Die Kaputten - Simon Krappmann - E-Book

Die Kaputten E-Book

Simon Krappmann

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Beschreibung

Steffen hat sich umgebracht. Was bleibt, sind drei kaputte Freunde: die einäugige Einzelgängerin Frigga, der introvertierte Thomas und die lebenshungrige Jana. Um Abschied zu nehmen, reisen sie mit Steffens Asche in einer Kaffeedose nach Schottland. Auf ihrer Wanderung müssen sie sich den Abgründen der Vergangenheit stellen. Ihr Trip handelt von Zusammenhalt, Sartre, Whisky, Astrophysik und dem wunderbaren Irrsinn der Existenz. Eine Hommage an alle Kaputten dieser Welt. "Was bei all der Freiheit noch im Verborgenen liegt: Insgeheim hat Frigga nicht vor, jemals in ihre alte Welt zurückzugehen. Ihr Schlusssatz auf dem Friedhof war nicht nur eine Floskel. Am liebsten würde sie nicht einmal von Schottland wiederkehren. In Steffens Begleitung ist sie bereit, alle Optionen aufs Spiel zu setzen."

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Ähnliche


Die Kaputten

 

Roman

 

Simon Krappmann

Inhalt

 

Intro
1. Showdown in Meiningen
2. Schlupf
3. Als Frieda kaputtging
4. Backpacker
5. Friedhof der Raubtiere
6. Godspeed
7. Als Thomas kaputtging
8. Strick und Klinge
9. Take Me Out
10. Milngavie after Midnight
11. Als Jana kaputtging
12. Hike Your Own Hike
13. Die kaputte Kuh
14. Zelten mit Sartre
15. Als Steffen kaputtging
16. Das schwere Los der Entropie
17. Bonnie Banks
18. Lady of the Lake
19. Over the Hills
20. Der schwarze Schwarm
21. Blut
22. Das tote Schaf
23. Swally
24. Der Wanderer Steffen
25. Vom Stein, der keine Wünsche erfüllt
26. Die Kaputtheit von allem
27. The Sanctuary
28. Das letzte Revival
29. Der Schrei
30. Goodbye, Brother
31. Das Geheimnis von Loch Ness
32. Als Jana kaputtging – Teil 2
33. Der unbarmherzige Braveheart
34. Als Thomas kaputtging – Teil 2
35. So geht Abschied
36. Silberstreif
Ein Reisefragment von 2007
Der Autor
Impressum

Intro

 

kaputt

 

Wortart:

Adjektiv, umgangssprachlich

 

Bedeutung:

nicht mehr funktionierend, beschädigt, gestört, abnormal, krank, unbrauchbar, abgestoßen, außer Atem, groggy, abgewichst, hinüber, ruiniert, kollabiert, zerfallen, zerrissen, verloren, tot

 

Irreparabel?

1. Showdown in Meiningen

 

Friggas Nervenwurzeln waren wunderbare Verstecke. Dort nistete sich das Virus ein und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Menschen, die sich in jungen Jahren mit den Windpocken anstecken, haben meist ihr restliches Leben davon Ruhe. Nicht so Frigga. Ihre Varizella-Zoster-Invasoren harrten geduldig aus, bis sie spürten, dass ihr Wirt gestresst war, aus dem Gleichgewicht gefallen, ins Chaos gestürzt. Perfekt! Erst schlichen sie sich in Friggas Kopf durch den Nervus trigeminus, der Freiheit entgegen, dann durch den Nervus ophthalmicus, auf das Licht zu, bis in den Augapfel hinein. Gemeinerweise spürte Frigga keinen Schmerz, nur eine Taubheit am Lid. Dann eine Schwellung. Dann einen Druck. Leider dachte Frigga zu dieser Zeit, als sie gerade einmal achtzehn Jahre alt war: Was soll’s, ich hab’ andere Probleme, geht schon wieder weg, is’ eh alles scheiße, Schminke wird schon helfen, nächste Woche kann ich auch noch zum Arzt gehen. Tragischerweise war es da bereits zu spät. Seitdem ist Frigga auf dem rechten Auge blind.

Eigentlich stört sie dieser Umstand nicht, auch jetzt nicht, mit dreiundzwanzig Jahren. Im Gegenteil: Das Matschauge ist zum Bestandteil ihrer Identität geworden. Aus diesem Grund nennt sie sich auch nicht mehr Frieda, wie ihre Eltern sie genannt haben. Frigga heißt sie jetzt, wie die einäugige Rächerin in »Thriller – ein unbarmherziger Film«. Genauso ist das Leben für Frigga-Frieda: ein unbarmherziger Film. Die Einäugigkeit hilft, das klarer zu sehen. Frigga hat nun den vollen Durchblick: Mit dem einen Auge sieht sie das Leben, mit dem anderen den Tod. Die Krankheit hat sie kaputt und ganz gemacht, zu einem Yin und Yang in persona. Man kann sagen: Sie hat sich mit den Folgen der Gesichtsrose arrangiert, trägt heute mit Stolz ihre schwarze Augenklappe, passend dazu einen schwarzen Mantel. Man kann sagen: Der Tod steht ihr gut.

An diesem Tag ist Schwarz die einzige Farbe. Frigga fährt mit dem klapprigen Renault, den ihr Mutter Sonja überlassen hat, zu einer Beerdigung. Sie darf fahren, denn ihr linkes Auge sieht einwandfrei. Es ist ihr Adlerauge, das an der visuellen Front tapfer die Stellung hält. Ein augenärztliches Gutachten hat bestätigt, dass Beweglichkeit, Kontrastsehen und Blendempfindlichkeit im grünen Bereich liegen. Eine begleitende praktische Fahrprüfung hat bewiesen, dass Frigga sicher fährt, wenn auch etwas ruppig.

Heute wird Steffen beerdigt. Steffen war Friggas bester Freund. In den Schulpausen drehte er mit ihr den Zauberwürfel um die Wette und philosophierte über den Irrsinn der Existenz. Steffen war ihr Counterpart, bis er nach Jena zog, um die stoffliche Existenz zu studieren: Physik, Schwerpunkt Astrophysik. Er war ihr Seelenverwandter, bis sie sich entfremdeten, schrittweise und schmerzhaft. Bei seinem Suizid vor wenigen Tagen waren sie schon Lichtjahre voneinander entfernt.

Friggas innerer Kosmos tobt, während sie unter bedecktem Himmel durch Meiningen fährt. Sie liebt und hasst diese Stadt, würde beides aber nie zugeben. Offiziell geht ihr Meiningen am Arsch vorbei. Als Einzige ihres Freundeskreises ist sie hier hängengeblieben, perspektivlos im idyllischen Werratal, von den Wäldern Südthüringens umhüllt, vom Rest der Welt unbemerkt. Sie und der Rest der Welt halten Distanz, basierend auf gegenseitigen Vorbehalten. Nur heute ist alles anders. Heute wird der Rest der Welt ein Auge auf Frigga haben.

Sie fährt vom Neubaugebiet bergab in Richtung Stadtpark, dann wieder bergauf zum Parkfriedhof. An der Nordmauer stellt sie den Renault ab und schwingt die Fahrertür auf. Sie ist spät dran, was gut ist: Es erspart Smalltalk und intensiviert den Auftritt. Trotz ihrer Menschenscheu hat Frigga ein Faible für theatralische Auftritte. Wenn, dann richtig! Dann malt sie sich aus, sie wäre die Hauptfigur in einem Hollywoodfilm, mit Kameraschwenks und Spezialeffekten und Soundtrack und allem, was dazugehört.

Für diesen Auftritt geht sie ein Stück über den Friedhof, auf das stillgelegte Krematorium zu, bei dem sich die Trauerhalle befindet. Die Gäste haben schon Platz genommen. Von weitem sieht es aus, als wäre halb Meiningen erschienen, um einem Lebensverneiner die letzte zweifelhafte Ehre zu erweisen. Ein Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens zieht die Tür zu. Frigga kommt näher, bleibt vor dem Eingang stehen und holt tief Luft. Zeit für ihren neuesten Kopfkino-Blockbuster.

Frigga Film Productions presents: »Showdown in Meiningen«, einen knallharten Genremix von den Machern von »The Crow« und »Django«. Eine Fremde in Schwarz ist gekommen, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Sie betritt die Halle wie eine Italowestern-Antiheldin den Saloon. Der Fremden gefällt nicht, was sie sieht: eine Masse heuchlerischer Ahnungsloser, die sich zu ihr umdreht, außerdem einen Prediger, der schon erste Worte auf den Lippen hat. Einen Prediger, Herrgott! Neben ihm steht die Urne auf einem Podest, davor Blumenkränze und ... ein Bild von Steffen. Was zur Hölle! Die schwarze Rächerin ist gerade noch rechtzeitig erschienen, denn hier nimmt das Unrecht überhand. Sie muss gegen eine Übermacht menschlicher Dummheit antreten. Heute geht es um alles: Ehrlichkeit gegen Ignoranz, Freiheit gegen Konformismus, Existenzialismus gegen Gott. Kann die Protagonistin diese Schlacht gewinnen?

Fürs Erste schleicht sich Frigga in eine hintere Reihe, zu ihren Freunden Jana und Thomas. Doch sie wird nicht lange sitzen und schweigen können. Dieser Anblick ist schier unerträglich. Sie wird reden müssen, denn niemand kannte Steffen so gut wie sie, außer Thomas, aber der ist zu brav, um den Mund aufzumachen. Thomas wirkt betreten, hat Tränen in den Augen. Jana ist noch gefasst. Wortlos setzt sich Frigga neben sie. In der Nähe hört sie ein Nuscheln, darunter ein abschätziges »die Verrückte«, falls sie das richtig gehört hat. Solche Kommentare prallen seit Jahren an ihr ab. Das heißt: nicht wirklich. Genau genommen sind sie unbarmherzig, verbale Gewalt. Aber solange das Leben ein unbarmherziger Film ist, passen die O-Töne ins Schema.

Der Prediger legt los. Er wagt es, Gott zu erwähnen. Daran muss Steffens Mutter Uta schuld sein, die in der ersten Reihe sitzt und heult. Uta arbeitet im Landratsamt. Sie ist religiös und bodenständig, eine ganz schlechte Kombination, um Steffens Wesen zu begreifen. Neben ihr sitzt Vater Carsten, der irgendwas in einem Logistikunternehmen macht. Insgeheim war ihm der IQ seines Sohnes immer unheimlich. Neben Carsten sitzt Nina, Steffens jüngere Schwester. Nina ist klug und hat ein ähnliches Emo-Weltbild wie Frigga, weshalb sie bis heute miteinander verbunden sind. Durch Nina hat Frigga zuerst von Steffens Tod erfahren.

Dieses Bild! Das ovale Gesicht, die langen Haare, das fliehende Kinn. Steffen wirkt um einige Jahre jünger, lächelt sogar. Ein Portraitfoto vom Abitur? Wirklich? In Frigga bahnt sich eine Supernova an. Der Prediger versucht, Leben und Tod nach dem christlichen System einzuordnen und dabei das Thema Suizid elegant zu umschiffen. Für Frigga ein Affront. Für sie ist die Sache klar: Aus existenzphilosophischer Sicht darf man sich umbringen, um dem Absurden zu entfliehen, dem menschlichen Streben nach Sinn in einer sinnleeren Welt. Allerdings – das muss Frigga eingestehen – hat der Existenzialist Albert Camus diese Option verworfen, weil man sich damit auch alle schönen Seiten des Lebens nehme und endgültig der Absurdität erliege. Religion sei trotzdem keine Alternative, sondern lediglich das Überstülpen einer Scheinwelt über das Absurde, aus Camus’ Sicht eine Art philosophischer Selbstmord. Letztlich bliebe nur, das Dilemma der Existenz anzunehmen, ohne aufzugeben. Leben als Widerstand gegen die Sinnlosigkeit: darauf hat sich Frigga vorläufig festgelegt.

Während der Prediger den philosophischen Suizid propagiert, reicht es Frigga. Sie erhebt sich. Ihr Adlerauge visiert den Gottesmann und die erste Reihe an. Ihr Herz rast. Schweigen wäre leichter, aber es wäre nicht richtig. Mit beachtlichem Stimmvolumen ruft sie durch die Halle: »Er wollte doch kein Bild!«

»Wie bitte?«, fragt der Prediger.

War ja klar. Also nochmal langsam und verständlich: »Steffen wollte, dass alle Bilder von ihm vernichtet werden. Das hat er in seinem Abschiedsbrief geschrieben. Das war sein letzter Wunsch, und ihr stellt hier ein Hochglanzportrait vom Abi auf? Warum?«

»Geh doch raus auf den Friedhof!«, ruft ein Gereizter aus der Menge. »Du hängst doch gerne an Gräbern rum, wie diese Freaks! Wir wollen hier würdevoll Abschied nehmen, also zeig mal ein bisschen Respekt!«

Wieder so ein Kommentar. Aber das kann Frigga nicht unerwidert stehen lassen: »Wie respektvoll ist es denn, einem Verstorbenen den letzten Wunsch zu verwehren? Und Fabio, es ist ja schön, dass du gekommen bist, aber mit Steffen hattest du wenig am Hut, wenn wir ehrlich sind. Ich wünsch’ dir echt viel Erfolg bei deiner lokalpolitischen Karriere, doch wenn du hier bist, um implizit Wahlkampf zu machen, dann frag’ ich mich, wer von uns der wahre Freak ist!«

Der letzte Teil des Konters kam eher zittrig aus Friggas Mund, weniger souverän, als es das geschriebene Wort vermuten lässt. Jana und Thomas haben erkannt, wie dicht ihre Freundin vor dem Sternenkollaps steht. Nun erheben auch sie sich, um mit Frigga an die frische Friedhofsluft zu gehen. Hastig arbeiten sie sich zwischen den Stuhlreihen zur Tür.

»Bitte entschuldigen Sie den Zwischenfall«, richtet hinter ihnen der Prediger an die Gäste.

»Eine einfache Bitte!«, muss Frigga noch loswerden, ohne sich umzudrehen, und: »Wie steht ihr zu Selbstmord?« Da fällt auch schon die Tür zu. »A-A-A-A-A-A!«, schreit Frigga so laut ins Freie, dass sie eine Schar Krähen aus einer Baumkrone verjagt.

»Beruhig dich«, sagt Jana mit ihrer einfühlsamen Stimme. »Es ist für alle schwer.« Sie und Frigga sind seit dem Sandkastenalter beste Freundinnen. Aber auch Jana ging fort, auch nach Jena, ebenso Thomas, den die beiden seit der Oberstufe kennen. Der introvertierte Sonderling fand über Steffen den Weg in den Freundeskreis. Augenblicklich wirkt er verwirrt, sieht seinen Platz draußen bei den Freundinnen und drinnen in der trauernden Menge.

Frigga hat seinen Zwiespalt erkannt. Sie zieht die Konsequenz: »Passt auf, ihr geht jetzt wieder rein und ich verschwinde ohne weiteren Stunk. Heute A...«

»Und die Beerdigung?«, unterbricht sie Jana.

»Da bin ich nicht erwünscht. Wie Fabio dezent angedeutet hat, kann ich noch öfter bei meinen Friedhofs-Séancen am Grab vorbeischauen. Aber heute Abend, da treffen wir uns. Keine Ausreden! Acht Uhr im Schlupf, okay?«

»Okay.«

»Geht klar.«

Mit der Errungenschaft einer Verabredung lässt Frigga die Elendsfeier hinter sich und stapft zum Renault zurück. Eine Steffen-Party, bei der es nicht um Steffen geht, kann sie nicht gebrauchen. Dann lieber ein Treffen dort, wo der echte Steffen zu Hause war.

2. Schlupf

 

Meiningens Kneipen sind wunderbare Verstecke. Der »Schlupfwinkel« ist eines davon. Er befindet sich in einem Fachwerkhaus mit kleiner Terrasse vor dem Eingang, verborgen hinter einem Stadtgraben, über den eine Holzbrücke führt. In ihrer Stammkneipe haben sich Steffen, Frigga, Thomas und Jana unzählige Male getroffen, um dem Alltag zu entfliehen. Heute gibt es allen Grund, zu fliehen, denn es gibt keinen Steffen mehr.

Frigga sitzt im hinteren Raum, in dem man weiter rauchen darf. Seit Anfang des Jahres gilt das Rauchverbot in Gaststätten, weshalb sie sich sogar innerhalb des Versteckes zurückziehen muss. Dort sitzt sie manchmal mit Nina, wenn sie sich zufällig begegnen, und trinkt mit ihr Cocktails. Zurzeit ist damit nicht zu rechnen. Ansonsten trifft sie hier noch öfter Patrick, der so gut wie jedes Wochenende nach Meiningen fährt. Er studiert Medizin in – wo auch sonst – Jena, mit dem Potenzial, Chefarzt am Klinikum Meiningen zu werden. Frigga freut sich, wenn sie ihn sieht, würde ihn aber nicht zum engen Freundeskreis zählen. Er war bei einigen Feiern in ihrer Wohnung dabei und tauschte misanthropische Sprüche mit Steffen aus, zum Beispiel, dass es mehr Autounfälle geben sollte, damit die Chirurgen was zu tun hätten. Einmal boxte er betrunken in einen Cutter und blutete Friggas weißen Teppich voll. Das sind die typischen Patrick-Erinnerungen, kleine Anekdoten für den Stammtisch. Jetzt braucht Frigga jedoch ihre echten Freunde, und die kommen nur noch selten in den »Schlupf«.

Zuerst tritt Thomas ein. Er wischt die verregnete Brille sauber und sieht sich suchend im Vorderraum um, wobei seine Denkerstirn Falten wirft. Zu Schulzeiten erhielt er den Spitznamen »Hawking«, wegen mancher Verschrobenheit, und, weil er sich schon früh für theoretische Physik interessierte, für die kleinen Teilchen und großen Zusammenhänge. Wenn bald jemand die Weltformel knackt, dann Stephen Hawking – oder Thomas.

»Hey«, grüßt Frigga, als Thomas sie schließlich in der hintersten Ecke findet. Die Kneipe ist randvoll, erst recht der verqualmte Teil. Frigga raucht am liebsten Zigarillos, arbeitet heute aber an einer Packung Zigaretten. An diesem Tag steht Quantität vor Qualität. Dazu trinkt sie ein Hefeweizen, das sich Thomas ebenfalls bestellt.

»Kommt Jana noch?«, will er wissen.

Frigga: »Davon geh’ ich aus.«

Thomas: »Schön, dich zu sehen.«

Frigga: »Absolut. Wie war die Feier?«

Thomas: »Gut.«

Frigga: »Wirklich?«

Thomas: »Nein. Du hast nicht viel verpasst.«

Frigga: »Nur, wie unser oxidierter Freund für immer und ewig in die Erde gelassen wird. Das ist doch scheiße!«

Thomas: »Kann man sagen.«

Frigga: »Tut mir leid, dass du ihn gefunden hast. Kannst du je wieder in die WG zurück?«

Thomas: »Es war im Keller. Da bin ich selten.«

Frigga: »Fuck!«

Thomas: »Mit dreizehn leeren Flaschen Bier. Der Anblick verfolgt mich.«

Die Kellnerin kommt mit dem Weizen vorbei. Als sie geht, taucht ein Gast mit rotem Lockenkopf und kurvenreicher Figur in den Nikotinnebel ein. Jana ist mit zweiundzwanzig Jahren die Jüngste im Bund. Sie gesellt sich zu Frigga auf die Eckbank. Nun sind sie wieder beisammen: drei Freunde, die auf eine Schule gingen, miteinander büffelten, feierten, diskutierten, litten und sich zuletzt viel zu selten trafen. Drei Freunde, von denen jeder ein wenig speziell ist, jeder auf seine Weise merkwürdig, nicht zu viel, nur ein bisschen. Man kann sagen: Jeder von ihnen ist ein wenig kaputt. An diesem Tag sogar sehr.

»Schade, dass es draußen so ungemütlich ist«, seufzt Jana. »Es regnet echt den ganzen Sommer durch.«

Frigga: »Regen passt doch zu heute.« Sie zündet sich die nächste Zigarette an.

Jana: »Was hab’ ich verpasst?«

Frigga: »Übers Wetter waren wir hinaus. Es ging darum, wo sich Steffen umgebracht hat.«

Jana: »Puh, das nenn’ ich direkt. Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen.«

Frigga: »Hat sich die Friedhofsgesellschaft wieder eingekriegt?«

Jana: »Einerseits ja, andererseits haben sie nach der Beisetzung noch lange geredet. Fabio hast du’s gegeben, so viel steht fest. Wie in der Schule.«

Frigga: »Laotse sagt, ›wahre Worte sind nicht angenehm, angenehme Worte sind nicht wahr‹.«

Jana: »Laotse wäre stolz auf dich. Und Thomas, wie geht’s dir jetzt?«

Thomas: »Besser als vor ’ner Woche.«

Jana: »Hast du den Abschiedsbrief gefunden?«

Thomas: »Nein, nicht den richtigen. Ich hab’ nur einen Zettel bei Steffen entdeckt.« Er pausiert.

Jana: »Was stand denn drauf?«

Thomas: »Nichts Sinnstiftendes. Nur ›Meine Wahl, bitte respektieren‹.«

Frigga: »Klingt nach Steffen.«

Jana: »Und woher kommt dann die Info mit den Bildern?«

Frigga: »Von Nina. Scheiße, die wird nie wieder ein Wort mit mir reden!« Sie trinkt einen großen Schluck Weizen und rückt mit der zittrigen Hand, die nicht die Zigarette hält, ihre Augenklappe zurecht.

Jana: »Ist schon gut, ist dir halt nahegegangen.«

Frigga: »Er war doch keiner dieser Gutbürgerlichen! Er hat mehr verdient, als zur Schau gestellt und in die Konformisten-Erde abgeseilt zu werden. Er war Steffen! Wir sollten seine Asche ausbuddeln und ins Meer streuen.«

Thomas und Jana sehen sich an. Was sie da hören, klingt nach einem charakteristischen Frigga-Hirngespinst: überdreht, unangepasst, illegal und irgendwie ...

Jana: »Kitschig, nicht? Warum ins Meer? Und wo? An der traumhaften Steilküste von Cornwall, wo die Geschichten von Rosamunde Pilcher spielen?«

Frigga: »Darauf hab’ ich exakt zwei Antworten: Delfine und Schottland. Du warst mit Cornwall schon nah dran.«

Thomas: »Gibt’s bei Schottland Delfine?«

Frigga: »Keine Ahnung, ob’s da Delfine gibt, vermutlich. Was ich aber sehr wohl weiß, ist, dass Steffen vor dem ganzen Physikfanatismus ursprünglich Delfinforscher werden wollte. Meeresbiologe heißt das eigentlich, aber er meinte, er hätte als Kind immer Delfinforscher gesagt. Er kannte alle Delfinarten und mochte die Viecher, weil sie angeblich so klug sind, klüger als die meisten Menschen, wie er fand. Das Meer ist also der richtige Ort für ihn. Und zu Schottland zeig’ ich euch was.« Sie kramt in ihrer Handtasche. Zum Vorschein kommt ein Bild von einer grünen, felsigen Landzunge. »Dieses Foto war als Lesezeichen in dem Nietzsche-Buch, das mir Steffen mal geliehen hat und das ich ihm nie zurückgegeben hab’. Heute Morgen hab’ ich darin geblättert, wobei das Foto rausgefallen ist. Ich glaub’ zwar nicht an Zeichen, aber wenn, dann muss das eines sein. Hier auf der Rückseite steht ›Rubha nam Brathairean‹. Meine Recherche hat ergeben, dass das aus dem Gälischen kommt, im Englischen ›The Brother’s Point‹ heißt und ein Ort auf der schottischen Insel Skye im Atlantik ist. Alles klar?«

Jana: »War Steffen mal dort, oder wollte er da hin?«

Frigga: »Keine Ahnung, ehrlich gesagt.«

Thomas: »Und du hast nicht recherchiert, ob’s da Delfine gibt?«

Frigga: »Nein, das werden wir ja sehen, wenn wir dort sind, oder auch nicht sehen. Ist sekundär.«

Jana: »Wenn wir dort sind? Du willst das wirklich machen?«

Frigga: »Logisch! Für Steffen. Mit euch. Kommt, das wird unsere Abschiedstour!«

Jana: »Ich brauch’ Alkohol.«

Schwer schluckend geht Jana an die Bar im Vorderraum und bestellt einen Zombie. Beim Warten fragt sie sich, ob ihre Freundin noch in psychologischer Behandlung ist oder ob sie dafür sorgen soll, dass das schnellstmöglich wieder passiert. Zugleich findet sie auf irritierende Weise Gefallen an der Idee.

»Warum heißt das ›The Brother’s Point‹?«, fragt sie, während sie sich zurück an den Tisch setzt. Damit öffnet sie Friggas Reiseabsichten Tür und Tor.

Frigga: »Das weiß man nicht genau. Vielleicht stand dort mal ein Mönchskloster.«

Jana: »Du willst an einen christlich geprägten Ort reisen?«

Frigga: »Es könnten auch zwei Gauner gewesen sein, die Brüder waren und sich da versteckt haben. Egal, ich will nur jemandem seine Freiheit zurückgeben, der auf Freiheit immer höchsten Wert gelegt hat. Der für mich wie ein Bruder war. Für euch doch auch, prost!«

Thomas: »Auf ›Braveheart‹ und die Freiheit!«

Jana: »Ihr spinnt, prost!«

Sie trinken, schweigen, denken nach. Schottland also. Eine Reise. Zu dritt. Mit Asche.

Jana: »Wie stellst du dir den Trip vor?«

Frigga: »Weiß nicht. Ich dachte, wir könnten noch die Gegend erkunden, wenn wir schon da sind. Eine Wanderung durch die Highlands, mit Skye als krönendem Abschluss. Dramaturgisch wäre das perfekt.«

Jana: »Für ›weiß nicht‹ klingt das schon recht durchdacht. Soweit ich gehört hab’, soll der West Highland Way toll sein, aber da bräuchten wir Zeit, mit Skye mindestens zehn Tage, eher zwei Wochen. Und wenn wir schon da sind, will ich unbedingt nach Edinburgh. Geht das noch in deine Dramaturgie rein?«

Frigga: »Klar, solange ihr mitmacht. Dann haben wir endlich Abstand von der ganzen Kacke hier. Selbst das Wetter kann nicht beschissener sein als bei uns in diesem Sommer.«

Thomas: »Klingt ja gut, aber bei mir fangen in knapp drei Wochen die Semestervorbereitungen mit ersten Präsenzterminen an.«

Frigga: »Dann müssen wir sofort handeln! Morgen packen, übermorgen ins Flugzeug. Jana, kann uns Christine ’nen Flug verschaffen?«

Jana: »Kann ich nicht versprechen. Und was ist mit dir? Hast du Urlaub, oder kriegst du so kurzfristig welchen?«

Frigga: »Nö, nicht bei den Bürokraten im Archiv. Ich lass mich einfach krankschreiben. Augenjucken, Kopfschmerzen, Übelkeit und diffuser Stress. Zwei bis drei Wochen sind kein Problem, auf meine Ärztin ist Verlass.«

Jana: »Du durchtriebenes Stück.« Jana grinst.

Frigga: »Sagt die Richtige.« Frigga grinst zurück.

Jana: »Also zwei Wochen durch Schottland wandern, plus An- und Abreise. Thomas, passt das für deine Semestervorbereitungen?«

Thomas: »Passt.«

Jana: »Dann müssen wir morgen echt viel planen und Rucksäcke packen. Ich hoffe, dass uns meine Mutter so kurzfristig bei der Orga hilft. Das wird ein Ritt.«

Frigga: »Und nachts noch auf den Friedhof.«

Jana: »Ohne mich!«

Frigga: »Ach komm, ein bisschen buddeln, wie damals im Sandkasten.«

Jana: »Du bist tatsächlich ein Goth. Nein, echt jetzt, das ist eine Straftat. Wir können doch ohne Gefängnisrisiko verreisen, oder würde das deine Dramaturgie zerstören?«

Frigga: »Leider ja. No risk, no Steffen, no fun.«

Jana: »Das Grab ist frisch geschmückt.«

Frigga: »Macht kaputt, was euch kaputtmacht! Ich versprech’ dir aber, dass ich sehr pietätvoll vorgehen und keine Spuren hinterlassen werde. Bei meinem linken Augenlicht!«

Thomas: »Bin dabei.«

Jana und Frigga werfen Thomas einen gleichermaßen erstaunten Blick zu.

Jana: »Thomas!«

Thomas: »Nieder mit den Konformisten! Für Steffen.«

Jana: »Gott!«

Frigga: »Du darfst dafür unsere Reiseleiterin sein, werte Anglistikstudentin. Wir werden jederzeit deinen Weisungen folgen und uns gemäß den schottischen Gepflogenheiten benehmen.«

Jana: »Gott!«

Thomas: »Ich muss mir morgen nochmal ›Braveheart‹ ansehen.«

Frigga: »Freiheit! Auf die Highlands und die Isle of Skye, und Edinburgh!«

Die drei erheben ihre Gläser und stoßen etwas heftig zu.

Frigga: »Gleich ordere ich ’ne Sambuca-Runde, wie früher, als wir das regelmäßig gemacht haben. Es war so schön, wir vier gegen den Rest der abgefuckten Welt. Wisst ihr noch?«

Thomas: »Auf jeden Fall, der Anisgeschmack und die Kaffeebohnen und das Flambieren. Einmal hat doch mein Ärmel gebrannt.«

Jana: »Der Trip könnte uns wirklich guttun. Danke für die Idee, Frieda.« Sie legt eine Hand auf den Oberschenkel ihrer Freundin.

»Frigga!«, faucht es ihr entgegen. Unter dem Tisch streichelt Frigga über Janas Hand.

Jana: »Sorry, ich hing mit den Gedanken im falschen Jahr. Natürlich Frigga!«

3. Als Frieda kaputtging

 

Dem Klang nach fiel erst ein Regal um, dann eine Person, dann zerschellte Porzellan an der Wand. Auf der anderen Seite jener Wand begann Friedas Wohnung. Sie lebte neben ihren Eltern Sonja und Kai im fünften Stock eines Blocks, oben im alten Neubaugebiet, wo der Blick talwärts über die Meininger Innenstadt reicht. Zu DDR-Zeiten hatte der Bau als funktional und topmodern gegolten, dem Geist des Bauhauses entsprechend. Langsam setzte jedoch eine gewisse urbane Ghettoisierung ein, nicht mehr dem Geist des Bauhauses entsprechend. Sie wohnten trotzdem noch dort, denn die Miete war niedrig und der Weg zur Arbeit kurz. Friedas Bruder Daniel war schon weggezogen, um »was mit Medien« zu studieren. Seine Wohnung hatte Frieda mit sechzehn übernommen: ein helles Zwei-Zimmer-Appartement neben der größeren Elternbehausung, sozusagen ein riesiges ausgelagertes Zimmer mit kompletter Selbstversorgung. Eigentlich paradiesisch. Bis heute wohnt sie dort.

Frieda schnaufte. Um sie herum lagen Hefte und Ordner in einem Chaos, das nur das Genie beherrscht. Allerdings war sie kein Genie, nicht so wie Steffen. Intelligent ja, Genie nein. Das hieß, sie musste für das heranrückende Abitur pauken. Ein halbes Jahr noch. In ihrem Mathe-Leistungskurs, in dem auch Steffen und Thomas waren, gehörte sie zu den Besten, aber nur wegen ihres Ehrgeizes, der manchmal an Besessenheit grenzte. Im Vergleich zu Steffen hatte sie die besseren Noten, schlichtweg, weil dieser sich keine Mühe gab. Er schaffte es trotzdem auf Anhieb in den Zweierbereich.

Wenn Frieda nicht endlich ihre Ruhe bekam, würde sie auch in den Zweierbereich abrutschen, befürchtete sie. Bei dem Lärm nebenan sehr wahrscheinlich. Sie kochte innerlich. Es war ja nicht so, dass Fächer wie Mathe oder Physik viel Spielraum zum Interpretieren ließen, nicht wie Janas Deutschkurs. Und erst Jahre nach dem Abi erkannte Frieda, dass Deutsch ihr größeres Talent war. Zwar sollte sie zu einer der Jahrgangsbesten werden, doch in den Monaten vor den Prüfungen steckte sie in einer fundamentalen Krise.

Ihr reichte es, wieder einmal. Sie trampelte so entschlossen in Richtung Wohnungstür, dass es beim Nachbarn mit der Bulldogge unter ihr wummerte. Auf ihrem Weg überquerte sie den weißen Teppich, der sich mittlerweile wie eine Landkarte der Oberstufenzeit las: Zeugnisse diverser Feiern als Kontrast zum Lernen, darunter Bier- und Weinflecken, Bleispuren von Silvester und Blutspuren von Patrick. Manchmal hatte die Intensität der Besäufnisse überhandgenommen, wobei das nie Friedas Absicht war. Sie wollte in erster Linie eine Sphäre mit Gleichgesinnten, ein Refugium fernab der Nullachtfünfzehn-Disko. »Let Your Spirit Soar« hatte sie anfangs auf ein Schild im Wohnzimmer geschrieben, aber das hatte nur Thomas bemerkt.

Der scharfkantige Schlüssel klimperte, als Frieda im Etagenflur zwischen den Wohnungen wechselte. Sie rammte ihn wie eine Waffe in die Nachbartür und marschierte zum Schlafzimmer, aus dem eine Männerstimme und ein Schluchzen drangen.

»Könnt ihr mal die Fresse halten, ich versuch’, zu lernen!«, brüllte sie.

Kai: »So redest du nicht mit uns, junges Fräulein!« Er stand in der Raummitte. Vor ihm hockte Sonja zusammengekauert auf dem Boden.

Frieda: »Kannst mich ja auch hauen, du misogyner Machtfetischist!«

Kai: »Ich hab’ hier niemanden gehauen, das ist Verleumdung! Wenn du es wagst, so eine rotzfreche Behauptung aufzustellen, werde ich dagegen vorgehen, das kannst du aber ... was ist denn mit deinem Auge los? Hattest du heute schon eine Schlägerei?«

Zu diesem Zeitpunkt befand sich Frieda in der mittleren Phase des Gesichtsrosen-Wachstums: der Schwellung, kurz vor dem Einsetzen des Drucks.

Frieda: »Ja, und ich hab’ gewonnen. Wenn du meinen Gegner sehen willst, musst du ins Krankenhaus fahren.«

Sonja: »Was? Nein!« Beschämt wischte sie sich die Tränen vom Gesicht.

Frieda: »Nein.«

Sonja: »Du machst uns Sorgen, mein Kind.«

Frieda: »Vielleicht hab’ ich den Ausschlag ja von einer gewissen Person geerbt. Wär’ doch möglich, holder Herpeskönig.«

Kai: »Nenn mich nicht Herpeskönig, das ist respektlos!«

Frieda: »Richtig. Aber noch viel respektloser ist, wenn man seine Ehefrau betrügt, und zwar nicht mit irgendwem, sondern mit der Freundin der Ehefrau, die auch noch die Mutter der Freundin der eigenen Tochter ist. Oder ist das auch Verleumdung?«

Kai: »Hä, was? Das geht nur uns Erwachsene was an, halt dich da gefälligst raus!«

Frieda: »Versuch’ ich ja, ist aber schwer, wenn ich ständig Christine sehe. Dann frag’ ich mich immer, ob du’s ihr gerade mit deinem Lurch besorgt hast.«

Kai: »Raus hier, oder ich vergess’ mich! Sofort!«

Frieda: »Ist gut, ich geh’ wieder, bitte nicht hauen! Nur dafür, dass ich lernen muss, könnten zwei Lehrer mehr Verständnis haben. Sonst lieg’ ich euch noch lange auf der Tasche. Oder, was noch ’ne viel bessere Lösung wär’: Ich spring’ drüben gleich vom Balkon, dann könnt ihr in Ruhe bis in alle Ewigkeit zoffen. Ade, beschissenes Leben ohne Sinn! Letzten Endes bin ich eh nur auf der Welt, weil ihr gefickt habt!«

Vier fassungslose Augen starrten Frieda bei ihrem Abgang hinterher. Für ein besseres Verständnis der Lage: Sonja war zu dieser Zeit sechsundvierzig, Lehrerin an Friedas Gymnasium und seit Jahren vergebens auf der Suche nach innerfamiliärer Harmonie. Kai war achtundvierzig, Lehrer an der Regelschule, übertrieben muskulös und in einer Liaison mit Janas Mutter. Sonja wusste längst davon, hätte es aber nicht von sich aus angesprochen. Letztlich wusste jeder davon, denn Kai verhielt sich alles andere als geschickt. Seine Affäre war ein Symptom für das baldige Zerbrechen der Ehe: erst das Fremdgehen, dann das Kaputtgehen, wie auch umgekehrt. Die Trennung folgte im nächsten Frühjahr, die Scheidung ein weiteres Jahr danach.

Frieda konnte sich nach dem Eklat nicht mehr konzentrieren. Sie nahm ihr Schreibheft und floh aus der Etage, dem Wohnblock, dem Neubaugebiet. In solchen Situationen war der Englische Garten zwischen Bahnhof und Staatstheater ihre Zuflucht. Da Frieda im tiefsten Inneren romantisch war, verbrachte sie selbst im Herbst und Winter etliche Stunden dort, am Teich und bei den Gräbern an der Herzoglichen Gruftkapelle. Dort schrieb sie Gedichte, die sie niemandem außer Jana zeigte.

Ihr nächstes Gedicht entstand aber nicht an jenem Tag, sondern zwei Wochen später im Klinikum. Ihr Auge war schon hinüber, auch durch eine Notoperation nicht mehr zu retten. Bei aller Verspätung seitens Frieda hatten die Ärzte dann noch versucht, den Viren mit der Standardprozedur beizukommen: Virostatika-Infusionen, dazu antimikrobielle Salbungen, Schwarzteeumschläge und eine analgetische Ibuprofen-Therapie. Mittendrin brach das Auge zusammen, völlig überraschend in einer sternenklaren Nacht.

An die rechtsseitige Finsternis gewöhnte sich Frieda ebenso überraschend schnell. Vom Krankenbett aus visierte sie mit dem linken Auge alle möglichen Details an: Kanten, Risse, Flecken, Lichtspiegelungen. Sie bestaunte all die Dinge, die sie im Normalzustand gar nicht wahrgenommen hätte. Überhaupt fühlte sich Frieda als Patientin unerhört wohl. Sie war auf Distanz zu ihren Eltern und dem Abistress, wenigstens für eine Weile. Sie hatte Zeit für sich, bekam Besuch von ihren Freunden und pimpte ihre Mahlzeiten mit mitgebrachten Snacks. So frei wie im Krankenhaus war sie schon lange nicht mehr gewesen.

»Ich hab’ sogar ein neues Gedicht geschrieben«, verkündete sie Jana beim Spaziergang durch den Klinikpark.

Jana: »Hast du’s dabei?«

Frigga: »Zufällig ja.«

Jana: »Bin ganz Ohr.«

Frigga: »Aber nicht lachen! Es ist sentimental. Ich stand unter Drogen.«

Jana: »Ich kenn’ doch dein wahres Ich.«

Frigga: »Also gut, ich verlese ...

Der Name der Gesichtsrose

Im Körper wohnt der Geist, vielseitig und still,

wie ein Schatz aus Büchern in einem Kloster.

Doch schlummert auch ein Virus namens Zoster

wie Gift an den Seiten, die ich lesen will.

Wenn das Chaos der Welt in das Kloster dringt,

sieht der Zoster die Zeit herangekommen,

dann steigt er aus den Tiefen, erst verschwommen,

bis er fern der Mauern die Dunkelheit bringt.

Mir scheint, dass zu leben mit Schmerz getränkt ist.

Schönheit und Verfall gehören zusammen.

Auf dass der eitle Mensch das niemals vergisst.

Und steht selbst die Bibliothek in Flammen,

wahrt unbrennbar den Schatz noch der Humorist,

der ahnt, welcher Welt wir wirklich entstammen.

Fertig.«

Jana: »Ja, nicht schlecht, für einen Mathe-LKler. Hast du ein Sonett geschrieben?«

Frigga: »Wenn du es bestätigst, dann muss es tatsächlich ein Sonett sein.«

Jana: »Reimschema dürfte passen. Die Metrik holpert etwas, aber ich will mal ein Auge zudrücken ... verdammt, das hab’ ich nicht so gemeint!«

Frigga: »Schau mir ins Auge, Kleine!«

Jana: »Ein Glück, dass der Humorist in deinem Sonett vorkommt. Hab’ ich das richtig verstanden, dass du jetzt auch eine andere Welt hinter der sichtbaren für möglich hältst?«

Frigga: »Wie gesagt, ich stand unter Drogen.«

Jana: »Na klar, mein Einauge.« Sie nahm Frieda in den Arm.

Das war in aller Kürze die Geschichte, wie Frieda kaputtging. Es dauerte noch eine Weile, bis sie ihren Namen in Frigga änderte. Eher zufällig stolperte sie bei ihren Recherchen zur Einäugigkeit über den schwedischen Siebziger-Jahre-Streifen, der je nach Version auch »They Call Her One Eye« genannt wird. Die Hauptfigur heißt entweder Madeleine oder Frigga, alles etwas verwirrend. Frigga passte aber ganz gut, weil Frieda nur »ed« durch »gg« ersetzen musste und der Anklang nordischer Mythologie ein kühles, kraftvolles Echo nach sich zog: Frigg oder Frigga als höchste Göttin, die Gemahlin Odins, der wiederum ein Auge für einen Schluck aus Mimirs Brunnen der Weisheit geopfert hatte. Passte doppelt gut.

»Unter den Blinden ist die Einäugige Königin«, amüsierte sich Steffen, nachdem Frieda aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Ihre neue Asymmetrie beeindruckte ihn, und es war nicht leicht, Steffen zu beeindrucken. Thomas begann, viele Fragen zu stellen: Wie sich das anfühle. Antwort: Komisch. Ob sie ein Glasauge bekomme. Antwort: Nein. Ob sich das Auge noch mitbewege. Antwort: Ja. Ob sie noch dreidimensional sehen könne. Antwort: Kaum. Ob sie das Märchen »Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein« der Brüder Grimm kenne. Antwort: Vage. Ob sie sein Taschenteleskop benutzen wolle. Antwort: Okay. So äußerte er seine Anteilnahme. Jana übertrieb es zunächst mit ihrer Fürsorge, nahm Frieda beim Überqueren jeder Straße an die Hand, beinahe so, als wäre sie komplett blind. Aber das pendelte sich ein, und schon bald waren die vier enger denn je miteinander verbunden. Eine Einheit, die scheinbar nichts auf der Welt trennen konnte.

4. Backpacker

 

»Drei Sitzplätze, ja?«, fragt Christine an ihrem Platz im Reisebüro. Der Monitor zeigt eine Verbindung mit Ryanair von Frankfurt-Hahn nach Glasgow-Prestwick an.

»Ja«, antwortet Jana mit einem Ächzen, weil es nicht vier Sitze sind. Ohne ihre Mutter wäre aus dem spontanen Reisevorhaben womöglich nichts geworden. Dank Christine gibt es nun einen Hin- und Rückflug, einen Reiseführer für die Highlands, eine Stadtkarte für Edinburgh, eine Landkarte für ganz Schottland und sogar wesentliche Campingutensilien: ein Doppelzelt für Jana und Frigga, Schlafsäcke und Isomatten für alle drei.

Christine: »Der Flieger scheint ziemlich voll zu sein. Ihr müsst vielleicht separat sitzen, aber ihr könnt vor Ort euer Glück probieren, oder ich rufe morgen ...«

Jana: »Schon gut, Mum, wir kommen klar. Der Flug dauert doch nicht lange. Danach haben wir viel Zeit zusammen.«

Christine: »Prima, dann buche ich das jetzt ein. Auf meine Kreditkarte.«

Jana: »Das muss echt nicht sein!«

Christine: »Doch! Ihr habt noch die Bahnfahrten, das Shuttle, den Megabus und mehr zu zahlen. Schottland ist teuer, und ich will, dass ihr euch eine schöne Auszeit macht. Die letzten Tage waren schwer genug.«

Jana: »Danke, das werden wir.«

Christine: »In dem Reiseführer findest du auch eine Beschreibung des West Highland Ways. Ihr müsst immer auf das Distel-Symbol achten, das euch den Weg weisen wird. Die Distel ist übrigens die Nationalpflanze der Schotten. Steht alles im Führer.«

Jana: »Schon gut, Mum. Lese ich in der Bahn oder im Flugzeug.«