hinter ihm geht eine rothaarige Frau vorbei. »Wir müssen Fotos machen und mit den Zeugen reden. Du kannst mir vielleicht dabei helfen, eine Liste zusammenzustellen. Du warst doch dabei, oder?«
Wieder nicke ich. »Klar. Jetzt gleich?«
»Nein, komm rüber zur Wache, so ungefähr in einer, anderthalb Stunden.«
»Okay.«
»Am besten gehst du jetzt in dein Büro. Tut mir leid, dass du das mitansehen musstest.«
Ich fotografiere den Schornstein und den Krankenwagen mit meinem Handy. Auch als ich mich bereits von der Szene abgewandt habe, fühle ich noch die Wucht dessen, was gerade geschehen ist. Mir ist nicht wohl dabei, mich wegzudrehen, weg von der Fabrik, den beiden Schornsteinen und dem gebrochenen Toten im Schnee. Es ist, als würde das Geschehen einen Schatten auf die Storgatan werfen, in dem ich mich nun bewege. Ein schwarzer Mercedes-Geländewagen schlittert über die Straße, als wolle er der Dunkelheit des Schornsteines entfliehen. Schließlich wende ich mich nach links und öffne die Eingangstür zum Gavrik Posten.
Die Türglocke läutet, und ich trete in die Wärme.
Lars ist nicht da. Er arbeitet Teilzeit und ist erst morgen wieder hier. Nils ist hinten in seinem Büro, das gleichzeitig die Küche ist, und verkauft Werbeanzeigenplatz an dieselben Leute, die sie schon seit zwölf Jahren kaufen. Lena ist in ihrem Büro auf der linken Seite und bereitet alles für den Druck vor.
Ich streife meine Stiefel ab. Ich fühle mich nicht gut, und meine Beine zittern, als ich Jacke, Handschuhe und Mütze ausziehe. Die Jacke hänge ich an den verstärkten Haken und lege die anderen Wollsachen in meinen Korb.
Lena öffnet die Tür, sie trägt Jeans und ein Ski-Unterhemd. Das Grau in ihrem Afro ist seit meiner Ankunft in diesem Kaff noch grauer geworden, und ich finde, dass es ihr steht.
»Ist etwas passiert?«, fragt sie.
»Ja.«
Ich ziehe meinen Fleecepulli aus und lege ihn auf meinen Schreibtisch.
»Grimberg ist gesprungen«, sage ich.
»Was?«
»Er ist auf den Fabrikschornstein geklettert und gesprungen. Er ist tot.«
Sie hält sich eine Hand vor den Mund. Mich beeindruckt es immer wieder, wie sehr schlechte Nachrichten sie treffen, denn sie muss in ihrem Leben, das sie in Nigeria, New York und Gavrik verbracht hat, schon so einiges gesehen haben. Aber Lena Adeola steht nicht über den Dingen.
Sie schüttelt den Kopf. »Hast du es gesehen?«
Ich bejahe stumm, und sie kommt näher, um einen Arm um mich zu legen, weil ich in den letzten sechs Monaten so viel durchgemacht habe, wegen meiner Mutter oder weil ich in zehn Tagen weggehe. Oder einfach wegen allem zusammen. Normalerweise steht sie nicht darauf, andere zu umarmen.
Ich erschaudere, wenn ich an Grimberg denke, daran, wie er auf dem Pflaster aufgeschlagen ist. Bei dem Gedanken an das Geräusch!
»Soll ich dir einen Kaffee holen?«, fragt sie. »Brauchst du eine Pause?«
»Ich muss eine Aussage machen und Thord erzählen, was ich gesehen habe und wer dort war.«
Sie geht in Nils’ Küchenbüro, und ich sehe flüchtig, dass er die Füße auf seinen Schreibtisch gelegt hat. Lena gießt Kaffee aus der Maschine in zwei Gratisbecher von dem Laden, der Kettensägen verkauft, und bringt mir einen.
Sie trinkt einen Schluck und blickt zu ihrem Büro hinüber.
»Dann müssen wir jetzt wohl einiges umstellen«, sagt sie.
»Ja, ich werde heute Abend arbeiten. Wir haben genug für die Titelseite.«
»Wenn das für dich in Ordnung ist.«
Ich nicke, hole meine Wintercreme hervor und drücke etwas auf meine rissigen Hände, dann verteile ich die Creme zwischen meinen Fingern, auf den Handknöcheln und schließlich auf meinen Wangen und Augenlidern. Sie sind nach der wochenlangen trockenen Kälte am schlimmsten dran – die Februarluft speichert keine Feuchtigkeit. Ich sehe zur Uhr. Es ist zehn nach vier, und ich denke wieder an das Geräusch. Dieses Knacken. Warum ist er gesprungen? Was kann so schrecklich sein, dass man im Februar einen Schornstein hinaufsteigt und alles beendet? Nachdem ich meine Hörgeräte herausgenommen habe, schalte ich meinen Computer ein, der so groß ist wie eine Mikrowelle, und öffne meine Storys.
Sechs Schlagzeilen, die seit dem Selbstmord in der Fabrik alle in den Hintergrund rücken: Das Valentinstag-Dinner mit dem geheimen Ehrengast im Hotel Gavrik nächste Woche. Ein absolutes »De-luxe-Dinner«, keine Frage. Ich denke an den Kopf des Mannes auf den Pflastersteinen, an den Schnee, an die Farbexplosion, den Klang, das Leben, das ihn dort verließ, den exakten Moment des Todes. Fröstelnd reibe ich mir die Augen und öffne den nächsten Artikel. Der Gemeinderat hat für dieses Wochenende eine Dachräumaktion für die gesamte Kommune angeordnet. Man sorgt sich, dass die Dächer unter den Schneemassen einstürzen könnten. Außerdem wird davor gewarnt, sich dem verlassenen schwarzen Lagerhaus hinter dem Toyota-Händler zu nähern, weil es bei dem jetzigen Wetter jederzeit einstürzen kann. Die Papiermühle ungefähr eine Stunde Fahrt nördlich von hier sponsert das jährliche Eishockeyspiel Gavrik gegen Munkfors am 13. März. Das tun sie jedes Jahr, und in den meisten Städten wäre es keine Meldung wert, aber wir sind nicht die meisten Städte. Björnmossens, Gavriks größtes Jagdgeschäft, beginnt am dritten März mit dem Schlussverkauf. Sämtliche Munition zum halben Preis. Dann: Eine Schrecksekunde in der letzten Woche, als ein kleines Mädchen beim Schlittschuhlaufen auf dem Stausee in ein Loch zum Eisangeln fiel. Deshalb haben die Besitzer einen Bereich extra zum Schlittschuhlaufen abgesperrt. Das Angeln hat Vorrang vor dem Schlittschuhlaufen, zumindest hier in Gavrik. Und schließlich – wohl die wichtigste Story bis zu den schaurigen Ereignissen von heute – die einzige Vollzeitreporterin beim Gavrik Posten, gemeint bin ich, verlässt die Redaktion nach der nächsten Wochenausgabe, um bei einem vierzehntägig erscheinenden Blatt nahe Malmö anzufangen. Ich habe das große Los gezogen.
Ich versuche, den Pfützen auszuweichen, die in dieser Jahreszeit auch drinnen in jedem Eingangsbereich entstehen, und ziehe all meine fleecegefütterten Goretex-Sachen wieder an. So ist das im Februar in Zentralschweden. Man verbringt die Hälfte der Zeit damit, sich an- oder auszuziehen, und die andere Hälfte damit, seinen Wagen freizuschaufeln oder -zukratzen.
Meine Hörgeräte liegen noch auf dem Schreibtisch. Ich greife hinüber und setze sie ein, was bei meiner krokodiltrockenen Haut ziemlich unangenehm ist. Dann gehe ich wieder nach draußen.
Es ist kalt, und die Straße ist leer. Der Krankenwagen, die Polizei, die Leiche, alles verschwunden. Aber die Fabrik ist noch da. Oh ja, sie steht nach wie vor auf ihrem Granithügel und blickt hinab auf die Kleinstadt. Ihr Schatten reicht bis zum Fastfood-Restaurant.
Auch die Wache ist menschenleer und die Neue nirgends zu sehen. Ich drücke auf die Klingel am Tresen, und Thord kommt aus den hinteren Räumen.
»Wollen wir das im Büro machen, da ist es wärmer?«
»Und ob!«
Er öffnet die schwere Sicherheitstür, und ich gehe hindurch. Hier hinten war ich schon einmal, als ich im letzten Oktober Zeugen zu den Medusa-Morden befragte. Viel hat sich seitdem nicht verändert. Aktenschränke und sechs Schreibtische, von denen drei besetzt sind. Eine Kitchenette und ein Garderobenständer für die Polizeijacken, an der Wand Fotos von Polizeichef Petterson, Thords verstorbenem Vater.
»Kaffee?«, fragt er.
»Für mich nicht, danke.«
Es ist Februar, und das bedeutet hier maximale Koffeinzufuhr, maximaler Alkoholkonsum, Extremfernsehen und Onlinepoker, denn mehr gibt es nicht zu tun, bis der Schnee Ende April schmilzt.
»Furchtbare Sache«, sagt Thord. Er setzt sich an seinen Schreibtisch und weist zu dem Stuhl auf der anderen Seite.
Ich setze mich. »Furchtbar.«
»Was war los, bevor wir gekommen sind? Kannst du mir das in deinen Worten beschreiben?«
Seine Wangen sind rot und spröde, und seine Lippen pellen sich wie Rinde an einem Baumstamm.
»Ich bin gegen halb vier dort angekommen, und es waren vielleicht sechs oder sieben Leute da, die zu dem alten Schornstein hinaufgeblickt haben, zu dem rechts, der nie raucht. Ich bin aus meinem Pick-up gestiegen und habe nach oben gesehen. Herr Grimberg ist über die Metallbügel seitlich am Schornstein hochgeklettert. Er war schon fast oben, vorbei an dem G vom Grimberg-Liquorice-Schriftzug auf dem Fabrikdach.«
»War er alleine auf der Leiter?«
»Ich glaube, ja. Sonst habe ich niemanden gesehen, aber es ging alles sehr schnell. Als er ganz oben war, ist er sofort gesprungen. Es war kurz still, und dann habe ich ein Knacken gehört. Er ist auf den Pflastersteinen direkt vor diesem Torbogen aufgeschlagen. Und dann seid ihr gekommen.«
»Hat jemand zu ihm hochgerufen? Gab es Streit? Laute Stimmen? Sah er ängstlich aus?«
»Nein, ich denke nicht. Es ging alles so schnell.«
»Wir haben gehört, dass jemand mit ihm geredet hat. Dass er verängstigt aussah, als er die Leiter hinaufgeklettert ist, so als würde er gejagt. Aber du meinst, sonst war keiner da?«
Ich schüttle den Kopf.
»Mit ihm geredet?«, wiederhole ich. »Gejagt?«
Thord hat sich nichts von dem notiert, was ich gesagt habe, obwohl er einen angekauten Kuli und einen Notizblock vor sich liegen hat.
»Furchtbar, dass das in deiner letzten Woche passieren muss«, sagt er.
»Ja, ist es.«
»Hast du irgendeinen der anderen Zeugen erkannt? Die meisten habe ich selbst gesehen, aber die beiden Alten waren schon weg, als ich ankam.«
»Da waren Linda vom Zeitungsladen und eine Frau mit feuerrotem Haar. Und Bertil mit dem schlimmen Knie war dort, der früher im Klärwerk gearbeitet hat.«
»Bertil Hendersson? Der Bienenmann?«
Ich nicke.
»Okay, das hilft mir«, sagt er und steht auf. »Danke, dass du vorbeigekommen bist.«
»Bekomme ich ein Statement für die Zeitung, Thord?«
»Was sollte das sein?«
»Ich brauche ein Statement von der Polizei, bitte.«
Er schluckt und blickt hinüber zu Björns Schreibtisch. Dort liegt eine Speedboat-Broschüre aufgeschlagen neben dem Telefon.
»Tja, das ist nicht wie bei anderen Sachen, wie du weißt.«
»Trotzdem brauche ich etwas, das ich zitieren kann.«
»Ich meine nicht den …«, er senkt die Stimme und setzt sich wieder, »… Suizid. Ich meine die Familie, die Grimbergs. Sie legen großen Wert auf Diskretion und werden nicht wollen, dass ich zu viel sage, falls du verstehst.«
»Und ich werde diskret sein. Aber ich brauche etwas von euch.«
»Lass mich mit dem Chef reden. Ich rufe dich gleich morgen früh an.«
»Das ist zu spät für den Druck. Lena sitzt da drüben und wartet. Gib mir nur einen Satz.«
»Die Polizei sagt …«
Ich warte, doch er sieht hinaus in Richtung Fabrik und dann zu Björns Schreibtisch. Neben dem Speedboat-Prospekt befindet sich ein Stapel Kreuzfahrtbroschüren.
»Die Polizei sagt …«, wiederhole ich.
»Dass es ein tragischer Vorfall war. Unsere Gedanken sind in dieser schweren Zeit bei der Familie.«
»Das ist alles?«
Stirnrunzelnd nickt er.
»Na gut, dann muss das reichen.«
»Und lass die Grimbergs in Ruhe, Tuvs. Sie leben sehr zurückgezogen, und die ganze Stadt verlässt sich auf sie.«
»Wir müssen die Meldung bringen, Thord.«
»Sie bleiben sehr unter sich, sie sind nicht wie du und ich. Sie leiten diese Fabrik schon so lange, wie meine Familie in Gavrik lebt, seit 1840 oder so, und sie haben praktisch den ganzen Ort aufgebaut. Ohne Grimberg Liquorice gäbe es Gavrik nicht, also sollten wir höflich bleiben. Sie haben im Laufe der Jahre schon genug tragische Todesfälle erlebt. Sie sind wirklich vom Schicksal geschlagen. Lass sie in Ruhe.«
Ich verlasse die Wache, und ein eiskalter Wind peitscht mir ins Gesicht.
Warum hat Gustav das getan? Warum wollte er seinem Leben ein Ende setzen? Und warum vor den Augen der ganzen Stadt?
Schlurfend überquere ich die Storgatan, auf der weder Autos noch Menschen unterwegs sind, und gehe zurück ins Büro. Sporadisch fallen Schneeflocken, schweben sanft nach unten. Ich schaue nach links zur Fabrik, und kurz leuchten in einem der oberen Fenster warme Farben auf. Nur ganz kurz. Ich halte die Hände über meine Ohren, um meine Hörgeräte zu schützen, die jedes ein Monatsgehalt gekostet haben – oder das Gehalt von drei Wochen Arbeit in meinem neuen Job –, und gehe los, so wie jeder auf einer vereisten Straße geht. Vorbei an Ronnies Bar, die nach jahrelanger Renovierung seit letzter Woche wieder geöffnet hat. Eine neue Anlaufstelle in einem Ort, in dem es nichts gibt. Die Türglocke läutet, und Nils kommt mit einem Strauß weißer Heliumballons in der Hand aus seinem Küchenbüro.
»Kindergeburtstag mit Fastfood-Kindermenü, einem Dreirad und allen Schikanen. Netter Tag dafür.«
Ich bin nicht sicher, ob er das sarkastisch oder angesichts des Schornsteinsturzes ernst meint.
»Viel Spaß.«
Er stellt die Ballons hin. Sie sind unten mit einem Gewicht beschwert, damit sie nicht aus Gavrik entkommen und all dies hinter sich lassen können. Dann zieht er seine riesige Jacke an, setzt die Mütze auf und streift seine Handschuhe über.
»Wir sehen uns morgen.«
Lenas Tür steht offen, also sehe ich hinein.
»Thai?«
Sie stimmt wortlos zu.
Ich setze mich an meinen Schreibtisch, ein Modell in Kiefer aus einem Versandkatalog der frühen Neunziger, nehme mein Telefon und wähle.
»Heute Nacht wird gedruckt, richtig?«, fragt Tammy.
»Gutes Gedächtnis«, antworte ich. »Du solltest in Las Vegas Karten zählen. Zwei Phat Thai, bitte, so scharf wie du. Ich hole sie in einer Viertelstunde.«
»Geht klar.«
Ich google Gavrik und finde bereits die ersten Schlagzeilen zum Schornsteinsprung in den Regionalblättern und sogar in einigen der überregionalen. Wermlands Tidningen berichtet über die Familie und wie wichtig sie für die Gemeinde ist, schreibt aber den Namen der Witwe falsch, Anna-Britta, was mich richtig wütend macht. Göteborg Posten konzentriert sich auf Grimberg Liquorice, Schwedens drittgrößten Produzenten von Salzlakritz und siebtgrößten von süßem Lakritz. Jede Menge über Erben, Geheimrezepte und sonstiges unpersönliches Füllmaterial. Aber nicht viel über den Mann, der gestorben ist, oder die Trauernden, die er hinterlässt.
Mein rechtes Hörgerät piepst, deshalb nehme ich es heraus, entferne die Batterie und nehme eine neue aus der kleinen Aufbewahrungsbox, die ich an meinem Schlüsselanhänger trage. Dann ziehe ich die Folie ab und warte ein paar Minuten: Ein kleiner Trick, um die Lebensdauer der Batterie zu verlängern. Schließlich stecke ich sie in das Hörgerät und schließe den Deckel. Ein Jingle erklingt, als ich es einschalte.
Dann sehe ich mir Gavrik auf Google Maps an, weil ich wissen will, wie groß der Abstand der Fabrik zur übrigen Bebauung ist. Das Gebäude hat seit jeher eine besondere Anziehungskraft, strahlt eine uralte Erhabenheit aus, und heute Abend ist dieses Gefühl noch intensiver. Ich zoome auf Schweden, auf Värmland und auf Gavrik. Da ist sie. Ein Industriekomplex von rund drei Morgen Größe, nördlich von der Polizeiwache und dem Hotel Gavrik, dem nächsten Nachbarn, und südlich von der Kirchenruine St. Olov.
Die Tür meines Hilux ist zugefroren, und ich ziehe behutsam, weil ich mich an Hausmeister Anderssons Warnung vor einem Kabelbruch erinnere. Sollte ich diesen Wagen verlieren, wäre ich komplett geliefert, vor allem im Februar. Als Kleinstadtreporterin am Nordpol braucht man ein verlässliches Fahrzeug, wenn man an Storys kommen will – und, noch wichtiger, wieder von ihnen weg.
Als die Tür aufgeht, fällt Schnee vom Dach in den Innenraum und auf meinen Sitz. Thord hat gefragt, ob Grimberg von jemandem den Schornstein hinaufgejagt wurde. Wäre das überhaupt möglich? Ich drehe den Zündschlüssel, richte das Gebläse auf die Windschutzscheibe und stelle es auf die höchste Stufe. Danach mache ich die Sitzheizung an und greife nach meinem Kratzer. Es ist reine Routine, so wie ein Kampfjetpilot vor dem Abflug alles überprüft. Als Nächstes kratze ich die Frontscheibe, die Spiegel und die vorderen Seitenfenster frei und besprühe die hinteren mit Enteiser. Nun steige ich ein, schalte die Scheibenwischer an, löse die Handbremse und fahre los. Alles ist ruhig, das Armaturenbrett meldet minus zweiundzwanzig Grad.
Drei Minuten dauert die Fahrt zu Tammys Van am Rande des großen Supermarkt-Parkplatzes, und unterwegs sehe ich keine Menschenseele. Nicht eine einzige. Ihr Imbisswagen dampft, ist hell erleuchtet und wahrscheinlich mein Lieblingsort in der Stadt. Das Einzige, was mir fehlen wird.
Alles ist weiß. Es sieht aus, als hätte Gott eine Flasche Tipp-Ex über der Stadt ausgekippt. Und wer zur Hölle könnte ihm das verdenken?
Tammy lehnt sich aus der Ausgabeluke, ihre Holzfällermütze hat sie fest unter dem Kinn verschnürt, und in jeder Hand hält sie eine Tüte köstliches Essen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um sie auf die Wange zu küssen, lege zweihundert Kronen auf den Tresen, schnappe mir die Tüten und gehe zurück zu meinem Wagen.
Auf der Rückfahrt zur Redaktion komme ich an sieben leeren Geschäften mit »Zu vermieten«-Schildern vorbei. Sieben.
Lena und ich essen stumm an ihrem Schreibtisch. Meine Nudeln glänzen rötlich vor Chiliflocken, und sie sind gut. Richtig gut. Wir trinken jeder eine Dose Cola aus dem Zeitungsladen gegenüber, und ich wünschte, in meiner wäre etwas Rum. Halb und halb wäre prima. Wir essen aus Plastikbehältern, und ich habe noch Cracker, Lena nicht.
»Ein höllischer Tag«, sagt sie.
Ich habe den Mund voller Shrimps und Erdnüsse, also nicke ich nur.
»Warst du schon mal da drin?«, fragt sie.
»In der Fabrik?«
Sie nickt und schiebt sich mit den Stäbchen Nudeln in den Mund.
»Bloß in dem neueren Teil hinten, als sie vor Jahren die neuen Geschmackssorten herausgebracht haben. Da kam mir alles recht normal vor, nur dieses Gebäude vorn …, ziemlich alter Schuppen.«
Lena zupft sich einen Faden von einer Frühlingszwiebel aus den Zähnen und greift nach ihrer Cola.
»Sie haben Ärger mit Ungeziefer«, sagt sie. »Monster-Ratten in der Süßholzscheune draußen. Gott stehe ihnen bei, sollten die irgendwie in die Fabrik gelangen.«
Ich wische mir den Mund ab.
»Hast du Gustav Grimberg gekannt? Den Mann, der heute gestorben ist?«, fragt sie.
»Direkt mit ihm gesprochen habe ich nie. Ich glaube, ich habe ihn mal in der Bank gesehen, aber gekannt habe ich ihn nicht, nein.«
»Sein Vater ist auf dieselbe Weise gestorben.«
»Vom Schornstein gesprungen?«
»Nein«, antwortet sie kopfschüttelnd. »Es heißt, dass Ludvig Grimberg sich vergiftet hat, aber das ist so um die zwanzig Jahre her, und du weißt ja, was in so einem Fall alles erzählt wird.«
Ich trinke einen Schluck Cola.
»Er konnte die Frau nicht ausstehen, die sein Sohn geheiratet hat. Das ist allerdings Hörensagen. Der alte Ludvig gab ihr die Schuld an ihren geschäftlichen Problemen. Dieses Haus hat im Laufe der Jahre einige tragische Todesfälle gesehen.« Sie saugt eine Nudel in den Mund. »Hast du alles gepackt?«
»Die Wohnung ist so ziemlich fertig. Nächste Woche verabschiede ich mich vom Hilux. Danach will ich noch zu …« Ich unterbreche mich und schlucke. »… Mutters Grab. Da war ich seit der Beerdigung nicht mehr. Und von dort geht es nach Süden, wo die Mädchen hübsch sind und die Jungs noch hübscher.«
»Nettes Leben.«
Ich stecke die Verpackung von meinem Essen wieder in die Tüte und knote sie zu.
»In einer halben Stunde muss ich das hier an die Druckerei schicken«, sagt Lena. »Hast du bis dahin die Titelstory?«
»Das schaffe ich.«
Ich gehe zu meinem Schreibtisch. Inzwischen schmerzen meine Ohren. Die Haut ist vollkommen ausgetrocknet und schorfig. Ich schreibe zwanzig Minuten lang. Wie sich herausstellt, ist es nicht einfach, in Schlagzeilen und Text zusammenzufassen, was ich gesehen und gehört habe. Das Wassermelonengeräusch und die beiden Schreie, erst der von der Passantin, der in der Stille so klar geklungen hatte, und dann der zweite von Gustav Grimbergs Frau. So etwas bin ich nicht gewohnt. Letztes Jahr bei dem Medusa-Fall zum Beispiel habe ich viel über Mord geschrieben, über die Toten draußen im Utgard-Wald. Dies hier ist etwas völlig anderes. Ein Mann ist gesprungen. Es wird viele Fragen geben, Schuldzuweisungen und Gerede, »Es gibt immer einen Ausweg« oder »Da hat es sich jemand leicht gemacht«. Höchstwahrscheinlich werden auch einige geschmacklose Bemerkungen drüben im Wollgeschäft fallen.
Ich schreibe mit Blick auf die Opfer. Seine Familie. Den offiziellen Online-Verzeichnissen zufolge – dem Himmel sei Dank, dass die in Schweden öffentlich sind – handelt es sich da um Gustavs zwanzigjährige Tochter, Karin, und seine Ehefrau, Anna-Britta, dreiundfünfzig, die ich gesehen und deren Schrei ich gehört habe, sowie seine Mutter, Cecilia, zweiundachtzig Jahre alt. Auf die Opfer muss ich Rücksicht nehmen. Als mein Vater starb, haben die Zeitungen Fehler gemacht, und die quälten meine Mutter für den Rest ihres Lebens. Sie schrieben, dass er am 26. Juni gestorben sei, dabei war es der 25. Juni. Solche gedankenlosen Patzer haben es für meine Mutter noch schlimmer gemacht. Und letztlich auch für mich. Als der Medusa-Fall letzten Oktober abgeschlossen wurde, haben sie allen erdenklichen Blödsinn gedruckt, online und in den Printmedien. Sogar in den guten. Fehler, Lügen, schlampiger Journalismus und angedeuteter Quatsch, jedoch nie so eindeutig, dass irgendwer hätte klagen können.
Ich beende den Artikel, lese ihn einmal laut durch und schicke ihn an Lena. Sie bedankt sich, und ich wünsche ihr eine gute Nacht.
Als ich an meiner Wohnung ankomme, steht ein weißes Volvo-Taxi mit laufendem Motor vor dem Haus. Ist es Viggo Svensson, der gefährliche Widerling aus dem Utgard-Wald? Ich beeile mich, schließe mich in meiner Wohnung ein und lege ein Küchenmesser neben die Tür, bevor ich alle Riegel nochmals überprüfe. Die meisten meiner Sachen stecken schon in drei großen Koffern, die ich mit in den Nachtzug nach Malmö nehme. Der Zug braucht elf Stunden, ein Flug würde nur eine Stunde dauern, aber Flughäfen und Flugzeuge sind die Hölle auf Erden, wenn man gehörlos ist. Die Ansagen, die grottenschlechte Akustik, alle sind in Eile, und ich mittendrin, bemüht, die furchteinflößenden Sicherheitsleute und Polizisten zu verstehen. Da stimme ich allemal für die Bahn.
Meine Hörgeräte lege ich über Nacht in den Trockenbehälter, dann mache ich mich fürs Bett bereit. Die Bezüge müssten gewechselt werden. Ich sage meinen Eltern auf dem Foto neben meinem Bett gute Nacht. Jetzt, da sie beide tot sind, kann ich es problemlos anschauen. Obwohl meine Mutter aufgehört hatte, sich um mich zu kümmern, nachdem mein Vater gestorben war. Obwohl sie in all den Jahren nie gefragt hat, wie es mir geht. Ich kann ihr Bild wieder anschauen, und das ist ein Anfang.
Ich denke an einen rothaarigen Jungen, mit dem ich in London studiert habe – denk nicht an das Wassermelonenknacken, nicht jetzt. Du kannst nichts mehr daran ändern. Denk an den Studenten. Er war ein netter Kerl, auch wenn ich ihn nie richtig kennengelernt habe. Es ist besser, an ihn zu denken, seinen hübschen Hals, seine hübschen Hände und seine schöne Stimme. Und dann höre ich das Geräusch eines Schädels, der beim Aufprall auf Pflastersteine auseinanderbricht.
Mein Vibrationswecker weckt mich um sieben Uhr, und ich schleppe mich hinüber zum Fenster, um nach dem Thermometer zu sehen. Es sind minus sechs Grad. Eine Minihitzewelle. Halleluja.
Ich fahre zum Büro und schreibe eine gute Stunde, entwerfe Überschriften und Ideen für die Artikel der Ausgabe von nächster Woche. Der Stapel Postens auf dem Empfangstresen schrumpft im Laufe des Vormittags, als Sven und Ingrid vorbeikommen und sagen, wie entsetzlich das war mit dem, du weißt schon, bei der Fabrik, einfach schrecklich. Er hatte ein Alkoholproblem, nein, es waren Drogen und Geldsorgen, aber das junge Mädchen, das tut ihnen leid. Dann nehmen sie sich eine Zeitung und stecken zwanzig Kronen in die Keksdose, ehe sie wieder ihre Mützen aufsetzen und gehen.
Ich muss meine Mutter besuchen. Ich werde im Supermarkt Blumen kaufen und eine von diesen wetterfesten Kerzen mit langer Brenndauer, dann runter nach Karlstad fahren und Zeit am Grab verbringen, bevor ich den Ort verlasse. Vielleicht fahre ich zweimal hin. Einmal erscheint mir respektlos, wie eine offensichtlich faule, achtlose Geste.
Lars kommt um elf reingeschlurft, und, bei Gott, er braucht eine Ewigkeit, sich aus den dicken Winterklamotten zu schälen. Der Klettverschluss wird gelöst und die Mütze in seinen Korb gelegt. Der Jacke entledigt er sich im Tempo eines arthritischen Eisbären, der sich aus einer Zwangsjacke befreit. Er hängt sie auf. Die Stiefel werden ausgezogen und auf das Gestell gepackt. Als Nächstes sind die Fleecepullis dran, die statisch knistern, und schließlich der große Weihnachtspullover mit der miserablen Stickerei. Und nun sagt er »Morgen« und geht durch zu Nils’ Küchenbüro, die Gleitsichtbrille trägt er oben auf der Halbglatze. Dort beginnt er mit der üblichen Kaffee-und-Sandwich-Zeremonie. Ehrlich, er wird mir fehlen.
Ich stelle eine Liste von Leuten zusammen, mit denen ich über Gustav Grimbergs Tod sprechen muss. Solch einen hochkarätigen Selbstmord hatte ich noch nie, und es lässt sich schwer sagen, wo ich anfangen soll. Bei einem Unfall, einem Autounfall oder einer Verstümmelung bei Baumfällarbeiten, sogar einem Mord oder einer grausam misslungenen Operation würde ich die Zeit verstreichen lassen, die Lena zufolge in einem kleinen Ort wie Gavrik angemessen ist, dann mit einer respektvollen Beileidsbekundung auf die Familie zugehen und sehen, ob sie etwas sagen wollen. Das kann ich bei den Grimbergs nicht, jedenfalls noch nicht. Zum einen leben sie sehr zurückgezogen, und so gut wie keiner in der Stadt kennt sie. Zum anderen dürfte ihre Trauer verworrener und komplizierter sein als in den meisten anderen Fällen. Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, was die drei Frauen durchmachen.
Nachdem ich mir meine Jacke übergezogen habe, gehe ich rüber zum Zeitungsladen, um Schokolade zu kaufen. Die Storgatan ist grau von Schneematsch, Splitt und altem Streusalz. Heute wirkt die Fabrik größer, scheint der ungenutzte Schornstein auf der rechten Seite die ganze Stadt anzustarren, einem Komplizen gleich, ist er doch allein schon durch seine obszöne, unsinnige Höhe mitverantwortlich.
Im Laden ist eine neue Zartbitter-Pistazienschokolade im Angebot, die ich indes ignoriere, weil sich mir bei Zartbitter grundsätzlich alles zusammenzieht. Ich kaufe eine 500-g-Tafel Marabou-Vollmilch, versenke sie tief in meiner Jackentasche und gehe zur Polizeiwache. Aus diesem Nummernziehdings schaut die Nummer zwei heraus, und auf dem Bildschirm überm Tresen leuchtet die Zwei, also reiße ich die Nummer zwei ab und drücke die Klingel.
»Dachte ich mir schon, dass ich dich heute Morgen sehe«, sagt Thord, der eine Scheibe Vollkorntoast in der Hand hält, auf dem ein Stück schlaffe rote Paprika liegt.
»Richtig gedacht.«
Er beißt von dem Toast ab, und ein feiner Krümelregen rieselt auf seine Uniform herab.
»Was passiert jetzt?«, frage ich. »Glaubt ihr immer noch, dass er gejagt wurde? Zieht ihr den Gerichtsmediziner aus Karlstad hinzu?«
»Haben wir schon. Bei diesem Fall geht alles mit Vollgas.«
»Vollgas?«
»Die Autopsie findet in diesem Moment statt. Und wenn alles ruck, zuck geht, geben sie die Leiche frei und die Beerdigung kann morgen Nachmittag stattfinden. Natürlich wünscht die Familie das.«
»So schnell?«
»Mit Vollgas, wie gesagt. Der Chef kennt den Gerichtsmediziner sehr gut, die sind alte Freunde, und der wiederum macht es möglich. Wie ich höre, ist an der Leiche nichts Ungewöhnliches festzustellen. Der Chef meint, ist zwar tragisch, aber ein eindeutiger Selbstmord. Sonst sind keine Trauerfeiern in St. Olov geplant, ist Februar, und da wird sowieso keiner mehr beigesetzt. Also wäre er der Erste in der Reihe.«
»Der arme Mann.«
»Sicher finden sie Brandnarben von Zigaretten an Gustav, denn der wurde ziemlich gemobbt in der Schule, soweit ich mich erinnere.«
»Gemobbt?«, frage ich.
»Richtig übel«, sagt er.
»Du hast mich nach Leuten gefragt, die mit Gustav geredet haben, bevor er gesprungen ist.«
Er hört auf zu essen. »Erinnerst du dich an was?«
»Nein.«
Thord isst weiter. »Ist aber nicht unwichtig. Anstiftung zum Suizid heißt das. Hat uns die Polizei aus Karlstad erklärt, weil wir so was ja noch nie hatten. Aber es gibt keinen Beweis. Keine Nachricht. Keine Augenzeugenberichte.«
»Anstiftung?«
»So was hat es wohl schon einige Male in Internetforen gegeben, habe ich gehört. Facebook und so. Manipulation. Hauptsächlich Teenager, die sich gegenseitig dazu auffordern, irgendwelche Tabletten zu schlucken oder so, manchmal auch das Ganze zu filmen.«
»Aber …«
Er würgt mich ab. »Das haben wir hier nicht, Tuvs. Grimberg hatte zwei Lakritztaler in seiner Brusttasche, sonst nichts. Es gab Gerede von einem alten Mann, irgendeinem buckligen Alten mit einem Gehstock und einem Hund, der mit Grimberg geredet hat, bevor er gesprungen ist. Irgendein Streit, aber das könnte jeder gewesen sein. Es war einfach ein tragischer Unfall.«
»Unfall?«, frage ich.
»Vorfall.«
Ich beobachte, wie er seinen Toast mit Kaffee runterspült.
»Welche Kirche?«, frage ich.
»Ruf in der Fabrikverwaltung an«, sagt er und beißt noch einmal von seinem Toast ab. Schließlich sagt er: »Ich muss los. Es wartet Polizeiarbeit auf mich.«
Er greift nach einer Ausgabe der heutigen Posten, deren Titelseite meine Worte zu dem Suizid füllen, genau wie die letzte Seite, auf der ich über das Eishockeyspiel berichte. Dann macht er sich auf in sein Büro, wo wahrscheinlich Polizeiarbeit auf ihn wartet. Als die Sicherheitstür zufällt, sehe ich noch kurz die neue Polizistin. Genau genommen sehe ich ihre Ohren und ihren Hinterkopf. Sie hat fantastisches Haar.
Als ich wieder hinausgehe, fliegt ein Rabe im Sinkflug auf mich zu, schwingt dann beschwerlich seine weiten Flügel und verschwindet krächzend zwischen den beiden hohen Fabrikschornsteinen. Ich sehe einen Mann durch den Torbogen gehen, und seine Umrisse würde ich überall wiedererkennen.
Warum will David »Ghostwriter« Holmqvist ausgerechnet heute in die Grimberg-Fabrik?
Als ich wieder an meinem Schreibtisch sitze, verursacht mir das linke Hörgerät Schmerzen. Was ich wirklich brauche, sind einige Tage, nein, eine Woche, eine komplette, ungestörte Woche ohne Hörgeräte. Einfach nur Stille. Das ist fast so wie ohne BH, in dieser Jahreszeit erst recht. Ein Jammer, dass mein neuer Job im Süden direkt am nächsten Tag beginnt, wenn ich hier aufgehört habe. Eine Pause kann ich mir nicht leisten. Ich habe Rechnungen zu bezahlen, Beerdigungskosten und Rückstände, die bis Weihnachten zurückreichen. Da sind noch Umschläge, die ich mich bisher noch nicht zu öffnen getraut habe. Alles habe ich ausgeblendet. Ich kam nicht klar, und jetzt kann ich mir keine freie Woche zwischen den Jobs leisten. Es ist zum Kotzen, ich zu sein.
Ich wähle die Nummer des Fabrikbüros.
»Grimberg Liquorice, Agnetha Hellbom.«
»Hallo, hier ist Tuva Moodyson vom Posten. Ich würde gerne kondolieren und Ihnen einige kurze Fragen zur Trauerfeier morgen stellen, wenn das möglich ist.«
»Mmh.«
»Wo findet die Feier statt?«
»In der lutherischen Kirche in der Eriksgatan, aber nur im engsten Familienkreis. Sicher verstehen Sie das, angesichts des tragischen Unfalls.«
Unfall?
»Wird es eine öffentliche Gedenkfeier geben?«, frage ich.
»Das weiß ich noch nicht. Es ist ja gerade erst passiert, nicht wahr? Zollen wir Herrn Grimberg ein bisschen Respekt, bevor wir die Massen einladen.« Es tritt eine Pause ein. »Das eigentliche Begräbnis wird öffentlich sein. Da können Sie ihm die letzte Ehre erweisen, wenn Sie wollen. Wäre das alles?«
»Darf ich fragen, wo Herr Grimberg beigesetzt wird?«
Sie holt tief Luft. »Wären Sie von hier, müssten Sie nicht fragen. Im Familiengrab auf dem St.-Olov-Friedhof, gleich neben der Fabrik. Und die Familie hat mich gebeten zu sagen, dass anstelle von Blumen bitte an die schwedische Stiftung für die Kinderkrebshilfe gespendet werden möge, falls Sie das beabsichtigen. Wäre das alles?«
»Nein, wäre es nicht.«
Sie legt auf.
Ich sehe an der von Mäusen angenagten Weihnachtsdekoration vorbei aus dem Fenster. Die sollte dringend mal jemand abbauen, Joseph ist schon gruselig entstellt: Seine Nase und die Ohren sind fast weg. Aber ich halte Ausschau nach David Holmqvist. Alles, was ich sehe, ist das weiße Volvo-Taxi – wahrscheinlich von Viggo Svensson –, das ein ganz in Schwarz gekleidetes Mädchen absetzt. Sie ist spindeldürr und hat einen schweren Rucksack unter ihrem Mantel, was ihr einen Quasimodo-Look verleiht.
Holmqvist kommt nicht vorbei, deshalb begebe ich mich in voller Montur wieder nach draußen. Wollte ich es grob überschlagen, würde ich sagen, dass ich im Winter ungefähr eine Stunde pro Tag mit An- und Ausziehen jener synthetischen Schichten verbringe, die mich hier am Leben erhalten. Ich kaufe mir ein Schinkensandwich im Zeitungsladen, bei dem das Verhältnis von Schinken zu Margarine fast strafbar ist, und begebe mich zum Fabriktor. Der benutzte Schornstein links pumpt noch seinen Anisdampf nach draußen. Sie haben den Betrieb also nicht eingestellt. Durch das Eisentor sehe ich Andersson, den Hausmeister mit der permanent miesen Laune.
»Hallo, Herr Andersson!«
Keine Reaktion. Er schabt den Schneematsch mit einem Schieber weg, der so breit ist wie mein Schreibtisch.
»Herr Andersson!«, versuche ich es ein wenig lauter.
Er dreht sich zu mir um und kommt ans Tor.
»Was wollen Sie?«
»Das mit Grimberg tut mir leid.«
»Ja, mir auch.«
»Gehen Sie morgen zur Trauerfeier?«
»Bin nicht eingeladen«, sagt er. »Engster Familienkreis. Aber ich gehe zur Beerdigung, wo wohl die halbe Stadt auftaucht, und ich soll dafür sorgen, dass das Grab auch ordentlich aussieht. Eine schreckliche Sache.«
»Sehr traurig.«
»Er hat eine Tochter, die gerade erst von ihrer schicken Kunstschule zurück ist.« Er hustet und wischt sich den Mund mit dem Ärmel ab. »Ich würde alles für das Mädchen tun, nach dem, was sie durchgemacht hat. Arme Karin.«
Und jetzt bemerke ich den Schnee-Skalle.
Beinahe wäre ich draufgetreten.
Diese faustgroßen, aus Schnee geformten Schädel waren im neunzehnten Jahrhundert beliebt im Ort und sind neuerdings wieder in Mode gekommen. Es ist typisch für Gavrik. Letzte Woche habe ich im Posten darüber geschrieben. Kinder machen die Dinger, sie sind so etwas wie ein skandinavisch-folkloristischer Brauch, ein Weihnachtsspaß. Der Schädel hat die Größe eines Schneeballs. Nein, er ist ein Schneeball, doch die Wangen werden weggestrichen, und kleine Finger hineingestochen, um die Augen-, die Nasenhöhlen und die klaffende Mundhöhle zu formen. Bei diesem steckt in jeder Augenkuhle ein Stückchen Splitt. Dem grotesken Skalle rinnt obendrein noch Preiselbeermarmelade aus der Schädeldecke, und er hat Zahnstocher als Zähne. Andersson sieht, wie ich das Ding anstarre, hebt seine Schaufel und knallt sie auf den Schneeschädel, worauf rosa Schneebrocken in alle Richtungen fliegen. »Verfluchte Kinder. Haben überhaupt keinen Respekt«, sagt er.
Wir verabschieden uns, und als er mit dem Schneeschippen fortfährt, fällt mir auf, dass er die Stelle räumt, an der Gustav Grimberg gestorben ist. Ich stelle mir vor, wie das warme Blut in den Sand zwischen den Steinen gesickert ist und ihn scharlachrot gefärbt hat. Vielleicht wird es Ende April noch zu sehen sein, wenn die Stadt auftaut.
Den ganzen Nachmittag arbeite ich im Büro, sehe Holmqvist jedoch nicht wieder aus der Fabrik kommen. Gibt es noch einen anderen Ausgang? Was will er am Tag nach dem Suizid dort?
Um vier sind Lars und Nils schon weg. Heute Abend fängt irgendeine neue Reality-TV-Show an, und Freitagabend ist Taco-Abend in Schweden. Allerdings reden wir über Tacos, die nichts Mexikanisches an sich haben, mit dänischem Bier heruntergespült und bei einer amerikanischen Netflix-Serie verputzt werden, das Ganze abgerundet mit schwedischem Salzlakritz aus der traurigen alten Fabrik schräg gegenüber.
»Bleibst du länger?«, fragt Lena.
»Noch fünf Minuten«, antworte ich. »Ich muss noch einer Story nachgehen.«
Sie kehrt in ihr Büro zurück, und ich ziehe mich an, stecke mein Leica-Fernglas und meine Taschenlampe ein und verlasse die Redaktion. Dann wird mir bewusst, dass dies mein letzter normaler Freitag beim Gavrik Posten ist, also gehe ich wieder rein – die dicken Stiefel lasse ich an, was soll’s? – und direkt zu Lenas Büro.
»Danke, dass du …« Ich schlucke ein trockenes Nichts. »Dass du mich die letzten Jahre bei der Stange gehalten hast.«
»Was meinst du?«, fragt sie. »Du bist heute noch schlimmer als am Anfang.«
»Ich habe eine Menge gelernt.«
Lächelnd blickt sie auf ihren Monitor, und ich verlasse die Redaktion mit einem guten Gefühl. Solche Dinge sollte ich häufiger sagen. Zu meiner Mutter habe ich sie nie gesagt, jedenfalls nicht die Sachen, die ich ihr eigentlich hätte sagen müssen, nicht einmal, als ich wusste, dass ihr nur noch wenige Wochen blieben. Ich hätte ihr sagen müssen, dass ich ihr verziehen habe oder sie zumindest verstehe, dass sie ihr Bestes getan hat, obwohl es praktisch nichts war. Aber ich habe die Worte nie herausgebracht. Ich war zu spät.
Vor der Redaktion wende ich mich nach rechts, gehe an der Fabrik vorbei und hinauf zur pechschwarzen St.-Olov-Ruine.
Die Fabrik ist ein hübscher Backsteinbau. Unten, rechts und links vom Torbogen sind jeweils vier Fenster. In den oberen Fenstern hängen Netzgardinen, außer in dem Fenster unmittelbar über dem Torbogen, wo eine Art Metallhaken im Mauerwerk zu erkennen ist, der im dumpfen grauen Licht wie ein Skorpionschwanz aussieht.
Ich schliddere den sanften Hügel hinauf zur Kirche. Nun ja, sie sieht im Grunde nicht wie eine Kirche aus, sondern wie ein Haufen alter Steine. Ein Schneepflug fährt vorbei. Er ist erleuchtet wie ein Mondfahrzeug, schabt den Schnee von der Storgatan und spuckt hinten Salz aus. Der Lärm ist ätzend.
Der ummauerte Kirchhof wird vorn von zwei Straßenlaternen beleuchtet, doch drinnen ist er dunkel. Seit über drei Jahren arbeite ich ungefähr fünf Minuten entfernt, aber ich war noch nie hier. Warum sollte ich auch? Ich öffne die Pforte zum Kirchhof und stehe einer Frau gegenüber.
»Entschuldigung, wollen Sie raus?«, frage ich, halte die Pforte auf und trete zur Seite.
Sie steht im Schatten einer schiefen Eiche, und ich kann nicht hören, was sie sagt. Außerdem trägt sie einen Schal, aber ich könnte ihre Lippen in der Dunkelheit ohnedies nicht lesen.
»Ich bin taub«, sage ich. »Ich kann Sie nicht hören.«
Sie kommt durch die Pforte und tritt in den Schein der Straßenlaterne. Nun erkenne ich, dass sie uralt ist. Ihr brauner Pelzmantel hängt in den Schnee, und die Kapuze verbirgt ihr Haar. Sie zieht ihren Schal ein wenig nach unten, sodass ihr verschrumpelter, grellorange geschminkter Mund zum Vorschein kommt.
»Verzeihung«, sagt sie. »Wollen Sie rein?«
»Ja, nur für zehn Minuten. Warum?«
»Nehmen Sie das hier.«
Sie greift in die Tasche ihres Pelzmantels, zieht etwas heraus und drückt es mir in die Innenfläche meines Skihandschuhs.
»Was ist das?«
»Nur ein Stück Brot. Es schützt Sie, wenn Sie über den Friedhof gehen. Stecken Sie es in Ihre Tasche. Und …«
»Ja?«, frage ich.
»Versuchen Sie, den Atem anzuhalten, wenn Sie weiter hinten sind, oder zumindest, sehr flach zu atmen.«
Sie ist völlig verrückt.
»Okay«, sage ich. »Schönen Abend.«
Ich gehe durch die Pforte, und sie schlurft die Straße hinunter. Der Mond ist zu drei Vierteln sichtbar und wächsern hell, sein Licht scheint nur manchmal hinter den vorbeitreibenden Eiswolken hervor.
Ein großes Schild vor der Ruine verrät mir, dass die Kirche 1100 erbaut wurde und regelmäßig ein neues Dach erhalten hat. Sie wurde bis 1917 genutzt, als die Spanische Grippe Gavrik heimsuchte.
Stellenweise sind die Mauern meterdick und von Moos, Laub und einer hohen Schicht frischen Schnees bedeckt. Das Gebäude ist klein, und am anderen Ende ist ein großer flacher Stein zu erkennen, von dem ich annehme, dass dort der Altar gestanden hat. Als wäre alles hier Natur, ein Wald, ein Moor oder ein Sumpf. Mir machen solche Orte Angst. Auf den Stein hat jemand ein Graffiti gesprüht. Ich trete näher, und als der Mond heller scheint, erkenne ich, dass es ein Emoji ist. Ein trauriger schwarzer Smiley mit riesigen, wütenden Augen.
Ich stapfe durch ein Dickicht von Rhododendren, deren feste Knospen in der unendlichen Kälte welken, und blicke zu den Gräbern hinüber. Ich versuche, die Grabstelle der Grimbergs zu finden, weil ich herausbekommen muss, warum Gustav so starb, wie er gestorben ist. Ich muss die Geschichte dahinter ausgraben.
An vielen Gräbern sind Schneebälle aufgetürmt, in deren Mitte Kerzen flackern. Bei einem ist es ein Stapel Schneeschädel, allerdings sind diese recht hübsch, die Erwachsenenvariante, beinahe zu Eis poliert und ohne Splitt in den Augenhöhlen. Sie sehen aus wie Glasdeko oder teure Briefbeschwerer aus Kristall. Und im Kerzenschein glitzern sie.
Arme Mama. Sie hätte etwas Besseres verdient. Neben einigen der Steine, den neueren, sind Solarleuchten angebracht, und sie flackern mit dem wenigen an Energie, das sie dem Winterhimmel dieses Kaffs abtrotzen konnten.
Am beklemmendsten sind die sehr alten und die sehr neuen Grabsteine.
Die ältesten Steine sind moosverkrustet und pockennarbig, die Inschriften nicht mehr zu entziffern. An die Leute darunter erinnert sich keiner mehr, weil der Abstand zwischen ihnen und der Welt der Lebenden zu groß geworden ist. Die meisten der Steine stehen nicht mehr ganz gerade. Sie sind vergessen und fallen so langsam, wie ein Gegenstand nur fallen kann.
Die neuen sind genauso beklemmend. Auf den frischesten wölben sich noch Erd- oder Kieshaufen, die sich noch nicht gesetzt haben. Ich mache einen großen Bogen darum. Ich habe keine logische Erklärung dafür, aber ich will ihnen nicht zu nahe kommen.
In einem Baum in der Nähe schreit eine Eule, und unwillkürlich greife ich nach dem Brot der alten Frau in meiner Tasche.
Ganz in der Ecke des Friedhofs, in dem gepflegtesten Teil, der überdies der Fabrik am nächsten ist, entdecke ich das Familiengrab der Grimbergs. Es ist das größte hier und das prächtigste. Eine niedrige Mauer umgibt die zwölf, vielleicht vierzehn Gräber, und die Mauer wiederum ist von einer kurzen immergrünen Hecke eingefasst. Jetzt im Dunkeln wirkt sie schwarz. Der Wind sorgt für eine Rückkopplung in meinen Hörgeräten, und ich bin versucht, sie auszuschalten, will aber an einem Ort wie diesem auch nicht ohne sie sein.
An den Grimberg-Gräbern stehen anständige Kerzen, echte, keine elektrischen, und sie sehen aus, als wären sie erst kürzlich angezündet worden, so hoch wie die Dochte noch in den Schutzgläsern stehen. Die Namen wiederholen sich: lauter Gustavs, Cecilias und Ludvigs. Mindestens je zwei. Und dann bemerke ich es.
Mein Herz steht einen Moment lang still.
Auf der Erde liegt etwas, das wie eine Grillabdeckung oder die Hälfte eines Ölfasses anmutet. Auf einer Seite raucht es aus einem kleinen Schornstein. Von diesen Dingern habe ich schon gelesen. Ich dachte, dass wir eines für meine Mutter bräuchten, aber dann war der Boden auf dem Friedhof von Karlstad doch bereits hinreichend aufgetaut. Hier oben jedoch wird es kälter. Hier in diesem Kaff zwischen dem Utgard-Wald, den Hügeln und den zugefrorenen Flüssen, in diesem eisigen Nest, wo der Permafrost weit nach unten reicht und der Boden nicht vor Mai taut.
Der Heizer ist mit zwei hohen Propangasflaschen verbunden. Drum herum ist der Schnee geschmolzen, und ich kann tatsächlich die Wärme fühlen, die von ihm ausgeht. Sie ist wohltuend, so ungern ich das auch zugebe. An dieser Stelle also wird der gebrochene Körper von Herrn Gustav Grimberg, CEO von Grimberg Liquorice, morgen Nachmittag zur letzten Ruhe gebettet.
Die benachbarten Gräber sind ebenfalls ein bisschen angetaut. Ich kann Büschel verwelkter Blumen mit schwarzen Blättern sehen, ein Häufchen Muschelschalen. Und auf einem anderen Grab – klein und nicht sehr alt – erkenne ich einen in Stein gemeißelten Spielzeuglaster.
Es fühlt sich wie ein Hieb in die Magengrube an.
»Lilla Ludo«, lese ich und wende mich kurz ab, als mir bewusst wird, wo ich hier stehe. »1998–2005 – Geliebt und sehr vermisst.« Und in der Zeile darunter: »Sohn von Gustav und Anna-Britta und Bruder von Karin.«
Ich trete zurück und gehe auf Abstand, um tief durchzuatmen. Hier nahe der kleinen Mauer und weiter weg von dem Propanheizer ist es kälter.
Vielleicht würde ich nicht so empfinden, wenn ich seit der Beerdigung noch einmal beim Grab meiner Mutter gewesen wäre. Eigentlich glaube ich nicht an solche Sachen, und sie tat es ebenso wenig. Wenn jemand tot ist, ist er eben tot. Doch das Grab dieses kleinen Jungen und dieser warme Flecken sind gespenstisch.