Die Kraft des Miteinander -  - E-Book

Die Kraft des Miteinander E-Book

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Beschreibung

Damit ein Kind sich gut entwickeln kann, braucht es ein ganzes Dorf, sagt man. Dieses Buch stellt in großer Vielfalt Ansätze vor, mit denen Therapeuten, Pädagogen und Sozialarbeiter das sprichwörtliche Dorf wiederbeleben. Autorinnen und Autoren aus acht Ländern präsentieren erprobte Methoden, mit denen Angehörige, Freunde oder Gemeindemitglieder aktiv Kinder, Jugendliche und Erwachsene beim Erreichen ihrer Ziele unterstützen können: Mehrfamilienarbeit, Neue Autorität, Familienrat, Open Dialogue. Die Settings reichen dabei von Familie, Kita und Schule über Jugendhilfe und Strafvollzug bis zur Psychiatrie. Mit Beiträgen von: Idan Amiel, Eia Asen, Ulrich Baus, Ulrike Behme-Matthiessen, Anouck De Reu, Ben Furman, Christoph Klein, Tal Maimon, Thomas Pletsch, Erzsébet Roth, Jaakko Seikkula, Henner Spierling, Philip Streit, Erik van der Elst, Justine van Lawick, Lorenn Walker, Hanna Weber, Sue Young.

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Systemische Therapie und Beratung

In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.

Tom LevoldHerausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung

Christoph KleinBen Furman (Hrsg.)

Die Kraft des Miteinander

Innovative Methodender Netzwerk- undGemeinschaftsarbeit inFamilien, Therapie, Schuleund Beratung

Mit einem Geleitwort von Gerald Hüther

2021

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Systemische Therapie und Beratung«

hrsg. von Tom Levold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagmotiv: Birdie © Ingo Maurer

Umschlagfoto: © Tom Vack

Redaktion: Veronika Licher

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0368-4 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8291-7 (ePUB)

© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Niederländischen übersetzt von Lotte Hammond

und aus dem Englischen übersetzt von Johannes Hampel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren

und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438 - 0 • Fax +49 6221 6438 - 22

[email protected]

Inhalt

Geleitwort

Einführung

1Wiedergutmachung – Das Tor zu neuer Resonanz im Miteinander

Philip Streit und Hanna Weber

Was ist Wiedergutmachung?

Welche Bedeutung hat Wiedergutmachung?

Was braucht es zur Wiedergutmachung?

Wie läuft ein Wiedergutmachungsprozess ab

Wiedergutmachung stärkt die Selbststeuerung und die Beziehung

Noch einmal zusammengefasst

2Wiedereingliederungs-Versammlungen mit Häftlingen – wie sie Inhaftierten zugutekommen und nahestehenden Menschen helfen

Lorenn Walker und Anouck De Reu

Hintergrund für versöhnende und lösungsfokussierte Wiedereingliederungs-Versammlungen

Wiedereingliederungs-Versammlungen als gemeinschaftsbildende Kraft

Schritte der Wiedereingliederungs-Versammlungen

Verbindungen in das soziale Netzwerk nach Wiedereingliederungs-Versammlungen

Forschungsergebnisse zu Wiedereingliederungs-Versammlungen

Wie Wiedereingliederungs-Versammlungen der psychischen Gesundheit nahestehender Menschen aus dem sozialen Netzwerk helfen

Schlussfolgerungenn

3Der Familienrat und die Wiederherstellung von Familienidentität – Ein Vermächtnis der Maori für kultursensible Praxis und gemeinschaftliche Krisenbewältigung

Erzsébet Roth

Die Koordinatorin eines Familienrats beginnt ihre Arbeit

Die Vorbereitungsphase beginnt mit der Netzwerkarbeitn

Der »unwillige Vater«

Der Familienratstag

Die Informationsphase als Rahmen für die exklusive Familienzeit

Der Familienrat als handlungsmethodisches Paradigma zur Würdigung und Nutzbarmachung von Familien- und Netzwerkbeziehungen

Der Familienrat als Chance, vorhandene Identitätsbilder neu auszurichten

Schlussbetrachtung

4»Bring das Dorf in die Klinik!« – »Neue Autorität« als Hilfe für Eltern

Idan Amiel

Gemeinschaftliches Handeln im Beichtstuhl des Therapeuten

Der kulturelle Wandel von der Religion zur Wissenschaft in der Kindererziehung

Der afrikanische Kompass für WEIRD-Eltern

»Bring das Dorf in die Klinik!« – Vier Schritte der Intervention

Ein Fallbeispiel – Ellens virtuelles Dorf

Schlussbemerkung

5Der Open-Dialogue-Ansatz – Netzwerkorientierung in der Psychiatrie und ihre Bedeutung für eine therapeutische Haltung

Jaakko Seikkula

Jeder sollte angehört und respektiert werden

Wichtig ist die Präsenz im Moment

Durch Resonanz den Diskurs normalisieren

Worte für Emotionen finden und Gefühle aushalten

Am wirksamsten in schwersten Krisen

Verkörperte Erfahrungen in der Beziehung heilen

Vom Blick auf Symptome zur genaueren Betrachtung des Lebens übergehen und Unsicherheit zulassen

Idealtypische Methoden für die Organisation von Dialogen im Netzwerk

Fallbeispiel – Zwei Personen brauchen gleichzeitig Hilfe

Ohne Forschung hätte nichts geschehen können

6TwoSystem Treatment – Ein integratives Schnittstellenprojekt im Bereich Jugendhilfe und Psychiatrie

Ulrich Baus

Ausgangslage

Entstehung des TwoSystem-Treatment-Programms

Die zentralen Erkenntnisse hierbei sind: Stationäre versus ambulante Akutversorgung

Akutversorgung im häuslichen Umfeld

Das »finnische Modell« im Saarland

Die Ausdifferenzierung der Zielgruppe – neue Herausforderungen entstehen

Das TwoSystem-Treatment-Programm

Module im Hilfeprozess

Programmbeendigung

Fallbeispiel – Niemand will Tobias

Schlussbetrachtung

7Kidstime: Resilienzaufbau für Familien mit psychisch belasteten Elternteilen

Klaus Henner Spierling

Pssychisch belastete Eltern: ein wichtiges Thema?

Auswirkungen elterlicher psychischer Erkrankung auf die Kinder

Das Kidstime-Modell

Fallbeispiele

Das Handlungsfeld Schule

Zusammenfassung und Ausblick

8Mehrfamilienarbeit mit Familiennetzwerken

Eia Asen

Die Ausgangslage

Entstehung und Entwicklung der Mehrfamilienarbeit und unterstützender Netzwerktreffen

Konzept Mehrfamilienarbeit

Paradigmenwechsel in der Therapeutenrolle

Mentalisieren und Mehrfamilienarbeitsansätze

Fallbeispiel: Von Zwangskontext zur Selbsthilfe

Ausblick

9Ohne euch geht es nicht! Netzwerkarbeit bei Trennungskonflikten: Eine Notwendigkeit

Justine van Lawick und Erik van der Elst

Einleitung

Über den Einfluss wichtiger Bezugspersonen auf die Konflikte

Das direkte und indirekte Einbeziehen des Netzwerks

Schluss

10 FiSch und Familienstube – Netzwerkaktivierung in Kita und Schule

Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch

Die Ausgangslage: Überforderte Eltern – überforderte Schulen und Kitas

Theoretische Ansätze

Konzepte: FiSch und Familienstube

Voraussetzungen für erfolgreiche Netzwerkarbeit

Problem- und Lösungsbewusstsein – die Lösungstreppe

Netzwerkaktivierung durch FiSch und Familienstube

Netzwerke: Hürden und Grenzen

Ausblick

11 Probleme in Fähigkeiten verwandeln – Lösungsfokussierte Therapie mit Kindern als Gemeinschaftsaufgabe im Ich schaff’s!-Programm

Ben Furman

Das Problem in eine Fähigkeit verwandeln

Beschreibung der Fähigkeit

Auflistung der Vorteile der Fähigkeit

Unterstützer benennen

Imaginärer Unterstützer

Planung der Feier

Umgang mit Rückschlägen

Das Üben der Fähigkeit

Feiern des Erlernens der Fähigkeit

Eine andere Art zu reden

Systemischer Wandel

12 »Neue Autorität« in Schulen – das P. E. N.-Programm

Tal Maimon und Idan Amiel

Vom »Gewaltlosen Widerstand« zur »Neuen Autorität«

(Neue) Autorität und Schulen

Das P. E. N.-Programm für Schulen – Grundprinzipien

Einige grundlegende Werkzeuge aus dem P. E. N.-Programm

Ein Fallbeispiel: Das Klassenzimmer als Gemeinschaft

Abschließende Bemerkungen

13 Der Einsatz von Peer-Unterstützergruppen – eine wirksame Antwort auf Mobbing

Sue Young

Einführung

Gespräch mit dem zu unterstützenden Kind

Treffen mit der Unterstützergruppe

Überprüfung mit dem unterstützten Kind

Überprüfung mit der Unterstützergruppe

Die Wirksamkeit von Unterstützergruppen

Ein Fallbeispiel – Georg

Literatur

Über die Autorinnen und Autoren

Über die Herausgeber

Geleitwort

Auch ein Hirnforscher hat bisweilen mit etwas Glück einmal eine Erleuchtung. Ich hatte zwei nacheinander, vor etwa zwei Jahrzehnten, nachdem ich vorher ebenfalls für etwa zwei Jahrzehnte herauszufinden versuchte, wie unser Gehirn funktioniert, weshalb es manchmal nicht funktioniert und wie es wieder besser funktionsfähig gemacht werden kann.

Meine erste Erleuchtung bestand in der Erkenntnis, dass das Gehirn untrennbar mit dem Rest des Körpers verbunden ist und alles, was im Gehirn geschieht, Auswirkungen auf körperlicher Ebene hat – aber auch umgekehrt. Die zweite ergab sich daraus, dass ich zu verstehen begann, wie sehr jeder Mensch mit seinem Gehirn in ein soziales System eingebunden ist. Die dort gemachten Erfahrungen sind ausschlaggebend dafür, wie und wofür der Mensch sein Gehirn benutzt und wie es sich deshalb strukturiert. Für einen experimentellen Hirnforscher wie mich war das alles andere als banal, hieß es doch, dass es mir fortan nicht mehr möglich sein sollte, irgendetwas im Gehirn zu untersuchen oder gar verändern zu wollen, ohne gleichzeitig zu berücksichtigen, was sich im Körper und in der Beziehung der betreffenden Person zu anderen, eng mit ihr verbundenen Menschen abspielte. Das war zwar das Ende meiner Karriere als experimenteller Hirnforscher, dafür aber ebenso der Aufbruch in eine Welt der wachsenden Einsicht in bisher ungeahnte Zusammenhänge.

Die Entdeckung der schier unbegrenzten nutzungsabhängigen Neuroplastizität war der Schlüssel zum Verständnis der im Gehirn ablaufenden Selbstorganisationsprozesse. Sie machte die Strukturierung neuronaler Netzwerke und Verschaltungsmuster anhand der aus dem eigenen Körper und aus sozialen Interaktionserfahrungen zum Gehirn weitergeleiteten Signalmuster erklärbar. Aus diesem Grund »passt« das Gehirn eines jeden Menschen – auch wenn es für Außenstehende nicht so aussieht – immer optimal zu dessen Körper und seinen Erfordernissen und zu dem sozialen Umfeld, in das sie oder er hineinwächst, und damit auch zu den dort vorgefundenen Erfordernissen. Jede länger anhaltende Veränderung auf körperlicher oder sozialer Ebene führt zu einem Umbau im Sinne einer Nachjustierung der herausgeformten, das Denken, Fühlen und Handeln einer Person bestimmenden Verschaltungsmuster in ihrem Gehirn.

Die mit Abstand stärkste, das Gehirn eines Menschen strukturierende Kraft erwächst aus seinem subjektiven Erleben, aus den gemachten Erfahrungen in der Beziehung zu ihm besonders bedeutsamen und nahestehenden Personen. Sehr häufig kommt es in diesen Beziehungen zu tiefgreifenden Verletzungen, die den gesamten weiteren Lebensweg bestimmen können. Besonders fest im Gehirn verankert werden dabei allerdings nicht die Verletzungen, Übergriffe oder Missbrauchserfahrungen, sondern die jeweiligen Lösungen, die das betreffende Kind, der Jugendliche oder später der Erwachsene zu deren Überwindung oder Bewältigung bereits gefunden hat. Einmal gemachte, ungünstige Erfahrungen können nur durch neue, günstigere Erfahrungen überlagert werden. Und einmal gefundene, in der aktuellen Situation brauchbare, aber langfristig ungünstige Bewältigungsstrategien können erst dann durch neue, günstigere ersetzt werden, wenn die alten Reaktions- und Verhaltensmuster unbrauchbar werden. Warum? Weil sich in dem bisherigen Beziehungssystem, das deren Aneignung und Aufrechterhaltung erforderlich gemacht hatte, eine grundlegende Veränderung vollzogen hat.

Diese Zusammenhänge wurden wohl schon zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte von einfühlsamen und ganzheitlich denkenden Personen erkannt. Aber als biologisches, naturwissenschaftlich erklärbares und mit objektiven Verfahren nachweisbares Geschehen kennen wir sie erst seit wenigen Jahren. In unserer heutigen, vom Bemühen um Objektivität und Wissenschaftlichkeit geprägten therapeutischen und pädagogischen Arbeit ist das ein kaum zu unterschätzender Quantensprung. Ein Paradigmenwechsel, der nicht nur die bisherige Praxis therapeutischer und pädagogischer Bemühungen grundlegend infrage stellt, sondern der nun auch wissenschaftlich und objektiv begründbare Ansätze für die künftige Arbeit von Therapeuten, Pädagogen und Beratern bietet.

Deshalb ist dieses von Christoph Klein und Ben Furman herausgegebene Buch so zeitgemäß, so grundlegend und so hilfreich. Denn was wir jetzt brauchen, sind überzeugende Praxisbeispiele dafür, wie gut es mit dem Ansatz der aktiven Unterstützung durch nahestehende Personen gelingt, tiefgreifende und nachhaltige Veränderungen in den beziehungsgestaltenden Erfahrungen der Menschen innerhalb ihres Lebensumfeldes zu machen. Die zentrale Botschaft dieses Buches lautet, dass für wünschenswerte Veränderungen eben nicht nur die Ebene der das individuelle Verhalten steuernden inneren Einstellungen, Haltungen und Überzeugungen bedeutsam ist, sondern auch die Beteiligung und Mitwirkung der Gemeinschaft, in der das Individuum lebt und eingebunden ist.

Die Herausgeber begreifen das Buch als Appell an alle Experten, Fachkräfte und Helfer, ihre Aufgabe darin zu sehen, solche Räume der Begegnung möglich zu machen. Die Beiträge zeigen auf beeindruckende Weise, wie Heilung, Veränderung und Potenzialentfaltung wieder gelingen und wo wir im Dialog miteinander zu neuer Resonanz finden. Das kann weder durch verbale Überzeugungsarbeit noch durch Verhaltenskonditionierung gelingen, nicht durch das Inaussichtstellen von Belohnungen oder Bestrafungen und auch nicht durch neue Erfahrungen in einem sozialen Umfeld, das mit dem für die jungen Menschen bedeutsamen sozialen Beziehungsgefüge nichts zu tun hat.

Deshalb bin ich sehr froh, dass in diesem Buch so viele Verfahren und Möglichkeiten vorgestellt werden, die alle das gleiche Anliegen verfolgen. Die hier versammelten Ansätze zeigen uns viele Wege zur Stärkung einer Gemeinschaft, deren Zusammenhalt verloren zu gehen droht.

Aber überzeugen Sie sich selbst! Ich wünsche Ihnen viele neue Erkenntnisse und Anregungen, die Sie aus der Lektüre gewinnen und die Sie in der Überzeugung stärken mögen, dass das, was wir uns alle wünschen, offenbar möglich ist – jedenfalls dann, wenn wir es anders umsetzen als bisher.

Dr. Gerald Hüther

Einführung

Liebe Leserin, lieber Leser,

lassen Sie uns an dieser Stelle erklären, was dieses Buch für Sie so lesenswert macht. Autoren und Autorinnen aus acht Ländern erzählen in dreizehn Beiträgen davon, wie in Familien, Therapie, Schule und Beratung, in der Kita, der Jugendhilfe, im Strafvollzug und in der Psychiatrie eine Netzwerke und Gemeinschaft stiftende Arbeit gelingt. Die vielfältige Zusammenarbeit, um die es geht, bezieht Familienmitglieder ebenso ein wie nahestehende Freunde, bedeutsame Gemeindemitglieder oder auch auf ähnliche Weise Betroffene. Das Buch zeigt, auf welche verbindende und Mut machende Weise die Kraft des Miteinander nutzbar wird. Dabei wird auch deutlich, wie diese Verbundenheit letztlich allen hilft.

In vielen Ländern werden die hier vorgestellten Ansätze, Verfahren und Methoden bereits in Kommunen, Schulbehörden, Jugendämtern und Kliniken praktiziert. Alle Autoren und Autorinnen sind Pioniere dieser Arbeitsweisen. Außerdem sind sie Teil eines internationalen Netzwerks, in dem diese innovativen und die Gemeinschaft stärkenden Herangehensweisen ständig weiterentwickelt werden. Ihre Vorgehensweisen sind dabei so altbewährt wie die afrikanische Weisheit, dass es ein ganzes Dorf braucht, damit sich Kinder gut entwickeln. Mit diesem Buch erhalten auch die Eltern Unterstützung. Diese Idee von Gemeinschaft ist indigenen oder auch stärker spirituell geprägten Kulturen schon immer vertraut. Daher finden sich auch in allen Beiträgen die »talking circles« wieder, eine Tradition indigener Kulturen, bei der sich eine Gemeinschaft im Kreis sitzend versammelt, um einander zuzuhören und zu besprechen, welche nächsten Schritte unternommen werden – sei es zur Unterstützung, zur Versöhnung oder zur Wiedergutmachung.

Wir sehen im Bereich der Sozialarbeit, der Schule und der Psychotherapie einen Trend innovativer Ansätze im Umgang mit den psychosozialen Herausforderungen unserer Zeit. Die neue Herangehensweise zeigt sich darin, dass Fachleute weniger davon überzeugt sind, alleine das Mittel oder die Lösung für das Problem eines Einzelnen, einer Familie oder einer Schulklasse zu kennen oder zu finden. Stattdessen machen sie sich alle miteinander auf die Suche nach Zusammenhängen und Möglichkeiten, etwas zu verändern. Dieses Buch ist eine vielstimmige Sammlung von solchen das »Dorf« einbeziehenden Ansätzen und Methoden im Umgang mit Problemlagen unterschiedlichster Art. Gesprächsrunden, Versammlungen und Netzwerktreffen schaffen Kontexte, in denen alle in Bewegung kommen, um gemeinsam Entwicklung zu ermöglichen. Hier erleben alle, dass sie wichtig sind, und nicht selten gilt: »Ohne euch geht es nicht!«

Als Fachleute haben wir gute Gründe, unseren Klienten diese Herangehensweise nicht nur zuzumuten, sondern auch zuzutrauen, statt sie im Glauben zu lassen, sie könnten uns die Verantwortung für ihre Entwicklung übergeben. Rat suchende Menschen trauen sich selbst oft weniger zu und glauben gleichzeitig, ein Experte wisse, was ihnen hilft. Aber das wissen wir nicht. Nicht zuletzt ist dieses Buch auch uns Fachkräften gewidmet, damit wir mutiger werden und uns üben, mehr im Dialog miteinander zu sein. Auch wir brauchen einander.

Das Buch passt in unsere Zeit. Als Gegenbewegung zur Individualisierung von Lebensentwürfen beobachten wir, dass der soziale Zusammenhalt und sein unersetzbarer Beitrag für psychische Gesundheit in unseren Hilfesystemen wieder mehr Beachtung findet. Sie werden lesen, auf welche Weise Kommunen, Klinikverwaltungen und gesetzgebende Parlamente dafür strukturell die Voraussetzungen geschaffen haben. Während der Arbeit an diesem Buch erleben wir weltweit die Auswirkungen des COVID-19-Virus. Quarantänemaßnahmen, Versammlungsverbote und Kontaktbeschränkungen sind für diejenigen besonders leidvoll, denen dadurch soziale Begegnungen abhandenkommen. In den Ländern mit den härtesten Ausgangsbeschränkungen traten abends Menschen auf ihre Balkone, Nachbarn musizierten zusammen oder applaudierten als Dank für das, was andere für die Gemeinschaft leisteten. Dieses Buch handelt von der existenziellen Erfahrung für uns Menschen, Teil einer Gemeinschaft zu sein.

Es ist ein systemisches Buch und im selben Jahr geschrieben, in dem nun auch in Deutschland die Systemische Therapie und ihr Menschenbild zur Grundlage einer Heilbehandlung anerkannt wurden. In den Leitlinien heißt es sinngemäß: Systemische Therapie fokussiert den sozialen Kontext und gibt zwischenmenschlichen Beziehungen eine besondere Relevanz. Die aktuelle Wirksamkeitsforschung der allgemeinen Psychotherapie bestätigt sie darin. Auch deshalb ist jetzt die Zeit gekommen, den Ansätzen und Methoden Aufmerksamkeit zu verschaffen, die wie Leuchttürme Orientierung dafür sind, die Türen des kleinen Beratungs-, Therapie- oder Klassenzimmers zu öffnen, um wirksamere Lösungen in der ganz eigenen soziokulturellen Lebenswelt unserer Klienten zu finden und zu zeigen, wie das ganze »Dorf« in Bewegung kommt.

Die Kraft des Miteinander ist ein Praxisbuch. Zur Veranschaulichung ihrer Vorgehensweise stellen alle Autoren und Autorinnen ihre Praxis anhand eines Fallbeispiels vor. Sie zeigen, wie sie es angehen, dass ein Wir-Gefühl entsteht und unter ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen zusammengearbeitet werden kann. Sie erzählen, wie ihre Ideen entstanden sind, wofür sich ihre Vorgehensweise eignet und was ihnen dadurch gelingt – häufig auch im Unterschied zu konventionellen Ansätzen und Methoden. Außerdem beziehen sich die Autoren in ihren Beiträgen aufeinander, um dem Buch selbst den Charakter eines Netzwerkes zu geben.

So ein Netzwerk braucht viele Knotenpunkte, Verbindungen und einen Rahmen, der Halt gibt. Dafür danken wir dem Berliner Zentrum für Präsenz und Kompetenz in Beziehungen (PUK) der Pfefferwerk Stadtkultur gGmbH. Nun hoffen wir, dass wir Sie zur Lektüre inspirieren konnten, und freuen uns auf den Dialog mit Ihnen, um voneinander lernen zu können.

Christoph Klein und Ben FurmanBerlin und Helsinki, im Januar 2021

1Wiedergutmachung – Das Tor zu neuer Resonanz im Miteinander

Philip Streit und Hanna Weber

Wolfgang ist 24 Jahre alt, hat eine Behinderung und lebt in einer Einrichtung der Lebenshilfe. Auffällig ist, dass er sich wunderbar Dinge merken kann. Er prägt sich zum Beispiel eine ganze Einkaufsliste ein und bringt alle Artikel aus dem Supermarkt mit. Es fällt ihm jedoch sehr schwer, seine Impulse zu kontrollieren bzw. Regeln einzuhalten. Daneben hat Wolfgang noch einige spezielle Seiten, z. B., dass er sich nackt auszieht und auf die Hauptstraße stellt, wenn ihm etwas nicht passt. Oder dass man sich nicht sicher sein kann, ob er jemanden die Treppe hinunterschubst, wenn es nicht nach seinem Willen geht. Einmal wurde Wolfgang in eine neue Wohneinheit versetzt und begann dort lauthals die Betreuerin zu beschimpfen und zu attackieren: »Diese blöde Kuh mag ich nicht! Mit der will ich nicht arbeiten. Tut sie weg!«

Dies treibt Betreuer und Betreuerinnen immer wieder an den Rand der Verzweiflung. Es fällt ihnen oft schwer, die guten Seiten von Wolfgang zu sehen. Wolfgang hat aber noch eine andere Eigenschaft. Er entschuldigt sich immer wortreich, auch bei mir: »Dr. Streit, ich tu es nie wieder. Ich werde das nie wieder machen!«

Doch eines Tages sagte die Leiterin der Lebenshilfe zu ihm: »Lieber Wolfgang, jetzt ist es aber genug. Wir verlangen mehr von dir. Überleg dir, wie du den Schaden, den du bei den einzelnen Personen, aber auch bei uns als Verein angerichtet hast, wiedergutmachen kannst!« Wolfgang scheint das nicht zu verstehen, aber sein Herz tut es. Unterstützt durch eine Betreuerin macht er sich daran, für das nächste große Teamtreffen kunstvoll Brötchen in der Küche anzurichten. Er serviert diese am Beginn der Sitzung. Es sieht wunderbar aus. Bevor irgendwelche Worte des Dankes gesprochen werden können, will Wolfgang sich davonschleichen. Die Leiterin hält ihn jedoch auf, spricht Dankesworte und würdigt die außergewöhnliche Leistung, die Wolfgang vollbracht hat. Wolfgang blüht richtiggehend auf. Er ist stolz, wieder in der Gemeinschaft integriert zu sein und seine guten Seiten gezeigt zu haben.

Dieses Beispiel zeigt deutlich die Idee der Wiedergutmachung, die eine der unverzichtbaren Eckpfeiler der »Non Violent Resistance«-Ansätze ist und im Deutschen unter der Bezeichnung »Neue Autorität« und »Gewaltloser Widerstand« bekannt wurde.

In ihrem Beitrag für dieses Buch erzählen Tal Maimon und Idan Amiel, wie sie Lehrern und Lehrerinnen die Haltung der »Neuen Autorität« vermitteln, die es braucht, um Kinder beim Wiedergutmachungsprozess zu unterstützen (siehe S. 203). Dafür entwickelten sie das P. E. N.-Programm, das Lehrer die Grundhaltung des gewaltlosen Widerstands lehrt, um sie zur Handlungsfähigkeit zu ermächtigen. Die Abkürzung P. E. N. steht für die drei wichtigsten Dimensionen der »Neuen Autorität«:

1. Präsenz betont die Wichtigkeit der Anwesenheit und Zugewandtheit der Lehrer im Leben der Schüler.

2. Ermächtigung hilft Lehrern und Lehrerinnen, mit schwierigen Situationen im Klassenzimmer und mit auffälligen Schülern umzugehen. In dem Maße wie man den Handlungsspielraum der Fachkräfte erweitert, verbessert sich auch das Verhalten der Kinder.

3. Der letzte Buchstabe steht für Netzwerk-Unterstützung oder, wie wir es in diesem Buch nennen, den Unterstützerkreis. Wenn in schwierigen Situationen ein handlungsunterstützendes Netzwerk zur Verfügung steht, bestärkt das die Lehrer ebenfalls.

Mit Programmen wie diesen können Fachkräfte lernen, gewaltlosen Widerstand gegen Fehlverhalten zu leisten.

Das Schöne an gewaltlosem Widerstand? Er lässt das Kind nicht als besiegt zurück. Ganz im Gegenteil: Der Widerstand fördert beim Kind sogar die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und die Fertigkeit, konstruktive Lösungen zu suchen. Zahllose Beispiele belegen dies. Daher wird in der »Neuen Autorität« (Omer u. Streit 2016) immer wieder betont, dass es Widerstand, Ausgleich und Versöhnung anstatt Strafe braucht. Strafe mag manchmal in eng abgegrenzten Situationen sinnvoll sein, aber im Wesentlichen lässt die Strafe den Übeltäter als Besiegten und Entwürdigten zurück. Strafe bewirkt lediglich, dass man sich Verhaltensweisen aneignet, die nur dazu da sind, die Strafe zu vermeiden. Ähnlich verhält es sich mit Belohnung.

Wie das obige Beispiel sehr schön zeigt, ist eine so dahingesagte Entschuldigung nur eines der Mittel, um einer wirklichen Auseinandersetzung zu entgehen. Die Wiedergutmachung hingegen geht einen Schritt weiter. Sie ist das Bindeglied zwischen Widerstandsaktionen, Kooperation und Deeskalation.

Was ist Wiedergutmachung?

Die zentrale Idee der Wiedergutmachung ist, dass, wenn durch das Verhalten einer Person einer Institution oder einer Gemeinschaft ein Leid zugefügt wird, dieses nicht durch erniedrigende Akte, sondern durch Akte der sozialen Interaktion wiedergutgemacht werden kann. Das Leiden wird also entschädigt, sei es durch die Abmilderung des Leidens selbst oder durch die Leistung eines Ausgleichs. Im Gegensatz zur Strafe wird über Akte der Wiedergutmachung der konstruktive Dialog weitergeführt.

Welche Bedeutung hat Wiedergutmachung?

Eine Wiedergutmachung kann nicht nur den durch Kränkung, Verletzung, Sachbeschädigung oder Beleidigung angerichteten Schaden beheben, sondern auch das Ansehen des Kindes in der Familie oder Klasse wiederherstellen. In der Regel wird sie durch die Erziehungspersonen oder andere Unterstützer angeregt, wobei das Kind auch selbst die Idee dazu haben kann.

Die Grundcharakteristika der Wiedergutmachung sind im Folgenden beschrieben:

•Bei einem Fehlverhalten des Kindes, wie z. B. den Eltern Geld stehlen, die Schwester schlagen oder jemanden im Internet mobben, wird damit nicht nur das unmittelbare »Opfer« geschädigt, sondern auch die gesamte Gemeinschaft. Damit ist hier die Familie, die Klasse usw. gemeint.

•Wiedergutmachung ist ein Akt der sozialen Reintegration und des Aufeinanderzugehens.

•Wiedergutmachung führt Menschen zusammen. Sie lässt niemanden vor der Tür stehen.

•Wiedergutmachung ist keine Strafe! Sie stärkt das Kind, anstatt es zu demütigen. Die Toiletten zu putzen kann daher kaum eine Form der Wiedergutmachung sein, da eine solche Aufgabe den Keim einer Demütigung in sich trägt.

Was braucht es zur Wiedergutmachung?

Wiedergutmachung ist ein Prozess der Reintegration in die Gemeinschaft, an dem Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Betreuerinnen und Betreuer und das Kind oder der Jugendliche beteiligt sind. Folgende Grundvoraussetzungen gibt es:

1. Es braucht eine wertschätzende Haltung zu dem Kind. Das bedeutet, das Kind so zu akzeptieren, wie es ist, seine Stärken zu erkennen und zu sehen, anstatt es durch die Linse des Versagens oder des Fehlverhaltens zu betrachten.

2. Es braucht Erwachsene, die sich gegenseitig achten, unterstützen und bereit sind, sich zu vernetzen.

3. Es braucht die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Deeskalation. Diese entsteht nicht automatisch, kann aber gemeinsam erlernt werden. Letztendlich braucht es auch Souveränität, um diese Wiedergutmachung durchführen zu lassen.

Folgendes Beispiel zeigt, wie Wiedergutmachung ins Spiel gebracht werden kann.

ELTERN Anton, du hast etwas von deiner Cousine gestohlen. Wir stehen zu dir, aber hier hast du Unrecht getan – und das nicht nur ihr gegenüber. Die Stimmung der Familie ist ebenfalls getrübt. Da nun Schaden entstanden ist, muss es auch eine Entschädigung geben.

ANTON Aber ich habe mich doch entschuldigt! Mehr könnt ihr nicht verlangen.

ELTERN Durch dein Verhalten ist etwas zu Bruch gegangen. Das muss auf jeden Fall wiedergutgemacht werden.

ANTON Das mag schon sein, aber mir ist das egal. Ich habe mich schon entschuldigt.

ELTERN Okay, aber du sollst wissen, dass wir nicht vergessen, dass noch eine Wiedergutmachung aussteht. Vielleicht wäre es gut, wenn du einen Vorschlag machst. Wir haben Zeit und warten auf deine Ideen.

Nach einem solchen Gespräch können die Eltern einige Tage abwarten. Zu diesem Zeitpunkt kann auch der Unterstützerkreis hinzugezogen werden, den die Eltern aufgebaut haben. Eine Person, zu der das Kind einen guten Draht hat, bringt sich dann in den Prozess ein.

In Antons Fall ist eine solche Person seine Tante.

TANTE Ich habe gehört, was passiert ist. Deine Eltern haben vorgeschlagen, dass du Ideen für eine Wiedergutmachung anbietest, und darüber möchte ich gerne mit dir sprechen.

ANTON Okay, aber ich verstehe das nicht ganz. Was meinen sie mit Wiedergutmachung?

TANTE Überlegen wir doch gemeinsam, was als Wiedergutmachung für dich infrage kommen würde. Ein paar gute Ideen werden wir wohl zusammensammeln können. Der Vorschlag sollte sowohl mit deiner Würde vereinbar sein als auch deine Eltern zufriedenstellen.

ANTON Aber warum? Ich sehe nicht ein, warum ich mir jetzt darüber Gedanken machen muss!

TANTE Wenn du keine Vorschläge machst, werden deine Eltern sich etwas als Wiedergutmachung überlegen. Möglicherweise musst du dafür tief in die Tasche greifen, oder sie kürzen sogar dein Taschengeld. Aber ich bin mir sicher, dass, wenn du ihnen mit meiner Hilfe einen konstruktiven Vorschlag machst, sie ihn bestimmt annehmen werden. Ich werde dann auch versuchen, sie von deiner Idee zu überzeugen. Dann sind sowohl sie als auch ich zufrieden.

ANTON Das klingt gut, aber ich verstehe noch immer nicht, was das Ganze mir bringt.

TANTE Wenn du eine Wiedergutmachung vorschlägst, gehst du damit den ersten Schritt und zeigst, dass dir deine Familie wichtig ist und du dazugehören möchtest. Du verlierst nicht an Ansehen, sondern gewinnst welches.

ANTON Na schön, das ist vielleicht wirklich nicht so schlecht. Aber wie soll ich das jetzt machen?

TANTE Wie gesagt, ich bin gerne bereit, dir zu helfen. Wir können Möglichkeiten suchen, die auch für dich in Ordnung sind. Es geht hier nicht darum, wer der Boss ist! Du sollst einfach nur mit einer Geste deiner Cousine und deiner Familie zeigen, dass es dir nicht egal ist, was passiert ist.

Der Wiedergutmachungsprozess bringt festgefahrene Situationen wieder in Gang. Anstelle des problematischen Verhaltens des Kindes stehen die Lösungsansätze im Vordergrund. Ein Vorteil der Wiedergutmachung ist, dass ein Kind einen solchen Vorschlag akzeptieren kann, eine demütigende Strafe hingegen nicht. Durch die Teilnahme an einer Wiedergutmachung erfährt das Kind bzw. der Jugendliche Würdigung. Es kann darauf stolz sein und sich als selbstwirksam erleben. Dies ist gerade im Kindergarten ein wirksames Instrument.

Durch den gewaltlosen Widerstand und die Wiedergutmachung öffnen sich in problematischen Situationen neue Türen und während der Suche nach einer geeigneten Handlung entsteht Kontinuität. Die Anzahl an Möglichkeiten steigt und dadurch die Wahrscheinlichkeit für eine gute, konstruktive Lösung. Die Wiedergutmachung bezieht sich außerdem nicht nur auf den konkret angerichteten Schaden, sondern auch auf den Schaden, der in den Beziehungen zu anderen Personen entstanden ist. So kann das Kind wieder Verbundenheit und Zugehörigkeit zu seinem Umfeld – sei es die Familie, der Kindergarten oder die Schulklasse – erleben.

Wie läuft ein Wiedergutmachungsprozess ab?

Folgende Punkte sind wichtig:

•Reaktionen verzögern, deeskalieren und Hilfe suchen, organisieren und annehmen.

•Gewaltlosen Widerstand leisten, klare Botschaften vermitteln und bei diesen bleiben.

•Die Idee der Schadenswiedergutmachung ins Spiel bringen und gemeinsam Vorschläge und Ideen zur Wiedergutmachung sammeln.

•Dem Kind/Jugendlichen Zeit lassen.

•Gemeinsam mit dem Kind daran arbeiten, Unterstützer in den Prozess einzubeziehen.

•Die Wiedergutmachung darf das Selbstbewusstsein des Kindes nicht untergraben. Es soll sein Gesicht wahren können.

•Das Kind ermutigen und bei der unmittelbaren Durchführung unterstützen.

Ein Wiedergutmachungsprozess kann eine langwierige Angelegenheit sein, die viel Geduld und Kraft braucht. Nur mit viel Gefühl erkennt und nutzt man den Moment, in dem plötzlich etwas möglich wird, das vorher sehr unwahrscheinlich war.

Der 16-jährige Bastian beleidigt im Geografieunterricht seine Lehrerin: »Von dir, dummer Gans, will ich nicht mehr unterrichtet werden. Du machst den langweiligsten Unterricht überhaupt. Verzieh dich!« Bastian wird von der Schulleitung, seiner Beratungslehrerin und der Geografielehrerin in den Nachdenkraum gebracht. Während der Geografiestunden soll er ab jetzt dort bleiben und nach einer Lösung suchen, wie er sein Verhalten wiedergutmachen kann. Bastian kommt das ganz gelegen. Er erzählt seiner alleinerziehenden Mutter: »Jetzt brauche ich endlich nicht mehr bei dieser faden Tante im Unterricht zu sitzen. Im Nachdenkraum ist es viel besser. Dort machen mir die netten Lehrer konkrete Angebote. Ich bleibe da!«

Die Zeit vergeht und Bastian versäumt mehrere Geografiestunden. Begleitet vom Direktor kommt die Geografielehrerin zu Bastian und kündigt an: »In der übernächsten Geografiestunde findet die Abschlussprüfung für dieses Schuljahr statt. Du wirst sie in der Klasse ablegen. Allerdings darfst du die Klasse nur betreten, wenn du den Vorfall vor ein paar Wochen in Ordnung gebracht hast.« Bastian lächelt und denkt sich nichts dabei.

Plötzlich ist er wie vom Blitz getroffen. Letztens hatte er ein Vorstellungsgespräch für eine Lehre als Automechaniker. Dort hat er vorher sein Praktikum gemacht, was ihm riesigen Spaß bereitete. Um den Job zu bekommen, muss er allerdings ein ordentliches Schulabschlusszeugnis vorweisen, was ohne Geografienote nicht möglich ist. Bastian weiß nicht weiter und versucht es auf seine übliche Art und Weise: Er terrorisiert seine Mutter, ein gutes Wort für ihn einzulegen und ihm nicht seine Zukunft zu verbauen. Er wird sich sicher nicht bei der Lehrerin entschuldigen, das soll gefälligst sie machen.

Die Mutter holt ihren Bruder zu Hilfe. Bastian hat ein gutes Verhältnis zu seinem Onkel, und als sie über die Angelegenheit reden, kommen sie gemeinsam auf eine Idee: Bastian wird sich vor der ganzen Klasse entschuldigen und auch für alle Pizza mitbringen, um den Schaden wiedergutzumachen.

Gemeinsam bereiten sie den Tag der Wiedergutmachung vor. Auch Bastians Mutter hilft und ermutigt ihn, einen Plan für den Tag zu entwerfen. Als der Tag gekommen ist, fährt Bastian zusammen mit seiner Mutter und seinem Onkel in die Schule. Seine Mutter redet Bastian gut zu, doch Bastian verliert den Mut und er will das Weite suchen. Sein Onkel bleibt beharrlich. Er versucht, Bastian zu überzeugen, dass seine Mitschüler ihn als Pizzabringer bejubeln werden. Außerdem ist schon alles vorbereitet. Nach und nach leuchten Bastian die Vorteile ein. Er geht erhobenen Hauptes in die Klasse, spricht seine Entschuldigung aus und verteilt die Pizza. Die Jugendlichen klatschen in die Hände. Bastian ist wieder Teil der Klassengemeinschaft.

Damit wird mehr als deutlich: Wiedergutmachung bringt eine starke und positive Haltung in die Erziehung und schließt den Kreis der Grundelemente gelingender Beziehung.

Wiedergutmachung stärkt die Selbststeuerung und die Beziehung

Wiedergutmachung ist ohne einen sicheren Hafen oder unterstützende Eltern und Lehrer nicht denkbar. Im Weiteren bedeutet dies, dass Eltern beharrlich sein und ihren Kindern einen fixen Anker bieten sollten. Wiedergutmachung ist nicht ohne Deeskalation möglich und ermutigt zur Selbstaktivität. Sie fördert gute Beziehung und ist ein Grundelement zur Entwicklung eigener Selbststeuerung (Bauer 2015).

Wie diese Elemente zusammenspielen, sehen Sie in folgendem Beispiel:

Jonah stört den Englischunterricht wieder und wieder. Aufgrund seiner zahlreichen unverschämten Bemerkungen beschließt die Lehrerin, dass nur noch eins hilft: der Gang zum Direktor. Jonah weigert sich jedoch. Die Lehrerin ist ratlos. Spielt sie sich groß auf und schimpft mit Jonah, macht sie sich nur lächerlich. Sie beschließt, sich an die Unterstützergruppe ihres Kollegiums zu wenden. Dort wird entschieden, dass sie sich mit dem Sportlehrer zusammenschließen soll. Sport ist nämlich Jonahs Lieblingsfach. Gemeinsam laden sie Jonahs Eltern ein und erzählen von den Vorfällen im Englischunterricht. Weil Jonahs Mutter zunächst über die Anwesenheit des Sportlehrers verwirrt ist, erklärt die Englischlehrerin schnell: »Die Beleidigung eines Lehrers ist Sache des gesamten Lehrkörpers.« Das versteht Jonahs Mutter und schon ist ein Wir geschaffen. Sie ist sich jetzt auch sicher, dass sie gemeinsam die problematische Situation im Englischunterricht gut bewältigen können. Außerdem werden die Eltern dadurch in ihrer Ankerfunktion gestärkt. Sie geben zu, dass es auch zu Hause mit Jonah nicht immer leicht ist, was sich mit den Beobachtungen beider Lehrkräfte deckt.

Am nächsten Tag findet das Treffen statt. Jonah ist überrascht, dass der Sportlehrer auch anwesend ist. Deshalb erklärt ihm der Sportlehrer: »Wir haben einen Grundsatz: Wenn ein Lehrer beleidigt wird, ist das die Sache aller. Wir lassen solche Angelegenheiten nicht auf sich beruhen, sondern versuchen gemeinsam, eine Lösung zu finden. Uns geht es auch nicht darum, dich in deiner Würde zu verletzen, jedoch ist das Beleidigen und Stören im Unterricht für uns nicht akzeptabel.« Die Englischlehrerin ergreift das Wort: »Ein guter Ansatz wäre vielleicht ein Entschuldigungsbrief. Wir schlagen vor, dass du einen solchen verfasst.« Jonah ist zunächst unsicher, da ihm das Schreiben nicht leichtfällt, doch als sich die Runde einigt, dass seine Eltern ihn dabei unterstützen, stimmt er zu. Weil durch Jonahs Stören Schaden angerichtet wurde, schlägt der Sportlehrer eine Wiedergutmachung vor: »Wie wäre es, wenn du mir eine Woche lang nach der Schule eine halbe Stunde hilfst, den Turnsaal aufzuräumen? Später kannst du gern auch anspruchsvollere Aufgaben übernehmen. Zum Beispiel könntest du mir die Woche darauf helfen, die Zeit der jüngeren Schüler zu stoppen. Wie klingt das?«

Jonah willigt ein. Dieser Vorschlag verletzt ihn nicht in seiner Würde, und er kann sogar als rechte Hand des Sportlehrers fungieren. Nach Vollendung seiner Wiedergutmachung wird die Lehrerin in der Klasse verkünden, dass Jonah alles wieder in Ordnung gebracht hat.

Tipps für Wiedergutmachungshandlungen

-Das Kind hat die Nachbarin geärgert und bringt ihr als Entschädigung Blumen.

-Das Kind hat in einem Wutanfall Schaden in der Wohnung angerichtet und wäscht nun für einen Monat einmal wöchentlich das Auto der Familie.

-Das Kind hat seinen Bruder geschlagen und übergibt ihm deshalb ein selbstgebasteltes Geschenk.

-Das Kind schreibt einen Entschuldigungsbrief oder hilft dabei, ein Essen für die ganze Familie zu kochen.

-Das Kind unterstützt die Eltern bei der Garten- und Hausarbeit.

-Das Kind spielt mit der kleinen Schwester oder hilft ihr beim Hausaufgabenmachen.

-Das Kind schreibt eine Geschichte oder entwickelt eine künstlerische Darbietung für zu Hause, einen besonderen Anlass oder die Schule.

-Das Kind fertigt eine Zeichnung für die Klasse an oder bringt Kuchen mit in die Schule.

-Das Kind engagiert sich für ein soziales Projekt in der Schule oder in der Familie.

Noch einmal zusammengefasst

Es gibt viele Möglichkeiten zur Wiedergutmachung in der Familie, in der Schule, in Betreuungseinrichtungen oder auch anderswo. Das Wichtigste an der Wiedergutmachung ist, dass es kein demütigender, sondern ein die Verbindung stärkender, beziehungsfördernder, den Selbstwert unterstützender Prozess ist. Wie wir auch in den Beispielen gesehen haben, sind die Kinder oft von sich aus nicht gleich bereit, ihr Verhalten wiedergutzumachen, da ihre Angst, gedemütigt zu werden und als Verlierer dazustehen, groß ist. Daher ist es sinnvoll, diesen Prozess durch die Eltern oder Lehrer anzustoßen, dabei intensiv mit den Kindern zusammenzuarbeiten und sie zu unterstützen. Die Unterstützer sollten geduldig und beharrlich bleiben und nie die Beziehung zu den Kindern aus den Augen verlieren. Die vorgestellten Beispiele haben gezeigt, wie den Kindern die Idee der Wiedergutmachung nähergebracht werden kann. So entwickeln sich Standfestigkeit, Stärke und Souveränität. Wiedergutmachung stärkt außerdem die Haltungen der Positivität, der Zugewandtheit, des Widerstands und der Beharrlichkeit. Sie ist elementar für starkes und positives Handeln zur Unterstützung der Entwicklung von Kindern.

Wenn Kinder den Prozess des Schadensausgleichs oder der Wiedergutmachung nicht gleich akzeptieren wollen, liegt es an den Erwachsenen, eine Wiedergutmachungsmaßnahme festzulegen. Diese sollte logisch sein und vom Netzwerk der Unterstützer befürwortet werden. Wer durch sein Verhalten andere schädigt, schädigt nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Gemeinschaft. Wer Schaden anrichtet, sei es auch nur aus Unachtsamkeit, muss eine Entschädigung leisten. So lernt das Kind in einem konstruktiven Prozess, Lösungen für seine Fehler zu finden, und stärkt seine Fähigkeit zur Resilienz und Kreativität. Das abschließende Beispiel zeigt, dass es dabei ganz entscheidend ist, die Stärken und Leidenschaften des Kindes zu nutzen.

Der 13-jährige Dejan trifft in der Schulpause eine Mitschülerin mit einer Kastanie so hart am Kopf, dass diese einen blauen Fleck bekommt. Die Lehrerinnen sind empört und die Mutter verzweifelt. Dejan ist nicht zum ersten Mal aggressiv. Die Direktorin möchte Dejan vorsorglich für vier Tage suspendieren, dem wird allerdings von der obersten Schulbehörde nicht stattgegeben. Der Werklehrer hat die rettende Idee: Dejan soll eine Wiedergutmachung leisten. Diesmal reicht eine einfache Entschuldigung nicht. Mit diesen ist Dejan nämlich immer ganz schnell. Mithilfe seiner Mutter und der Unterstützung seines Erziehungshelfers und seines Lehrers ist Dejan bereit, den Schaden wiedergutzumachen. Sein Vorschlag: Als geschickter Handwerker und Bastler wird er ab sofort der Mitschülerin, die er mit der Kastanie getroffen hat, im Werkunterricht helfen. Dejan weitet sein Angebot aus und unterstützt bis zum Ende des Schuljahres auch alle anderen Schülerinnen beim Fertigstellen ihrer Projekte. Dejans Aggression hat eine Pause, denn er ist stolz, »endlich mal etwas Vernünftiges zu machen«.

Wiedergutmachung verharmlost nicht das Fehlverhalten, sie fordert sogar einen Ausgleich ein, der die Situation bereinigt und der für die Lösung des Problems notwendig ist. Wiedergutmachung demütigt und erniedrigt nicht. Im Gegenteil: Sie initiiert aus Widerspruch und Konflikt konstruktiven, wertschätzenden Dialog und positives Handeln. Sie ermöglicht aus einem Fehlverhalten heraus Potenzialentfaltung und Aufblühen, sie schafft Beziehung und Resonanz. Es ist kein Honiglecken, sondern harte Arbeit. Aber der Erfolg kann sich sehen lassen.

2Wiedereingliederungs-Versammlungen mit Häftlingen – wie sie Inhaftierten zugutekommen und nahestehenden Menschen helfen1

Lorenn Walker und Anouck De Reu

»Du bist zu nichts zu gebrauchen«, schreit die Mutter ihre Tochter April an, wobei ihr Spucke aus dem Mund fliegt, bevor sie ihre Lippen wütend vorstülpt. April ist 1958 vier Jahre alt; sie wohnt in einem großen Bundesstaat im mittleren Westen Amerikas. Sie steht dem Alter nach irgendwo in der Mitte von elf Kindern. April erinnert sich, dass, bevor sie 12 Jahre alt war, ihre Mutter »mir sagte, ich solle sterben und es hinter mich bringen. Sie sagte, ich hätte unsere Familie zerstört, und ich sei der Grund dafür, dass sie sich von meinem Vater habe scheiden lassen. Alles, was passiert sei, wäre meine Schuld. Ich hätte all die Probleme verursacht«. April wurde herausgegriffen und während ihrer gesamten Kindheit härter bestraft als ihre zehn Geschwister. Sie erinnert sich, dass ihre Mutter sie einmal, als sie krank war, mehrere Tage lang in einem Zimmer einschloss und ihren Geschwistern »verboten wurde, überhaupt bei mir reinzuschauen«.

April war der »Sündenbock« ihrer Mutter für die Konflikte in der Familie, einschließlich ihrer Eheprobleme. Dass Eltern Kinder zum Sündenbock abstempeln, ist in konfliktreichen Familien weitverbreitet und kann der jugendlichen Entwicklung sehr abträglich sein (Vogel a. Bell 1960). Im Jahr 1967 ist April 14 Jahre alt. Sie geht nicht mehr zur Schule und hat nur die achte Klasse abgeschlossen. Inzwischen hat sie ihr Zuhause verlassen und wohnt mit einer Gruppe von Männern zusammen, die in den Zwanzigern sind. Sie leben in der Regel in verlassenen Gebäuden in der Stadt, die nur wegen eines dort befindlichen großen Automontagewerks überlebt. Aprils Vater ist Werksvorarbeiter und geht nun mit einer Rente in den Ruhestand. Viele der Männer, die Aprils »Familie« werden, nachdem sie von zu Hause weggegangen ist, sind Vietnam-Veteranen oder suchen nach Wegen, um der Einberufung zum Militär zu entgehen. Sie lieben April, die gut aussieht, witzig und klug ist. Sie erwidert die Zuneigung der Männer und hat eine Beziehung mit einem von ihnen. Sie behandeln sie wie eine geachtete kleine Schwester.

Die Männer konsumieren regelmäßig Heroin. April bittet sie, es auch nehmen zu dürfen. Sie verweigern ihr das zunächst. Irgendwann zermürbt sie Aprils Hartnäckigkeit. Sie lassen sie Heroin nehmen, und April wird schnell süchtig. Um ihren regelmäßigen Drogenkonsum zu finanzieren, stehlen die Männer Dinge aus Geschäften und Wohnungen. April verkauft Pillen vor allem an Highschool-Kinder. Als sie 17 Jahre alt ist, ist sie mit einem anderen Mann zusammen, den sie aus der Gruppe heraus kennengelernt hat und dessen Familie wohlhabend ist. 1970 nimmt er sie mit in ein Gästehaus auf einer Ranch in Hawaii, die seiner Familie gehört.

Während der nächsten 45 Jahre nimmt April regelmäßig Heroin und lebt oft auf der Straße. Sie hat vier Kinder, die von ihren Vätern, anderen Familienmitgliedern oder in Pflegefamilien aufgezogen werden.

Im Jahr 2020 ist April 67 Jahre alt und hat nur zu einem ihrer Kinder eine Beziehung, zu Francis, 46 Jahre alt. Francis’ Partnerin ist Malia. Francis hat auch einen Sohn namens Kimo, der 25 Jahre alt ist. Kimo, Francis, Malia und April sind alle schon einmal inhaftiert worden. Aktuell sitzt nur Kimo im Gefängnis ein. Die Hawaiischen Freunde der »Restorative Justice«2 (Hawai’i Friends of Restorative Justice, HFRJ) arbeiten seit einem Jahrzehnt mit allen vier Mitgliedern dieser Familie zusammen und helfen ihnen, sich an die Ressourcen der Gemeinschaft anzudocken, um ihr Leben zu verbessern. Die HFRJ trafen die Familie zum ersten Mal im Jahr 2010, als Francis sich für einen Kurs im staatlichen Frauengefängnis von Hawaii einschrieb: »Restorative Justice als lösungsfokussierte Antwort auf Konflikte und Fehlverhalten«.

Damals sagte Francis, sie habe kein Vertrauen in das Justizsystem, sie glaube, dass sie ihr Verhalten niemals ändern werde und dass ihr am besten gedient sei, wenn sie rebellisch und aggressiv sei. Als sie den Kurs der HFRJ besuchte, wurde sie vom Gefängnis als hohes Sicherheitsrisiko betrachtet. Sie tat nichts, um ihre Fortbildung zu fördern oder irgendeine Therapie zu erhalten, obwohl sie wegen Drogenmissbrauchs ins Gefängnis gekommen war. Statt wegen guter Führung wurde Francis von den Justizvollzugsbeamten häufig wegen Verstoßes gegen die Gefängnisregeln »aufgeschrieben«. Francis sagt, als sie vor zehn Jahren in den lösungsfokussierten Kurs ging, habe sie zum ersten Mal davon gehört, dass es nicht wichtig sei, sich auf ihre Fehler zu konzentrieren; dass sie das Potenzial habe, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, und sich jede Art von Leben schaffen könne, die sie sich wünsche. Anstatt sich auf ihre Defizite zu konzentrieren und zu versuchen, diese zu beheben, wurde sie ermuntert, über ihre Stärken und ihre Ziele nachzudenken. Francis überzeugte ihre Partnerin Malia, ebenfalls an dem Kurs teilzunehmen.

Francis und Malia lernen beide, dass ihre Gefühle immer gültig sind und dass niemand, auch nicht sie selbst, ihre Gefühle beurteilen sollte. »Spüre einfach achtsam deinen eigentlichen Gefühlen nach, ohne dich auf irgendetwas festzulegen«, lernen sie. Inakzeptabel sei es nur, auf Gefühle in destruktiver Weise zu reagieren, wie z. B. wütend zu werden und jemanden zu schlagen. Diese Impulse tragen dazu bei, dass Francis zunächst in dem lösungsfokussierten Kurs zu einer leistungsstarken Teilnehmerin wird. Die Mitarbeiter, die mit ihr arbeiten, stellen fest, dass sich ihr Verhalten von »bockig« zu »geduldig« verändert. Innerhalb weniger Jahre wird Francis Mitglied einer speziellen Arbeitsgruppe für das Gefängnispersonal (in einigen Gerichtsbezirken »Vertrauensleute« genannt), ausgestattet mit mehr Privilegien, Pflichten und einer kleinen Vergütung. Sie wird zu einer angesehenen Peer-Ausbilderin und zu einem Vorbild für andere. Es findet eine grundlegende Veränderung statt, die bis ins Jahr 2020 andauert. Francis ist außerhalb des Gefängnisses nicht wieder straffällig geworden und arbeitet nun als stellvertretende Leiterin eines Einzelhandelsgeschäfts. Auch Malia profitierte von dem Kurs, obwohl sie einmal einen Rückfall hatte und kurzzeitig wieder inhaftiert wurde. Zurzeit absolviert sie ein Programm gegen Drogenmissbrauch und ist begeistert von dem Gedanken, bald nach einem Job zu suchen. April arbeitet in Vollzeit in einem gut laufenden Einzelhandelsgeschäft und strebt an, sich am Community College als Studentin einzuschreiben. Sie und Francis pflegen weiterhin ihre Beziehung, wobei beide absolut drogenfrei bleiben und sich wie gesetzestreue Bürgerinnen verhalten.

Die HFRJ trafen Kimo, den Sohn von Francis, als er 17 Jahre alt und gerade inhaftiert worden war. Kimo hatte 2012 eine Wiedereingliederungs-Versammlung, als dieses Verfahren im Jugendgefängnis von Hawaii als Pilotprojekt für Jugendliche initiiert wurde. April hatte diese damals besucht. Kimo ist jetzt 25 Jahre alt und befindet sich in einem Gefängnis für Erwachsene, nachdem er rückfällig geworden und zu Drogen und Kriminalität zurückgekehrt war.

In diesem Beitrag wird erörtert, wie die HFRJ dieser Familie mit drei Generationen von inhaftierten Mitgliedern durch lösungsfokussierte und wiedergutmachende Gemeinschaftsbildung geholfen haben. Der Familie fehlten emotionale und gesellschaftliche Ressourcen, um die sozialen Notlagen, denen sie ausgesetzt war, zu bewältigen. Die Wiedereingliederungs-Versammlungen der HFRJ, bei denen jeder Einzelne als der beste Experte seines eigenen Lebens betrachtet wird, unterstützten die Familie mit Gemeinschaftskontakten und Ressourcen. Für jedes Familienmitglied wurde eine Versammlung organisiert, und bei diesen Treffen besprachen sie, was sie brauchten, um über die erlittenen Verluste hinwegzukommen. Sie überlegten gleichzeitig, wie sie am besten Verantwortung übernehmen und eine positivere Zukunft schaffen könnten. Anstatt sich bei der Planung ihrer Zukunft auf einen Fallmanager3 zu verlassen, boten die Wiedereingliederungs-Versammlungen die Möglichkeit, selber zu bestimmen, was sie wollten und wie sie es erreichen könnten. Die Versammlungen tragen zum Aufbau sozialer Fähigkeiten bei, indem sie Familienmitglieder und andere Menschen aus dem näheren Umfeld in den Prozess einbeziehen. Die Gruppe kommt im Gefängnis zusammen, bevor der Einzelne entlassen wird.4 Die Versammlung verstärkt bzw. erweitert das soziale Netz des Einzelnen und hilft ihm, zu bestimmen, was er in seinem Leben will und wie er es erreichen kann. Meistens wünschen sich die Teilnehmenden ein Leben frei von Drogenmissbrauch und Kriminalität. Sie wollen Wiedergutmachung für früheres Fehlverhalten leisten, positive Beziehungen zu ihnen nahestehenden Menschen und zur Gemeinschaft, sie wollen Arbeit, Unabhängigkeit und Gesundheit.

Der folgende Abschnitt enthält auch Ergebnisse neuerer Forschungen über den Nutzen der Wiedereingliederungs-Versammlungen für nahestehende Menschen aus dem sozialen Netzwerk, die in den Gruppen mitwirken. Heilung wurde für die Zwecke der Forschung definiert als selteneres Immer-wieder-Erinnern schmerzhafter Ereignisse (Vergebung) und mehr Optimismus.

Hintergrund für versöhnende und lösungsfokussierte Wiedereingliederungs-Versammlungen

Die HFRJ sind eine kleine gemeinnützige Organisation (NGO), die Interventionen konzipiert, anbietet und erforscht, um Lösungen für ernste soziale Probleme zu finden. Seit 2003 nutzen die HFRJ lösungsfokussierte (solution-focused, SF)