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Der betagte Druide Gwydion hatte schon vor Jahren die Ausbildung der jungen Heilerin Bryanna übernommen und ihr als Wertschätzung eine Bronzesichel geschenkt. Als Bryanna ein lange vor ihr verborgenes Geheimnis entdeckt, kommt es zum Bruch mit Gwydion und ihrer Mutter Kendra. Fest entschlossen, ihren eigenen Weg zu gehen, begegnet sie markomannischen Fremden, deren Absichten im Dunkeln liegen. Als ein heimtückischer, mörderischer Angriff auf ihre Mutter Kendra verübt wird, führen die ersten Spuren zu den Fremden. Bald überschlagen sich die Ereignisse und stören das Leben der Dorfbewohner empfindlich. Welche Rolle spielt dabei die geheimnisvolle Bronzesichel?
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Seitenzahl: 299
Veröffentlichungsjahr: 2025
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gewidmet
meiner
verstorbenen Schwester Gertraud F. Maier
Vorbemerkungen
Der Auftrag
Rogan
Trisov
Gwydions Geheimnis
Die Keltensichel
Heilung
Der Handel
Die Bronzekugel
Kontakt
Die Befragung
Krankenbett
Vier Heilerinnen?
Iven, der Druide
Verlust
Wunsch und Befehl
Handelsplatz am Danuvius
Gwydion geht
Verfolgung
Totenfest
Der Frauenraub
Der Kalte See
Bruchstücke und Verbindungen
Hochzeit
Rückkehr
Nachwort
Danksagung
Anhang
Ort und Zeit der Handlung
Im großen, düsteren Nordwald, den die Römer als Gabreta Silva bezeichneten – heute bekannt als ‚Bayerischer und Böhmischer Wald‘ - liegen einige kleine Dörfer. Die in diesen Siedlungen lebenden keltischen Boier pflegen um die Mitte des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung Handelsbeziehungen untereinander sowie mit den Römern entlang des Flusses Danuvius (der Donau). Sie leben in relativem Frieden, weitgehend unbeeinflusst von der römischen Kultur. In den Augen der Römer gelten die Kelten als kämpferisches und ungezähmtes "Barbarenvolk", das durch Trinkfreude, Lebenslust und Furchtlosigkeit auffällt. Für die Kelten selbst jedoch steht die Ehre über allem.
Am Fuße der Bergkette mit der mystischen Felsformation "Die Heiligen Drei Felstürme", die wir heute als Dreisesselberg kennen, liegt eines dieser Dörfer. Hier leben Bauern, Handwerker und Händler, die – wie viele ihrer Zeitgenossen – nach einer gesicherten Existenz, Freude und einem Leben im Einklang mit den Göttern streben. In den vergangenen Jahren hat der Frieden und der vorteilhafte Handel mit den Römern in den Grenzlagern entlang des Danuvius den Dorfbewohnern einen bescheidenen Wohlstand beschert.
Doch aus dem Norden droht eine unerwartete Gefahr: markomannische Händler, Siedler und Räuberbanden ziehen aus ihrem Stammland, dem Boiohaemum, gen Süden. Spannungen und Zusammenstöße mit den keltischen Bewohnern des Nordwalds sind unausweichlich.
Gwydion
63 Jahre alt. Druide, Seher und Bewahrer der Riten und Legenden. Einer der hoch angesehenen „Ehrwürdigen Weisen“ der umliegenden Dörfer
Iven
35 Jahre alt, seit zwanzig Jahren Druidenschüler Gwydions. Steht kurz vor der Bestätigung als neuer Druide
Kendra
29 Jahre alt, schön, selbstbewusst, sehnt sich nach Liebe und Zuneigung. Kräutersammlerin und Heilkundige. Mutter von Bryanna
Bryanna
14 Jahre alte Tochter Kendras. Aufgeweckt und intelligent. Hat eine starke Beziehung zu Gwydion, der sie als Heilkundige und Heilerin unterrichtet. Vor sieben Jahren hat sie von ihm eine wirkmächtige Bronzesichel erhalten
Cayden
40 Jahre alt, adelig mit Kampfausbildung. Anführer des Dorfes. Glücklich verheiratet mit Lynn, lebt im Herrenhaus, hat seinen großen Bauernhof verpachtet
Ulik
22 Jahre alt, ältester Sohn Torins, des verstorbenen ehemaligen Dorfanführers. Waffenmeister, mit der Verteidigung des Dorfes beauftragt. Entwickelt sich zunehmend zum Stellvertreter Caydens
Arthur
19 Jahre alt, Uliks Bruder. Dient als Soldat Artorius im römischen Auxiliarheer von Boiodurum
Liam
17 Jahre alt, kenntnisreicher, einfühlsamer Pferdepfleger
Rogan
19 Jahre alt, rothaariger Sohn des getöteten Phelan. Schweinehirt, geistig etwas zurückgeblieben, mit schwierigem Charakter
Thorbald
24 Jahre alt, Sohn eines markomannischen Fürsten und Häuptlings eines großen Dorfes in Boiohaemum
Kuno
23 Jahre alt, eigenwilliger, ehrgeiziger Sohn des Häuptlings eines Nachbardorfes
Hal
35 Jahre alt, Boier, Wegkundiger, Führer, Übersetzer
„Somit ist es beschlossen!“
Der alte Fürst der umliegenden Dörfer erhob sich nach dieser lauten Verkündung mühsam von dem fellbedeckten Steinblock, der in der Mitte eines kreisförmigen, kniehohen Erdwalls lag. Diese vor langer Zeit angelegte Versammlungsstelle bot nicht nur eine ausreichende Sitzgelegenheit für die Alten, Weisen und Mächtigen beim Thing, der Ratsversammlung, sondern auch eine dahinter liegende umlaufende Böschung, von der aus auch das gemeine Volk die Beratungen gut verfolgen konnte.
Das Volk, die erwachsenen markomannischen Bewohner mehrerer einfacher Dörfer in den südlichen Ausläufern der Bergkette im nördlichen Boiohaemum – heute als Riesengebirge bekannt – hatten sich zu diesem von den Dorfmächtigen schon vor Wochen angekündigtem Treffen vorbereitet, um eine Entscheidung von weitreichender Bedeutung zu treffen - eine gemeinsame Entscheidung, die die Zukunft des Stammes, seinen Frieden und Wohlstand beeinflussen würde. Viele Für und Wider, Diskussionen und Streitgespräche waren diesem Treffen voraus gegangen, und es war nicht klar, ob eine Einigung gelingen würde. Doch zwei mächtige Familienclans hatten ihre Fäden geschickt im Hintergrund gesponnen und die Vorteile gewannen zunehmend Beachtung, bis schließlich die Zustimmung des geplanten Vorschlags als sicher galt.
Am frühen Nachmittag des vereinbarten Tages riefen die langgezogenen, erst lauten, dann abschwellenden Töne aus dem großen Horn die Dorfbewohner auf, ihre Arbeit zu unterbrechen und zum Thingplatz, dem Versammlungsort, zu eilen. In einer vor dem Dorfeingang stehenden hohen, weit verzweigten Buche, war einer der Dorfbewohner auf Anweisung des Dorfältesten hochgeklettert und mit dem ‚Ausguck‘ beauftragt: er sollte, sobald er die Besucher aus den Nachbardörfern entdeckte, in sein mächtiges Signalhorn stoßen und damit alle hiesigen Dorfbewohner herbeirufen. Kurz nach Mittag war es so weit: erst zeigten die immer wieder aufgeregt auffliegenden Krähen im Osten das Nahen einer größeren Menschenmenge an, dann war ein stetiger Gesang zu hören - erst leise, dann immer lauter werdend. Schließlich traten die ersten Vorboten der Besucher aus dem lichten Buchenwald hervor - Männer mit Schilden, Speeren und Schwertern bewaffnet, dahinter die Anführer mit breiten Gürteln, aus denen Messergriffe hervorlugten, mit allerlei Schmuck und edlen Pelzen behängt, denen singende Frauen in bunten Gewändern folgten. Den Abschluss bildete eine große Schar wachsam blickender Männer in ihren besten Gewändern, bewaffnet - die Vertreter der männlichen Erwachsenen des Dorfes. Wohl das halbe Dorf aus der einen halben Tagesmarsch entfernten Nachbarschaft war aufgebrochen, um an der anstehenden Entscheidung teilzunehmen.
Nicht viel später trafen die Besucher aus den anderen Dörfern in ähnlicher Art und Weise zur vereinbarten Stunde im Dorf ihres Fürsten ein.
Der Mann im Ausguck hielt es für seine Pflicht, immer wieder in sein Horn zu stoßen, so lange bis der letzte der Besucher seinen Baum passiert hatte. Erst dann kletterte er hinunter und folgte den Besuchern in respektvollem Abstand.
„Seid gegrüßt meine Freunde!“ Freudig eilte der alte Fürst allen ankommenden Dorfmächtigen die ausgestreckten Arme entgegen und umarmte sie nacheinander mit festem Druck. Seine hiesige Dorfelite, der Anführer, die Alten, die Ehrwürdigen und Adligen, taten es ihm gleich.
Die bewaffneten Vorhutgruppen der Besucher hatten sich links und rechts der Begrüßungsgruppe aufgestellt und warteten auf weitere Befehle.
„Kommt alle in unser Dorf, dort werdet ihr schon freudig mit Speis und Trank zu eurer Stärkung erwartet.“ Mit einem Seitenblick auf die bewaffneten Begleiter ergänzte er noch: „Und dort könnt ihr auch eure prächtigen Waffen ablegen – ihr seid hier bei Freunden!“
Schon bald vermischten sich Besucher und Besuchte, viele sich freundlich begrüßend, Hände schüttelnd, sich umarmend, schwatzend, lachend – einige aber auch skeptisch und reserviert. Nicht alle waren einander gut gesinnt oder gar befreundet, so einige frühere Händel untereinander waren anscheinend nicht vergessen.
Im großen Langhaus hatte der Fürst eine lange Brettertafel aufstellen und daneben Felle als Sitzgelegenheit auslegen lassen. Met und Wasser, Rauchfleisch und Getreidebrei standen auf dem langen Tisch, an dem sich jetzt die Mächtigen des Dorfes niederließen.
„Setzt euch, macht es euch bequem und langt zu!“ Mit einer Geste lud er seine Gäste zu Speis und Trank ein.
Während im großen Langhaus, dem Fürstenhaus, die Führungselite auf den ausgebreiteten Fellen saß und sich behaglich über die verschiedenen Getränken und schmackhaften Speisen hermachte, musste sich das ‚gemeine‘ Volk draußen niederlassen und sich mit allerlei Mitgebrachtem und Angebotenem begnügen, was aber als selbstverständlich und angemessen hingenommen wurde. Wer eine Sitzgelegenheit fand, breitete seine Brotfladen, essbaren Wurzeln oder Nüsse vor sich aus und jeder konnte sich davon nehmen. Die Stehenden schöpften mit den Trinkhörnern kühles Wasser aus dem Dorfbrunnen, nahmen einen tüchtigen Schluck und reichten die Gefäße weiter. Bald kam nach dem Austausch von Neuigkeiten die Sprache auf die kommende Entscheidung. Wie würde sie ausgehen?
Das Stimmengewirr übertönte die üblichen schlürfenden und schmatzenden Essgeräusche und die anschließend entweichenden Laute. An den damit verbundenen Gerüchen störte sich jedoch keiner.
Im Fürstenhaus ging es ähnlich und kaum gesitteter zu. Die Stimmen waren jedoch um einiges lauter und drehten sich ausschließlich um die anstehende Versammlung.
Schließlich stand der Fürst auf.
„Hört zu, meine Freunde! Wir haben bald eine wichtige Entscheidung zu treffen. Wie ihr wisst, sind unsere Handelsrouten im Westen und im Osten gefährdet. Da drüben - “, er wies mit dem Arm nach Osten, „lauern die Horden der Vandalen und Quaden. Und auf der anderen Seite werden immer mehr Gruppen von Hermunduren frecher und stören unsere gelegentlichen, äh, ‚Überraschungsbesuche‘ der durchziehenden Händler. Wir benötigen eine neue, zusätzliche Einnahmequelle! Von den Reisenden und Händlern haben wir erfahren, dass weit im Süden, am Danuvius, neue Römerlager entstehen, die Waffen, Gold, Felle und vieles andere benötigen – und wir können ihnen das alles liefern. Sie sollen mit Wein, Öl und Salz bezahlen können. Und wenn nicht – dann wollen wir etwas nachhelfen!“
Grinsend hielt er kurz inne und machte mit seiner geballten Faust eine unmissverständliche Geste. Seine Gäste nickten zustimmend.
„Wir wollen einen neuen Handelsweg – von hier in den Süden zu den Römerlagern! Deren Lager in Boiodurum am Zusammenfluss des Aenus und des Danuvius soll angeblich schon am weitesten ausgebaut sein. Wir haben das gemeinsame Ziel, einen Erkundungstrupp auf die Reise zu senden, um diese Strecke für die zukünftige Nutzung vorzubereiten. Und mein Sohn Thorbald wird sie anführen – das soll und wird heute im Thing beschlossen werden!“
Selbstbewusst blickte er in die Runde. Widersprüche erwartete er nicht.
„Mein Sohn Kuno und einige unserer Mannen werden ihn begleiten! Du hast doch bestimmt nichts dagegen, mein Freund.“
Der Anführer aus dem am nächsten gelegenen Dorf war ebenfalls aufgestanden und blickte jetzt den Fürsten mit einem Lächeln ins Gesicht.
Die Forderung war freundlich formuliert, jedoch klar, eindringlich und unmissverständlich. Er würde keinesfalls die ehrenvolle Aufgabe und den Ruhm, eine neue Route zu erkunden, nur diesem Dorf überlassen. Wer diese Aufgabe erfolgreich umsetzte, hatte sicherlich die besten Voraussetzungen, sich als Vertreter und möglicher Nachfolger des jeweiligen Dorfanführers oder sogar des Fürsten zu empfehlen.
Die Begleiter des Anführers des Nachbardorfes unterstützten diese Forderung lauthals und klopften zustimmend auf die Tischbretter. Der alte Fürst blickte erst stumm in die Runde; eine so feste Gegenforderung hatte er nicht erwartet.
Nun gut, sein Sohn würde sich auch gegen einen Konkurrenten behaupten. Vielleicht war dieser Kuno auch kein ernsthafter Konkurrent, die nachbarschaftlichen Beziehungen waren labil und eine Ablehnung würde nur Ärger und Autoritätsverlust provozieren.
Der Fürst antwortete wohlwollend: „Wir freuen uns auf eine Unterstützung bei diesem langwierigen und schwierigen Unternehmen – wir können jede kräftige Hand dabei gebrauchen. Und es nützt uns allen!“ Geschickt hatte er der Forderung zugestimmt, aber den Führungsanspruch seines Sohnes nicht in Zweifel gezogen.
Zufrieden setzten sich die beiden nieder und genossen schließlich gemeinsam mit den anderen die Speisen und Getränke.
Eine so große Menschenmenge im Thing hatte das Dorf schon lange nicht mehr gesehen. Nur die Ältesten konnten sich noch an die Umstände erinnern, als vor über zwei Generationen eine Entscheidung aller Stämme über eine Unterstützung des mächtigen Römerbezwingers Arminius durch ihren König Marbod anstand. Diese Unterstützung wurde damals mehrheitlich abgelehnt.
Die Ansprache des Fürsten in der großen Versammlung lautete ähnlich derjenigen, die er schon im Langhaus gehalten hatte - und ebenso verhielt es sich mit der Forderung des Dorfanführers. Beide vermieden jedoch einen ernsthaften Streit und hörten aufmerksam den Einwänden und Zusprüchen derjenigen zu, denen es erlaubt war, im Thing zu sprechen. Das ‚Volk‘, also die zuhörende Mehrheit, konnte mit Murren Ablehnung oder mit Geklapper der Waffen und lautem Rufen ihre Zustimmung kundtun.
Schließlich einigte man sich auf ein gemeinsames Vorgehen: Thorbald, der Sohn des Fürsten und Kuno, der Sohn des Häuptlings des Nachbardorfes sollten mit jeweils sieben bewaffneten Mannen aus dem Gefolge einen Weg – zu Land und Wasser – nach Süden zu Römerlagern am Danuvius erkunden und so weit wie möglich begehbar oder befahrbar machen. Begleitet würden sie von zwei Jägern, einem Kundschafter und einer Heil-und Kräuterkundigen aus dem Dorf des Fürsten. Werkzeuge, Zelte und Grundnahrungsmittel, wie Hirse, Gerste und Rauchfleisch, sollen auf einem von den Männern gezogenen Karren mitgeführt werden. Auf einen zweiten Karren, ebenfalls von Hand gezogen, sollten die Handelswaren geladen werden. Aufgrund der erwarteten Hindernisse, engen Stellen im unwegsamen Gelände und möglicherweise auf Flößen zurückzulegenden Wegstrecken, verzichteten sie auf Zugtiere. Sie würden außerdem keine Zeit haben, sich mit deren Futterbeschaffung und Pflege aufzuhalten.
Der Aufbruch werde beim nächsten Mondwechsel in sieben Tagen sein. Der Anführer der insgesamt zwanzigköpfigen Gruppe ist Thorbald, Kuno sein Stellvertreter.
Die überwiegende Mehrheit des Volkes und alle Anführer der Dörfer stimmte dieser Entscheidung zu. Also bestätigte der alte Fürst:
„Somit ist es beschlossen!“
Die Tage vergingen rasch in emsiger Vorbereitung auf die anstehende, lange Erkundungsreise. Die Auswahl der Mannschaft war sorgfältig zu treffen – junge, starke Männer und ältere, erfahrene Kämpfer - mit besonderem Können oder Kenntnissen. Sie alle benötigten handwerkliches Geschick im Holzfällen und Roden, Flöße bauen und lenken, Befestigungen anlegen, Eisen bearbeiten und Waffen instand setzen. Doch kamen deutlich mehr Männer in Betracht als benötigt wurden – jeder Erwachsene des Dorfes hatte schon von klein auf gelernt, sich weitgehend selbst zu helfen und zu versorgen. Schwierig war es, aus dieser Vorauswahl die richtige Mannschaft zu bilden. Sie sollte zudem zielstrebig, charakterstark, loyal und harmonisch sein.
Die Festlegung der notwendigen Ausrüstungsgegenstände musste nicht minder sorgfältig erfolgen: Beile und Äxte, Spaten, Sägen verschiedener Art, Hämmer, Nägel und Seile in verschiedenen Stärken und Längen – und vieles mehr.
Schließlich musste noch eine geeignete Auswahl an Handelswaren getroffen werden. Man einigte sich auf edle Felle von Maulwurf, Nerz und Biber, allerlei Stoff- und Lederwaren, geschmiedete Lanzen- und Pfeilspitzen, fein gearbeitete Messer und Axtköpfe sowie einige Beutel mit Bernstein, Gold- und Silberkörnern. Werkzeuge und Teile der Ausrüstung, die am Ende der Reise nicht mehr benötigt würden, konnten ebenfalls abgegeben werden.
Thorbald und Kuno hatten sich als künftige Führungspersönlichkeiten schon vor Jahren sprachliche Grundbegriffe von den boischen Unfreien, die in ihren Dörfern leben durften, angeeignet. Die Kundschafter und der Rest der Mannschaft sollten während ihrer Reise noch wichtige Worte und Redewendungen in der ihnen weitgehend unbekannten Sprache dazulernen.
Einen Tag vor der Abreise rief der alte Fürst Thorbald zu sich. Er erwartete seinen Sohn im Langhaus neben der großen Eingangstür; hinter ihm stand ein kleines, einfaches Tischchen, auf dem ein verschlossener lederner Beutel lag. Thorbald trat ein, begrüßte seinen Vater respektvoll und erkannte erst jetzt im Halbdunklen, dass noch eine weitere Person ein paar Schritte hinter dem Fürsten stand. Es war die Schamanin des Dorfes, ganz in dunkles Gewand gekleidet und ihre hellen, teilweise grauen Haare fast vollständig unter dem Kopftuch verborgen. Sie hatte schon bei Thorbalds Eintreten ihre Augen fest auf den jungen Mann geheftet und fixierte ihn nun mit starrem Blick und weit geöffneten Augen.
Der Fürst trat einen Schritt zur Seite und wies mit der Hand auf den ungeöffneten Beutel:
„Lasst uns die Zeichen lesen, die uns die Götter für diese Reise geben.“ Und zur Schamanin gewandt flüsterte er: „Wirf die Runen, die Buchenstäbe, die nur du lesen kannst und tu uns den Rat der Götter kund!“
Den Blick immer noch auf den vor ihr stehenden Thorbald gerichtet, griff sie zum Beutel, öffnete ihn und schüttete mit einer kurzen, heftigen Bewegung den Inhalt auf die Tischfläche. Kleine, etwa einen Finger lange Birkenstäbchen verstreuten sich klappernd auf der Unterlage. Nur einige blieben so liegen, dass die darauf eingeritzte Rune nach oben zeigte und lesbar wurde.
Die Schamanin zeigte auf eines dieser magischen Zeichen. „Raihdo – eine lange Reise.“ Dann wies sie auf das nächste Holzstäbchen, zögerte kaum merklich, sprach aber dann: „Uruz – Stärke und Kraft – wie der Auerochse.“ Sie hätte auch die Reihenfolge der Worte umdrehen können, doch sie wollte ein Zusammentreffen mit dem gefährlichen Auerochsen nicht heraufbeschwören. So wie sie es gesagt hatte, war es besser – die Mannschaft würde viel Stärke und Kraft aufbringen müssen! Das dritte Zeichen war das ‚Mannaz‘.
„Ihr werdet Menschen treffen, gute und böse, solche mit Liebe - und Hinterlist.“
Der Fürst stand schweigend neben der Schamanin, aber es war ihm anzusehen, dass er nicht gänzlich mit ihrer Prophezeiung zufrieden war. Thorbald versuchte nicht zu lächeln, denn diese ‚Weisheiten‘ waren für ein Unternehmen, wie sie es vorhatten, nichts wirklich Neues.
Die Schamanin fühlte diese Gedanken genau - und wie beiläufig, führte sie ihren rechten Zeigefinger zu einem der Holzstäbchen, das quer auf einem anderen lag, so dass das Zeichen nur zur Hälfte lesbar war. Mit einem leichten Fingerdruck drehte sie das Hölzchen ein wenig und las:
„Fehu – Reichtum und Erfolg. Aber bewahre dich vor Gier!“
„Wir danken dir für deine Offenbarungen, auch wenn die Geheimnisse der Götter manchmal nicht gleich auf Anhieb erkennbar sind. Hier nimm und bewahre diese Erkenntnisse für dich!“
Der Fürst drückte der Schamanin die Hand, in der er offensichtlich ein kleines Geschenk verborgen hatte. Die Schamanin verneigte sich wortlos und verließ das Haus.
Als sie außer Sichtweite war, öffnete sie die Hand. Ein etwa taubeneigroßer Bernstein lag darin. Lächelnd ging sie weiter zu ihrem Lebensbaum, der Eiche am Rande des Dorfes, und ließ sich zufrieden nieder. Es macht doch manchmal Sinn, sich bei den Weissagungen ein wenig an die Wünsche der Mächtigen zu orientieren – sie wusste doch, Erwartungen können auch in Erfüllung gehen.
Thorbald wollte sich nach dieser Weissagung der Schamanin von seinem Vater verabschieden, der hielt ihn jedoch noch zurück. Er ging zu einer hölzernen Truhe, die bei seinen persönlichen Sachen stand, öffnete den Deckel und zog ein längliches Stück Fell hervor.
„Hier, mein Sohn, nimm dieses als Zeichen deiner Führerschaft!“
Mit diesen Worten legte er ein Fischotterfell um Thorbalds Schultern.
„Achte darauf: du bist der Anführer dieser Unternehmung – und kein anderer! Und nimm dieses hier“, dabei drückte er Thorbald einen etwa faustgroßen Lederbeutel in die Hand. „Bernstein und Gold, für Handel und Notfall. Geh in Frieden und komm in Frieden und mit guter Kunde zurück.“
Etwa zeitgleich wurde Kuno zu seinem Vater gerufen, der ihn im Freien unter einer großen Eiche empfing.
„Höre mein Sohn, du bist beliebt, ehrgeizig, kräftig und klug – also der Richtige für die Leitung dieser Unternehmung. Aber lass Thorbald glauben, er sei der Anführer und lass ihn seine Arbeit machen. Aber stelle sicher, dass er anschließend … nicht mehr zurückkommt! Hörst du: er darf nicht mehr zurückkommen, egal wie!“
Erstaunt blickte Kuno seinen Vater an: „Du meinst, ich soll ihn täuschen, ihn in Sicherheit wiegen und ihn dann,“ - er zögerte, es auszusprechen, „beseitigen? Wie? Warum?“
„Der alte Fürst wird nicht mehr lange leben. Und ich werde seinen Platz einnehmen! Die Fäden sind schon gesponnen! Es ist nur zum Wohle unseres Dorfes – und unseres … Sein Sohn stört da nur. Du musst ihn nicht töten, es genügt, wenn er nicht mehr zurückkommt – dir wird schon etwas einfallen.“
Eindringlich blickte er seinem Sohn in die Augen. „Und du wirst dann mein Nachfolger! – Wirst du tun, was ich, dein Vater, von dir verlange?“
Kuno versuchte zu verstehen, was er gerade gehört hatte und was sein Vater von ihm erwartete. Es würde einen Machtwechsel in den Dörfern geben und sein Vater – und er – würden zukünftig eine wichtige Rolle darin spielen. Ein prickelndes Gefühl stieg in ihm auf und unwillkürlich richtete er sich auf.
Kuno nickte gehorsam. „Vater, ich werde dir gehorchen, natürlich, so wie es sich für einen Sohn gehört!“
„So geh jetzt und bereite dich auf die Abreise vor.“
Das tat Kuno, aber anders als sein Vater es sich gedacht hatte.
Er wollte auf andere Gedanken kommen, um nicht mehr an das Versprechen an seinen Vater denken müssen. Erst zögernd, dann schneller ausschreitend, wandte er sich dem Dorf zu und ließ seinen Blick suchend über eine Gruppe plappernder Frauen streifen. Die Blonde mit den beiden Wangengrübchen, mit der er sich auf dem Herweg so neckisch unterhalten hatte, blickte wie zufällig zu ihm hin. Mit einem Lächeln im Gesicht erfasste er ihren Blick und mit einer schräg aufwärts gerichteten Kopfbewegung wies er nach rechts, zum Waldrand. Langsam drehte er sich um und ging gerade aus zu den Bäumen und verschwand dort, ohne sich weiter umzusehen. Er wusste, seine für heute Nacht Auserwählte würde bald nachkommen …
Am anderen Tag, dem Tag des Aufbruchs, standen schon kurz nach Sonnenaufgang alle Teilnehmer der Truppe bereit. Die Karren waren beladen, je zwei Männer standen vorn und hinten, um das Gefährt in Bewegung zu setzen. Mit lauten, langen Stößen ins Horn wurden sie verabschiedet. So manche Ehefrau und junge Maid blickte ihnen mit gemischten Gefühlen nach.
Thorbald ging voran.
Kuno folgte ihm und blickte mehrmals winkend zurück. Er würde seine Liebschaft der letzten Nacht sicherlich vermissen. Die alte Heil- und Kräuterkundige aus dem Gefolge des Fürsten war sicherlich nicht für seine Schmeicheleien empfänglich. Da war für ihn nichts zu holen. Eine lange, einsame Reise stand ihm bevor.
Außerdem war Kuno gar nicht davon begeistert, dass er sich Thorbald unterordnen sollte. Er hatte doch bereits etliche Jagd- und Plünderungszüge erfolgreich angeführt – und nun das! Doch er musste den Rat seines Vaters befolgen, vorerst.
Die ersten Tage der Reise verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Sie schritten auf bekannten Wegen nördlich des Oberlaufs der ‚Labe‘ entlang. Doch bald wechselten sie in einer Furt auf das südliche Ufer; später, bei der Mündung eines großen Zuflusses, der ‚Wild-ahwa‘, wäre es viel schwieriger, denn dieses Gewässer war breiter, dunkler und geheimnisvoller als die heimatliche Labe. Und sie müssten später der Wild-ahwa folgen, denn dieser Fluss führte in die richtige Richtung: nach Süden zu den Mittelgebirgen. Dahinter lag der große Fluss Danuvius, an dem die Römer, ihre mutmaßlichen neuen Handelspartner, ihre Lager und Befestigungen zu bauen begannen – das Ziel ihrer langen Reise. *)
Doch vorerst mussten sie noch weiter an der Labe entlang ziehen. Hier, an der Südseite der nach Westen fließenden Labe, verlief ein gut passierbarer Weg und es ging zügig voran. Diese Route wurde öfter benutzt, um die benachbarten markomannischen Nachbarn zu besuchen oder zu der weiter entfernten, westlichen Bernsteinstraße zu gelangen.
Bei der Mündung der Wild-ahwa bogen sie, deren Lauf folgend, nach Süden ab. Nun wurden die Wege deutlich unbequemer, ja teilweise kaum mehr zu erkennen oder gar nicht mehr vorhanden. Es mussten Büsche geschnitten, Bäume gefällt, Wurzeln beseitigt und Steine aus dem Weg geräumt werden. Das Fortkommen mit den Karren war mühsam und kostete viel Zeit, Kraft und Schweiß. Denn der hier am östlichen Flussufer entlangführende Pfad wurde nur noch sehr selten benutzt, seit das boiische Oppidum Zavist schon vor Generationen verlassen worden war. Es existierten dort nur noch einige ärmliche Hütten. Mit den noch wenigen verbliebenen Bauern waren sicherlich keine lukrativen Geschäfte zu machen.
Das bestätigte sich auch, als sie schließlich bei dieser Siedlung ankamen. Ein großer Erdwall lag zwar immer noch schützend vor der Hochfläche, die Gebäude waren aber nicht mehr bewohnt, verfallen, abgebrannt oder zerstört. Nun, nicht alle - drei vereinzelt stehende lehmverputzte Holzhäuser schienen noch einigermaßen bewohnbar zu sein. Einige Ziegen standen erst grasend in der Nähe, hoben dann die Köpfe und blickten den Ankommenden entgegen; Menschen waren nicht zu sehen.
Thorbald schritt rufend auf eines der Häuser zu. Ein alter Mann trat vor die Tür. Er hielt eine Holzgabel drohend in den Händen. Thorbald hob beide Arme zum Zeichen seiner friedlichen Absicht und begrüßte ihn. In einfachen Worten, mit Händen und Füßen gestikulierend, versuchte er dem Mann seine Absicht zu erklären.
„Wir sind viele“, dabei spreizte er zweimal die Finger seiner beiden Hände, „Wir wollen hier essen und schlafen. Da drüben. Ja?“
Der Mann schien zu verstehen und nickte. Thorbald winkte seinen Gefährten näher zu kommen. Der alte Mann rief ein paar Worte ins Haus und eine ebenfalls alte Frau trat grinsend neben ihn. Sie hielt Thorbald ihre nach oben geöffnete rechte Handfläche hin, als erwartete sie für das Nachlager eine Belohnung.
In diesem Moment kam Kuno hinzu und blaffte: „Für nichts geben wir nichts. Wir haben alles, was wir benötigen, und ihr könnt uns nichts von Wert geben.“
Erschrocken wich die Frau zurück. Thorbald bemühte sich zu beschwichtigen: „Wir geben morgen ein Geschenk.“
Die ankommenden Männer zeigten wie beiläufig ihre Waffen und führten die Karren zu einem noch einigermaßen sicher aussehenden Haus, wo sie sich niederließen. Bald waren die Wachen ausgelost, einige Feuer entfacht, der Getreidebrei mit Wasser verrührt. Nach dem bescheidenen Essen forderte Thorbald die Mannen auf, sich um ihn zu setzen.
„Dieser Ort ist zwar trostlos, einsam und für einen Handelsplatz nicht tauglich, aber er kann uns heute und zukünftig auf dem Weg nach Süden als Haltestation dienen. Lasst uns überlegen, wie wir die Leute hier für uns gewinnen können.“
Etliche nickten, Vorschläge wurden gemacht und schließlich einigte man sich darauf, zwei Tage zu bleiben. Der Alte im Haus nebenan sollte ihnen einige Worte der fremden Sprache beibringen, dafür würden sie ihm einen Hasen, einen Fasan oder vielleicht sogar ein Reh jagen.
Zufrieden über diese Einigung zog sich Thorbald an eine Hauswand zurück und legte sich schlafen. Kuno und einige seiner Gefährten saßen noch länger am Feuer und redeten leise, aber angeregt. Thorbald schlief bald ein.
Aus den geplanten zwei Tagen wurde eine Woche. Die Jäger hatten nämlich einen Hirsch und eine Hirschkuh erlegt, und das Fleisch war reichlich. Die beiden Alten holten noch ein anderes Ehepaar hinzu, die sprachfreudiger waren und gerne für eine Hinterkeule und einige Handvoll Hirse schon am frühen Morgen zum Sprachunterricht bei den Männern standen. Kuno und Thorbald waren mit Eifer dabei, aber etliche ihrer Gefährten gaben nach ein paar Stunden wieder auf. Sie begannen eines der noch einigermaßen gut erhaltenen Häuser auszubessern. Handwerk lag ihnen dann doch näher als das sich Einprägen fremder Wörter.
Zufrieden zogen sie nach Ablauf dieser lehrreichen und arbeitsreichen Woche weiter. Der Abschied von den beiden alten Ehepaaren war freundlich und man vereinbarte eine weitere Zusammenarbeit. Leider lebten keine jüngeren Menschen in diesem verlassenen Ort – wer weiß, ob diese Alten bei dem nächsten Treffen hier noch lebten …
Die nächsten zwei Wochen waren weiterhin von harter Arbeit geprägt. Der Weg entlang der Wild-ahwa verlor sich bald. Anscheinend hatte man seit Jahrzehnten von hier nach Süden keine Verbindung mehr aufrechterhalten. Die Männer rodeten das Unterholz, fällten Bäume, errichteten Knüppelstege, füllten die vom Regen ausgewaschenen Schlaglöcher mit Steinen und Erde. Erschöpft von der harten Arbeit fielen sie abends am mühsam entfachten Feuer in einen tiefen Schlaf. Alles blieb ruhig, kein Mensch, kein gefährliches Tier störte ihre Ruhe. Die Jäger leisteten hervorragende Arbeit: es gab Wild und Fisch genug, alle wurden reichlich mit Fleisch versorgt. Aber die Männer begannen langsam zu murren: die Getreidevorräte gingen zur Neige, kein Met, keine Feste, viel Arbeit, wenig Ruhe. Und keine Frauen zur Erheiterung!
Thorbald hatte die beginnenden Unstimmigkeiten zwar bemerkt, reagiert aber erst als Kuno ihm eine patzige Antwort auf einen Arbeitsauftrag gab. „Du schindest uns, als ob wir um die Wette arbeiten würden. Das lassen wir uns nicht mehr gefallen. Wir wollen wieder Freude, einen Kampf oder was ganz anderes zu Essen. Du bist der Anführer, also lass dir was einfallen!“
Thorbald wusste, er musste etwas tun. Und zwar bald. Nein sofort!
„Alle Mann zu mir! Lasst alles liegen und stehen! Zu mir!“ Thorbald rief es so laut er konnte. Das ließen sich die Gefährten nicht zweimal sagen und versammelten sich um ihn.
„Ihr alle habt schwer gearbeitet, gerodet, gehackt, geschaufelt, geschleppt, geschuftet in Schweiß und Dreck! Ich danke euch allen dafür herzlich. Wir machen jetzt Pause: heute ist frei, Wasch- und Badetag im Fluss, Nichtstun, Raufen, Reden, Singen oder Saufen – äh, leider ohne Met - wie es euch passt. Geht und vergnügt euch!“
Verblüfft, aber dann übermütig schreiend liefen einige zum Fluss und sprangen mit allen Kleidern in die erfrischende Flut. Andere zogen ihre Überkleider aus und streckten Arme und Beine in der Sonne aus, während wieder andere den Schatten bevorzugten. Ganz Unermüdliche begannen einen Wettkampf im Armdrücken. Einige wenige verzogen sich in den Hintergrund und dachten voller Sehnsucht an die Zurückgelassenen in der Heimat.
Einer der Jäger kam zu Thorbald.
„Bei der Hatz gestern habe ich einen Baum entdeckt, bei dem viele Bienen rumschwirrten. Ich konnte mich jedoch nicht weiter darum kümmern, sonst wäre mir der Hase entkommen. Wir sollten den Baum suchen und den Honig sammeln.“
Das war ein hervorragender Vorschlag! Als der Jäger ihn abends am Lagerfeuer der Mannschaft kundtat, war die Begeisterung hoch. Honig - das war eine Überraschung und die freudige Aussicht auf Abwechslung im Essen, darauf den Finger in die süße goldene Leckerei zu tauchen, sich die tropfende Süße in den Mund zu stecken und sich dann noch stundenlang den Bart zu lecken. Und vielleicht Met zu brauen!
Der Tag ging voller Vorfreude zu Ende.
Am nächsten Morgen gingen die Männer eifrig ans Werk. Sie schnitten Äste, beschichteten sie an der Spitze mit Baumharz, um rauchende, qualmende Fackeln zu gewinnen. In viele Kleidungsstücke dicht eingemummt zogen sie mit leeren Gefäßen los. Am Bienenbaum brummte und summte es. Trotz übergezogenen Umhängen, verhüllten Gesichtern und Fackelqualm ging es nicht ohne Stiche ab. Die Ausbeute war aber mehr als zufriedenstellend: sechs große Keramiktöpfe konnten schließlich mit Honigwaben gefüllt werden, bevor die Honigräuber vor den umherschwirrenden, stechenden Bienen schließlich aufgaben. Die wütenden Insekten umschwirrten sie jedoch noch ein erhebliches Stück, bevor sie endlich von ihrer Verfolgung abließen.
Den restlichen Tag verbrachten die Männer mit fröhlichem Honigschlecken – und mit der Behandlung der zahlreichen, schmerzenden Stiche.
Drei Töpfe mit Honig konnte Thorbald ‚retten‘. „Damit versuchen wir Met zu brauen …“, lockte er seine Gefährten. Nach einem kurzen Hin und Her hatte er sie überzeugt.
Der Honig wurde erhitzt, die doppelte Menge Wasser hinzugegeben und einige fein gehackte Wildäpfel zugesetzt. Das richtige Rezept war es zwar nicht, aber vielleicht würde trotzdem nach etlichen Tagen ein Getränk entstehen, das an Met erinnerte.
Erst am übernächsten Tag zogen sie wieder weiter, denn wegen der vielen schmerzenden Bienenstiche hatten sich die Männer geweigert, früher aufzubrechen. Die folgenden zwei Wochen waren mindestens genauso mühsam wie die vorangegangenen. Der Weg entlang der Wild-ahwa musste weiterhin mühsam freigeschlagen werden, deshalb kamen sie nur sehr langsam, jedoch stetig vorwärts. Auch ein Radbruch konnte sie nicht länger als zwei Tage aufhalten. Wie gut, dass sie entsprechendes Werkzeug dabei hatten - und einen Mann, der sich mit diesen schwierigen Holzarbeiten auskannte. Die Reparatur gelang unter diesen Umständen zwar gut, aber ob das Speichenrad extreme Belastungen aushalten würde, war nicht sicher.
Der Fluss verlief in vielen Windungen weiter nach Süden. Stellenweise musste der von den Männern angelegte weitere Weg jedoch die Ufernähe verlassen, um zu steile Uferhänge oder wilden, undurchdringlichen Bewuchs zu vermeiden, damit verlängerte sich die Strecke immer wieder.
Schließlich entschieden sie sich, bei einer Furt auf das westliche Ufer zu wechseln, wo, laut Kundschafter und Jäger, die Verhältnisse für die Wegführung geeigneter erschienen.
*) Siehe Reiseroute im Anhang
In einer keltischen Dorfgemeinschaft hatten alle Mitglieder zum gemeinsamen Wohl einen Beitrag zu leisten – so gut, wie sie es ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten entsprechend vermochten. Das war auch eine Grundregel im Dorf am Fuße der Bergformation „Heilige Drei Felstürme“. Und so musste auch Rogan, der neunzehnjährige, geistig etwas zurückgebliebene Sohn des verstorbenen Phelan, seinen Dienst an der Gemeinschaft verrichten. Phelan, der Gefährte des verstorbenen Dorfanführers Torin, war bei einem von Torin angeführten Raubzugs zu Tode gekommen – von Feinden ermordet.
Wie Rogans Mutter jedoch immer wieder behauptet hatte – und ihm jetzt auch immer wieder unermüdlich versicherte – war ‚diese Kendra‘ letztlich schuld am Tod seines Vaters. Hätte die ehebrecherische Kendra ihren Mann Torin nicht verlassen und betrogen, hätte dieser aus Wut und Demütigung nicht jenen fahrlässigen Raubzug unternommen – und Rogans Vater, Phelan, wäre nicht getötet worden. Diese hasserfüllte Überzeugung seiner Mutter hatte Rogan schon vor Jahren übernommen. An Kendra wollte er Rache üben, sie sollte dafür büßen, das stand für ihn fest - aber wie, das war ihm noch nicht klar.
Seit einigen Jahren war er mit der Aufsicht der Dorfschweine beauftragt; keine wirklich anspruchsvolle Arbeit, aber es machte ihm Freude, den wühlenden, suhlenden und grunzenden Schweinen am Waldrand zuzusehen und sie abends mit Stockschlägen und Steinwürfen ins Dorf zurückzutreiben. Außerdem brauchte er dabei nicht mit Menschen zu sprechen, die ihn sowieso nicht verstanden oder über ihn lachten, wenn wieder mal eine ungeschickte oder dumme Bemerkung über seine Lippen kam. In der Einsamkeit des Waldes konnte er ungestört über sein unglückliches Leben klagen, für das seiner Meinung nach nur die anderen verantwortlich waren.
Vor etwa drei Jahren hatte er von Ulik eine aus zwei Riemen und einer Lederschlaufe gefertigte Steinschleuder erhalten, damit sollte er für die Verteidigung des Dorfes üben. Ulik erklärte ihm die Schleudertechnik: einer dieser Riemen hatte am Ende eine kleine Öffnung, durch die er den Mittelfinger steckte. Damit war der Riemen fest mit der Hand verbunden, das andere Riemenende hielt er locker in der Hand; in die mittige Lederschlaufe legte er einen kleinen Stein. Nach einigen schnellen, kreisförmigen Armbewegungen ließ er zum richtigen Zeitpunkt den frei gehaltenen Riemen los und der Stein flog im flachen Bogen nach vorne. Es sah einfach aus, aber je schneller die Schleuderbewegung war, desto schwieriger war es, den richtigen Zeitpunkt zum Loslassen zu erwischen. Und davon hing die Treffgenauigkeit ab.
Voller Begeisterung suchte er kleine Kieselsteine und schleuderte sie auf alle möglichen Ziele. Erst waren es Baumstämme oder kleinere Felsblöcke, die er zu treffen versuchte. Als ihm das nach langem Üben problemlos gelang, versuchte er einzelne Äste zu treffen, einen Maulwurfshügel oder sogar das Hinterteil einer widerspenstigen Sau. Als er genügend Zielsicherheit gewonnen hatte, suchte er kleinere und auch bewegliche Ziele zu treffen wie Blätter, die Blüte einer speziellen Blume auf der Wiese oder einen vorwitzigen Maulwurf, der leichtsinnigerweise aus einen Höhlengang herauslugte. Damit hatte er leider kaum Erfolg.
Erst nach etlichen Monaten fand er heraus, warum das so war. Die Kieselsteine waren in der Form zu unterschiedlich. Ovale oder runde Steine mit glatter Oberfläche flogen eine saubere, berechenbare Bahn. Aber die Kieselsteine, die er am Bach- und Flussufer fand, waren selten in dieser Form. Sie eierten beim Flug mehr oder weniger und je nach Größe oder Geschwindigkeit trafen sie mal das Ziel oder nicht.
Wenn er sich verbessern wollte, und das wollte er, musste er gleichförmige Geschosse verwenden. Ulik würde staunen und ihn loben, wenn er ihm seine Kunst vorführen würde.
Als er eines Tages die Schweine von einer abgelegenen Stelle des Waldrandes zu den Dorfkoben zurücktrieb, musste er an der Dorfschmiede vorbei.
„Hola, Rogan. Lass die Schweine mal laufen und hilf mir dieses Eisen zu halten! Mein Helfer hat sich vorhin die Hand verstaucht und ich kann diese Eisenstange nicht allein schmieden.“
Der Dorfschmied stand mit einem riesigen Hammer vor der glühenden Esse und winkte Rogan.
„Nein, ich muss die Schweine zurückbringen. Aber dann kann ich helfen. Was gibst du mir?“
„Du bekommt schon etwas von mir, komm‘ nur gleich vorbei.“
Rogan trieb die Schweine in den Stall und lief voller Erwartung zur Dorfschmiede. Selten hatte ihn jemand um Hilfe gebeten; er konnte nur Schweine hüten - und mit seiner Schleuder allerlei Ziele treffen – aber das konnte er schon sehr gut!
„Was muss ich tun?“
Der Schmied erklärte Rogan die einfache, aber wie er sagte, verantwortungsvolle Tätigkeit. Mit einer großen, schweren Zange musste Rogan ein an der Spitze glühendes Stück Eisen halten, das der Schmied mit seinem Hammer geschickt bearbeitete. Rogan hatte es auf Zuruf des Schmieds zu drehen und dann ins Wasser zu tauchen. Anschließend steckte es der Schmied wieder in die Glut. Das wiederholte sich. Viele Male. Rogans Arme begannen zu schmerzen und er begann sich zu beschweren. Der Schmied beschwichtige ihn: „Noch ein paar Mal, dann passte es …“
Endlich war der Schmied zufrieden.
„Fertig für heute. Was kann ich dir für deine Hilfe geben?“
Ratlos blickte Rogan in der Schmiede umher. Da erblickte der Schmied die Schleuder am Gürtel Rogans.
„Hast du für diese Schleuder auch die richtigen, Geschosse – solche die genau fliegen und treffen, dort wo sie sollen? – Nein, dann habe ich etwas, das dir helfen kann.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich der Schmied um, öffnete eine Kiste im Hintergrund und holte zwei kleine, unförmige Bronzeteile hervor. Es waren die Angüsse einer Bronzesichel, die er vor Jahren aus einem Bronzedolch auf Anweisung vom Druiden Gwydion gegossen hatte. Eine schwierige Arbeit damals.
„Die fliegen bestimmt nicht. Was soll ich damit?“ beschwerte sich Rogan.