Die Knochenleser - Jacob Ross - E-Book
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Die Knochenleser E-Book

Jacob Ross

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Beschreibung

Camoha, eine Insel der Kleinen Antillen: Dort wird der junge Michael »Digger« Digson, zunächst gegen seinen Willen, von dem mysteriösen Detective Superintendent Chilman für eine Polizeitruppe rekrutiert, die gegen alle Korruption und alle politischen Widerstände effektive Polizeiarbeit leisten soll, und sei´s mit eigenwilligen Mitteln. Digger lässt sich zum Forensiker ausbilden und wird ein Virtuose des »Knochenlesens«. Zudem ist er auf der Suche nach seiner Mutter, die spurlos verschwunden und vermutlich ermordet worden ist.

Auch Chilman hat seine Gründe, dem Verschwinden bestimmter Personen nachzugehen, wird doch die Insel von Wellen frauenfeindlicher Gewalt und gewalttätigem Terror gegen die Bevölkerung erschüttert. Zusammen mit Chilmans Tocher, der charismatischen Miss Stanislaus, bildet Digger ein Ermittlergespann der Extraklasse. Gemeinsam werden die beiden in eine Welt voller tödlicher Geheimnisse hineingezogen, die ihnen alles abverlangt, um zu überleben.

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Seitenzahl: 416

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Die Knochenleser

Kriminalroman

Aus dem karibischen Englisch von Karin Diemerling

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5236.

Erste Auflage 2022suhrkamp taschenbuch 5236Deutsche Erstausgabe© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022Copyright © Jacob Ross 2016Alle Rechte vorbehalten.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagfoto: FinePic(R), München

eISBN 978-3-518-77269-0

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Maurice.

Für die Verschwundenen …

Motto

Ein Verlust bleibt ein Verlust, und nichts ist damit gewonnen, einen netteren Ausdruck dafür zu verwenden.

Tony Judt, »Night«, New York Review of Books, Januar 2010

Übersicht

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Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

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Dank

Informationen zum Buch

1

Ich war ohne Aussicht auf einen Job von der Schule abgegangen, dafür mit Noten, die mir laut meinen Lehrern Zugang zu jeder Universität der Welt verschaffen würden. Vorausgesetzt, ich hatte das Geld dafür.

Als ich die nötige Summe meinem Vater gegenüber erwähnte, lachte er. Die Filialleiter der Banken, zu denen ich ging, lachten nicht – zumindest nicht mir ins Gesicht. Sie fragten nach Eigenkapital, dann nach meinem Familiennamen. Ich nannte ihnen den meiner Mutter. Sie betonten, wie großzügig es von ihnen gewesen sei, sich Zeit für mich genommen zu haben, und wiesen mir die Tür.

Ich ging nach Süden in die Drylands, wo die Hotels sind. Zwei Touristensaisons lang bleckte ich die Zähne und servierte barfuß Drinks, ausstaffiert mit einem Synthetikshirt in Regenbogenfarben, einem Strohhut mit breiter Krempe und Pluderhosen, in denen sich kein Camaho-Mann außerhalb der Beach Bum Bar blicken lassen würde. Dann fasste mir ein halbbetrunkener alter Sack aus Deutschland, rot wie ein gegrillter Hummer, in den Schritt, und ich schlug ihm die Faust ins Gesicht.

Der Engländer, dem der Laden gehörte, nahm mich beiseite und verlangte, dass ich mich entschuldige, sonst würde er mich fristlos entlassen. Ich sagte ihm, was er mich mal könne, und ging.

Danach ließ ich mich auf den Bürgersteigen von San Andrews nieder und betrachtete die Touristen, die schönen Autos, die vorbeistolzierenden Büromädchen mit Absätzen, die ihre Hintern fast auf die Höhe ihrer Ohren anhoben, und die jungen Männer, die o-beinig mit tiefhängenden Hosen und Rapper-Caps einherschlurften und mit pseudoamerikanischem Akzent redeten. Vor allem betrachtete ich die wachen, offenen Gesichter der kleinen Jungs in ihren Uniformen, wenn sie nach Schulschluss zu ihren Eltern heimgingen, die sie vielleicht eines Tages auslachen würden. Ich bezweifelte nicht, dass sie wie ich enden und später einmal die Staffage vor einer Ladenfront in San Andrews abgeben würden.

An einem Mittwochnachmittag dann passierte etwas direkt vor meiner Nase: Ein Pulk von jungen Typen stritt sich wegen irgendetwas. Ich beachtete sie zuerst nicht weiter. Es waren Kairatten, die Touristen um Geld anbettelten. Wenn gerade kein Kreuzfahrtschiff vor Anker lag, trieben sie sich in der Stadt herum, zogen die Schulmädchen an den Röcken und rieben sich mit dem Becken an ihnen. Viele Eltern warteten jeden Tag am Schultor, um ihre Töchter nach Hause zu bringen.

Auf einmal ertönte eine protestierende Stimme aus der Mitte der Gruppe, hoch und verzweifelt. Köpfe drehten sich danach um, gefolgt vom Getrappel herbeieilender Füße. Die Marktleute freuten sich immer über einen Kampf.

Aus dem Knäuel der Rowdys wurden noch mehr Stimmen laut. Ich hörte »Respekt«, dann »Scheiße«, dann »Scheißmist«, dann »Scheißkerl«, dann einen dumpfen Schlag wie von einer Faust gegen ein Kissen. Ein Aufkeuchen, und gleich darauf stoben die Typen auseinander, zogen ihre Kapuzen noch tiefer in die Stirn und sprinteten davon.

Ein Junge lag auf dem Gehweg, in der gleichen Schuluniform, wie ich sie sieben Jahre lang getragen hatte. Er ruhte auf der Seite, den rechten Arm gekrümmt vorm Bauch und den anderen am Ellbogen abgeknickt unterm Kopf, als schliefe er.

Ich sah das rote Rinnsal, das unter seiner Hand hervorsickerte und abrupt die Richtung wechselte, als es auf die leichte Neigung zum Rinnstein traf und hinunterfloss. Ich glaubte, den Jungen zu kennen. Ich hatte das Gefühl, ich sollte es.

Eine Büroangestellte mit einem festen, hohen Dutt aus teurem indischen Haar und in der Sonne glitzernden Goldnägeln griff zu ihrem Handy, wobei ihr Arm einen anmutigen Bogen beschrieb. Ich sah, wie ihre purpurnen Lippen sich bewegten.

Ich überquerte die Straße, kniete mich neben den Schuljungen und berührte seine Stirn. Beim Aufstehen ignorierte ich den Schock auf den Gesichtern, die mich anstarrten. Sie beobachteten meine Miene, warteten womöglich auf ein Aufheulen, das ihnen bestätigte, dass ich mit dem toten Jungen verwandt war.

Ich tat nichts dergleichen. Stand einfach nur neben ihm.

Als die Polizei eintraf, stürzten sich die Beamten sofort auf mich. Der größte von ihnen stieß mich gegen eine Hauswand, rammte mir sein Knie in den Magen und drückte mir den Unterarm gegen die Kehle. Ich rang nach Luft und sah ihm in die Augen. Das gefiel ihm nicht. Er warf mich aufs Pflaster, ließ sich mit vollem Gewicht auf meine Wirbelsäule fallen und zerrte mir die Hände auf den Rücken, um mir Handschellen anzulegen.

Ein kleines Auto kam und hielt mitten auf der Straße. Eine Erscheinung stieg aus: ein Schopf weißer Haare, Augen wie zwei brennende Kohlestücke, Lippen, die perfekt zu einer zerknautschten alten Ledertasche gepasst hätten.

Weißhaar brüllte etwas. Es klang wie Kies auf Reibeisen.

Das Gewicht hob sich von meinem Rücken. Man zog mich auf die Beine, nahm mir die Handschellen ab. Grobe Hände schoben mich in den kleinen Wagen.

Derweil protestierten ringsherum Leute gegen meine Festnahme. Alles Frauen. Die Männer schwiegen. Offenbar waren sie weniger an meinem Schicksal interessiert als daran, zu verfolgen, wie die Ungerechtigkeit ihren Lauf nahm. Das gab besseren Gesprächsstoff für den Rum-Shop ab.

Sie brachten mich zu einem alten Backsteingebäude hinter dem Busbahnhof, das am Hang über dem Meer stand. Am Eingang in großen weißen Lettern: San Andrews Police Central. Drinnen nahm ich den schwachen Teergeruch der an der Mole liegenden Inselschoner wahr. Schachtelartige Räume zogen sich in einer langen Reihe bis zum hinteren Ende des Gebäudes, aus denen Papierrascheln zu hören war und gelegentlich das Dröhnen von Männerstimmen. Draußen Gehupe, die an- und abschwellenden Stimmen der Marktfrauen und das penetrante Geschrei des Kokosnussverkäufers, den wir Cocoman nannten.

Inmitten des Gedröhns von Polizeifahrzeugen, die gerade in den betonierten Innenhof einfuhren, wies Weißhaar mich an, auf einem Stuhl an einem unordentlichen Schreibtisch Platz zu nehmen. Er drückte mir ein Sandwich und ein Glas Orangensaft in die Hand und bohrte sich den Zeigefinger in die Brust. »Detective Superintendent Chilman. Du?«

»Digger.«

»Und der Name auf deiner Geburtsurkunde?«

»Michael Digson.«

»Wie lange bist du schon da draußen?«

»Wo draußen?«

»Auf der Straße.«

»Ich hab ein Zuhause.«

»Wie lange?«

»Achtzehn Monate und drei Tage.«

»Du hast sie gezählt?«

»Mhmm.«

»Warum?«

»Um nicht den Verstand zu verlieren.«

Er sah mir in die Augen. »Hast du ihn noch?«

»Sie haben keinen Grund, mich zu verhaften.«

»Reg dich ab, Jungchen, du bist nicht verhaftet. Jetzt red mit mir. Wassis passiert?«

Ich schob das Sandwich beiseite und nippte an dem Saft. »Affen, die Respekt von Menschen verlangen«, sagte ich. »Sie haben den Menschen getötet.«

Detective Superintendent Chilman beugte sich blinzelnd zu mir vor, als würde er einen Fleck in meinem Auge untersuchen. »Du regst dich auf. Das ist gut. Würdest du sie wiedererkennen?«

»Sie hatten ihre Kapuzen übergezogen, schon vor dem Streit. Ist offensichtlich, dass das geplant war.«

Chilman rieb sich das Kinn und sah zur Decke. »Gut«, sagte er und stand auf. »Komm mit.« Am Ausgang blieb er stehen. »Okay, Leute, bringt sie raus«, rief er.

Dreiundzwanzig junge Männer, alle in Rapper-Hoodies mit heruntergeschobenen Kapuzen, kamen der Reihe nach aus drei Polizeitransportern. Manche wirkten nervös, manche wütend, die meisten entspannt. Ein paar hatten solche Angst, dass sie kaum laufen konnten. Einige davon behielten trotzdem ihren angeberischen Gangsta-Gang bei.

Die Officers sorgten dafür, dass sie sich alle entlang der Gebäudewand aufstellten.

Chilman stupste mich an. »Erkennst du jemand?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Probiern wir was anderes.«

Auf seine Anweisung hin zogen die Officers den jungen Männern die Kapuzen über und befahlen ihnen, durch den Hof zu joggen.

Chilman sah mich an. »Und jetzt?«

Ein paar der Typen warfen mir drohende Blicke zu. Ich richtete mich gerade auf und starrte zurück.

»Lassen Sie sie was sagen. Lassen Sie jeden von denen was sagen.«

Ein Officer murmelte etwas vor sich hin und saugte an seinen Zähnen – derselbe, der mich auf dem Bürgersteig plattgedrückt hatte.

Chilman schob sich vor meine Nase, ich roch eine leichte Rumfahne. »Hör zu, Jungchen, ich lass die kleinen Arschlöcher da Cuffum-Fisch schuppen und Handstand auf einem Finger machen, wenn’s sein muss, weil ich nämlich ein Ergebnis will, verstann? Ich will ein Ergebnis, und zwar sofort. Also verarsch mich nicht, falls du das vorhast.«

Unter der Oberfläche seines müden alten Gesichts schäumte er. Er war so voller Wut, dass ich unwillkürlich ein Stück zurückwich. Noch nie hatte ich einen solchen Zorn bei einem anderen Menschen erlebt.

Doch an die jungen Männer wandte er sich dann in normalem Gesprächston. »Also, ich seh das so, Gentlemen. Ich könnt euch jetzt alle ungeschoren davonkommen lassen. Das könnt ich jetzt machen und wegsehn. Weil, ihr würdet nicht weit kommen. Die Leute da draußen, die wissen, wer festgenommen worden ist. Deshalb hab ich den Officers befohlen, euch alle zusammen auf dem Marktplatz zusammenzutreiben – damit die ganze verdammte Stadt sich eure Gesichter merken kann. Ich bin sicher, dass die Nachricht schon die Brüder und Onkel und Cousins von dem Jungen erreicht hat. Sie wissen nich, wer von euch grad ihren Kleinen ermordet hat, und sie werden es auch nich wissen wollen. Alles, was sie wollen, ist Blut. Euer Blut! So viel sie kriegen können, bis ihr Rachedurst gestillt ist. Sie werden hinter jedem Einzelnen von euch her sein. Meine Aufgabe isses, das zu verhindern. Also sagt jetzt nacheinander eure Namen und wo ihr genau wohnt. Junger Mann, bist du bereit?«

Ich nickte, lehnte mich gegen seinen alten weißen Wagen und schloss die Augen, während sie ihre Namen und Adressen riefen. Ließ die Hitze des Nachmittags wieder aufleben, die Geräusche des Straßenverkehrs und den intensiven Geruch nach Früchten und Erde des Marktplatzes. Den erregten Wortwechsel, die Klangfarbe und den Tonfall der Stimmen. Mein Gedächtnis funktioniert so.

Ich pickte jeden Einzelnen von ihnen heraus. Acht. Einer fehlte.

Danach war es einfach. Sie verrieten sich gegenseitig, indem sie aufeinander zeigten.

Als alles vorbei war, führte Chilman mich zurück ins Büro und sah mich mit seinen glühenden Augen an. Der alte Kerl zeigte lächelnd auf das Sandwich. »Ich weiß, dass du Hunger hast. Iss.«

Er senkte die Stimme, doch sein Blick war immer noch bohrend. »Bist du irgendwann schon mal festgenommen oder wegen irgendwas angeklagt worden?«

Meine Verärgerung war mir offenbar anzusehen. »Tut mir leid, Junge. Ich muss dich das fragen.«

Ich stand auf.

Er hielt mich mit ausgestreckter Hand zurück. »Du gehst noch nicht.«

DS Chilman drückte mich auf einen Stuhl in der Ecke neben der Tür. Polizisten in Zivil eilten kreuz und quer über den unebenen Holzfußboden. Hin und wieder blieb einer bei Chilman stehen und flüsterte ihm etwas zu. Der Alte bewegte kaum die Lippen beim Antworten, ich hörte nur das Rasseln seiner Stimme.

Manchmal bemerkte ich, dass er mich ansah – ein steter Kohlenfeuerblick –, tat aber unbeeindruckt. Er stand auf und sagte etwas zu einer älteren Frau, die mitten im Raum unter einem großen weißen Ventilator saß. Zwei junge Frauen auf Drehstühlen zu beiden Seiten ihres Schreibtischs tackerten Unterlagen zusammen und schoben sie in hellgrüne Mappen. Als der alte Mann sich aufrichtete, musterte die Frau mich kurz und sah dann weg. Bei ihrem Blick schlug mein Herz schneller. Sie hatte einen unbeteiligten, beinahe träumerischen Gesichtsausdruck und dichte, zu einem Knoten zurückgesteckte rabenschwarze Haare mit einer einzelnen weißen Strähne darin, die sich vom Haaransatz über die gesamte Wölbung ihres Kopfs zog.

Chilman kam zu mir. »Willst du es wissen?«

»Was wissen?«, fragte ich.

»Der kleine Kerl hieß Ryan Weekes. Seine Mutter rackert sich den Arsch in der Muskatnuss-Kooperative in Saint John ab, um ihm eine Schulausbildung zu ermöglichen. Ihr einziges Kind – verstehst du, was das bedeutet?«

Ich stand auf. »Sind Sie jetzt fertig mit mir?«

»Willst du sagen, das lässt dich kalt?«

»Ich hab damit nichts zu tun.« Ich war laut geworden, im Büro trat Stille ein. Köpfe drehten sich in meine Richtung. Ausdruckslose Mienen.

Chilman zeigte mir eine Reihe gelber Zähne. »Das seh ich anders, junger Mann. Du warst dabei, genau wie all die andern Mitbürger, die wie die Hornochsen mitten auf einer öffentlichen Straße gestanden und zugesehen haben, wie acht hartgesottene Nichtsnutze ein kleines Kind bedrängt und umgebracht haben. Das macht dich zum Zeugen. Mindestens! Hauptzeugen! Es kann noch schlimmer kommen. Ich könnt sagen, dass du dich an der Leiche zu schaffen gemacht hast, als wir eingetroffen sind. Das wär Manipulation von Beweismitteln. Und wenn das noch nicht reicht, könnt ich dich wegen Herumlungerns drankriegen.« Er tätschelte mir den Arm und zwinkerte mir zu.

»Ich lass dich nach Hause gehn, aber vorher sagst du mir, wo du wohnst.«

»Nein.«

Der Alte runzelte die Stirn und winkte mit gekrümmtem Zeigefinger jemanden herbei. Ein junger Officer in einem gestärkten weißen Hemd und unwahrscheinlich exakt gebügelter Hose stand von seinem Schreibtisch am anderen Ende auf und kam herbeigeschlendert. Er hatte die dunkelsten Augen, die ich je gesehen hatte, und ein strenges, ernstes Gesicht. Als unsere Blicke sich trafen, blähte er die Nasenflügel und versteifte sich leicht.

»DC Malan, das ist Michael Digson. Der junge Mann weigert sich zu kooperieren. Ich will, dass Sie ihm Handschellen anlegen und ihn unter der brennenden Sonne über den Markt von San Andrews eskortieren. Ich will, dass Sie sich Zeit dabei lassen, damit jeder sieht, wie Sie den Dreckskerl im Polizeigriff durch die Stadt führen.«

DC Malan durchbohrte mich mit einem langen, schwarzäugigen Blick. Ich hielt ihm stand und meine Schultern gerade.

»Kein Problem«, sagte er, riss eine Schreibtischschublade auf und zog ein Paar Handschellen heraus.

Ich ließ mich wieder auf den Stuhl fallen und nannte Chilman meine Adresse.

»Danke, Sirrr! Jetzt können Sie gehen.«

Mit brennenden Ohren und unter dem Gegluckse von Chilmans Leuten marschierte ich zur Tür hinaus. Seine Stimme, rau wie Salzgestein, holte mich ein. »Versuch nicht zu türmen. Ich bin noch nich fertig mit dir, hörst du?«

Nachdem er mich hatte gehen lassen, fuhr ich ins Grand Anse Valley zu einem Mädchen, das mir Versprechungen gemacht hatte. Sie war nicht da, oder vielleicht wollte sie nur nicht auf mein Rufen von der Straße reagieren. Ich hing vor einem kleinen Straßenlokal namens Grace’s Place herum und sah vier Männern und einer Frau mit Carib-Lager-Flaschen neben sich dabei zu, wie sie Dominosteine auf einen wackeligen Tisch knallten.

2

Die Dämmerung hielt schon in Old Hope Einzug, als ich nach Hause kam. Regen lag in der schwülen Luft. In der Ferne fingen die Gipfel der Mardi-Gras-Berge die letzten Sonnenstrahlen ein.

Meine Großmutter hatte mir ein Sturmhaus mit zwei Zimmern an einem der bewohnten Hänge des Old Hope Valley vererbt, ein Geschenk der damaligen Kolonialregierung, nachdem ein Hurrikan namens Janet alles niedergemacht und die Insel in Not und Elend zurückgelassen hatte. Zu der Zeit, als sie noch auf den Zuckerrohrplantagen arbeitete, hatte sie ein zweites Schlafzimmer hinzugefügt.

An Glückstagen wartete ein Topf mit etwas Gekochtem oder Geschmortem oder Gedünstetem auf meiner Treppe, der Deckel mit einem Stein beschwert, um die Hühner und Hunde fernzuhalten. An den Wochenenden zeigte ich mich bei den Frauen erkenntlich, indem ich ihren Kindern bei den Hausaufgaben half.

Heute Fehlanzeige.

Außer dem Sandwich von dem Detective Superintendent hatte ich den ganzen Tag noch nichts gegessen. Trotzdem war ich nicht besonders hungrig, beschloss aber, mich zum Essen zu zwingen.

Ich zündete den Kerosinherd mit den zwei Kochstellen an, wärmte das Gemüse auf, das ich am Abend zuvor gekocht hatte, und setzte mich mit meiner Schüssel draußen auf die Treppe, um in den Abend hinauszublicken.

Ein Klumpen hatte sich in meiner Brust festgesetzt, meine Schläfen pochten. Der ermordete Junge ging mir nicht aus dem Kopf. Ich wurde den Anblick seines zusammengesackten kleinen Körpers am Rinnstein nicht los. Das Töten hatte so einfach ausgesehen, viel zu einfach, das Leben dieses Kindes so plötzlich und wie im Vorbeigehen ausgelöscht, dass das Ganze mir unwirklich vorkam.

Ich kaute auf dem faden Essen herum und starrte hinunter ins Old Hope Valley, wo betonierte Straßen sich als weiße Bänder zu den unfertigen Häusern auf den Vorbergen schlängelten. Meine Großmutter hatte mir erzählt, dass dieses Tal einmal voller Zuckerrohr gewesen war. Jetzt hatten es Bambus, Dandakayobäume und flammend rote Liebesreben übernommen. Mir gefiel es hier. An den meisten Tagen war alles voller Wind und Licht und Vogelrufe, und man hatte es schön kühl im Schatten der Mont-Airy-Hügel.

Derkannmichmal, dachte ich. Diekönnenmichalle.

Ich ging ins Haus, machte die Kerosinlampe an und setzte mich wieder hinaus. Ein Fahrzeuggeräusch riss mich aus meinen Gedanken. Ein kleiner Wagen hielt direkt unter mir ziemlich schief am Straßenrand. Der Motor ratterte und verstummte.

Ich eilte hinein, stellte meine Schüssel auf den Tisch und deckte sie mit einem Teller ab.

DS Chilman ließ sich Zeit damit, den Hang heraufzukommen. Hin und wieder blieb er stehen, um die Bananenstauden zu begutachten, die den Steinpfad zum Haus meiner Großmutter säumten. Als er auf dem kleinen Vorplatz stand, zog er seine Hose hoch und schnallte schwer atmend den Gürtel wieder fest.

»Okay, du freust dich, mich wiederzusehen. Und so bald. Stimmt’s?«

Er ließ eine zerbeulte Ledertasche auf die Treppe fallen und ruckte mit seinem sehnigen Hals wie ein Truthahn, während er das Haus in Augenschein nahm. Dann drängte er sich an mir vorbei und ging hinein.

Er besah sich den kleinen Herd, die Kerosinlampe, das vollgestopfte Bücherregal, das ich an der Trennwand errichtet hatte, die Fotos, die ich an die Wände geklebt hatte. Griff nach einem Bild von meiner Großmutter, ließ es dann sein. Ich bemerkte die in den Hosenbund gestopfte Pistole, die sich unter seinem Hemd abzeichnete.

Mir fielen die Bücher ein, die ich aus der Bibliothek entliehen hatte, ohne die Absicht, sie je zurückzugeben, und natürlich zog er ein paar davon heraus.

»Du liest viel?«

Ich nickte.

»Die alle?« Er machte eine ausholende Geste.

Ich nickte wieder.

Chilman zog noch mehr Bücher heraus und legte sie auf den Tisch, murmelte dabei die Titel vor sich hin. »Dichtung des Widerstands … Sozialanthropologie für Anfänger … Andere beeinflussen – Überzeugungskraft üben …« Er drehte sich zu mir um und hielt das letzte Buch in die Höhe. »Wie Europa Afrika unterentwickelt … Das ist seit 74 auf dem Index. Planst du einen Staatsstreich?«

Er legte es weg und nahm die beiden kleinsten meiner Pokale vom obersten Bord, las die Inschriften. »Siehst mir gar nicht wie ein Sprinter aus«, sagte er mit einem Seitenblick.

Dann stellte er alles nacheinander wieder an seinen Platz. Wäre ich nicht dabei gewesen, hätte ich nie gemerkt, dass jemand meine Sachen angefasst hatte.

Als er nach dem Schuhkarton mit meinen persönlichen Unterlagen griff, machte ich einen Satz auf ihn zu. Mit einem finsteren Blick hielt er mich auf Abstand.

Er ging meine Papiere durch, nahm ein schwarzes Notizbuch heraus, wog es in der Hand. »Du hast die vorderen Seiten zusammengeklebt. Warum?«

»Das ist privat«, sagte ich.

»Der Rest nicht?« Er blätterte ein paar Seiten um, hielt sich das Notizbuch näher ans Gesicht. »›Und die Kirchenglocke läutet leiser, immer leiser in ihrem steinernen Gehäuse. Hart wie das Herz der blauäugigen Männer … längst Vergangenheit …‹« Er warf das Notizbuch auf den Tisch. »Schöne Worte. Aber nicht gereimt. Also! Wie kommt’s, dass du nicht das Inselstipendium gewonnen hast? Wem ham sie es gegeben? Denn soweit ich seh …« Ungeduldig klopfte er auf seine Hosentasche, und ich hörte die Schlüssel darin klappern. »Wer hat es gekriegt?«

»Ich nicht.« Ich zuckte die Achseln, wollte nicht darüber reden.

Er baute sich vor mir auf, wobei seine Arme auf den Hüften Henkel formten. »Also! Dann hindert dich nichts daran, den Job anzunehmen, oder?«

»Was für einen Job?«

»Den ich dir gerade anbiete.«

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff.

Ich ging hinaus und setzte mich auf die Treppe. Er kam und hockte sich neben mich. Ich stand auf und entfernte mich ein paar Schritte. Er beugte sich vor, griff nach hinten und rückte seine Pistole zurecht, sah mich mit diesen Augen an. »Es war nich die Art, wie du heute diese Typen identifiziert hast, die den Jungen umgebracht haben. Manche würden da von Obeah-Zauberei reden. War vielmehr was Blödes, was du gesagt hast, aber mir eingeleuchtet hat.« Er zeigte wieder seine Zähne. »›Sie hatten die Kapuzen übergezogen, schon vor dem Streit. Offensichtlich, dass es geplant war.‹ Also, Jungchen, ein guter Anwalt könnte dich vor Gericht ziemlich dumm dastehen lassen mit der Aussage. Aber ich bin kein guter Anwalt. Willst du den Job? Wenn du ja sagst, leit ich alles in die Wege, und zum Teufel mit dem Einstellungsverfahren.«

»Ich will mit der Polizei nichts zu tun haben.«

»Willst du dich lieber weiter hier im Dreck wälzen? Ist dir das lieber? Ich sag dir, was ich gerade für Schlüsse gezogen hab, mein Hübscher. Du bist verdammt intelligent. Du hast genug Grips, um das meiste davon weggeben zu können und immer noch alle zu verblüffen, aber deine Bitterkeit macht dich dumm. Du erinnerst mich an meine älteste Tochter. Sieh dich nur an, du bist am Verhungern. Lässt du dich von den armen Leuten hier in der Nachbarschaft durchfüttern? Ich biet dir die Chance, deinen Arsch hochzukriegen und was zu tun, aber du verziehst nur den Mund und sagst ›Ich will nichts mit der Polizei zu tun haben‹, he?«

»Ich hab meine Gründe.«

Er grinste mich grässlich an. »Meinst du, die kenn ich nicht? Was glaubst du, womit ich mein Geld verdien?« Chilman stand auf, ging wieder ins Haus und sah sich die Fotos an. Tippte mit dem Zeigefinger auf das von meiner Mutter.

»Lorna Digson, nichwahr? Mai 1999. Der Vergewaltigungsaufstand.« Er schwieg lange und runzelte die Stirn, während seine Finger nutzlos an den Seiten zuckten. »Die Sache hat mir wirklich zu schaffen gemacht. War wirklich schlimm. Ich hatte Urlaub zu der Zeit, war nich auf der Insel, weisde. Aber das spielt keine Rolle für dich, stimmt’s? Ich glaub, das versteh ich.«

Zum ersten Mal mied DS Chilman meinen Blick.

»Ich sag nicht, dass wir vollkommen sind. Gibt keine Polizei auf der Welt mit reiner Weste. Sind schließlich keine Kirche. Manchmal ist das, was zur Verbrechensbekämpfung getan wird, schlimmer als das Verbrechen selbst. Gab mal ’ne Zeit, als grundsätzlich keine Gescheiten bei der Polizei eingestellt wurden – Leute mit weichen Händen und langen schlanken Fingern wie du. Die geben zu leicht Widerworte und stellen unbequeme Fragen, also warn sie nich qualifiziert wegen Überqualifiziertheit, wenn du verstehst, was ich mein. Nah, zu der Zeit wollte man Polizisten mit gerade genug Wortschatz, um Befehle befolgen zu können. So einem konntest du sagen, er soll seine Mutter erschießen, und er hat es widerspruchslos gemacht. So was biet ich dir nicht an. Was ich dir …«

»Nein.«

Der Alte sprang so plötzlich auf, dass ich zusammenschrak, und zeigte auf mein Haus. »Du bist am Sinken, Mann, das tut mir stinken – und dassis ein Reim, Missa Dichta! Maureen, meine Sekretärin, hat gesagt: ›Chilly, lass den Jungen gehn, du verschwendest nur deine Zeit. Der is fertig. Is am Ende.‹ Also sag ich mir, ausnahmsweise mal will ich ihr beweisen, dass sie falsch liegt. Die Vergeudung isses, die mich auf die Palme bringt. Seh nix anderes um mich herum heutzutage. Vergeudung! Genau wie der kleine Junge, den diese Ziegenböcke heute umgebracht haben. Eine verfluchte Vergeudung!«

Er zog einen winzigen Notizblock aus seiner Hemdtasche, riss ein Blatt ab und kritzelte etwas darauf.

Seine rotflammenden Augen richteten sich auf mich, die alten Lippen bewegten sich kaum merklich. »Herumlungern ist eine Straftat, weißt du das? Halt dich von San Andrews fern, solange du keinen triftigen Grund hast, dich dort blicken zu lassen.«

Er legte den Zettel auf die Treppe, räusperte sich und warf mir einen schiefen Blick zu. »Als ich über dich nachgeforscht hab und rausgefunden hab, was passiert ist, hab ich mir gedacht, dass du vielleicht, wenn du mein, hm, Angebot annimmst, dass du einen Weg finden könntst, um, na ja, um deine eigenen Ermittlungen anzustellen, sozusagen. Ruf mich an, falls du’s dir anders überlegst.«

Er zog seinen Hosenbund hoch, kehrte mir den Rücken zu und stieg den Hügel hinunter.

Das Auto unten sprang stotternd an, die Scheinwerfer leuchteten auf – so schwach, dass ich mich fragte, wie er die Straße erkennen konnte. Ich lauschte dem Furzen und Rülpsen des Gefährts, bis das Getöse im stillen Abend verklungen war.

Die Nacht nahm das Tal ein. Glühwürmchen sprenkelten die Luft. Die Flughunde unterm Dach stürzten sich in die Dunkelheit, und ihr Ultraschall-Gezwitscher tat mir in den Ohren weh. Ich kannte sonst niemand, der sie hören konnte, während ich sogar in der Lage war, jedes einzelne Tier an seinem Piepsen zu unterscheiden.

Ich ging hinein und setzte mich an den Tisch. Der Schuhkarton stand am Rand meines Gesichtsfelds, dort, wo Chilman ihn zurückgelassen hatte. Das Foto von meiner Mutter lag obenauf. Es war klar, dass er in meiner Vergangenheit herumgeschnüffelt hatte. Doch bei all seinem Gerede über Polizeiarbeit und meine Mutter hatte er mit keinem Wort meinen Vater erwähnt und die Rolle, die er bei ihrer Ermordung gespielt hatte.

3

Als Kind habe ich beim Aufwachen häufig das Gesicht meiner Großmutter vor mir gesehen, die mir die Hand auf die Stirn legte und sanft und beruhigend auf mich einsprach. Sie streichelte über meine Wangen und den Hals, bis mein Zittern nachließ. Mein Kopf aber schwirrte von den Überresten des Traums: die undeutliche Gestalt einer Frau in einem weißen Baumwollkleid auf unserer Treppe, die mich auf ihren Knien schaukelte. Auch die vage Erinnerung an ein Lachen war dabei. Das ist das Traumbild von meiner Mutter.

Im Wachzustand sehe ich sie anders. Ich bin acht Jahre alt, sie steht im Vorgarten in einem gelben T-Shirt und dunkelblauen Jeans, ihr Dougla-Haar mit einem weißen Kopftuch gebändigt.

Die Luft vibriert von Gerüchten über irgendwelche Tumulte in San Andrews. Die Frauen des Dorfs bedrängen sie mit ihren Fragen. Worum es auch geht, das Furchtbare der Ereignisse schwingt in ihrem Tonfall mit. Sie reden über Männer, scheißbrutale Männer.

Die Empörung meiner Mutter ist schläfriger. Ich konnte sie an ihrer Haut riechen wie die Blätter des Borden-Baums, die ich in späteren Jahren abreißen und an meine Nase halten sollte, um mich an sie zu erinnern.

Ich weiß noch, wie ich ihr zur Hauptstraße gefolgt bin, wo ein Auto wartete.

Sie bemerkte mich am grasbewachsenen Rand, sah vielleicht die Furcht, die mich dort festhielt. Mit einem Zeichen zum Fahrer stieg sie noch einmal aus und beugte sich zu mir herunter. Ihr Atem auf meinem Gesicht war trocken und süß. Daran erinnere ich mich. Ich erinnere mich, dass sie mich aufs Ohr küsste, auf die Augenhöhlen, ihre Lippen federleicht meinen Mund streiften und sie mich an sich zog und mir zuflüsterte: »Keine Sorge, mein Schatz, bin bald wieder da.«

Sie kam nie zurück.

Meine Großmutter gab mir keine Erklärung. Sie übernahm einfach alles, was meine Mutter zuvor getan hatte, und auch das Dorf schwieg sich aus, als fehlten, was auch immer der Grund für ihr Verschwinden war, die Worte dafür.

Mit den Jahren versuchte ich zunehmend, mir einen Reim darauf zu machen, gestützt auf ein paar mitgehörte Wortbrocken und die Zeitungsausschnitte, die ich in der alten, inzwischen längst von einer Sturmflut hinweggespülten Bibliothek ausgrub.

Was ich in Erfahrung brachte, war, dass es eine Demonstration gegeben hatte. Ein Schulmädchen war im feinen Vorort Canteen vergewaltigt worden, auf dem Heimweg von einer Nachbereitungsstunde in ihrer Schule. Wahrscheinlich lag es an der extremen Brutalität, weshalb die Frauen der Insel auf die Barrikaden gingen. Die Täter hatten das Mädchen nicht nur vergewaltigt und umgebracht, sondern auch noch auf andere Weise geschändet, hatten Holzstücke und Erde in sämtliche Körperöffnungen gestopft und sie dann mit gespreizten Beinen auf einer offenen Wiese liegen lassen. Als die Nachricht sich verbreitete, war der Anführer der Bande, Sohn eines hochrangigen Politikers, bereits von der Insel geschmuggelt und nach Amerika gebracht worden.

Die Frauen versammelten sich auf den Straßen von San Andrews, um zu protestieren, und die Polizei kam mit Waffen. Wie ich es auch betrachtete, es musste mein Vater, der Polizeichef, gewesen sein, der den Schießbefehl gegeben hatte. Warum sollte er sich auch darum scheren, sie war schließlich nur das Dienstmädchen, das er geschwängert hatte, und ich war nicht mehr als ein uneheliches Kind.

Nach dem Verschwinden meiner Mutter wurde meine Großmutter, die Feuerbaptistin, zu einem Zuckerrohrhalm von einer Frau. Sie fiel vom Fleisch, als wollte sie ihren Körper leicht machen für den letzten Flug nach Zion, und führte weitschweifige Gespräche mit einer wachsenden Versammlung von Kindheitsfreundinnen und Verwandten. Die alttestamentarischen Namen verstorbener Brüder flossen von ihren Lippen wie eine neue Sprache: Hezekiah, Nathaniel, Zebediah …

Außerdem hatte sie gereizte Auseinandersetzungen mit einem Mann namens Suresh. Ich kam dahinter, dass es sich um meinen Urgroßvater handelte, der seinen Gürtel zurückhaben wollte. »Er ist für den Jungen!«, rief sie.

Manchmal war sie unauffindbar. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, warf ich meine Bücher hin und ging durchs Dorf. Irgendwer fing sie immer ab und hielt sie im Vorgarten fest, bis ich kam und sie abholte.

Die alte Frau lief überallhin, wo ihre Tochter Lorna einer ihrer plötzlichen Eingebungen nach begraben sein könnte. Einmal bekam ich mit, wie sie einer Frau ins Gesicht starrte und sie mit dem Namen meiner Mutter ansprach, als wäre Lorna zu einer Soucouyant, einem blutsaugenden Wesen, geworden und hätte sich in die Haut eines anderen Menschen gekleidet.

Ich kochte, ich putzte, ich kümmerte mich um den Küchengarten und schickte mich selbst zur Schule.

Eines Nachmittags kam ich nach Hause, rief sie und hörte keine Antwort. Ich ließ meine Bücher fallen und wollte gerade wieder hinausgehen, als mich etwas zurückhielt. Es war die Helligkeit in ihrem Schlafzimmer. Das Fenster dort stand weit offen. Die alte Frau lag in dem weißen Gewand ihrer Religion auf dem Bett, und ihre Gebetsperlenkette war um ihren Headwrap gelegt wie ein zerbrochener Heiligenschein. Ich wusste, dass sie nicht schlief.

Sie hatte mir Botschaften hinterlassen. Das Zimmer war voll davon. Offenbar hatte sie darauf vertraut, dass ich sie anhand der farbigen Stoffstücke, die sie an jedem Gegenstand angebracht hatte, zu entschlüsseln wusste. Gelb für die Dinge, die in naher Zukunft wichtig waren – das Testament, mit dem sie mir das Haus vermachte, sowie ein Stück Land irgendwo im kargen Süden von Camaho. Von dem Land hatte ich nichts gewusst. Ihre acht Silberarmreifen hatte sie mit weißen Bändern zusammengebunden. Sie waren für die Töchter, die ich vielleicht einmal haben würde.

Auf einen großen Tonkrug auf dem Fußboden hatte sie ein Bündel Geldscheine gelegt. Um ihn herum lagen fünf Goldarmreifen und zwei feingliedrige Halsketten. Das Ganze hatte sie mit einem blauen Stoffband umgeben, an dem ich erkannte, dass das die Dinge waren, die ich in der Not verkaufen durfte.

Auf dem weißen Tischtuch lagen vier Juckbohnensamen, von denen jeder eine Himmelsrichtung symbolisierte.

Unter das offene Fenster hatte sie, inmitten eines Haufens Muschelschalen, ein Foto von mir in meiner Schuluniform gelegt.

Als sie noch Herrin ihres Verstands war, hatte meine Großmutter Muscheln den üblichen Vogelknochen für ihre Fußboden-Orakel vorgezogen. Sie warf sie aus wie eine Handvoll Würfel und beugte sich tief über die Muster, kniete stundenlang vor sich hinmurmelnd davor – Teil ihres Rituals, um die Schatten und Silhouetten auszumachen, die verstörte Seelen quälten. Dinge, die von den Ärzten in San Andrews weder erkannt noch verstanden wurden. Ich fragte mich, ob diese letzte Deutung mir gegolten hatte, ob meine Granny sich von Oya, ihrer persönlichen Orisha, hatte versichern lassen wollen, dass ich allein zurechtkommen würde.

Ich ging aus dem Zimmer, fühlte etwas in meiner Brust aufwallen und hörte meine eigene Stimme, die hoch und gepresst und verzweifelt klang, als ich mich auf die Steinplatten vorm Haus meiner Großmutter legte, die Arme um mich schlang und zusammenbrach.

4

Chilmans Drohung hielt mich davon ab, wieder nach San Andrews zu fahren, um dort herumzuhängen. Er hatte beschlossen, mich zum Hauptzeugen im Fall des ermordeten Jungen zu machen. Das bedeutete Gerichtstermine, einen Prozess, mein Name und mein Gesicht in den Zeitungen, und ich traute es dem Mistkerl ohne Weiteres zu, mir obendrein was anzuhängen. Ich dachte an seine bohrenden Augen und seine unverschämte Art, mit mir zu sprechen, und entschied, dass ich ihn hasste.

Ich zählte das Geld, das ich von meinem Job in der Beach Bum Bar beiseitegelegt hatte. Dann kämmte ich mir die Haare, zog ein T-Shirt und eine Jeans an und ging zu Fuß in die Drylands.

In sämtlichen Bars und Hotels, in denen ich nach Arbeit fragte, wurde ich abgewiesen. Der Besitzer der Beach Bum Bar hatte meinen Namen an seine Unternehmerfreunde weitergegeben, und sie erinnerten mich prompt an den Vorfall, redeten darüber, als wären sie dabei gewesen. Der Betreiber des Nutmeg Bar and Grill wies seinen Sicherheitstypen an, mich aus dem Lokal zu begleiten.

Manchmal kam ich tropfnass nach Hause. Eine ganze Woche schlechtes Wetter, und den Radionachrichten zufolge war das erst der Anfang. Ein Sturmtief, dem man keinen Namen gegeben hatte, weil es noch kein Hurrikan war, zog über die östliche Karibik und machte alle Bäume und Häuser platt, die ihm keinen Widerstand zu leisten vermochten. Der Wetterfrosch sagte, dass es den Südosten am härtesten treffen würde, und es gab keinen südöstlicheren Ort auf der Insel als Old Hope.

Ich schlug Nägel in die Holzpfähle, auf denen das kleine Haus stand, kletterte aufs Dach und hämmerte auch eine Handvoll in das Wellblech. Die alte Frau hatte das Grundstück mit Bäumen als Windschutz umgeben, vor allem Cutlets und Mangos. Als letzte Verteidigungslinie hatte sie einen Halbkreis aus gedrungenen Kiefern gepflanzt, deren Wurzeln mich an Mangroven erinnerten.

Der Himmel über den Mardi-Gras-Bergen hatte sich violett gefärbt wie eine entzündete Wunde. Es war totenstill. Ich hörte das Grollen des Meeres hinter den Hügeln, das Klappern von Besteck auf Geschirr in den Häusern weiter unten.

Die Tiere merkten es immer zuerst. Hühner drängten sich Stunden vor ihrer normalen Schlafenszeit unter den Häusern zusammen. Schafe, ruhelos und klagend, rissen sich von ihren Pflöcken los und eilten nach Hause in ihren Pferch.

Das Tal hallte von Gehämmer wider.

Ich lag im Bett, als es losging, wachte auf und spürte, wie das Haus sich dem Angriff von Wind und Wasser widersetzte. Irgendwann gegen Morgen löste sich ein Stück Wellblech von den Dachsparren und begann, laut zu rattern. Das Unwetter brach herein und hielt mich bis zum Tagesanbruch in meinem kleinen Schlafzimmer als Geisel. Als es vorüber war, entriegelte ich das Fenster und sah hinunter auf eine tropfende, zerzauste Welt – gebeugte Bäume, der kleine Fluss im Talkessel ein wilder Strom, überall das Gluckern und Plätschern von Wasser und direkt über meinem Kopf ein grimmiges Stück Himmel, wo die Wellblechplatte gewesen war.

Die nächsten beiden Tage verbrachte ich damit, Wasser aus dem Haus zu schöpfen, zu reparieren, was ich konnte, und sauberzumachen.

Ich stand auf und lief die fünf Kilometer von Old Hope zur Hauptstraße. An der Kreuzung stand ich eine Weile herum und zählte das Kleingeld in meiner Hosentasche. Der Regen der Nacht hatte aufgehört, aber im Gras am Straßenrand glitzerten noch Tropfen. Ein starker Wind blies mir entgegen. Ich lehnte mich hinein und schritt kräftig aus.

Eine Stunde später klopfte ich an eine halb offene Tür in der Polizeihauptwache von San Andrews. Chilman hob den Kopf von dem Blatt, das er gerade beschrieb, hielt den Kuli auf die Höhe seines Ohrs. Mit gekrümmtem Zeigefinger winkte er mich herein. Der Mistkerl lächelte.

Eine junge Frau stand an einem Fotokopierer in der hinteren linken Ecke des Raums, schick gekleidet in einen weißen Body und einen violetten Rock, die Haare zu einem glatten Knoten zurückgesteckt. Große runde Augen wanderten an mir herunter, hielten bei meinen Schuhen inne und wanderten wieder hinauf zu meinem Gesicht. Unter ihrem Blick trat ich von einem Fuß auf den anderen. Sie lächelte, und ich entspannte mich.

DS Chilman ließ den Kuli auf seinen Schreibtisch fallen und krächzte mich an. »Bin froh, dass du da bist, junger Mann. Komm rein.«

Zwei Polizisten in Zivil näherten sich mit Papieren in der Hand seinem Tisch, dickbäuchige Männer ungefähr in seinem Alter, die leise etwas zu ihm sagten. Auf ein Nicken von ihm zogen sich die beiden zurück, ohne mich weiter zu beachten.

»Endlich ein Lichtblick heute.« Er stand auf, legte mir eine Hand auf den Rücken und schob mich in die Mitte des großen Raums.

»Leute«, sagte er, »ich stell euch Michael ›Digger‹ Digson vor. Ihr erinnert euch vielleicht, dass er schon mal unter bisschen anderen Umständen hier war.«

Einer der männlichen Mitarbeiter lachte halblaut und senkte dann schnell den Kopf.

»Die junge Lady dort heißt Lisa, die andere, die dir gerade ihr schönstes Lächeln zeigt, ist Pet. Malan hast du ja schon kennengelernt. Miss Maureen ist meine rechte Hand und mein rechter Fuß. Ich leite diese Dienststelle, sie leitet mich. Sie wird den Papierkram erledigen, das meiste davon ist schon vorbereitet.« Er klopfte mir auf die Schulter. »Komm mit, den andern stell ich dich später vor.«

Sein Büro war winzig. Außer seinem Schreibtisch, auf dem sich am hinteren Ende Aktenordner stapelten, gab es nur noch einen kleinen runden Tisch in der Ecke mit zwei daruntergeschobenen Plastikstühlen. Er zog einen davon heraus und forderte mich mit einer Geste auf, Platz zu nehmen.

»Und, wie fühlst du dich jetzt, wo du dich entschieden hast?«

»Zwangsverpflichtet.«

Chilman lachte rau. »Ich würd angeworben vorziehen. Hab dir keine Schlinge um den Hals gelegt und dich hergezerrt.«

Er stemmte beide Ellbogen auf den Tisch und senkte die Stimme.

»Was hat dich dazu gebracht, deine Meinung zu ändern? Verzweiflung oder die verlockende Aussicht, herauszufinden, was mit deiner Mutter passiert ist?«

Ich parierte seinen Blick und sagte nichts.

»Du bringst das mit, wonach ich such«, sagte er. »Aber wenn du glaubst, Polizeichef Joseph Lohar hat was mit der Sache zu tun, liegst du falsch. Allerdings …« Er sah mich eindringlich an. »Ich werd’s ihm sagen müssen.«

»Scheiß auf ihn«, murmelte ich.

»Tut mir leid, Jungchen, damit kann ich nich dienen.«

Es wunderte mich, dass er es gehört hatte. Seine Haltung wurde drohend, er stach mir fast den Finger ins Gesicht. »Das ist das letzte Mal, dass du so in meiner Gegenwart sprichst, verstann?«

»Ich nehme die Stelle unter einer Bedingung an, Sir.«

Er zog die Augenbrauen hoch.

»Einen Monatslohn im Voraus.«

»So läuft das nicht.«

»Ich muss mein Dach reparieren.«

»Wassis mit deinem Dach?«

»’n Teil ist runtergekommen.«

»Wie das?«

»Schlechtes Wetter.«

»Okay, du nimmst den Job also an, um dein Dach zu reparieren. Dann muss ich wohl dem Wetter dankbar sein.« Ich wartete darauf, dass er lachte. Tat er aber nicht.

Er hievte sich auf die Beine und ging nach nebenan. Es dauerte eine ganze Weile. Ich sah ihn mit Miss Maureen sprechen, sich dicht an ihr Ohr neigen. Dann kam er zurück und warf mir einen braunen Umschlag in den Schoß.

»Ich weiß, dass du kein Bankkonto hast. Mach eins auf. Wenn deine Anstellung bestätigt ist, leih dir Geld von der Bank und reparier dein Haus.« Er legte ein Buch samt einem Stapel mit Schreibmaschine getippter Seiten vor mich hin. »Die jüngsten Fälle und das hier …« Er zeigte auf das Buch. »Handbuch Polizeidienst. Straftaten, das Wichtigste aus dem Strafgesetz, Aufgaben und Befugnisse der Polizei, Strafprozessordnung, Strafvollzug. Lern das alles. Was da nicht drinsteht, schnappst du in der Praxis auf oder von mir. Jetzt zu der anderen Sache.«

Er legte die Hände flach auf den Tisch und beugte sich zu mir vor, dämpfte seine Stimme, so dass sie nur noch wie ein kehliges Rasseln klang. »Deine Mutter ist deine fixe Idee. Hat nix mit San Andrews Police Central zu tun, verstann? Ich weiß nix darüber, was du vorhast. Alles klar?«

Ich nickte.

»Das Einzige, was ich dazu sag, ist, geh behutsam vor, denn wenn du zu fest auftrittst, schreckst du am Ende Schlangen auf.« Er tippte auf den Umschlag. »Denk dran, du musst das da zurückzahlen. Jetzt mach, dass du wegkommst, und bring dich in Ordnung. Du fängst morgen an.«

5

DS Chilman erinnerte mich an die alten Knacker, die ich immer vor den Rum-Shops an der Straße auf Holzhockern sitzen sah, ihre Rücken an die krummen Hauswände gelehnt. Nur dass hier alle auf ihn hörten.

Elf Wochen und zwei Tage später pflanzte er sich vor meinem Schreibtisch auf. »Digson, ich will, dass du einen Mann abholst. Anders ausgedrückt, heut machst du deine erste Festnahme. Vergiss alles, was du über das Vorlesen von Rechten gehört hast. Schnapp dir den Kerl einfach und bring ihn her.« Er warf ein Paar Handschellen auf meinen Tisch.

Kurz darauf saß ich in einem Bus und fuhr die Westküste hinauf. Die Dörfer an der Straße flogen vorbei, und es kam mir in den Sinn, dass dreihundertvierzig Quadratkilometer Insel, geformt aus Tälern und Bergen und Regenwald, eine Menge Land waren. Genug jedenfalls, dass die Europäer sich vor zweihundert Jahren gegenseitig dafür umgebracht hatten, genug, um Ronald Reagan zu Lebzeiten meiner Mutter eine Höllenangst einzujagen. Genug, dass er uns einen Flugzeugträger vor den Horizont setzte und Blackhawk-Kampfhubschrauber und F16-Jets starten ließ, um uns ins Meer zu bomben. Kleine Insel, von wegen!

Ich saß eingezwängt zwischen zwei Frauen, eine mit einem Kind auf dem Arm, das von meinem Hemdkragen fasziniert zu sein schien und mit erstaunlicher Kraft in seinen kleinen Fäusten daran zerrte und zupfte.

Inzwischen wusste ich, dass ich zusammen mit Malan, Lisa, Pet und den anderen »Rekruten«, die ich noch nicht kennengelernt hatte, Teil eines Plans des DS war, eine gesonderte kriminalpolizeiliche Abteilung neben San Andrews Police Central einzurichten, mit eigenem Personal und eigener Ausstattung. Chilman wollte eine Truppe von Leuten, die sich mit verbundenen Augen in den Wäldern und Tälern von Camaho zurechtfanden und Waffen zur Verfügung hatten. »Denn was ich da in ein paar Jahren auf uns zukommen seh, is nich schön.«

Seiner Ansicht nach sollte diese Abteilung immer als Erste am Tatort sein. Die vier Polizeibezirke der Insel – Nord, Süd, Ost und der ›verdammichte Westen‹ – hatten der Kriminalpolizei von San Andrews bei Bedarf zuzuarbeiten. Und der Justizminister hatte ihm, Chilman, Respekt zu zollen.

Er komme seinem Ziel näher, meinte er, wenn auch langsam. Der Polizeichef unterstützte ihn, während die Ministerialräte nur taten, was man ihnen sagte. Die Politik ignorierte ihn.

Es gab Momente, da leuchtete mir sein Standpunkt ein, wie an dem Freitagabend, als er, nachdem er den ganzen Tag nicht im Büro gewesen war, so voller Zorn hereinkam, dass er beinahe die Tür eintrat. Wir ließen ihn toben, bis er endlich Luft holte, dann zogen wir unsere Stühle in die Mitte des Großraumbüros und setzten uns zusammen.

»Wer von euch hat von dem Fall Dorian in Cherry Hill gehört?«

Wir sahen uns an, schüttelten die Köpfe.

»Seht ihr, das meine ich«, sagte er. »Folgendes ist passiert: Vor vier Tagen is eine junge Frau namens Dorian nich wie verabredet bei ihrer Mutter erschienen, um ihre zweijährige Tochter abzuholen. Die Mutter versucht paarmal, den Ehemann auf dem Handy zu erreichen, aber der geht nich ran. Am nächsten Tag ruft die Mutter beim Polizeirevier West an, um ihre Tochter als vermisst zu melden. Wie sich rausstellt, ist Dorian mit einem Engländer namens Edwin Jack verheiratet. Er ist zweiunddreißig, sie siebenundzwanzig. Er betreibt ein Geschäft, liefert Fisch an die Hotels unten in den Drylands. Ist seit sechs Jahren mit Dorian verheiratet. Jetzt hört euch das an: Sie verschwindet an ihrem Hochzeitstag.«

Der DS nahm sich ebenfalls einen Stuhl und hockte sich zwischen Lisa und Pet. »Revier West da draußen sucht seit vier Tagen nach dieser Frau, ohne dass San Andrews was davon erfährt. Es kommt noch nicht mal in den Nachrichten. Sie sagen, sie hätten mich angerufen, wärn aber nicht durchgekommen.«

Betrunken, dachte ich, deshalb, sagte aber nichts.

»Ich hab erst heute Morgen davon erfahren. Als Erstes stell ich den Nachbarn und Verwandten paar Fragen. Dassis dabei rausgekommen: Der Engländer hat seine Frau dauernd geschlagen. Niemand fand was Besonders daran, das machen die Männer hier eben. Schlimmer noch – die Frau konnt nicht aus dem Haus gehen, wann sie wollte, weil der Kerl seinen Hund dazu abgerichtet hatte, sie in Stücke zu reißen, sobald sie einen Fuß raussetzte, es sei denn, es passte ihm in den Kram. Er war früher mal Hundetrainer für irgendein Gefängnis in England. Eine Nachbarin hat außerdem nebenbei, Leute, nebenbei erwähnt, dass der Mann eine Freundin irgendwo in der Nachbarschaft hat und dass das schon eine ganze Weile läuft zwischen den beiden. Das Mädchen ist siebzehn, sie geht noch zur Schule.«

Chilman sah uns der Reihe nach an, richtete dann einen schmaläugigen Blick auf mich. »Wie wärst du weiter vorgegangen, Digson?«

»Ich hätte mir das Schulmädchen vorgenommen, Sir. Sie befragt.«

»Warum?«

»Sie hat eine Affäre mit dem Mann, kann gut sein, dass sie was weiß. Außerdem gibt’s da ein persönliches Interesse bei ihr. Ich würd sie bitten, den Ehemann mit ihrem Handy anzurufen, gibt schließlich keinen mehr, der keins hat heutzutage. Höchstwahrscheinlich würde er rangehen. Ich würd sie dazu bringen, notfalls unter Zwang, ihn zu fragen, wo er ist.«

Chilman wandte sich an Malan. »Und du?«

»Den Hund finden, ihn erschießen. Den Typ finden, ihn erschießen.«

Pet kicherte. Malan sah sie finster an.

»Digson liegt nicht falsch. Ich hab die Kollegen vom West-Revier das Mädchen festnehmen und dafür sorgen lassen, dass sie den Kerl anruft. Der Rest war einfach. Er hat uns zu einem flachen Grab geführt, das er und die Schülerin für seine Frau gegraben haben. Das Grab ist einen Meter fünf breit und einen Meter zwanzig lang und liegt auf einem Stück Land, das der Familie des Mädchens gehört. Mister Jack hat seine Frau in einen Koffer gepackt und dort verbuddelt.«

Chilman schüttelte das Blatt Papier in seiner Hand. »Vorläufiges Autopsieergebnis: Tod durch stumpfe Gewalteinwirkung und Ersticken mittels Strangulation. Vier Tage, und die haben immer noch nach ihr gesucht! Ich hab zwei Stunden gebraucht, um die Frau zu finden.« Er räusperte sich. »Jetzt versteht ihr, warum ich immer von ’nem schnellen Eingreifteam rede. Junge Leute ohne Rumbäuche, die zackig denken und zackig handeln können. Keine alten Säcke, die noch vor Dienstschluss nach Hause zu ihrer Frau und ihrer Kingsize-Mahlzeit trotten. Und wenn ich dafür junges Gemüse von der Straße klauben und in dieses Büro verpflanzen muss, dann mach ich das. Wartet’s nur ab!«

Der DS zuckte mit dem Kinn in Malans Richtung. »Warum wolltst du den Mann erschießen?«

Malan murmelte etwas von Scheißausländern.

»Du meinst also, dass nur Camaho-Männer das Recht haben, Camaho-Frauen zu misshandeln, ja? Meine älteste Tochter würd dir sagen, dass so was unsre eigene Schuld ist. So ein Weißer kommt hierher, sieht, wie ihr die Frauen behandelt, und denkt, dassis normal. Ihr gebt ihm praktisch einen Freibrief.«

»Ich bitte um die Erlaubnis, ihn zu vernehmen, Sir«, sagte Malan.

»Weshalb?«

Malan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und schlug die Beine übereinander. »Wie lautet die Anklage?«

»Rate mal.«

»Mord, auf den nicht die Höchststrafe steht?«

»Richtig. Hast du ein Problem damit?«

»Ja, wir haben …«

»Die Todesstrafe, stimmt. Und weil es dazu nicht kommen wird, willst du ins Gefängnis gehn und dem Weißen den Arsch aufreißen, nichwahr? Denkst du, du bist besser? Du bist verheiratet, aber sag mir, wie viele Frauen hast du auf der Insel?«

»Ist was anderes«, sagte Malan.

»Inwiefern?«, fragte Chilman.

Sie maßen sich mit Blicken, bis Malan den Mund verzog und wegsah.

Ich entwand meinen Hemdkragen dem Griff des Kindes, klopfte an das Dach des Minibusses und sprang hinaus in den Geruch nach Meer und fermentierendem Kakao.

Ich befand mich an der nördlichsten Spitze der Insel. Rechts von mir stieg steil der Grat des Mount Saint Catherine an. An seinen Fuß gekauert lag Leapers’ Town, das beinahe ins Meer zu kippen schien.

Eine grelle Sonne brannte auf die Straße. Ungestrichene Blechdächer schmorten in der flirrenden Hitze, obwohl es noch Morgen war.

Chilman hatte mir keinerlei Instruktionen gegeben, und als ich nach Verstärkung gefragt hatte, hatten die Typen im Büro nur gegrinst. Ich brauchte ein Transportmittel, beharrte ich, um den Festgenommenen herzubringen. Die anderen lachten wieder und machten mit ihrer Arbeit weiter. Nur Pet, die Juniorsekretärin, versuchte, mich zu trösten, sah aber besorgt dabei aus.

»Der DS will dich auf die Probe stellen«, flüsterte sie. »Das macht er mit allen.« Dann murmelte sie noch etwas in sich hinein. »Eines Tages wird wegen denen da noch jemand umkommen.«