Die Klage des Faultiers - Jean-Claude Spichiger - E-Book

Die Klage des Faultiers E-Book

Jean-Claude Spichiger

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Beschreibung

Seien Sie ehrlich: Wünschen Sie sich nicht manchmal ein Leben wie ein Faultier? Diese interessanten Zeitgenossen verbringen fast ihre gesamte Lebenszeit kopfüber an einem Ast hängend. Auf diese Weise nehmen sie alles aus einer völlig anderen Perspektive wahr. Mit dieser Sammlung an ausgewählten Kurzgeschichten erhalten auch Sie die Gelegenheit, die Dinge einmal aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Öffnen Sie Ihren Geist und tauchen Sie ein in den Facettenreichtum alternativer Realitäten!

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Seitenzahl: 183

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Offene Türen

Kaltblütig

Lebensweisheiten eines Teddybären

Heimkehr

Sozialhilfebetrug

Spurlos

Der schwarze Sänger

Die Erleuchtung

Der Überflieger

Die transgenen Elefanten

Intelligenter Staub

Aufbruch

Der Clochard

Liebestäuschung

Auf der falschen Seite

Himmlische Nöte

Sergeant Peppers letzter Fall

Fischhonig

Gedächtnisupdate

Die Klage des Faultiers

Mein Leben als Teddybär

Danksagung

Offene Türen

Plötzlich war sie da, hatte sich auf dem Boden des Balkons unserer Vierzimmerwohnung mit einer Selbstverständlichkeit zur Ruhe gelegt, als ob es ihr Zuhause wäre.

Wie jeder weiß, sind Enten in der Nähe von Gewässern anzutreffen. Sie werden sich daher vielleicht fragen, was eine Ente weit weg vom nächsten Gewässer mitten in einem Stadtquartier auf dem Balkon eines Wohnhauses im dritten Stock zu suchen hatte. Ich kann Ihnen auf diese Frage – über die ich wirklich lange nachgedacht habe – leider auch keine schlüssige Antwort geben. Die Ente war einfach da, trat unaufgefordert in unser Leben und veränderte es nachhaltig.

Damals lebte ich noch mit meiner Partnerin Laura zusammen. Inzwischen ist sie ausgezogen. Aber wie konnte es nur dazu kommen? Welches Recht nahm sich diese Ente heraus, sich in unsere Beziehung einzumischen?

Es war an einem lauen Sommerabend. Wir deckten gerade den Tisch auf dem Balkon für das Abendessen. Wir hatten ihr Kommen gar nicht bemerkt. Bis dahin wussten wir nicht viel über Enten. Aber sie konnten offenbar fliegen, jedenfalls unsere.

Wir staunten, glaubten an einen kurzen Besuch und freuten uns. Der Städter genießt ja jedes noch so kleine Lebenszeichen der Natur. Der Besuch eines solchen Vogels stellt da bereits ein besonderes Ereignis dar.

Unsere Ente hatte ein braungrau gesprenkeltes Gefieder und einen braunen Schnabel. Ja, Sie haben es richtig erraten: Wie ich erst später erfuhr, handelte es sich um eine weibliche Stockente. Sie kennen sich mit Enten offensichtlich besser aus als ich damals. Aber auch, wenn unsere Ente nur ein Exemplar einer häufigen und weitverbreiteten Vogelart darstellte, büßte sie für mich dadurch nichts von ihrer Einzigartigkeit ein.

Wie eine Skulptur ruhte sie mit aufgeplustertem Gefieder auf dem Boden, den Kopf auf ihre Brust gelegt. So verharrte sie den ganzen Abend. Ab und zu drehte sie von leisem Schnattern begleitet den Kopf hin und her. Um sie nicht zu verscheuchen, nahmen wir das Abendessen in der Küche ein. Schon bald würde sie wieder weg sein, dachten wir.

Am nächsten Morgen galt mein erster Blick der Ente. Sie kauerte in unveränderter Position am Boden. Im Verlauf des Tages watschelte sie mehrmals auf dem Balkon umher. Einmal schlüpfte sie zwischen den Stäben des Geländers hindurch und blieb auf der Balkonkante stehen, sodass wir glaubten, sie würde davonfliegen.

Ich konnte mich nicht erinnern, je eine Ente fliegen gesehen zu haben. Trotzdem war ich mir sicher, dass es sich nicht um elegante Flugkünstler handeln konnte. Naheliegender schien mir die Vorstellung von einem behäbigen Flieger. Doch sie flog nicht davon. Vielmehr gewannen wir den Eindruck, dass sie den Ausblick auf die Straße genoss. Schließlich legte sie sich wieder hin, plusterte sich auf und pflegte ihr Gefieder.

Am zweiten Tag stellte ich der Ente eine große, mit Wasser gefüllte Schüssel auf den Boden neben der Balkontür. Auch Enten haben Durst, dachte ich. Tatsächlich nahm sie mein Angebot an. Allerdings löschte sie nicht nur ihren Durst, sondern versuchte sogleich, in die Schüssel hineinzusteigen, wahrscheinlich um ein Bad zu nehmen. Als die Schüssel umkippte und klirrend zerbrach, flüchtete die Ente laut schnatternd zwischen den Stäben des Balkongeländers hindurch und hielt erst auf der Balkonkante inne. Doch auch diesmal flog sie nicht davon.

Am dritten Tag war die Ente immer noch da, wie wir mit großer Verwunderung feststellten. Wir wussten ja nicht, dass sie für längere Zeit unser Gast bleiben würde. Der Balkon – im Sommer unser fünftes Zimmer – war für uns damit als zusätzlicher Lebensraum verloren. Dafür hatten wir eine Ente, was nicht jeder von sich sagen kann. Aber was suchte sie auf unserem Balkon? Was war gerade an diesem Balkon so besonders reizvoll für sie? War sie krank, verletzt oder geschwächt? War es eine Laune der Natur, die sie zu uns getrieben hatte? Oder war es reiner Zufall, dass sie ausgerechnet auf unserem Balkon gelandet war?

Am vierten Tag rief ich den Tierschutzverein an, dessen Mitglied ich bin. Der Tierschutzberater teilte unsere Besorgnis ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Er stellte die Sache so hin, als sei das alles vollkommen normal. »Jedes Jahr im Frühsommer melden sich besorgte Tierfreunde mit der Frage, was sie mit ihrer brütenden Balkonente machen sollen«, erklärte er. »Stockenten erweisen sich als äußerst flexibel und passen sich als Kulturfolger dem Menschen perfekt an. Sie brüten bis zu fünf Kilometer entfernt von Gewässern.«

»Aber unsere Ente brütet nicht«, wandte ich ein.

»Das kommt schon noch, nur Geduld!«, munterte mich der Mann auf.

Die Ente hielt sich aber nicht an das, was der Fachmann vom Tierschutz sagte. Sie legte keine Eier, brütete nicht und blieb trotzdem. Also musste es ihr auf unserem Balkon ja doch besonders gut gefallen. Aber warum?

Wenigstens beruhigte mich der Mann auch, als er klarstellte: »Aus tierschützerischer Sicht spricht nichts gegen eine Ente auf dem Balkon, solange man sie gewähren lässt. Halten Sie der Ente die Balkontür als Fluchtgelegenheit offen, falls sie Ihre Wohnung betreten sollte.«

Er hatte damit jedoch vorgegriffen, denn die Ente drang erst am zehnten Tag in unsere Wohnung ein. Wir überraschten sie im Wohnzimmer. Sogleich suchte sie Zuflucht auf dem Balkon. Aber wie hatte der Tierschutzberater voraussehen können, dass die Ente auch unsere Wohnung in Beschlag nehmen würde? Gab es Präzedenzfälle dafür? Lag es in der Natur von Enten, sich breitzumachen und einzunisten?

Am fünften Tag besorgte ich mir in einer Buchhandlung Literatur, um herauszufinden, wie man Enten hält und was sie fressen. Wir konnten unsere Ente ja nicht verhungern lassen, schließlich waren wir keine Tierquäler. Ich lernte, dass Enten, Gänse und Schwäne zur Familie der Entenvögel gehören. Ihnen gemeinsam sind kurze Beine, durch Schwimmhäute verbundene Vorderzehen, ein oft auffällig langer Hals sowie ein typischer platter Entenschnabel. Endlich fand ich auch, was ich suchte: »Enten sind Allesfresser«, stand da geschrieben. »Sie verzehren Wasser- und Uferpflanzen, Wurzeln, Samen, Schnecken, Würmer, Kaulquappen und mitunter Fische.« Das stimmte mich zuversichtlich, denn Allesfresser konnten, was die Ernährung angeht, wohl nicht sehr anspruchsvoll sein.

Ich kaufte im Bioladen um die Ecke verschiedene Gemüse und Blattsalate ein. Für meine Ente war nur das Beste gut genug. Noch nie zuvor hatte ich diesen Laden betreten, aber so wurde ich zum Stammkunden.

Ich merke, dass ich plötzlich von »meiner« Ente spreche, wo sie doch zunächst noch »unsere« Ente war. Natürlich stellte die Ente weder mein noch unser Eigentum dar. Sie tat ja auch, was ihr beliebte. Aber mit der Ente verhielt es sich so wie mit der Wohnung: dahinter wirkte derselbe Beziehungsprozess.

Zunächst störte die Ente nicht sonderlich. Aber die Wochen vergingen, der Herbst kündigte sich mit den ersten kühlen Tagen an und mit ihnen schlichen sich auch die Spannungen ein.

Bekanntlich sind Wohnungen heute auch im Winter komfortabel, da zentral geheizt. Aber was nützt die beste Heizung, wenn Fenster oder Türen offen stehen? Aus Gründen des Tierschutzes – freier Fluchtweg – musste unsere Balkontür ja stets einen Spalt breit geöffnet bleiben.

Gut, wir hätten die Wohnzimmertür geschlossen halten können, sodass wenigstens in den restlichen Zimmern behagliche Wärme entstanden wäre. Doch die Ente hatte die Gewohnheit angenommen, sich während des Tages in allen Zimmern aufzuhalten. Am Morgen war sie oft in der Küche, über Mittag in meinem Schlafzimmer – damals hatten wir bereits getrennte Schlafzimmer – und am Nachmittag mit Vorliebe im Wohnzimmer, vor Blicken geschützt hinter dem Sofa. Meist zog sie jedoch den Balkon vor. Je näher der Winter rückte, desto seltener suchte sie diesen indes auf, und schließlich mied sie ihn gänzlich. Wurde es auch ihr draußen zu kalt?

Jedenfalls standen in unserer Wohnung sämtliche Türen offen, sodass die Temperatur auch an milden Wintertagen auf maximal 15 °C anstieg. Im Wohnzimmer sank das Thermometer oft unter 10 °C.

Ich muss gestehen, ich habe Ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt. Eine Tür blieb praktisch immer geschlossen, nämlich die zu Lauras Schlafzimmer. Wegen der Ente wäre es allerdings nicht notwendig gewesen, die Tür verschlossen zu halten, denn eigenartigerweise mied sie dieses – und nur dieses eine – Zimmer. Mochte sie demnach meine Partnerin nicht? Konnte sie Laura im wahrsten Sinn des Wortes nicht riechen? Vielleicht haben Enten ja einen ausgeprägten Geruchssinn. Oder spürte die Ente, dass sie bei Laura auf Abneigung stieß?

Im Gegensatz zu mir interessierte sich Laura nicht für die Ente. Mit der Zeit entwickelte sie gar eine regelrechte Antipathie gegen das Tier. Bei Streitereien drohte sie damit, der Ente den Kopf umzudrehen. Faktisch hatte die Ente von meiner Partnerin aber wirklich nichts zu befürchten.

Am Ende kam es so weit, dass die Ente sich nur noch dann hervorwagte, wenn ich mich allein in der Wohnung aufhielt. Was wiederum dazu führte, dass Laura mir vorwarf, der Vogel existiere nur in meiner Fantasie und sei einzig dazu ausgedacht, sie zu tyrannisieren. Die Auseinandersetzungen gipfelten darin, dass mich Laura eines Tages vor die Entscheidung stellte: entweder sie oder die Ente.

Ich berief mich auf den Tierschutz: »Ich bin kein Tierquäler, der eine Ente – noch dazu im Winter – vor die Tür stellt!«

Worauf sie mir vorhielt: »Du bist vielleicht kein Tierquäler, aber ein Misanthrop und Sadist. Tiere sind dir wichtiger als Menschen. Menschen haben auch Rechte!«

Hier muss ich einflechten, dass sich unsere Wohnsituation in einer weiteren Hinsicht verändert hatte. Enten lieben das Wasser, dachte ich. Also besorgte ich ein aufblasbares Kinderplanschbecken, das ich im Wohnzimmer aufstellte. Aber ich hatte nicht mit dem Eigensinn der Ente gerechnet: Sie verschmähte meine neue Errungenschaft. Mehr Erfolg hatte ich mit der Badewanne. Ich hatte beobachtet, dass sich die Ente zwischendurch gerne im Badezimmer aufhielt, vermutlich weil es dort immer etwas feucht war. So kam es, dass ich nach ein paar erfolgreichen anfänglichen Versuchen jeweils gleich nach meiner morgendlichen Dusche ein Bad für die Ente einließ. Auf diese Weise konnte sie tagsüber nach Lust und Laune davon Gebrauch machen.

Laura wiederum liebte heiße Bäder über alles. Daraus können Sie vielleicht ermessen, welchen Verzicht es für sie bedeutete, denn sie weigerte sich kategorisch, die Badewanne mit einer Ente zu teilen.

Zu guter Letzt verließ mich meine Partnerin, weil ich mich ihrer Auffassung nach für die Ente entschieden hätte – genauer gesagt für das Hirngespinst einer Ente. Bevor sie die Wohnungstür hinter sich zuknallte, gab sie mir den Rat, zum Psychiater zu gehen.

So plötzlich die Ente da gewesen war, so plötzlich war sie auch wieder verschwunden. Erst nach mehreren Wochen fand ich mich damit ab, dass sie mich verlassen hatte. Sie hat bestimmt ein anderes Zuhause gefunden. Ich vermisse sie.

Seitdem betrachte ich beim Spazierengehen die Enten immer ganz genau, in der Hoffnung, meine Ente wiederzufinden. Ich bin mir sicher, ich würde sie erkennen – auch wenn Sie vielleicht glauben, dass alle Enten gleich aussehen.

Kaltblütig

Lautlos folgte er der Frau, bis sie sich auf eine Bank an einer Waldlichtung setzte. Er spannte seinen Bogen und zielte. Jetzt gab es nur noch ihn und den Bogen. Sanft ließ er die Sehne aus seinen Fingern gleiten. Augenblicke später fuhr die Getroffene in die Höhe, um dann wie ein Sack zu Boden zu fallen.

So stellte sich Neil O’Brien den Tathergang vor. Vier weitere Frauen im besten Alter waren innerhalb eines Jahres ermordet worden. Der Täter tötete seine Opfer mit Pfeil und Bogen aus vielleicht vierzig oder fünfzig Metern Entfernung. Der mit über 300 km/h heranfliegende Carbonpfeil verursachte einen leisen Tod. Meist durchschlug die blitzende Pfeilspitze aus gehärtetem Edelstahl den Körper. Doch abgesehen von einer Ausnahme hatte ein einziger Pfeil nicht ausgereicht, um die Opfer zu töten. Der Täter war offenbar kein sehr guter Schütze.

Die Mordserie hatte vor zwei Jahren geendet. Seither war Ruhe, allerdings nicht deshalb, weil der heimtückische Mörder hinter Gittern saß. Ganz im Gegenteil: O’Brien fehlte jede brauchbare Spur. Es war völlig offen, aus welchem Grund der Täter sich genau diese Opfer ausgewählt hatte. Und warum verwendete ein so schwacher Bogenschütze ausgerechnet Pfeil und Bogen als Tatwaffe?

All diese offenen Fragen brachten ihn um den Schlaf. Seit Stunden wälzte er sich in seinem Bett. Es ärgerte ihn, dass er den Täter nicht überführen konnte. Zugegebenermaßen war dies bei Serienmorden besonders schwierig, da meist keine Beziehung zwischen Täter und Opfern bestand. Aber bei dieser Mordserie stimmte etwas nicht. Serienmörder suchten in der Regel Aufmerksamkeit, sie konnten nicht aufhören. Dieser Täter hingegen war sehr kontrolliert und berechnend vorgegangen. Er handelte nicht im Affekt, sondern kaltblütig.

Lag seine Absicht möglicherweise darin, uns von etwas abzulenken?, überlegte O’Brien. War nur einer der Morde notwendig gewesen und dienten die anderen lediglich der Verschleierung? Vielleicht war der Zweck mit dem letzten Mord erfüllt und der Täter hatte seine Aufgabe erledigt.

O’Brien schüttelte den Kopf. Warum ist mir dieser Gedanke nicht schon viel früher gekommen? All das ist nur eine große Show, um uns an der Nase herumzuführen. Jeff Parker ist unser Mörder!

Der FBI-Ermittler unterstellte Jeff Parker – dem Ehemann des letzten Mordopfers – nicht weniger, als dass er vier fremde Frauen getötet habe, um den Verdacht des Mordes an seiner Gattin in eine andere Richtung zu lenken. Parker war Sportschütze, hatte mehrere Medaillen bei Weltmeisterschaften im Bogenschießen gewonnen, und er verfügte über ein Tatmotiv: Eifersucht. Seine Frau war ganz offensichtlich fremdgegangen.

Dumm war nur, dass keine kriminalistischen Indizien vorlagen, die ihn mit der Tat in Verbindung brachten. Zudem trafen Profischützen ihr Ziel angeblich mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit, der Täter hingegen war ein lausiger Schütze.

O’Brien musste Parker aus der Reserve locken. Als Erstes suchte er einen bekannten Berichterstatter eines Boulevardblatts auf. Normalerweise pflegte er keine Kontakte zur Sensationspresse, aber diesmal erforderte der Fall eine unkonventionelle Vorgehensweise. Er klagte dem Journalisten, dass die Ermittlungen gegen seinen ausdrücklichen Willen eingestellt worden wären. O’Brien hoffte, dass er nicht zu dick aufgetragen hatte. Doch der Zeitungsmann schien angebissen zu haben.

»Trotz seiner langjährigen Erfahrung konnte sich Kommissar Henrik Strömberg nicht an den Anblick von Mordopfern gewöhnen. Ein Praxiskollege hatte den Mann tot in seinem Behandlungszimmer aufgefunden. Strömberg erkannte das klassische psychoanalytische Setting: der Klient lag auf einer Couch mit dem Blick zur Decke, am Kopfende des Liegesofas nahm der Therapeut Platz. Die Couch war leer, doch der Tote saß immer noch aufrecht in einem schwarzen Ledersessel, als hätte er sich nicht von der letzten Analysestunde erhoben. Aufgrund des blutüberströmten Kopfes war allerdings jedem sogleich klar: Dr. Rudolf Bloch würde nie wieder von seinem Sessel aufstehen. Es machte ganz den Anschein, als würde er seinen Analysanden nun ewig zuhören, gleichsam in einen unendlichen Prozess vertieft.«

Jeff Parker war zufrieden mit dem Abschnitt. Er saß am Computer und schrieb an seinem neuesten Roman – einem Krimi. Seine tote Frau hatte ihm eine ganze Bücherwand mit solchen Romanen hinterlassen, die er als Trivialliteratur belächelte. Aber er konnte Bücher nicht einfach so wegwerfen. Er musste sie wenigstens einmal gelesen haben. Und zwar nicht nur quergelesen, sondern von vom bis hinten. Dahingehend war er etwas pedantisch.

Nun musste er feststellen, dass Kriminalromane durchaus große Literatur sein konnten. Das hatte ihn schließlich auf die Idee gebracht, sich selbst in diesem literarischen Genre zu versuchen.

Jeff griff nach einem seiner Lieblingsbonbons, die in einer Tüte auf dem Schreibtisch lagen, wickelte es aus und schob es in den Mund. Diese Belohnung hatte er sich verdient. Dann las er den nächsten Abschnitt:

»In krassem Gegensatz zur Reglosigkeit des Toten herrschte in allen Räumen der Praxis hektisches Treiben. Die Spurensicherung war bereits vor Ort. Es schien, als hätte ein eingespielter Apparat zu wirken begonnen, der nichts dem Zufall –«

Es klingelte an der Haustür. Jeff hasste es, beim Schreiben gestört zu werden. Als er den FBI-Ermittler O’Brien vor der Tür stehen sah, zuckte er innerlich zusammen. Er musste seine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen, um sich nichts anmerken zu lassen.

»Hallo, Mr Parker!«

»Mr O’Brien, was führt Sie zu mir?«

»Ich möchte einen letzten Versuch starten, die Serienmorde aufzuklären. Und dafür brauche ich Ihre Unterstützung.«

Jeff war irritiert. »Sind die Untersuchungen nicht eingestellt worden? Jedenfalls steht das heute in der Zeitung.«

»Eigentlich schon. Aber mein Chef braucht ja nicht zu wissen, dass ich hier bin«, entgegnete O’Brien.

»Meine Unterstützung haben Sie, schließlich möchte ich, dass das Schwein gefasst wird. Etwas merkwürdig ist es allerdings schon, wo ich doch selbst der Täter sein könnte.«

»Ich habe nie wirklich daran gedacht, dass Sie der Täter sein könnten.« O’Briens durchdringende braune Augen funkelten.

»Für einen Bogensportschützen wäre es ja auch dumm, ausgerechnet Pfeil und Bogen als Mordwaffe zu benutzen«, meinte Jeff.

»Oder dummdreist!«

Es entstand eine Pause, die Jeff schließlich unterbrach. »Und wie stellen Sie sich diese Unterstützung konkret vor?«

»Ich möchte besser verstehen, was in einem Bogenschützen vorgeht«, antwortete O’Brien. »Ich würde morgen gerne mit Ihnen zum Epping Forest fahren, wo der erste Mord geschah.«

Jeff war einverstanden.

Nachdem O’Brien gegangen war, konnte er sich endlich wieder seinem Roman widmen. Er überlegte einen Augenblick. Ja, genau, das war die Lösung! Den Dialog mit O’Brien würde er in die Geschichte mit einbauen. Er begann zu schreiben:

»Nilsson und Strömberg musterten sich –«

Jeff stutzte, dann formulierte er den Satz neu:

»Die beiden Männer musterten sich wie zwei Pokerspieler, die die Gedanken des anderen zu lesen versuchten ...«

O’Brien betrachtete Jeffs Hightechbogen. Was ging dem Ermittler wohl gerade durch den Kopf? Vielleicht dachte er, dass der Bogen mit seinen Kabeln und Umlenkrollen zur Reduktion des Zuggewichts auf den ersten Blick überhaupt nicht als solcher zu erkennen war.

»Das ist ein Compoundbogen, die modernste Bogenart«, erläuterte Jeff.

»Damit haben Sie ihre Medaillen gewonnen?«, fragte O’Brien.

»Ja, der Compoundbogen ist ein großartiges Sportgerät und auch eine ausgezeichnete Jagdwaffe.«

»Und damit auch gut als Mordwaffe geeignet«, fügte O’Brien hinzu.

Die beiden Männer standen auf einer Lichtung im Epping Forest, vierzig Meter von jener Bank entfernt, auf der das erste Mordopfer gesessen hatte. Der Ermittler hatte einen gelben Klebezettel an der Rückenlehne angebracht und Jeff gebeten, einen Pfeil auf dieses Ziel abzuschießen. Jeff fragte sich, was O’Brien damit beabsichtigte. Vor seinem inneren Auge sah er Jessica Evans auf der romantischen Bank sitzen. Die Bedingungen waren damals schwierig gewesen. Beim ersten Schuss hatte er den Wind falsch eingeschätzt. Ein ungeübter Schütze hätte nach einem Fehlschuss einfach nachgeballert, er dagegen hatte seinen Fehler analysiert. Sein zweiter Schuss war ein Volltreffer gewesen – ein glatter Brustdurchschuss.

Jeff nahm das Ziel ins Visier und wartete, bis der Schuss brach. Augenblicke später steckte der Pfeil mitten im Klebezettel. Alles ging ganz ruhig und entspannt vonstatten.

»Guter Schuss, Mr Parker«, sagte der FBI-Mann. »Allerdings verstehe ich nicht, wie er ausgelöst wurde.«

»Compoundbögen werden mit einer mechanischen Lösehilfe geschossen – dem sogenannten Release«, erklärte Jeff. »Als erfahrener Schütze halte ich den Bogen im Ziel und warte darauf, dass der Schuss bricht, indem ich mich entspanne. Das ist eine Profitechnik, die viel Training voraussetzt. Der gesamte Bewegungsablauf ist dadurch sehr harmonisch und der Pfeil fliegt ruhig und zielgenau.«

»Ich bin beeindruckt. Das Bogenschießen ist eine ganz eigene Welt«, antwortete O’Brien.

»Es ist die Kombination aus mentalen und körperlichen Fähigkeiten, die diesen Sport so besonders macht. Es muss einfach alles stimmen: Konzentration, innere Ruhe, Atmung, Technik und Material.«

Der Ermittler nickte.

»Von hier hat der Täter geschossen?«, fragte Jeff.

»Das wissen wir nicht. Wir gehen von einer Entfernung von höchstens vierzig oder fünfzig Metern aus. Die Treffsicherheit nimmt ja mit der Distanz ab. Aber wem sage ich das? Hätten Sie nicht von dieser Stelle aus geschossen?«

»Ich denke nicht – vielleicht von dort drüben«, hörte sich Jeff sagen und wollte sich gleich darauf am liebsten auf die Zunge beißen. War es wirklich notwendig gewesen, O’Brien auf die Stelle aufmerksam zu machen, von der aus er geschossen hatte? Aber es bereitete ihm Spaß, den Ermittler zu provozieren und die Situation auszureizen.

Jeff zeigte auf den gegenüberliegenden Rand der Lichtung, etwa hundert Meter von der Sitzbank entfernt. Als Turnierschütze bevorzugte er Aluminiumpfeile, die weniger windanfällig und daher präziser waren. Um keinen Verdacht zu erregen, hatte er für die Morde jedoch gewöhnliche Carbonpfeile verwendet. Deshalb war seine Trefferquote aus dieser Distanz auch so schlecht gewesen.

O’Brien eilte auf den Rand der Lichtung zu. Jeff folgte ihm. Kurz bevor der Ermittler die bezeichnete Stelle erreicht hatte, bat er Jeff, stehen zu bleiben. O’Brien sah sich auf dem Boden um. Nach einer Weile streifte er sich Handschuhe über und bückte sich, um etwas aufzulesen. Obwohl Jeff einige Meter entfernt stand, erkannte er das typische Einwickelpapier seiner Lieblingsbonbons. O’Brien packte es in eine Plastiktüte.

Das kann nicht sein, das ist ein Trick! Ich stecke das Bonbonpapier immer in die Jackentasche, versuchte sich Jeff in Gedanken zu beruhigen. Doch der Zweifel nagte an ihm.

Der Ermittler bat Jeff abermals, auf den Klebezettel zu schießen. Das Zielen dauerte diesmal unmerklich länger. O’Brien sah sich das Resultat aus der Nähe an. Die beiden Pfeile steckten keinen Zentimeter voneinander entfernt im Klebezettel.

Jeff überlegte, was er tun sollte. Es war wie beim Pokern. Welches Blatt hatte O’Brien in der Hand? Bluffte er? Konnte er ihm jetzt noch gefährlich werden? Wahrscheinlich hatte der Ermittler niemandem gesagt, dass sie heute zusammen hier im Epping Forest sein würden.

Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Oder standen O’Briens Kollegen bereits im Unterholz bereit?

Jeff spannte seinen Bogen. Jetzt gab es nur noch ihn und den Bogen. Er entspannte sich und wartete, bis der Schuss brach.

Jeff saß zufrieden an seinem Schreibtisch. Seit einem Monat hatte er nichts von der Polizei gehört. O’Brien hatte nicht das Geringste gegen ihn in der Hand. Glaubte der Ermittler wirklich, dass er auf den dummen Trick mit dem Bonbonpapier hereinfallen würde? Nein, O’Brien hatte verloren! Dieses Ohnmachtsgefühl musste Jeff unbedingt in seinem Roman wiedergeben. Er begann zu schreiben:

»Kommissar Henrik Strömberg schlug zweimal kräftig mit der Faust auf seinen Schreibtisch, so wütend war er auf sich selbst. Er hätte wissen müssen, dass sich ein Typ wie Nilsson nicht provozieren ließ. Aber immerhin hatte er es versucht und nicht kampflos aufgegeben.