Shadowman - Jacob Ross - E-Book

Shadowman E-Book

Jacob Ross

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Beschreibung

Camoha, die Insel der Kleinen Antillen, kommt nicht zur Ruhe. Michael »Digger« Digson, ein begnadeter junger Forensiker, muss seiner Kollegin und Seelenfreundin Miss Stanislaus beistehen: Sie hat einen Mann in Notwehr erschossen ‒ ihre Vorgesetzten glauben, dass es Mord war, denn der Getötete ist Miss Stanislaus’ persönliche Nemesis, Juba Hurst, der sie als Jugendliche vergewaltigte, und er ist der Vater ihrer Tochter. Digger und sie haben nur sechs Wochen Zeit, um ihre Unschuld zu beweisen. Und das alles mitten in einer Welle von Gewalt gegen Frauen, die sich zunehmend gegen diesen permanenten Terror zur Wehr setzen. Nicht hilfreich ist dabei, dass anscheinend gerade eine neue Drogenroute in der Karibik aufgebaut werden soll. Zudem ist Digger noch immer hinter dem oder den Mördern seiner Mutter her. Die Uhr tickt – für Digger und besonders für die fabelhafte Miss Stanislaus. Und für manche Leute läuft die Uhr auch ab …

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Cover

Titel

Jacob Ross

Shadowman

Kriminalroman

Aus dem karibischen Englisch von Karin Diemerling

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5336.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023Copyright © Jacob Ross 2020

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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

eISBN 978-3-518-77593-6

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Adrian ›Straight Nose‹ Bierzynski, für deine Tragik und dein Genie

Motto

Du kannst die Vergangenheit nicht hinter dir lassen. Sie liegt in dir begraben.

Claudia Rankine

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

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Impressum

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Motto

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Dank

Informationen zum Buch

Shadowman

1

Eins hatte ich in meinen drei Jahren der Verbrechensbekämpfung auf Camaho gelernt: Um für Recht und Ordnung zu sorgen, muss man manchmal gegen die verdammten Regeln verstoßen.

Fünf Tage nachdem ich einen Polizisten wegen Trunkenheit am Steuer und noch viel Schlimmerem verhaftet hatte, erschoss Miss Stanislaus, meine Partnerin beim San Andrews CID, einen Mann namens Juba Hurst – den Mann, der sie als Kind vergewaltigt hatte. Der Ärger, den ich mir mit der Festnahme des Kollegen eingehandelt hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was sie erwartete. Und auf keinen Fall würde ich sie die Folgen allein ausbaden lassen. So bin ich nun mal, Michael Digger Digson. Ich bin so gepolt.

Ich hatte den Sonntag im Norden der Insel bei meinem Freund Caran verbracht, der eine halbmilitärische Einheit bestehend aus vier Leuten leitete, drei Männer und eine Frau namens Toya Furore, sein Lieutenant. Die Bush Ranger, so nannten wir sie. Sie verfügten über die Schießfertigkeit und die Überlebenstechniken von Soldaten, die Festnahmebefugnis von Polizisten und die deduktiven Fähigkeiten von Kriminalisten.

Detective Superintendent Chilman, unser alter Chef, hatte Carans handverlesenes Team speziell für Patrouillengänge im dunklen Inselinneren abgestellt. Fit, flink und bewaffnet, blieben sie manchmal wochenlang in den Bergen, wenn es sein musste, spürten Ganja-Anbauer und Buschfleisch-Wilderer auf, Mörder und vereinzelte Gefängnisausbrecher, die sich in die nebeligen Hochwälder Camahos geflüchtet hatten. Die Bush Ranger kannten die Insel wie ihre Westentasche. Im Nordteil waren sie schon zu einer Legende geworden.

Wie so oft redeten Caran und ich die erste Stunde über den Job und wunderten uns mal wieder darüber, was DS Chilman mit uns gemacht hatte. Der Alte, fanden wir, war voller Widersprüche. Zwar hatte er sich vor ein paar Jahren aus dem Polizeidienst zurückgezogen, kam aber immer noch ins San Andrews CID, um uns herumzukommandieren. Er war ein Vollzeitsäufer mit einem Gehirn, in dem es keinen Platz für Schwachsinn gab, und einer messerscharfen Zunge. Chilman hatte dreißig Jahre lang bei der Polizei gearbeitet und verachtete die meisten seiner Kollegen, weil sie zu nichts zu gebrauchen waren, was die Verfolgung von Straftaten anging. Seiner Ansicht nach verursachten sie manchmal sogar Verbrechen. Wie im Fall einer jungen kanadischen Touristin: Sie war an einem der abgelegenen Strände der Westküste mit ihrem Hund spazieren gegangen und von einem Typ drangsaliert und umgebracht worden, den die Polizei erst wenige Stunden zuvor wegen Körperverletzung festgenommen hatte. Der Superintendent, der seine Freilassung angeordnet hatte, war mit ihm verwandt.

Danach hatte Chilman die Nase voll gehabt. Wenn er schon die Polizeibehörde nicht ändern konnte, so konnte er zumindest ein eigenes Team ins Leben rufen, »koste es, was es wolle«. Was bedeutete, dass er sich über sämtliche Bestimmungen für die Personalrekrutierung hinwegsetzte.

Mich hatte er in San Andrews buchstäblich von der Straße aufgegabelt. Ich war damals neunzehn und gerade von der Schule abgegangen, ohne irgendwelche Jobperspektiven trotz guter Noten. Ein Mord auf offener Straße wurde für mich zum Wendepunkt. Mein Vergehen bestand darin, dabei gewesen zu sein. Chilman entdeckte mich auf dem Bürgersteig, wo ich damit beschäftigt war, nichts zu tun. Er nahm mich fest und brachte mich in sein Büro. Stellte mich vor die Wahl: Entweder trat ich der neuen kriminalpolizeilichen Abteilung bei, die er gerade gründete, oder ich ging ins Gefängnis. Ich wusste, dass er nicht scherzte.

Chief Officer Malan Greaves hatte er mit einer Einkaufstüte voll Marihuana, das er an Touristen verkaufen wollte, auf dem Grand Beach hoppgenommen. Vierzehn Jahre Gefängnis und eine nicht limitierte Geldstrafe oder eine Festanstellung mit Sonderzulagen und Perspektiven lautete Chilmans Angebot an Malan. Dann war da noch Spiderface, verhaftet wegen eines Ballens Ganja auf seinem Motorboot. Spiderface hatte der Küstenwache dermaßen das Leben schwer gemacht, bevor sie ihn endlich schnappten, dass Chilman genug beeindruckt war, um ihn mit einer legalen Erwerbstätigkeit zu belohnen.

Miss Stanislaus dagegen, seine Tochter, musste er mit etwas anderem überzeugt haben. »Hellster Kopf der Insel«, sagte er, als er die Frau eines Tages einfach in unser Department schickte. Und Pet und Lisa, beide Verwaltungs-Azubis in einer benachbarten Abteilung, wurden zum Mittagessen eingeladen und kehrten nie mehr auf ihre alten Stellen zurück.

»Scheiß Erpressung«, hatte ich dem Alten einmal in einem Anfall von Ärger vorgeworfen.

»Talentförderung«, erwiderte er. »Sieh dir mal eure Erfolgsquote an, Digson! Eintausend Polizisten auf der Insel im Dienst, sechzehn Wachen verteilt auf die verschiedenen Bezirke, und San Andrews CID hat jetzt das zweite Jahr in Folge die beste Verbrechensbekämpfungsbilanz. Kein Wunder, dass die ganze verdammte Polizeibehörde uns plattmachen will. Einschließlich des Justizministers!«

Satt und zufrieden von dem Essen, das Mary, Carans Frau, mir vorgesetzt hatte, verließ ich das kleine Haus der beiden. Ich lachte in mich hinein bei dem Gedanken an Carans Geschichten über die Geheimnisse von Camahos Wäldern: kochend heiße Quellen, die aus Felsspalten hervorsprudelten, Stimmen im Wind, die sie, wie er schwor, dort oben in den Bergen hörten, Schattenwesen, die sich flüchtig blicken ließen, Prinzess-Orchideen, die sich vom Saft der Waldbäume ernährten und sie zum Absterben brachten. Am Ende hatte er mich mit dem Ellbogen angestoßen. »Schönheiten, Digger. Schönheiten, die einen umbring tun, weisde.«

Dabei hatte er grinsend mit dem Kinn auf seine Frau gedeutet. Mary hatte schallend gelacht und ihm ein Geschirrtuch ins Gesicht geworfen.

Es dämmerte schon, als ich von der mörderischen Bergstraße durch die Grand Etang Hills auf die River Road einbog, die mich nach San-Andrews-Stadt bringen würde. Plötzlich eine lange Autoschlange vor mir, bis hin zu der alten, überm Meer hängenden Eisenbrücke. Lautes Gehupe und Geschrei irgendwo vorn.

Ich fuhr an den Straßenrand, stieg aus und ging dem Lärm nach. Ein Mann wurde von einem Mob gegen einen Nissan-Minibus gedrängt. Die Windschutzscheibe war spinnennetzartig gesplittert, das Fahrzeug stand mit laufendem Motor quer zur Straße. Etwa drei Meter weiter verglich eine Gruppe schnatternder Teenager Handyaufnahmen von etwas, das wie eine verstümmelte Leiche aussah. Ein schmaler, abgetrennter Arm mit fünf Kupferarmreifen sagte mir, dass es sich um eine Frau handelte. Etwa fünfundzwanzig Jahre alt, schätzte ich. Der Rest von ihr, hörte ich, sei über den ganzen Straßenabschnitt verteilt.

Ich trat in die Menge, hielt meinen Ausweis in die Höhe und wies die Leute an, sich zu zerstreuen. Unter aufgebrachten Rufen wichen sie ein paar Schritte zurück.

Ich kannte den Fahrer. Es war ein Constable von San Andrews Police Central namens Buso, wegen einer Beinprothese an den Schreibtisch gefesselt. In der Behörde ging das Gerücht um, dass seine Frau einen Liebhaber hatte, mit dem sie vor seiner Nase herumpoussierte.

Jemand hatte bereits den Krankenwagen gerufen. Niemand die Polizei.

Ich rief die Leichenbergung an, ein Drei-Mann-Team, das Superintendent Chilman speziell für solche Situationen zusammengestellt hatte. Jungs, die sich nichts dabei dachten, ihr Abendessen von Tellern einzunehmen, die sie auf einem Kadaver abgestellt hatten. Vorher waren sie Totengräber gewesen.

»DC Digson hier. Hab ’nen Abkratz-Job für euch. Gut vier Stunden Arbeit.«

Ich gab ihnen die Koordinaten und wandte mich dann an den Officer. Er stank nach Alkohol. »Also, was ist passiert?«

Die Leute ringsum mussten von meinen Lippen abgelesen haben.

»Er hat die Frau umgefahrn, ist besoffen Auto gefahrn! Das war Mord! Die Frau hat zwei kleine Kinder und … und das Arschloch hat sie noch ein ganzes Stück mitgeschleift, von da bis …«

Mit erhobener Hand unterbrach ich den Sprecher – ein junger Mann mit zu abstehenden Büscheln frisierten Haaren, wie ein flauschiges Stachelschwein. Er glühte vor Zorn, seine Stimme schnappte fast über.

»Du bis Digschun von Schändruus Schi-Ei-Die, nich wahr? Ich hab die nich gesehn, weisde. Hätt schwörn könn, war ’n Hund, den ich erwischt hab.«

»Sie halten also nicht, wenn Sie einen Hund überfahren haben?«

»Nee, Mann, ich …«

»Nennen Sie mich nicht ›Mann‹, verdammt! Sprechen Sie mich mit Rang und Namen an. Sie sind stinkbesoffen Auto gefahren! Ihnen als Polizist sollte klar sein, dass das eine Straftat ist.«

Ich drehte mich zu der Menge um. »Wer war Zeuge hierbei?«

Vier junge Männer traten mit erhobenen Smartphones vor.

Ich kassierte ihre Handys ein und steckte sie in meine Hosentaschen. »Könnt ihr morgen im San Andrews CID abholen.« Ihren Protest überhörte ich. »Hat jemand den Unfall direkt beobachtet?«

Ein Mann – klein, glänzendes Gesicht, große Augen – hob die Hand. Ich nahm seine Personalien auf.

Dann wandte ich mich wieder an den Officer. »Falls Sie’s noch nicht wissen, ich nehm Sie fest. Ich will Ihren Arsch im Gefängnis sehn. Ich will die Höchststrafe für Sie.«

»Ach komm, Digschun, ich bin selbst ’n Bulle.«

»Das macht’s umso schlimmer!« Ich legte ihm Handschellen an und bugsierte ihn in mein Auto.

Als wir zur Hauptwache von San Andrews kamen, war ich kurz davor, kotzen zu müssen. Mein Auto stank. Der Mann hatte sich offensichtlich vollgepisst und war ein nuschelndes Wrack auf dem Rücksitz.

Ich zerrte ihn hinaus und schleifte ihn in die Wache, wo ich die Zellenschlüssel von dem diensthabenden Officer am Empfang verlangte – ein glotzäugiger junger Typ mit schlaffem Mund, der zuerst das Wrack, dann mich anstarrte. Er machte ein verwirrtes Gesicht, bewegte die Lippen, als wollte er etwas sagen, besann sich dann aber eines Besseren und folgte mir zu den Zellen. Ich öffnete eine davon, warf Buso hinein und schloss ab.

»Ich bin DC Digson, die Leute nennen mich Digger«, sagte ich zu dem jungen Polizisten. »San Andrews CID.«

»Missa Digger, sind Sie sicher …«

»Und ob. Dieser Officer hat gerade eine Frau totgefahren. Hätt sie für ’n Hund gehalten, sagt er. Sehn Sie sich ihn an, sturzbesoffen, aber Auto fahren.« Ich steckte die Schlüssel ein.

Der junge Mann zeigte stumm auf meine Hosentasche. Ich ignorierte das, zog mein Notizbuch hervor und schrieb eine Weile. Dann riss ich die Seite heraus und gab sie ihm. »Wie heißen Sie?«

»Kent, Sir.«

»Sie sind neu hier, oder?« Er nickte.

»Sorgen Sie dafür, dass Ihr Superintendent das bekommt«, sagte ich.

»Die, äh, Schlüssel, Missa Digger …« Er kaute auf seiner Unterlippe und sah nervös zu den Zellen hin. Ein Gebrumm und Gesumm kam von dort, dann begann Buso, eine Hymne zu grölen – »Rock of Ages«.

»Die Schlüssel behalte ich«, sagte ich und marschierte aus der Wache.

2

Um sieben war ich auf und blickte mit einer Tasse heißem Kakao in der Hand von meiner Veranda auf Old Hope Village hinunter, das sich über den ganzen Hang erstreckte. Gegenüber lagen die Vorberge der Mardi Gras Mountains und lenkten meinen Blick hinauf zu den im frühen Morgenlicht dunkelvioletten Gipfeln. Der Unfall von gestern Abend ging mir nicht aus dem Kopf.

Um Punkt neun bekam ich einen Anruf von Superintendent Gill, Leiter der San Andrews Central Police Station. Er verlangte die Zellenschlüssel von mir zurück. Ob ich nicht wisse, dass ein Polizist niemals einen anderen Polizisten in der Öffentlichkeit festnahm, egal, was der angeblich getan hatte? Vor allem sperrte er ihn nicht über Nacht ein und nahm die Schlüssel mit. Wo ich meine Ausbildung absolviert hätte? Für wen zum Teufel ich mich eigentlich hielte?

»Detective Constable Digson, Sir! San Andrews CID!«, antwortete ich. »Drei Jahre im Dienst, und ich möchte Sie bitten, den Bericht zu lesen, den ich Ihrem Officer übergeben habe, ehe Sie anfangen, mich zu beleidigen.«

»Das ist keine Entschuldigung«, blaffte er. »Ich will die Schlüssel. Wann bringen Sie die her?«

»Wenn’s mir passt«, erwiderte ich und legte auf.

Kurz nach elf ging ich aus dem Haus, die Zellenschlüssel in der Tasche. Ich konnte den Ozean riechen von Old Hope aus, dem langgezogenen Tal, das bis zum Meer reichte und in dem früher Zuckerrohr angebaut worden war. Die Hügel knisterten bereits in der ungewöhnlich starken Hitze. Den ganzen Monat ging das schon so, trocken, staubig, ausgelaugt, die Luft erfüllt von den Klagelauten leidender Nutztiere, die sich in den Schatten von Bäumen und Senken drückten. Der Waldboden war braun bis hinauf zu den Hügelspitzen. Bei dieser Trockenheit hatte man Angst, ein Streichholz anzuzünden, und ich machte mir Sorgen, sobald ich irgendwo Rauch sah.

Heute nahm ich den langen Weg zum Büro in San Andrews.

Chief Officer Malan rief an. Ich ging nicht ran.

Fünf Minuten später schrieb Pet, unsere Sekretärin, mir eine Textnachricht: Wo steckst du?

Ich antwortete nicht.

Der Chief Officer rief erneut an. Ich ignorierte ihn. Dann wurde Miss Stanislaus’ Nummer angezeigt. »’n Morgen, Miss Stanislaus. Wie geht’s Ihnen?«

Ich stellte sie mir an ihrem Schreibtisch vor, in einem ihrer prächtigen Montagmorgenkleider mit Lilienmuster, wie das Licht vom Fenster auf ihre Hände und ihr Gesicht fiel und sie das Telefon elegant ans Ohr hielt.

»Fünf Sekunden«, sagte sie. Das war ihre Art, mir mitzuteilen, dass sie im Vertrauen mit mir sprechen wollte. An den Hintergrundgeräuschen erkannte ich, dass sie aus dem Büro hinaus in den betonierten Innenhof gegangen war.

»Missa Digger, wolln Sie sich Ärger einhandeln?«

»Nee.«

»Warum ham Sie dann den Polizisten eingesperrt?«

»Er hat gestern Abend eine Frau überfahren, Miss Stanislaus. Trunkenheit am Steuer, und er wird nicht ungestraft davonkommen, nur weil er ein Officer ist.«

»Das hab ich nicht gewusst«, sagte sie.

»Weil es nicht in den Nachrichten gekommen ist. San Andrews Central will es wie üblich unter den Teppich kehren.«

»Ham Sie vor, dagegen zu kämpfen?«

»Das ist Sache der Angehörigen des Opfers. Bitten Sie Pet, einen Rechtsanwalt zu suchen, der bereit ist, den Fall honorarfrei zu übernehmen – pro bono nennen die das. Ich geb Pet genauere Informationen, sobald ich da bin.«

»Schicken Sie sie gleich.« Miss Stanislaus klang jetzt entschieden.

Ich fuhr an den Rand, konsultierte meine Notizen und mailte die Fakten per Handy.

Die gesamte Abteilung war versammelt, als ich hereinkam, wartete offenbar schon auf mich. DS Chilman hockte neben der Tür, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Lippen sorgenvoll geschürzt. Pet und Lisa, die beiden Verwaltungsangestellten, saßen Seite an Seite an ihren zum Eingang zeigenden Schreibtischen. Chief Officer Malan hatte seinen Stuhl aus seinem Büro herausgerollt, saß aufrecht da in seinem frisch gebügelten blauen Hemd und verfolgte jede meiner Bewegungen mit stetem, boshaftem Blick. Neben ihm ein uniformierter Polizist.

Nur Miss Stanislaus, die ein schönes, meergrünes Kleid trug, wirkte entspannt, blickte von ihrem Schreibtisch aus hinunter auf den Marktplatz. Einen Moment lang richtete sie ihr großen braunen Augen auf mich, dann drehte sie sich wieder zum Fenster um.

»Warum hast du so lange gebraucht?«, knurrte Malan.

Achselzuckend nahm ich mir einen Stuhl und setzte mich. »Wozu all die Aufregung?«

Der Chief Officer explodierte. »Was soll das? Hast du sonst nix zu sagen? Du sperrst ’n Officer ein und nimmst den Schlüssel mit! Und dann fragst du, was die Aufregung soll?«

»Wieso sollte Officer Buso anders behandelt werden als all die andern Leute da draußen?«

»Digger, du kannst nicht einfach einen andern Polizisten verhaften. Wir machen alle den gleichen verdammten Job!«

»Malan, du brüllst. Reg dich ab! Du hast meine Frage nicht beantwortet. Also?«

Er sprang auf, streckte die Hand aus. »Gib mir die Schlüssel!«

»Nein. Noch nicht. Und rück mir von der Pelle.«

DS Chilman räusperte sich, ein feuchtes, warnendes Geräusch. Malan zog sich zurück. Miss Stanislaus bedachte uns mit einem ungehaltenen Seitenblick.

»Beantworte meine Frage«, sagte ich.

»Hat man je gehört, dass ein Cop einen andern Cop festnimmt? Sind alle bei derselben Polizei. Willst du ’nen Bürgerkrieg anfangen?«

Mich packte die Wut. »Ein stinkbesoffener Officer überfährt eine Frau, die am Straßenrand langgeht. Die Frau wollte Milch für ihre beiden Kinder kaufen. Das eine ist zwei, das andere sechs Jahre alt. Der Mann hat die Kontrolle über seinen Wagen verloren und sie umgefahren. Er war so voll, dass er sie für ’nen Hund gehalten hat, wie er sagt. Hat sie noch fast einen Kilometer mitgeschleift, die Leichenbergung musste sie von der Straße kratzen. Versetz dich in meine Lage, Malan. Was hättest du getan?«

»Warum hast du ihn nich beiseite genommen?«

»Wozu?«

»’s reicht jetzt!« Miss Stanislaus klang schneidend. Sie nahm ihre Handtasche, zog ein Papiertaschentuch heraus und begann, sich damit das Gesicht zu fächeln.

»Ich sag immer noch, dass er ’ne andre Behandlung verdient!«

»Von mir kriegt er die nicht«, erwiderte ich.

DS Chilman stand auf. »Okay, Digson! Du bist sauer. Du bis nich zufrieden, was hast du vor?«

»Wie gesagt, das Opfer hinterlässt zwei kleine Kinder. Gibt kein Gesetz auf Camaho, das Polizisten von der Strafverfolgung ausnimmt. Ich bin bereit, im Namen der Frau vor Gericht auszusagen.«

»Das kommt nich vor Gericht«, sagte Malan.

Pet sah Lisa mit empörtem Ausdruck an. Sie war kurz davor, in die Luft zu gehen.

Miss Stanislaus fuhr zu Malan herum. »Tschuldigung, Missa Malan, Sie irren sich! Das muss vor Gericht, und wenn’s nicht vor Gericht will, dann sorg ich eben dafür, dass es vor Gericht kommt.«

Sie maßen sich mit Blicken, ein gerades, entschlossenes Starren von Miss Stanislaus, ein finsteres, verbissenes von Malan. Er konnte seine Abneigung gegen sie kaum verhehlen, hatte noch immer seine erste Begegnung mit ihr nicht verwunden. Gleich an ihrem ersten Tag im Büro hatte sie ihn in die Schranken gewiesen, weil er versucht hatte, sie zu demütigen, und ich werde nie den Zorn in ihrem Blick vergessen, als sie ihm auf den Kopf zusagte, was für ein Schürzenjäger er war, dass er seine junge Frau wie eine Sklavin hielt und sie mit einem Kind ans Haus band – alles innerhalb von wenigen Minuten und ohne ihn zu kennen. Es hatte das Großmaul zutiefst schockiert zu hören, wie viel von seinem Privatleben für jemanden mit genug Scharfblick offensichtlich war. Es hatte mich selbst schockiert. Und Pet und Lisa auf der Stelle zu Fans von Miss Stanislaus gemacht.

DS Chilman streckte die Hand aus und sah mich mit seinen vom Rum gelben Augen an. Ich gab ihm die Schlüssel.

Schweigend verfolgten wir, wie der junge Uniformierte von San Andrews Central sie entgegennahm und ging.

Chilman zeigte zur Tür, ich folgte ihm hinaus in den Hof. Er fuhr sich mit der Hand über seinen graumelierten Kopf. »Wär jetzt vernünftig, dir zu raten, die Sache auf sich beruhn zu lassen«, sagte er. »Aber ich kenn dich – du bist wie ’n Hund mit ’nem schlimmen Fall von Beißkrampf. Wenn du dich erstmal festgebissen hast, lässt du nich mehr los, nicht mal, wenn ich’s dir befehl. Als du Officer Buso festgenommen hast, hast du in ’n Schlangennest gegriffen. Er und seine Kumpel sind dieselbe Sorte Polizisten, die damals deine Mutter umgebracht haben. Davon ham wir immer noch ’n paar in der Truppe. Und jetzt, wo sie gesehen ham, wie du mit Buso umgesprungen bist« – er hustete in seine Hand –, »werden die sich fragen, ob sie als Nächste dran sind. Sie werden ’n scharfes Auge auf dich haben, Digson. Villeich wär’s an der Zeit, dass die Leute erfahren, wer dein Vater ist.«

»Nein!«

»Okay.« Er hielt mir seinen knochigen Finger unter die Nase. »Dann gewöhn dir an, deine verdammte Knarre zu tragen. Ab sofort! Das ist ein Befehl.« Damit zog er seine Hose hoch und ging zu seinem Auto.

Ich starrte hinunter auf den weiten Bogen der Carenage-Bucht, die mit zwischen den Inseln verkehrenden Frachtern übersät war. Es gab Tage, da konnte ich kaum zum Hafen hinsehen. Dort unten, auf der Promenade, hatte 1999 eine Bande von kriminellen Polizisten, angeführt von einem Officer namens Boko Hurd, meine Mutter ermordet und ihre Leiche verschwinden lassen.

Miss Stanislaus’ forsche Schritte erklangen hinter mir, ich roch ihr Limette-Lavendel-Muskatnuss-Parfüm, als sie neben mich trat. Ihr meergrünes Kleid wurde perfekt durch passende Schuhe und eine Handtasche ergänzt, ihre Haare waren zu einem glänzenden Knoten aufgesteckt. Sie hatte eine Hand in dem Täschchen, aus dem sie ebenso flink ein Taschentuch wie ihren geliebten kleinen Ruger-Revolver hervorziehen konnte, den sie Miss Betsy nannte.

»Missa Digger, wieso ham Sie mich vorhin nich begrüßt, als Sie gekommen sind?«

»Tut mir leid, Miss Stanislaus. Wie geht es Ihnen?«

»Zu spät«, sagte sie verschnupft. »Was macht Ihnen so zu schaffen?«

Malan kam aus dem Büro stolziert, sprang in seinen Jeep, ließ den Motor aufheulen und schoss hinaus auf die Straße. Mit quietschenden Reifen nahm er die Kurve weiter unten am Hang.

»Gehn wir ein Stück«, sagte sie.

»Gibt’s ein Problem?«, fragte ich.

Sie antwortete nicht.

»Was ist los, Miss Stanislaus?«

Vielleicht ging es um ihre Tochter Daphne, dachte ich, eine Miniaturausgabe von Miss Stanislaus. Die beiden waren die einzigen Menschen, deren Stimmen ich manchmal verwechselte. Sie hatten den gleichen klaren Blick, gerade wie ein Pistolenlauf, die gleiche Vorliebe für lebhafte Farben und die gleiche anmutige Art, sich zu bewegen, die über ihren stählernen Kern hinwegtäuschte.

Ich sah auf meine Uhr, es war Punkt eins. »Gehen wir was essen«, schlug ich vor.

Ich nahm sie mit zu Kathy’s Kitchen, einem dieser kleinen Lokale in San Andrews, die man kennen musste, um sie zu finden. Kein Schild an der Tür, keine Speisekarte. Die Wirtin servierte ein Gericht pro Tag, immer das, was sie gerade Lust hatte zu kochen, immer Arbeiteressen. Wir betraten einen kleinen Raum mit einer einzelnen Neonröhre an der Decke. Linoleumboden, fünf Plastiktische mit je zwei Stühlen daran. Während wir vor unseren Schalen mit Callaloo-Suppe saßen, blickte Miss Kathys Verwandtschaft von zahlreichen Fotos streng auf uns herab.

»Erzählen Sie«, sagte ich.

Sie sah mich abschätzend an. Miss Stanislaus hatte Augen, die einem einfach auffallen mussten. Von einem intensiven, durchscheinenden Braun und mit einem Leuchten darin, das von innen zu kommen schien. Manchmal glaubte ich, Spuren von diesem Glanz auch bei ihrem Vater zu sehen.

»Schlafen Sie immer noch schlecht?«, fragte ich.

»Mir geht’s gut, Missa Digger. Aber ich will Ihnen was zeigen.« Sie stellte ihre Handtasche auf den Tisch, holte einen Zeitungsausschnitt hervor und schob ihn mir hin.

Der Bericht war drei Tage alt. Ich erinnerte mich an ihn. Eine Frau namens Lena Maine von Kara Island, zweiunddreißig Jahre, hatte sich im Meer ertränkt.

»Das war Juba Hurst«, sagte sie.

Mir wurde flau im Magen.

Sie schob ihre Suppe beiseite und murmelte fast nur noch. »Ich hab mit Leuten von zu Hause telefoniert, weil mir die Sache komisch vorkam. Die Fraun von Kara Island sind Kummer von Geburt an gewöhnt, und wenn eine selbst nich damit fertich wird, helfen die andern Frauen ihr. Sie bringt sich nich um. Und sehn Sie mal, an was fürm Tag das passiert ist!«

Ich schüttelte den Kopf.

»Samstag, nichwahr? Juba Hurst kommt jeden Sonntag von Vincen Island zurück. Miss Lena hat sich am Tag davor umgebracht, weil sie’s nich mehr ausgehalten hat, was er mit ihr macht.«

»Beweise, Miss Stanislaus …«

»Dada, ihre Großmutter, hat mir das alles am Telefon erzählt, und ich seh keinen Grund, ihr nich zu glauben. Sie sagt, Juba is jeden Sonntagabend zu ihrer Enkelin gekomm, stinkend wie ’n Grab. Lena hat ihn nich mitm Stöckchen anfassen wollen. Die Leute ham sie brüllen gehört wie ’ne Kuh und wussten nich, wie sie ihr helfen solln. Weil, wenn sie ihm nich zu Willen is, bringt er sie und ihre Kinder um, hat er gesagt …«

»Miss Stanislaus«, warf ich ein, »es is jetzt über zehn Jahre her, dass Juba Hurst Ihnen, äh, sexuelle Gewalt angetan hat …«

»Davon red ich nicht! Sie hörn mir nich zu. Seit Monaten red ich mir den Mund fusslig, in meiner eignen Abteilung, in der ich arbeit!« Sie unterbrach sich kopfschüttelnd, ihr Gesicht hart vor Empörung und Fassungslosigkeit. »Immer wieder hab ich euch gesagt, dass da was Schlimmes auf Kara Island im Gange is und wir was unternehm müssen. Im Moment herrscht Juba nämlich über die Insel, Missa Digger. Vor zwei Jahren hat er sich das ganze Land von meim Großonkel Koku untern Nagel gerissen. Noch schlimmer, mein Großonkel is seitdem unauffindbar. Und niemand traut sich mehr an das Grundstück ran, außer paar alten Frauen, die sich keinen Dreck um nix mehr scheren. ’ne Zeitlang ham sie ihm immer wieder seine Baracke angezündet, sobald er nach Vincen Islan gefahrn is, weil sie sagen, dass er da nur böses Zeug fabriziert.«

Mit einer Hand tupfte sie sich die Mundwinkel ab, während die andere ruhelos in ihrem Schoß zuckte. Ich dachte an Juba Hurst, Geldeintreiber und mutmaßlicher Mörder. Acht Fälle von schwerer Körperverletzung an Minderjährigen in der Absicht, Analverkehr zu erzwingen, vier Mordversuche, fünfzehn Morddrohungen, zwölf Anzeigen wegen fahrlässiger Köperverletzung, neun Sittlichkeitsvergehen gegen Frauen, zwei gemeldete Fälle von Freiheitsberaubung, die Opfer hierbei ebenfalls Frauen. In jedem einzelnen Fall war die Anzeige oder belastende Aussage ein oder zwei Tage bevor es zur Gerichtsverhandlung kommen sollte, zurückgezogen worden. Ich hielt Augen und Ohren offen, was diesen Kerl anging. Das Problem war, dass er auf Kara Island lebte, und nach allem, was ich hörte, hatte die mager ausgestattete Polizei dort drüben höllische Angst vor ihm. Ohne Beweise für eine Straftat, die Juba Hurst angelastet werden konnte, waren uns die Hände gebunden.

Die einzige Gefängnisstrafe, die Juba jemals abgesessen hatte, war wegen Entführung und Vergewaltigung einer vierzehnjährigen Schülerin. Diese Schülerin war Miss Stanislaus gewesen. Es geschah kurz nachdem Chilman sie und ihre Mutter verlassen hatte und nach Camaho gezogen war. Seine erstgeborene Tochter, doch Chilman blickte nicht zurück, nicht einmal, als sie ein Kind von Juba zur Welt brachte, das zu lieben sie sich alle Mühe gab, wie ich immer wieder sah.

Ich holte Daphne jeden Freitag von ihrem spätabendlichen Basketballtraining in San Andrews ab und fuhr sie bis zu dem kleinen farbig lackierten Gartentor vor ihrem Haus. Neulich war sie im Auto sitzen geblieben, ihre Schultasche auf den Knien. Sie hatte auf das Tor gestarrt und mich dann flehentlich angesehen. »Missa Digger, kann ich villeich für ’ne kleine Weile bei Ihnen bleiben?«

»Das geht nicht, Daph. Deine Mutter wird das kaum erlauben, und ich kann’s auch nicht. Was hast du für ’n Problem?«

»Sie mag mich nich mehr, Missa Digger. Sie will nich mit mir reden, nich mal, um …«

Daphne fing an zu weinen.

Ich tippte eine Textnachricht an Miss Stanislaus: Daphne will nicht nach Haus. Ich bring sie zu Miss Iona oder nehm sie mit zu mir. Ihre Entscheidung, 2 min.

Gleich darauf vibrierte mein Handy. Miss Stanislaus klang sanft und erschöpft. »Schicken Sie sie rein, Missa Digger. Dankefehr.«

Ich berührte Miss Stanislaus am Arm. Sie zog ihn weg und blitzte mich an. Dann schien sie auf einmal in sich zusammenzusinken, sprach wieder ganz leise. »Ich will, dass ihr alle mir glaubt, Missa Digger. Ich … ich weiß nich, was ich noch machen soll, damit ihr mir glaubt.«

Sie starrte einen Moment ins Leere, holte dann tief Luft. »Das Problem is, jetzt, wo Miss Lena tot is, wird Juba Hurst sich auf ’ne andre junge Frau stürzen, nichwahr? Und er wird die alten Fraun aufspürn, die ihm sein Lager angezündet ham, und die Frage is nur, was er nich mit ihnen macht. Nennen Sie mir einen Grund, warum ich hier auf Camaho rumsitzen und zulassen soll, dass jemand so was meiner Familie antut.«

»Ich wusste nicht, dass Lena mit Ihnen verwandt war«, sagte ich.

Ein kurzer Blick von ihr. »Auf Kara Island, Missa Digger, sind wir alle miteinanner verwandt.«

Sie stand auf, drückte ihre Handtasche an sich und stolzierte hinaus.

3

Ich parkte am Straßenrand und ging den betonierten Weg zu meinem Haus hinauf. Mein Körper sehnte sich nach Schlaf, meine Glieder waren bleischwer. Ich hatte fast die ganze Nacht im Büro gesessen und mich durch gegoogelte Texte gescrollt, in Gedanken bei Miss Stanislaus. Bei dem Stichwort »posttraumatische Belastungsstörung« hielt ich inne, und eine leise Furcht packte mich, als ich begriff, was damit verbunden war. Überlebende einer Vergewaltigung,hieß es, haben es schwerer, PTBS zu überwinden, als Kriegsveteranen.

Und nicht immer gab es einen Schlusspunkt.

An Folgen aufgezählt wurden Schlaflosigkeit, manisch-depressive Erkrankungen und Realitätsverlust. Außerdem Selbstmordgedanken, Gereiztheit, Selbsthass. Es schoss mir durch den Kopf, dass den Verfassern des Artikels anscheinend kein Fall wie der von Miss Stanislaus begegnet war, sonst hätten sie noch etwas hinzugefügt: Rachedurst. Nicht nur hinzugefügt, sie hätten das ganz oben auf die Liste gesetzt. Ganz klar war Miss Stanislaus keine Frau, die einen Gewaltakt gegen ihren Körper vergaß, wie lange der auch her sein mochte. Sie hatte ihren Zorn mitgebracht, als Chilman sie ins San Andrews CID einschleuste. All diese Empörung! Manchmal bemerkte ich, dass sie Mühe hatte, sie zu zügeln. Es gab Tage, an denen sie bei der leisesten Berührung zurückzuckte, und sie konnte aufbrausend und übellaunig werden, wenn die Nachricht von einer Vergewaltigung unsere Abteilung erreichte.

Um mich von diesen Gedanken abzulenken, spielte ich ein Spiel mit mir selbst: Ich tat, als wäre ich ein Privatdetektiv, der sich in mein Haus einschlich.

Ich steige drei Stufen hinauf, entriegele die Glastür und mache das Deckenlicht an. Schleiche im Wohnzimmer an vier Morris-Sesseln und einem Sofa vorbei. Bücherregale an jeder Wand, voll mit Büchern über den menschlichen Körper und dessen Eigenschaften vor und nach dem Tod. Weitere Bücher über das menschliche Skelett auf der Küchenarbeitsfläche. In dem dicksten davon steckt ein Bleistift. Osteometrie: Die Mathematik der menschlichen Gestalt.

Zwei Kühlschränke. Ich öffne den kleineren. Die Fächer sind vollgestopft mit Chemikalien in Glasflaschen, den gefrorenen Larven und Puppen von Gliederfüßern und Schmeißfliegen in jedem Entwicklungsstadium. Alte 35mm-Filmdosen mit Bodenproben, Wurzelholz und Grashalmen. Humangewebe in Ampullen mit Formalin.

Eine Musikanlage in einer Ecke mit stapelweise CDs drumherum, hauptsächlich Jazz, ein bisschen Schmuse-Rock, ein bisschen Bump ’n’ Grind mit jamaikanischen Rude Gals in engen Lycra-Bodys auf den Covern, die ihre üppigen, nur mit einem G-String bekleideten Hinterteile in die Kamera halten.

Ein Zimmer rechts mit bloß einem eisernen Bettgestell an der Wand und einem Bataillon Rumflaschen mit Vintage-Labels auf dem Fußboden.

Auf der anderen Seite des Hauses ein voll eingerichtetes Schlafzimmer. Ein altes Mahagonibett nimmt mehr als die Hälfte des Raums ein, etwa anderthalb Meter darüber ein Holzlamellenfenster. Alle übrigen Fenster im Haus haben Glasscheiben. Ein Hurrikan-Haus offensichtlich, erbaut circa 1955, das ursprüngliche Guyana-Holz herausgerissen, die Wohnfläche erweitert und alles mit Beton, Stahl und hellem Kalkstein verstärkt.

Teure Kondome der Sorte super-gefühlsecht auf dem Nachttisch. Keine Hinweise darauf, dass hier noch jemand lebt.

Schlussfolgerungen bisher: männlicher Bewohner Anfang, Mitte zwanzig, besessen von Tod und menschlichen Körperteilen. Möglicherweise kannibalisch. Lockere Beziehung, wenn überhaupt eine. Ein ungesundes Interesse an Rumcocktails und scheußlicher Musik.

Eine Wand im Wohnzimmer hebe ich mir bis zuletzt auf. Drei Fotos hängen dort. Das erste ist von einer alten Inderin, die auf einer Holztreppe sitzt, die Tür hinter ihr mit einem Holzscheit offen gehalten. Sie blickt mit dem gereckten Kinn einer Kriegerin in die Kamera. Das zweite zeigt eine junge afro-indische Frau von Mitte zwanzig mit prachtvoller, ungezähmter Mähne und einem Lächeln so breit und weiß wie ein Karibikstrand. Ein kleiner Junge lehnt sich an sie, große Augen, der Mund halb offen.

Das letzte ist ein gerahmtes Zeitungsfoto, auf Karton aufgeklebt. Ein hochgewachsener, nicht allzu schlecht aussehender Typ neben einer fülligen Frau mit leuchtend braunen Augen, verdammt hübsch in ihrem meerblauen Batikkleid, das von einem Schwarm roter und gelber Korallenfische bevölkert wird. Wie ein Mitglied des Königshauses steht sie neben dem nicht allzu schlecht aussehenden Typ, eine aquamarinfarbene Handtasche am Arm.

Die Bildunterschrift lautet: DC Michael »Digger« Digson (links) und DC Kathleen Stanislaus (rechts) vom San Andrews CID. Das Duo, dass den Fall Nathan gelöst hat.

Ich konzentriere mich auf Miss Stanislaus’ Augen. Jetzt sehe ich etwas darin, das mir nie zuvor aufgefallen ist: einen tiefsitzenden Schmerz, einen schwelenden Zorn. Eine Traurigkeit, die mich beinahe zum Weinen bringt.

4

Am Freitag ballten sich große Wolkensäulen über den östlichen Hügeln zusammen, machten den Tag trüb und sonderten hin und wieder ein paar armselige Regenspritzer ab, die lediglich die Luftfeuchtigkeit erhöhten.

Ich nahm die Flughafenstraße zur Arbeit und fuhr durch Coburn Valley, das Tor zu den Drylands und dem touristischen Süden. Ein Gelüst nach rohem Zuckerrohrsaft hatte mich überkommen, und den kriegte man nur dort.

Der Verkäufer hatte seine eigene kleine, mobile Zuckerrohrmühle, von ihm selbst entworfen und gebaut. Ich bezahlte und wollte gerade zurück zum Auto gehen, als ich mich beobachtet fühlte. Ein Polizeijeep von San Andrews Central hatte mitten in der morgendlichen Rushhour angehalten. Fahrzeuge überholten ihn vorsichtig, die Insassen warfen nervöse Blicke in den Rückspiegel. Drei Officers, die versuchten, mich niederzustarren. Natürlich ging es um Buso. Ich kannte sie alle drei, ihre Namen wurden meist in einem Atemzug genannt. Skelo – so genannt wegen seiner ausgeprägten Schädelknochen. Machete – mörderisch, hieß es, wenn er ausrastete, was er anscheinend häufig tat. Machete hatte seine Arme ums Lenkrad geschlungen und reckte den Hals. Glotzte mich an. Der neben ihm auf dem Beifahrersitz hieß Switch. Er hatte das Sagen bei dem Trio.

Switch war eine ältere Version von Malan, vielleicht um die vierzig, und hatte einen gewissen Ruf zu verteidigen. Ein grimmig dreinblickender Mensch, dessen Mund und Augen ganz auf Einschüchterung getrimmt waren. Der Typ Bulle, der sich nichts dabei dachte, jemanden mit dem Gesicht voran durch eine Glasscheibe zu knallen oder von einer Frau Sex als Gegenleistung dafür zu verlangen, dass er sie nicht festnahm. Eine Subspezies, die man bei jeder Polizei auf der Welt findet. Die Sorte, die meine Mutter umgebracht hatte. Ich richtete mich gerade auf und überquerte die Straße.

Switch musste den Anfall von Hass auf meinem Gesicht bemerkt haben. Er spuckte in meine Richtung aus und sagte etwas zu dem Fahrer, der den Motor anließ.

»Ich würd’s wieder tun«, rief ich. »Jederzeit, Arschlöcher!«

Der Motor wurde hochgejagt, der Jeep schoss davon. Und plötzlich war mir der Morgen verdorben.

Zurück im Büro begrüßte ich Miss Stanislaus. Sie antwortete nicht, blickte stur zum Fenster. Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich ihr gegenüber. Sie verließ ihren Schreibtisch und ging zur Toilette.

Pet und Lisa sahen mich an, als hätte ich der Frau Gott weiß was getan.

Malan kam vorbeigeschlendert, warf einen Blick auf mein Gesicht und lachte in sich hinein.

Ich machte mich an die Ablage und kümmerte mich um meinen eigenen Kram, doch sosehr ich es auch zu leugnen versuchte, ich fühlte mich abgewiesen.

Miss Stanislaus und ich hatten öfter Auseinandersetzungen, besonders wenn in einem schwierigen Fall der Druck zunahm. Wir freuten uns darauf, weil wir wussten, dass irgendwann die Funken fliegen und uns die zündende Idee kommen würde, die zum Durchbruch führte. Das hier aber war etwas anderes.

Mittags ging ich auf den Markt und kaufte ihr etwas zu essen, stellte die Pappschachteln vor sie hin und beobachtete, wie sie sich genüsslich darüber hermachte. Trotzdem wollte sie immer noch nicht mit mir reden.

Ich saugte an meinen Zähnen, nahm meine Tasche und verließ das Büro, verfolgt von Pets Gekicher.

5

Der Samstag fing gerade an, nach Entspannung auszusehen.

Ich freute mich auf einen lässigen Abend mit Dessie Manille im The Blue Crab, einem Nachtlokal mit eigenem kleinen Strand, von dem man auf Whale Island blickte. Dachte an jazzige Steelpan-Musik und raffinierte Rumcocktails, zuvorkommend bedient von einem Barkeeper, der genau wusste, wie ich meine Mischungen mochte.

Gegen Morgen würden Dessie und ich zum Grand Beach hinunterfahren, unsere Kleider abwerfen und uns ins Meer stürzen. Was zwischen uns geschah, wenn das Wasser unsere Schultern umspülte, ging nur uns etwas an.

Frau wartet, hatte sie mir getextet.

Mann bereit, hatte ich geantwortet. Mit Blick auf die Uhr zog ich mein Hemd an.

Das Handy brummte. Ich meldete mich mit tiefer Stimme. »Geduld, Frau, bin schon unterwegs.«

»Leck mich, Digson! Hier is Chilman. Ich will, dass du sofort ins Büro kommst.«

»Wie bitte?«

»Du hast schon verstanden.«

»Geht nicht, Sir. Ich hab gleich ein, äh, Treffen.«

»Erzähl’s mir, wenn du hier bist.«

»Es ist nach Mitternacht!«

»Ja, hier auch. Mach dich auf den Weg.«

Ich hörte den Alten schwer ins Telefon atmen. Betrunken klang er nicht, aber das war immer nur eine Frage des Grads.

»Sie haben mir noch nich gesagt, worum’s geht, Sir.«

»Du lässt mich ja auch nicht zu Wort kommen, Digson.« Ich wartete, stellte mir vor, wie er sich über seine nach zerknautschter Ledertasche aussehenden Lippen leckte.

»Kathleen is verschwunden«, sagte er.

»Miss Stanislaus? Verschwunden, sagen Sie?« Mir wurde plötzlich ganz anders.

»Ich kann die Frau nich finden. Sie hat ihre Tochter allein gelassen – Daphne hat mich angerufen, ganz durcheinanner. Meinte, sie hätte Angst, weigert sich aber, mir zu sagen, wo ihre Mutter hinwollte. Digson! Ich hab so ’ne Ahnung, was sie plant.«

Er brummte noch etwas und legte auf.

Weil ich nicht den Mut hatte, Dessie anzurufen, um abzusagen, schickte ich ihr eine Textnachricht.

Ich hatte mehr als nur eine Ahnung, was Miss Stanislaus plante. Sie hatte es in Kathy’s Kitchen praktisch angekündigt, aber ich hatte ihr nicht glauben wollen.

Ich schnappte mir meine Schlüssel und ging hinaus in die Nacht. Ein Fingernagelrand von Mond hing über Old Hope Valley.

Einen Moment lang stand ich da und betrachtete meinen kleinen Toyota, auf Hochglanz poliert von zwei Jungs, die ich vorhin extra dafür bezahlt hatte. Ich spulte eine Reihe von Schimpfnamen für Chilman in meinem Kopf ab, schwang mich ins Auto und trat aufs Gas.

Als ich schließlich zur Western Main Road kam, war mir der Schweiß ausgebrochen. Das Radio hatte ich leise gestellt, nur die Reifengeräusche überlagerten die bangen Gedanken, die sich in meinen Kopf geschlichen hatten.

Das Büro war hell erleuchtet. Chilmans zerbeulter Datsun stand mitten im Hof, er selbst saß an meinem Schreibtisch und starrte zur Decke.

Sein Blick fiel auf meine neuen Adidas NMD und wanderte an mir hinauf. »Hast du dein Treffen verschoben?«

Ich schielte kurz auf seine Hände – die beste Methode, um festzustellen, was in ihm vorging. Er rieb seinen Zeigefinger mit dem Daumen, als wollte er die Beschaffenheit der Luft prüfen. Chilman war beunruhigt. Tief.

Er schob das Blatt Papier beiseite, auf das er seinen Ellbogen gestützt hatte. »Wo ist deine Waffe?«

»Ich bin gleich aus dem Haus, nachdem Sie angerufen hatten.«

Seine knochentrockene Hand ballte sich zur Faust. »’ne schwache Ausrede is keine Ausrede, Digson. ’s wird dich eines Tages noch das Leben kosten, dass du deine Dienstwaffe nicht trägst.«

»Was ist los, Sir?«

»Du weißt, was los ist.« Er rieb sich das Gesicht, schüttelte den Kopf. »Wie im Recht meine Tochter sich auch fühlen mag, Mord bleibt Mord. Und meine ganze Arbeit wär damit zunichtegemacht.« Mit ausholender Geste zeigte er auf die Abteilung.

»Sie sagen mir nur, was ich schon weiß, Sir. Könnte sie nicht auch woandershin sein?«

»Wohin denn?« Er durchbohrte mich mit seinen bösartigen kleinen Augen. »Hast du auch deinen Verstand zu Hause gelassen? Ihr zwei arbeitet zusammen, wieso hast du das nicht kommen sehn?«

Ich schluckte meinen Ärger hinunter. »Villeich hab ich das ja. Wassis mit Ihnen, Sir?«

Ich hielt seinem Blick stand und tat nichts, um meine Gedanken zu verbergen.

Wo zum Teufel waren Sie, als Juba Hurst Ihre Tochter von der Straße gezerrt und seinen Samen in sie gespritzt hat? Was haben Sie in all den Jahren deswegen unternommen? Wieso sind Sie jetzt so scheißüberrascht, dass sie losgegangen ist, um den Kerl zu erschießen, der ihr das angetan hat?

»Ich frag nur, warum Sie so sicher sind, dass sie wirklich nach Kara Island gefahren ist, Sir.«

Chilman winkte ab und schob mir das Blatt Papier hin. »Du bist nicht der Einzige, den ich heut Abend angerufen hab. Ich hab mit Officer Mibo auf Kara telefoniert.«

»Was hat Officer Mibo gesagt?« Ich sah den hochgewachsenen Officer vor mir, spindeldürr und mit einer schüchternen, angenehmen Stimme. Noch nie hatte ich gehört, dass Mibo eine Festnahme vorgenommen hätte. Wie Chilman es ausdrückte: Auf Kara Island läuft das nicht so. Dort wurde bestraft und belohnt, wie die Inselbewohner es für richtig hielten, und alle Gesetze Camahos konnten nichts daran ändern. Mibo sollte den Marihuanahandel zwischen Vincen Island und Kara Island kontrollieren. Was bedeutete, so lange tatenlos zuzusehen, bis welche von den einheimischen Jungs zu ehrgeizig wurden und sich in die Gewässer der französischen Inseln Martinique und Guadeloupe vorwagten. Wurden sie erwischt, bat Mibo Chilman um Hilfe und Rat, wie er unsere »Bürger« retten sollte. Chilman überließ mir dann den Papierkram.

»Mibo hat bestätigt, dass Juba Hurst auf einem der zwischen den Inseln verkehrenden Frachter namens Retribution arbeitet.« Er gab ein rasselndes Lachen von sich. »Vergeltung, meine Fresse. Das Schiff kommt immer sonntags und donnerstags von Vincen Island rüber und geht zwischen acht und neun Uhr morgens vor Anker, je nach Gezeitenstand.«

»Haben Sie Mibo gesagt, worum es geht?«

»Wozu?«

Ich malte mir aus, wie Officer Mibo den Versuch unternahm, Miss Stanislaus von irgendetwas abzuhalten, und verstand Chilmans Sarkasmus.

Er tippte auf das Blatt. »Nach dem zu schließen, was die kleine Daphne mir nicht gesagt hat, vermute ich, dass sie die letzte Fähre heute Abend genommen hat. Die Osprey.«

»Die Osprey legt um halb zehn wieder von Kara Island ab, danach gibt es keine Fähre mehr«, sagte ich. »Was bedeutet, dass sie über Nacht dort bleibt. Was ist mit Daphne?«

»Daphne sagt, dass sie zurechtkommt. Is alles, was sie gesagt hat.« Chilmans Daumen rieb schneller um die Kuppe seines Zeigefingers. »Digson, ich verwett das ganze Geld, das ich nich hab, darauf, dass Kathleen morgen früh beim Anleger auf dieses Schiff wartet. Ist mir scheißegal, wie gut ihr zwei euch versteht, und noch egaler, dass sie meine Tochter is. Wie gesagt, wenn sie den Kerl erschießt, ist das eindeutig Mord, mit genug Zeugen am Hafen, um zehn Gerichtssäle zu füllen. Ich befehl dir, sie festzunehmen und hierher zurückzubringen. Dann sehn die Leute wenigstens, dass wir was unternommen ham.«

»Und dann?«, fragte ich.

»Was denkst du?«

»Ich denk gerade nicht, Sir, ich bitt Sie um Antworten.«

Er trommelte wieder auf das Blatt. »Du hast ’n Auftrag. Die schnellste Möglichkeit dorthin ist mit diesem kleinen Moskito, das sich Flugzeug nennt. Problem ist nur, es startet um sieben Uhr fünfundvierzig, und der Flug dauert fünfundzwanzig Minuten. Das heißt, du kommst …«

»Um zehn nach acht an«, sagte ich und sah ihm in die Augen. »Vom Flugplatz bis zum Anleger sind es etwa anderthalb Kilometer. Könnte zu spät sein.«

DS Chilman wirkte den Tränen nah. Der alte Mann stand auf und öffnete Malans Schreibtischschublade. Er zog ein Paar Kunststoff-Handfesseln heraus, die er mir zuwarf. Sie trafen mich gegen die Brust und fielen zu Boden. »Bring sie damit zurück, wenn’s sein muss.« Die Aktion schien ihn erschöpft zu haben. Er setzte sich kurz, hievte sich dann vom Stuhl und schlurfte zum Ausgang. »Tut mir leid, dass ich dir den Abend verdorben hab, junger Mann. Aber wie ich es seh, bist du der Einzige auf dieser verdammten Insel, der ungestraft Hand an meine Tochter legen kann. Deshalb muss ich dich schicken. Geh und schlaf noch ’n bisschen.«

Auf meiner Uhr war es 3.52. »Ich fahr von hier aus los«, sagte ich. »Die Nacht ist fast rum.«

»Und deine Waffe?«

»Ich nehm die Glock aus dem Lager.«

Grummelnd klapperte er mit seinen Schlüsseln.

Ich stand von ihm abgewandt und hörte, wie er den Türgriff drückte. »Ruf mich an«, sagte er. Es klang drohend.

Chilman schloss die Tür so leise hinter sich, dass ich kaum das Einrasten des Schlosses wahrnahm.

Ich wartete, bis der alte Datsun ratternd ansprang, und sah ihm nach, als er vom Innenhof auf die Straße rumpelte, laut genug, um die Toten des ganzen Bezirks zu wecken.

Dann hob ich die Handfesseln auf, steckte sie ein und ging zu Miss Stanislaus’ Schreibtisch. Ich durchsuchte jede Schublade. Wahrscheinlich hatte Chilman das selbst schon getan, aber ich glaubte, seine Tochter besser zu kennen.

Ein ungeöffnetes Päckchen Taschentücher, eine noch originalverpackte Nagelfeile, zwei ordentliche Häufchen aus bunten Gummis und Büroklammern, fünf nadelscharf gespitzte Bleistifte. Ein Hauch ihres Parfüms.

Während meiner Zusammenarbeit mit Miss Stanislaus hatte ich etwas Wichtiges von ihr gelernt: Menschen wurden zu extremen Handlungen getrieben, weil sie unbedingt etwas beschützen oder vernichten wollten. Diese höfliche Frau mit der sanften Stimme und einer Vorliebe für knallige Handtaschen und hübsche Kleider und Hüte würde da keine Ausnahme bilden.

Ich ging hinüber zu dem kleinen, an Malans Büro angrenzenden Lagerraum und stieg über die schwarze Metallkiste hinweg, in der wir das M24-Scharfschützengewehr der Abteilung zusammen mit ein paar F2000-Kurzgewehren aufbewahrten. Vom obersten Regalbord nahm ich die sieben Schachteln herunter, die unter anderem die Patronen für Miss Stanislaus’ Ruger LCR enthielten. Ich händigte immer die Munition an die Kollegen aus wie ein Arzt Opiate an Patienten und dokumentierte stets alles genau.

Der Inhalt der fünf Schachteln mit .38 Special+P-Kugeln stimmte, aber an den Speer-Gold-Dot-Hohlspitzgeschossen hatte sich jemand zu schaffen gemacht. Vier Kugeln fehlten, dazu zwei Mondclip-Schnelllader.

Ich dachte daran, wie ich Miss Stanislaus den Unterschied zwischen einem Vollmantel- und einem Hohlspitzgeschoss erklärt hatte und weshalb Malan die Hohlspitz nie hätte bestellen dürfen. »Eine normale Kugel durchbohrt einen«, sagte ich. »Eine Hohlspitz dagegen macht Porridge aus den inneren Organen.«

Nachdem ich zwanzig Minuten lang sämtliche Schachteln und Kisten auf dem Regal herumgeschoben hatte, musste ich außerdem einsehen, dass die Glock fehlte.

Ich nahm zwei Ladungen Standardgeschosse für Miss Stanislaus’ Ruger heraus und befüllte zwei Schnelllader, sortierte alles wieder ein und ging zurück an meinen Schreibtisch. Die Wanduhr zeigte 4.57 Uhr an.

Meine Gedanken richteten sich auf Daphne. Es wunderte mich nicht, dass Chilman kein Wort aus ihr herausbekommen hatte. Die kleine Miss Daphne Stanislaus würde für ihre Mutter ebenso bereitwillig töten wie sterben. Wenn Miss Stanislaus irgendwohin fuhr oder bis spätabends arbeitete, ließ sie ihre Tochter bei Iona, einer ihrer Feuerbaptisten-Freundinnen. Ich fragte mich, warum nicht diesmal. So oder so war ich sicher, dass Daphne zu dieser frühen Morgenstunde wach sein und mit dem Telefon in der Hand auf Nachricht von ihrer Mutter warten würde.

Daphne log nie, auch das hatte sie von Miss Stanislaus. Ich schrieb ihr eine Nachricht.

Digger hier, Daph. Wo ist Mam?

Keine Antwort.

Bist du da?

Mein Handy vibrierte. Yep.

Willst du reden?

Nee.

Hat sie dir gesagt, wohin sie will?

Yep.

Kara Island?

Keine Antwort.

Hat sie gesagt, warum sie weggeht?

Nein.

Kannst du damit umgehn?

?

Mit der Waffe.

?

Pistole. Schwarz, klein. 43 Austria 9x19 links eingraviert.

Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete.

Yep.

Sicher?

Ja.

Bist du morgen bei Iona?

Ja.

Niemand darf wissen, dass du die Waffe hast. NIEMAND. OK?

Ok.

Pass auf dich auf.

Du auch.

Ich steckte mein Handy ein und merkte, dass Kopfschmerzen im Anzug waren.

6

Um 7.15 Uhr verließ ich das Büro. Ich würde knapp zwanzig Minuten bis zum Flughafen brauchen, also etwa zehn Minuten vor dem Start dort eintreffen. Mittlerweile wälzte sich der morgendliche Pendlerverkehr durch San Andrews. Ich nahm die West Coast Road nach Salt Point. Der Atlantik rechts war fast schwarz vor drohendem Regen, der prompt losprasselte, als ich den Flughafen erreichte. Durch den Maschendrahtzaun sah ich schon die fünfsitzige Cessna am anderen Ende der Runway stehen.

Ich parkte auf dem kleinen, für die Polizei reservierten Parkplatz und zeigte einem der Jungs von der Einwanderungsbehörde, der aussah, als würde er im Stehen schlafen, meinen Ausweis.

Er verdrehte die Augen in Richtung der Cessna. »Wetter is nich gut, Digger. Pass auf, dass du nich rausfällst.«

Fliegen machte mir eigentlich nichts aus, solange es nicht in einer Blechbüchse mit zwei Propellern war, die mich an diese batteriebetriebenen Mini-Ventilatoren für überhitzte Touristen erinnerten. Die amerikanischen Eigentümer bezeichneten die Kiste als Insel-Shuttle. Die Kara-Insulaner, die die Dinge gern beim Namen nannten und unempfänglich für den Marketing-Hype waren, als fliegende Schildkröte.

Bebend und wackelnd flog die Cessna nordwärts. Ich saß direkt hinter dem Piloten, meine Nase nur ein paar Zentimeter von seinem Ohr entfernt, den Sitzgurt fest um den Bauch gezurrt, meine Schultern so verspannt, dass sie wehtaten. Hundert Meter unter uns hatte sich das Meer im peitschenden Regen weiß gefärbt.

Zwanzig Minuten später tauchte Kara Island vor uns auf, inmitten einer Wasserfläche, die im Anflug pockennarbig wirkte von den vielen gischttriefenden Felsinseln namens »The Family«.

In der Schule hatten wir gelernt, dass das hier das gefährlichste Gewässer der Welt war, vergesst die Biskaya oder die Irmingersee.

Schon an normalen Tagen erreichte die Windgeschwindigkeit um Kara oft 150 km/h. Brandungsrückströmungen verliefen wie Flüsse unter der Oberfläche, hervorgerufen von dösenden submarinen Zwillingsvulkanen, die Kick ’em Jenny und Kick ’em Jack hießen. Und um die Gefahren dort unten noch ein wenig tückischer zu machen, lag eine große, schräge Granitplatte mit dem Spitznamen Devil Tooth in geringer Tiefe in der kochenden See. Hin und wieder schaffte der Teufelszahn es in die Nachrichten, indem er den Rumpf eines unbedachten Boots aufschlitzte. Überlebende wurden nie gefunden.

Irgendwer hatte sich mal ein Wort für all das Getose unter uns ausgedacht: Blackwater.

Angetrieben von den Sturmböen, schoss das Fluginsekt, in dem ich saß, in eine andere Klimazone hinein: kahle Sandsteinhügel, mehr Gras als Bäume, alles knochentrocken. Es kämpfte mit den Aufwinden, als es wackelig auf den schmalen, weniger als fünfzig Meter vom Meer entfernten Asphaltstreifen zuhielt.

Von hier oben wirkte Garveyhale, die einzige, kleine Stadt, wie ein Muschelhaufen, an dem der Ozean nagte. Aus der Mitte ragte die lange, hölzerne Landungsbrücke wie ein fossiler Rüssel hervor. Es wimmelte von Menschen darauf.

Anlass des Tumults war zweifellos der dickbäuchige Schoner, der gerade auf den Anleger zusteuerte und dabei eine schwarze Rauchsäule in den Himmel stieß. Meine Uhr zeigte 8.25 an.

Die Cessna hüpfte eine Minute lang über die Rollbahn und kam dann ruckelnd zum Stehen. Ich hatte meinen Sitzgurt schon gelöst und hockte in den Startlöchern. Sobald der Pilot die Klappe öffnete, murmelte ich ihm ein »Danke, Mann« ins Ohr und zwängte mich hinaus.

Ich rannte über das Flugfeld und beschleunigte mein Tempo auf der schmalen Küstenstraße, die nur eine Reihe welkender Manchinelbäume vom Meer trennte. Es war jetzt schon so heiß, dass der Schweiß mir in Bächen über den Hals lief und mein T-Shirt am Körper klebte. Selbst aus dieser Entfernung drang das Dröhnen der Maschine des großen Stahlschiffs an mein Ohr.

Zwischen den Lücken in den Bäumen erhaschte ich immer wieder Blicke auf den rostigen Schiffsrumpf, der sich schwerfällig an die Landungsbrücke heranschob.

Der Kahn hatte sein Anlegemanöver bereits beendet, als ich keuchend am Hafen ankam. Wie es schien, war ganz Kara Island dort zusammengelaufen. Leute betasteten Säcke und inspizierten verschlossene Container, die von drei Seeleuten, so muskulös, dass ihre Oberkörper im gleißenden Morgenlicht wie aus Wellblech wirkten, mit Ladewinden zu ihnen herabgelassen wurden.

Ich suchte die Menschenmenge von vorn bis hinten ab, dann noch einmal langsamer und in Spirallinien, so wie ich es in meinem Forensiklehrgang in England gelernt hatte. Die Anspannung in meinen Schultern ließ nach. Ich nahm mein Handy heraus, um Chilman darüber zu informieren, dass wir uns geirrt hatten.

Plötzlich bemerkte ich eine Veränderung in der Menge. Das Stimmengewirr um mich herum wurde leiser, so dass ich das Klatschen der Wellen gegen den Schiffsrumpf hören konnte. Ich folgte den Blicken der Leute und sah den Grund: Eine Erscheinung – der größte Mensch, der mir je begegnet war – tauchte von unten aus dem Frachtraum auf. Der Mann stand einen Moment an Deck und blickte mit einem riesigen Fischhaken in der Hand auf uns herab. Tiefliegende Augen in einem breiten, fleischigen Gesicht.

Juba Hurst.

Vor zwei Jahren war ich genau auf diesem Anleger schon einmal mit ihm zusammengetroffen. Ich war nach Kara Island gefahren, um das Rätsel um Miss Stanislaus zu lösen, die, kaum dass Chilman sie dem San Andrews CID aufgenötigt hatte, beschuldigt worden war, einen Priester und Kinderschänder namens Bello umgelegt zu haben.

Als ich jetzt zu Juba hinaufsah, dessen mächtiger Schädel sich drehte wie auf einem Kugellager, fühlte ich mich in jene Nacht mit aufgewühlter See zurückversetzt, an das Ende des Anlegers, wo ich seiner Riesengestalt gegenübergestanden hatte. Er wollte mich nicht vorbeilassen, wollte wissen, was ich dort zu suchen hatte. Mir wurde klar, dass ich einem der Boote im Hafen, das er offenbar bewachte, zu nahe gekommen war. Ein Besatzungsmitglied auf einem anderen dort liegenden Schiff hatte meine vor Angst laute Stimme gehört, den Riesen mit der Waffe vor mir gesehen und die anderen alarmiert. Ich zweifelte nicht daran, dass sie mir das Leben gerettet hatten.

Juba ließ sich Zeit damit, die Gangway herunterzukommen. Die Grünherzholz-Planken vibrierten unter seinen Canvas-Boots, der große Haken in seiner Hand spiegelte, als wäre er aus Glas. Gemeinsam mit der Menge wich ich ein Stück zurück und empfand wieder die gleiche Angst wie damals – Angst vor etwas nicht ganz Menschlichem, einer Kreatur aus der Sagenwelt meiner Großmutter, bevölkert von feuerschleudernden Dämonen und blutschlürfenden Werwölfen, mit denen sie mich als Kind erschreckt hatte.

Und er stank, verbreitete einen ranzigen Geruch nach verfaultem Fisch und altem Dieselöl um sich. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu würgen.

Das war der Mann, dachte ich, der sich an der damals vierzehnjährigen Kathleen Stanislaus vergriffen und sie geschwängert hatte. Kein verdammtes Wunder, dass sie seinen Tod wollte.

Ich entfernte mich noch ein Stück weiter, um Chilman wie versprochen anzurufen.

Da bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine neue Unruhe, eine Art Strudeln in der Menge, als Köpfe und Schultern sich drehten. Ich fuhr herum, und da war sie, die Haare mit einem grauen Kopftuch zurückgebunden, ihr glattes, rundes Gesicht glänzend in der Morgensonne. Das Kinn gereckt, die Lippen vorgeschoben, als wollte sie die Luft küssen, der Hals schweißüberströmt. Sie trug ein weites Männerhemd mit aufgerollten, an den Ellbogen zugeknöpften Manschetten und hatte die rechte Hand an der Öffnung ihrer Handtasche.

Mit gesenktem Kopf kämpfte ich mich durch das Gedränge auf Miss Stanislaus zu. Empörtes Gezische und Gefluche attackierte meine Ohren, während ich mich durchboxte. Ein, zwei Reihen hinter ihr tauchte ich aus dem Gewühl auf und schob mich langsam weiter vor.

Das Gewoge ringsherum zog sich zurück, bis Miss Stanislaus allein vor Juba Hurst stand. Mit der graziösen Bewegung, die ich inzwischen so gut kannte, griff sie in ihre kleine Handtasche. Erst in dem Moment bemerkte Juba sie und stutzte, sein Gesicht gegen das harsche Morgenlicht so beschattet, dass ich seine Züge kaum ausmachen konnte. Ich stand weniger als einen Meter hinter ihr, als sie die Waffe in Anschlag brachte.

Vielleicht zögerte ich, weil ich insgeheim sehen wollte, ob sie tatsächlich einen Mann vor all diesen Leuten kaltblütig erschießen würde. Vielleicht, weil ich diesem Kerl ebenfalls den Tod wünschte. Keine Ahnung!

Ich verfolgte das Heben des Revolverlaufs, das Zielen, die winzige Pause, bevor sie den Zeigefinger an den Abzugsbügel schob, die Anspannung der Sehnen unter ihrer Haut – dann ließ ich meine Hand vorschnellen und schlug ihren Arm nach oben. Ein Schuss knallte. Erschrockenes Japsen und Kreischen um uns herum, gefolgt von Füßegetrappel und Massenflucht. Ich riss Miss Stanislaus an mich und entwand ihr die Waffe. Sie schrie frustriert auf und rammte mir den linken Ellbogen in den Magen. Aufkeuchend ließ ich von ihr ab, doch sie versetzte mir noch einen Schulterstoß und grub ihre Absätze in meine Zehen. Ich packte sie und drehte sie zu mir um, hörte mich krächzen: »Miss Stanislaus, was machen Sie denn da, verfluchte Scheiße?«

Ich zählte darauf, sie mit Kraftausdrücken zur Besinnung zu bringen, und es wirkte. Abrupt erstarrte sie, mit offenem Mund und ungläubig aufgerissenen Augen.

Langsam und mit Bedacht öffnete ich die Trommel und kippte die Patronen in meine Hand. Gerade wollte ich den Revolver einstecken, als sie versuchte, ihn wieder an sich zu reißen, den Blick über meine Schulter hinweg gerichtet. Ich wirbelte herum und sah Juba mit seitlich von sich weggehaltenem Stahlhaken auf uns zusteuern. Er war schon fast bei uns, bis ich den Schnellader herausgefischt, ihn in die Waffe geschoben und seinen Kopf anvisiert hatte.

Juba stoppte und wich ein paar Schritte zurück. Ein tiefes Grollen drang aus ihm, als er auf Miss Stanislaus hinabstarrte. Sie erwiderte seinen Blick mit ruhiger, undurchdringlicher Miene, nur ihr Mund zuckte um Worte herum, die ihr nicht über die Lippen kamen. Schnaubend schwang der Mann seinen massigen Körper zu dem betonierten Gehweg herum, der am Strand entlangführte. Mit Augen wachsam wie die einer Katze sah Miss Stanislaus den rollenden Bewegungen seiner Schultern nach, als er davonging.

Vor der nächsten Kurve blieb Juba stehen. Sein mächtiger Kopf schwenkte herum, der silbrige Haken schlug gegen den Baumstamm seines rechten Beins. Ich hörte das Klatschen des Stahls auf seiner Haut. Wieder grollte er irgendwas, ich spitzte die Ohren.

»Was hat er gesagt?«, fragte Miss Stanislaus.

»Das wollen Sie nicht wissen«, antwortete ich, überlegte ich es mir dann aber anders. »Er hat gesagt, wenn er Sie das nächste Mal erwischt, machte er, äh …«

»Was?«

»Macht er Sie zum Krüppel.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Das hat er sowieso schon«, murmelte sie.

Jetzt, da Juba weg war, stieg neues Stimmengewirr um uns herum an. Ich hielt mein Polizeiabzeichen hoch über den Kopf. »Okay, Leute, die Party ist vorbei. Geht nach Hause.«

Eine alte Frau, dunkel und knorrig wie die Rinde eines Meertraubenbaums, baute sich vor mir auf und drohte mir mit erhobenem Zeigefinger. »Warum hassu sie aufgehalten? He? Was weissu schon über die Angelegenheiten von Kara Island, he? Gott hat sie geschickt, um uns von dem Hund zu befrein, und Gott wird deinen Camaho-Arsch dafür züchtigen, dass du sie daran gehindert hast.« Sie spie einen Spuckeregen in meine Richtung und ließ mich stehen.