Die Kunst zu fallen - Sally Engelfried - E-Book

Die Kunst zu fallen E-Book

Sally Engelfried

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Beschreibung

Am liebsten würde Daphne ins nächstbeste Flugzeug steigen und zu ihrer Mutter nach Prag fliegen, die dort gerade einen Film dreht. Stattdessen muss sie die Sommerferien bei ihrem unzuverlässigen Vater verbringen, den sie seit Jahren nicht gesehen hat. Doch die Skate-Sessions mit ihm und ihrem neuen Freund Arlo machen Daphne überraschend viel Spaß. Und als ihr Vater verspricht, ihr den Ollie beizubringen, und sie den Trick wirklich schafft, fasst sie langsam wieder Vertrauen zu ihm. Ob Daphne ihrem Vater die Fehler aus der Vergangenheit verzeihen kann?

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Seitenzahl: 277

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Sally Engelfried

Die Kunst zu fallen

Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara König

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Learning to fall bei Little, Brown and Company, einem Imprint der Hachette Book Group, Inc., New York.

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe: Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

Text © Sally Engelfried, New York 2022

Cover art © der deutschsprachigen Ausgabe: Lukas Michalski, 2023

Cover © der deutschsprachigen Ausgabe: Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2023

in Anlehnung an die Originalausgabe:

Cover art © Chris Danger, 2022

Cover design by Sasha Illingworth / Gabrielle Chang, 2022

Cover © Hachette Book Group, Inc., New York 2022

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Barbara König

Lektorat: Petra Klose

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-96177-029-8

 

www.WooW-Books.de

www.instagram.com/woowbooks_verlag

 

 

 

Für David

Kapitel 1

Wo war er?

ANKUNFT stand auf dem Schild über meinem Kopf, also wusste ich, dass ich am richtigen Ort war. Ich konnte es einfach nicht fassen. Es passierte tatsächlich wieder.

Jedes Mal, wenn jemand in ein Auto einstieg, wurde ich noch angespannter als sowieso schon. Und das mulmige Gefühl in meinem Bauch, das ich schon den ganzen Morgen hatte, wurde immer schlimmer. Hatte Mom wirklich gedacht, wir könnten darauf vertrauen, dass er auftaucht? Ich war schon vor einer halben Stunde gelandet. Ich zog mein Handy aus der hinteren Hosentasche, aber dann fiel mir ein, dass Mom bestimmt noch im Flugzeug auf dem Weg nach Prag saß. Es würde nichts bringen, sie anzurufen.

Zum tausendsten Mal blickte ich die Haltezone auf und ab. Ob ich meine Großeltern anrufen sollte? Mom hatte mir gesagt, ich könnte mich im Notfall immer bei ihnen melden. Am Oakland Airport gestrandet zu sein, war doch wohl ein Notfall, oder? Ich fing an, durch meine Kontakte zu scrollen. Gerade als ich ihre Telefonnummer gefunden hatte, hupte jemand, und ein ramponierter blauer Toyota kam mit quietschenden Reifen genau neben mir zum Stehen. Mit einem breiten Grinsen sprang mein Vater aus dem Auto.

Langsam schob ich mein Handy zurück in die Hosentasche und starrte ihn an. Es war ewig her, dass ich ihn zuletzt gesehen hatte. Er sah genauso aus wie früher, abgesehen davon, dass der ungepflegte Bart fehlte.

»Daphne!«, rief er über das Autodach und winkte wie wild, als würde ich ihn sonst nicht bemerken.

Irgendwie konnte ich mich nicht bewegen.

Er knallte die Autotür zu, rannte zu mir rüber und nahm mich einfach so in die Arme. »Daf!«, murmelte er in mein Haar. »Es ist so schön, dich zu sehen.« Ich stand mit herabhängenden Armen da, während er mich drückte.

Und sagte kein einziges Wort.

Schließlich ließ er mich los, und ich trat einen Schritt zurück, um ein bisschen Abstand von ihm zu bekommen. »Ich kann nicht glauben, dass du schon zwölf Jahre alt bist«, sagte er mit einem Lächeln.

Wollte er damit Eindruck schinden, nur weil er wusste, wie alt ich war? Ich versuchte es mit dem Kalten Fisch. Dazu neigt man den Kopf etwas zur Seite, hebt die Augenbrauen ein wenig an und guckt so ausdruckslos wie möglich. Doch er sah mich mit so weit aufgerissenen, leuchtenden Augen an, als wäre mein Anblick das Beste auf der Welt überhaupt. Das löste etwas in mir aus, was ich schon lange nicht mehr gespürt hatte.

Ich wandte mich ab, betrachtete das Meer von Autos auf dem Parkplatz und blinzelte ein paarmal. Drei Jahre, sagte ich mir. Drei Jahre, und er ist nur hier, weil Mom einen Babysitter braucht.

Ich drehte mich wieder zu ihm hin, als er den Griff meines Rollkoffers nahm. »Lass mich das machen«, sagte er. Er sah auf meine Hände runter und dann in mein Gesicht. »Dein Board hast du nicht dabei, hm?«

»Nö.« Diesmal gelang es mir besser, den Kalten Fisch hinzukriegen. »Ich skate nicht mehr.«

»Oh.« Jetzt leuchteten seine Augen nicht mehr ganz so hell. Dann ließ er sein Grübchen aufblitzen, dasselbe, das sich auch auf meinem Gesicht zeigte, wenn ich lächelte. »Zu Hause habe ich noch ein extra Skateboard, vielleicht hast du ja doch wieder Lust.« Er hievte meinen Koffer hinten ins Auto. »Was meinst du?«

Ich zuckte mit den Schultern, den Blick auf den Boden gerichtet. Mein Vater räusperte sich. »Na, dann steig mal ein. In zwanzig Minuten sind wir zu Hause.«

Im Auto trommelte er mit den Händen auf dem Lenkrad rum, während er darauf wartete, dass die Ampel an der Flughafenausfahrt auf Grün schaltete. »Dann bist du also nicht die Königin des Skateparks? Machst keine Tricks?«

»Nö.« Ausdruckslos und dumpf presste ich das Wort hervor. »Keine Tricks.«

Ich starrte aus dem Fenster, aber er ließ nicht locker. »Oma und Opa freuen sich schon sehr darauf, dich zu sehen.«

»Oh.« An meine Großeltern hatte ich bei dieser Reise gar nicht gedacht, erst als Mom ihre Telefonnummer in mein Handy eingab. Ich sollte sie sofort anrufen, wenn ich meinen Vater auch nur einen Schluck Alkohol trinken sah, »selbst wenn es nur ein Schlückchen Bier ist«, hatte Mom beharrt.

»Morgen Abend gehen wir zu ihnen zum Abendessen.«

»Okay.« Vielleicht war ich nicht gerade begeistert davon, hier bei meinem Vater zu sein, aber es würde bestimmt nett sein, meine Großeltern mal wieder zu sehen. Das letzte Mal war so lange her, dass ich schon gar nicht mehr wusste, wie sie aussahen. Doch jedes Jahr an Weihnachten und zu jedem Geburtstag schickten sie mir eine Karte mit einem druckfrischen Fünfzig-Dollar-Schein. »Nur weil sie dir Geld schicken, bedeutet das nicht, dass du ihnen irgendetwas schuldest«, erinnerte mich Mom gerne, aber das hieß wohl, sie machten sich doch irgendwie etwas aus mir, wenigstens ein bisschen.

»Also, zu Hause ist es etwas chaotisch. Ich bin noch dabei, alles herzurichten.« Mein Vater gab sich Mühe, das Gespräch weiter am Laufen zu halten.

»Alles gut.« Ich spürte, wie er mich ansah, starrte aber weiter aus dem Fenster. Ich hätte nicht gedacht, dass es in Oakland so viel anders sein würde als in Los Angeles. Der Himmel hier hatte eine andere Farbe – weiße Wolkenfetzen ließen das Blau noch blauer aussehen, verglichen mit der grellen Helligkeit von L.A. Wäre Mom jetzt hier, würden wir versuchen herauszufinden, was sonst noch anders war: Standen die Häuser enger zusammen? Waren die Bäume grüner? Aber neben mir saß nur mein Vater, also guckte ich weiter aus dem Fenster und machte mir allein Gedanken darüber, bis er vor einem kleinen Haus mit einer breiten Veranda und abblätternder grüner Farbe hielt.

»Ja«, mühte er sich weiter. »Ich glaube, das wird hier irgendwann richtig schön werden. Deine Großeltern waren so froh, als ich endlich … Na, jedenfalls haben sie mir mit dem Haus geholfen. Ohne sie hätte ich es mir nie leisten können, hier zu wohnen.«

»Nicht schlecht«, murmelte ich. Sie haben ihm ein Haus geschenkt? Wusste er nicht, wie oft Mom unsere Mitbewohner wegen der Miete anbettelte oder dass wir mal vor ein paar Jahren bei ihrer Freundin Sheri zwei Monate auf dem Gästesofa schlafen mussten?

Mein Vater redete weiter. »Es ist sehr renovierungsbedürftig, nichts Besonderes. Mein Freund Gus ist Bauunternehmer und wohnt nebenan. Wir haben eine Abmachung: Ich helfe ihm zuerst bei seinem Haus, und dann hilft er mir bei meinem. Aber als ich vor ein paar Monaten erfahren habe, dass du kommst, haben wir die Reihenfolge umgedreht, damit wir dein Zimmer fertig machen konnten. Und wir haben es geschafft.«

»Vor ein paar Monaten?«, sagte ich und war so überrascht, dass ich vollkommen vergaß, weiter den Kalten Fisch zu geben. »Aber Mom hat die Rolle doch gerade erst bekommen.«

»Stimmt.« Wieder trommelte er mit den Fingern auf dem Lenkrad rum, warf mir einen kurzen Blick zu und guckte dann schnell wieder weg. »Na ja, ich habe einfach gehofft, dass sie sie bekommt.«

»Oh.« Das war seltsam. Seit zwei Jahren führten mein Vater und ich einmal im Monat ein peinliches Telefongespräch, und soweit ich wusste, redeten Mom und er nur in der Minute miteinander, bevor sie mir das Telefon weiterreichte. Wieder hatte ich so ein komisches Gefühl im Bauch, weil ich Mom und unser Zuhause plötzlich total vermisste. Es fühlte sich falsch an, diesen Vater zu besuchen, den ich kaum kannte, in einem Zimmer zu wohnen, das mir gehörte, aber das ich noch nie gesehen hatte, mit Großeltern zu Abend zu essen, an die ich mich kaum erinnern konnte.

Aber es spielte keine Rolle, wie sehr ich Mom oder unsere kleine Wohnung vermisste. Sie war nicht zu Hause, und wir hatten die Wohnung an einen befreundeten Schauspieler untervermietet. Und so wütend ich auch auf sie war, weil sie mich weggeschickt hatte, wusste ich schon, um was es hier ging: Dass sie diese Filmrolle bekommen hatte, war eine große Sache. Es würde unser Leben verändern, hatte sie gesagt.

Und außerdem würde ich bald bei Mom in Prag sein, und dann konnte mir mein Vater egal sein.

Mein Vater sagte nichts mehr, als er die Treppenstufen zur Veranda hochging. Er fummelte mit seinem Schlüsselbund rum und ließ ihn zweimal fallen. Als er endlich die Tür aufgeschlossen hatte, blickte er über die Schulter und lächelte. Ich folgte ihm nach drinnen, als mir etwas klar wurde. Ich war nie irgendwo gewesen, wo mein Vater wohnte. Er hatte mich immer abgeholt. Oder Mom hatte mich zu irgendeinem Treffpunkt gefahren. Das machte diese ganze Situation noch merkwürdiger.

Meine schwarzen Vans hinterließen Spuren auf dem Holzfußboden in dem kleinen Wohnzimmer. Alles wirkte etwas unfertig – es gab ein abgewetztes braunes Sofa und ein Bücherregal, in einer Ecke standen noch Kartons, und an der Wand lehnte ein Stapel Bilderrahmen. Mein Vater lachte ein bisschen verlegen, als er mir die Küche zeigte, die klein und dunkel war, mit einem hässlichen gelblich grünen Herd. »Die renoviere ich auch noch irgendwann. So oft koche ich zwar nicht, aber sogar ich kann sehen, wie scheußlich es hier aussieht.« Als ich nicht antwortete, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Er führte mich den Flur hinunter und zeigte auf eine Tür. »Badezimmer.« Dann auf die nächste Tür. »Mein Zimmer.« Und dann öffnete er am Ende des Flurs eine Tür. »Und hier ist dein Zimmer.«

Mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen.

Es war riesig.

Noch nie hatte ich ein eigenes Zimmer gehabt. Mom und ich zogen oft um. Bis vor Kurzem hatten wir immer ein Haus mit anderen Leuten geteilt; als wir also letztes Jahr in unsere eigene Einzimmerwohnung gezogen waren, war es unglaublich schön gewesen, endlich für uns zu sein. Wir hatten das Zimmer mit einem Vorhang geteilt, damit wir beide einen eigenen Raum hatten. Jetzt, da Mom mit dem Film etwas Geld verdienen würde, überlegten wir, ob wir uns bald was Größeres leisten könnten.

Aber das hier? Dieser große, viereckige Raum voller Licht? Der jetzt mein Zimmer war? Ich stellte mich in die Mitte und drehte mich einmal um die eigene Achse, um jeden Zentimeter dieses Raumes, der mir gehörte, solange ich hier war, auf mich wirken zu lassen. Eine Wand war mit dunkler, kräftiger blauer Farbe gestrichen, der Farbe des Nachthimmels. Die anderen Wände waren von sanftem Weiß, und durch das große quadratische Fenster konnte man den Garten sehen. Auf der einen Seite des Betts stand ein kleiner Tisch, auf der anderen ein niedriges Bücherregal. Ich setzte mich aufs Bett, federte sanft auf und ab und dachte an meine schmale Matratze zu Hause auf dem Fußboden. Meine beste Freundin Samantha fand es cool, dass ich auf dem Fußboden schlief, aber ich beneidete sie um ihr großes Doppelbett mit dem Metallrahmen.

Mein Vater trat hinter mir in den Raum. »Deine Großmutter hat mich davon abgehalten, dir rosa Bettwäsche zu kaufen. Ich kann mich erinnern, dass dir das gefallen hat, aber sie hat gesagt, dass du da inzwischen bestimmt schon rausgewachsen bist.« Ich fuhr mit der Hand über die Bettdecke, über die seidigen lilafarbenen und die samtigen dunkelblauen Streifen. »Dann habe ich überlegt, jede Wand in einer anderen Farbe zu streichen, aber durch das Weiß wirkt der Raum schön hell. Wenn es dir nicht gefällt, können wir die blaue Wand neu streichen. Was meinst du?«

Kalter Fisch, sagte ich mir, sah mich um und spürte, wie mein Vater mich beobachtete. Glaubte er wirklich, ein hübsches Zimmer würde all die Zeit, die wir nicht miteinander verbracht hatten, einfach auslöschen? »Es ist nicht schlecht«, sagte ich ausdruckslos. Ich ging zum Fenster, um ihn nicht ansehen zu müssen. In Wahrheit war ich völlig begeistert von dem Zimmer. Aber nie im Leben hätte ich das zugegeben. Ich tat so, als würde ich mir den Garten ansehen, obwohl es außer Unkraut und ein paar kaputten Gartenmöbeln nichts zu sehen gab.

In der Nähe war ein lautes Schrapp-Knall! Schrapp-Knall! zu hören. Mein Herz fing an, immer schneller zu pochen, bis es im gleichen Takt schlug. »Was ist das?«

Mein Vater stellte sich neben mich. »Das? Oh, das ist die Bowl von Gus.«

»Eine Bowl?«

»Ja, er hat eine Bowl zum Skaten im Garten. Du kannst sie dir nachher ansehen. Ich leihe dir ein Board. Ein paar von uns skaten da jeden Dienstag. Wir nennen es die Silver Bowl Session.« Mein Dad tippte sich an die grauen Schläfen. »Weil wir Skater langsam alt und grau werden.«

Ein Skatepark gleich nebenan? Ich drückte mein Ohr an die kühle Scheibe. Dieser Klang. Irgendwas daran war so befriedigend, so richtig, als würde sich etwas in mir zurechtrücken. Das alte Gefühl stieg in mir hoch, von den Sohlen meiner Vans bis in meinen Kopf. Meine Finger zuckten bei dem Gedanken, sich ein Skateboard zu schnappen und diesen Klang selbst herzustellen.

»Ziemlich cool, oder?« Die Begeisterung meines Vaters erinnerte mich daran, meine eigene zu verbergen.

»Schon«, sagte ich.

Eine Stimme war aus dem Vorgarten zu hören. »Joe, bist du zu Hause?«

»Wer ist das?« Ich wandte mich vom Fenster ab.

»Das ist bestimmt Gus. Will sich wahrscheinlich ein Werkzeug ausleihen. Na komm, ich stell dich ihm vor.«

Er war schon im Flur, aber ich blieb noch kurz stehen. Ich wollte diesen Klang noch einmal hören, aber jetzt war es still.

Ich seufzte leise und ging aus meinem Zimmer, um diesen Gus kennenzulernen.

Kapitel 2

Ein großer Typ in einem Overall voller Farbspritzer stand im Hauseingang und fragte meinen Dad, ob er sich einen Multimeter ausleihen könnte, was auch immer das sein sollte. »Ich habe Rusty versprochen, ihre Stereoanlage im Auto zu reparieren. Oh, hey, Daphne!« Gus hatte hellbraune Haut und dichtes schwarzes Haar, das ihm lockig in die Stirn fiel. Sein Lächeln breitete sich über sein ganzes Gesicht aus, und die Lachfältchen in seinen Augenwinkeln zeigten, dass er ein Mensch war, der oft lächelte. »Ich habe dich nicht mehr gesehen, seit du so groß warst!« Er streckte seine Hand in der Höhe seiner Hüften aus.

Überrascht starrte ich ihn an. Ich konnte mich nicht an ihn erinnern.

»Sieht so aus, als wärst du inzwischen groß geworden.« Er lachte in sich hinein, lehnte sich dann zur Haustür hinaus und rief: »Hey, Arlo. Komm mal kurz rüber!«

Eine Minute später tauchte hinter ihm ein Junge auf. »Arlo, das hier ist Joes Tochter Daphne«, sagte Gus. »Ihr seid beide gleich alt. Ist es nicht cool, dass ihr diesen Sommer beide jemanden habt, mit dem ihr abhängen könnt?«

Im Ernst jetzt? Mom würde nie von mir erwarten, dass ich mich mit dem Kind einer Freundin anfreundete, nur weil wir im selben Alter waren.

»Hey«, sagte Arlo. Er sah genauso aus wie Gus. Er ließ die Schultern auf eine Art hängen, die viele große Jugendliche an sich haben, um kleiner zu wirken. »Im selben Alter zu sein, ist bekanntermaßen die beste Voraussetzung für eine echte und wahre Freundschaft.«

Ich musste lachen. Das wollte ich eigentlich gar nicht, aber mir gefiel die bedächtige, sarkastische Art, in der Arlo das sagte. Das Gesicht meines Vaters leuchtete auf, und Gus lächelte auch wieder. Na toll. Jetzt dachten sie bestimmt, dass ich das alles so in Ordnung fand, zu denen gehörte, die das Beste aus jeder Situation machen – neues Haus, neue Freundschaft, was auch immer.

Nur, so war ich eigentlich tatsächlich. Mom gab gerne vor ihren Freundinnen damit an, dass kein Kind auf der ganzen Welt so unproblematisch war wie ich. Aber bei meinem Vater konnte ich mich nicht entspannen, konnte dieses komische Gefühl in meinem Bauch nicht loswerden. Ich fühlte mich überhaupt nicht unproblematisch, so gar nicht. Und vor allem, ich wollte es auch gar nicht sein. Warum auch?

Mein Vater sagte: »Im Kühlschrank ist Limonade, Daf. Bedient euch einfach, du und Arlo. Und nehmt euch alles, was ihr braucht. Ich muss meinen Multimeter suchen gehen. Er ist irgendwo in der Garage.« Er ging mit Gus nach draußen, und Arlo und ich starrten einander an.

»Yak-Gesicht, stimmt’s?«, sagte ich und zeigte auf sein T-Shirt.

Er hob die Augenbrauen und sah mich an. Er war eindeutig beeindruckt. »Du bist auch Star Wars-Fan?«

Ich lachte. »Eigentlich nicht.« Wenn Sam bei unseren Filmabenden mit Mom an der Reihe war, suchte sie sich immer einen Star Wars-Film aus. Ich beschwerte mich dann gerne, dass es davon etwa neun Millionen gab, aber eigentlich störte es mich nicht wirklich. »Äh, willst du Limonade?«, fragte ich.

»Gern.« Er folgte mir in die Küche. Ich öffnete drei Schränke, um Gläser zu suchen, bis Arlo den Schrank neben der Spüle aufmachte und zwei rausholte.

Ich sah zu, wie er an den Kühlschrank ging und die Limonade rausholte. »Dein Dad und du seid wohl oft hier«, sagte ich.

Da zog er wieder die Augenbrauen hoch. »Gus ist der Freund meiner Mom. Er ist nicht mein Dad.«

»Ach, ich dachte …« Ich hielt inne.

»Dass wir beide braune Haut haben und deswegen verwandt sein müssen?«

Mein Gesicht lief rot an. »Nein, so habe ich das nicht gemeint …«

Arlo lachte. »Alles gut. Mein Vater ist Mexikaner und Gus auch. Der erste Latino, mit dem meine Mom nach meinem Dad ausgeht, und er spricht noch nicht mal Spanisch.«

»Und du?«, fragte ich und war ganz erleichtert, dass er nicht beleidigt war.

»Sí, por supuesto«, sagte er. »Aber meine Mom nicht, und so langsam komme ich aus der Übung. Wenn ich meine abuela und meinen Dad in Arizona besuche, möchte ich gerne mit ihr reden können. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als nächstes Schuljahr Spanisch zu nehmen, sonst vergesse ich es ganz. Ich komme in die Siebte. Du auch?«

»Ja.« Ich trank meine Limonade.

»Und deine Mom ist eine Art Filmstar oder so was?«

Ha. Das würde ihr gefallen. Ich lehnte mich an die Spüle. »Nein, noch nicht. Aber sie ist Schauspielerin.«

»Dein Dad hat von ihr geschwärmt.«

Er hat von ihr geschwärmt? Ich hätte gedacht, dass er gar nicht wirklich wusste, was sie eigentlich machte. »Sie hat gerade eine richtig gute Rolle bekommen. In einem großen Film. Gerade ist sie auf dem Weg nach Tschechien.«

»Ach. Ich habe gehört, dass es viel billiger ist, da zu drehen«, sagte Arlo. Ich nickte und war überrascht, dass er so was wusste. »Und was ist mit dir? Bist du auch Schauspielerin?«

»Ich? Auf keinen Fall!«

Arlo verschluckte sich fast an seiner Limonade, als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck sah. »So schlimm also?«

»Ich glaube, es kann nur eine Schauspielerin in der Familie geben.«

»Wieso?«, fragte Arlo.

Ich musste daran denken, wie oft Mom zum Vorsprechen ging und dann nichts dabei rumkam, wie gedrückt ihre Stimmung danach immer war und wie ich sie nachts schniefen hörte, was bedeutete, dass sie weinte, ich es aber nicht mitkriegen sollte. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Man braucht ganz schön viel Kraft, um Schauspielerin zu sein. Meine Mom ist besessen davon.«

»Ich versteh schon. Meine Mom ist auch besessen.« Er machte eine dramatische Pause. »Von Männern!«

Ich lachte, aber Arlo sagte: »Nein, wirklich. Egal, was der Typ für ein Hobby hat, wir machen mit.«

Ich sah ihn an. Er tat so, als wäre es witzig, aber der scharfe Ton in seiner Stimme sagte mir, dass er das gar nicht komisch fand. »Was denn so zum Beispiel?«

»Na ja, in den letzten zwei Jahren hat sie …«, er zählte an seinen Finger ab, »Pitbulls gerettet, an der Börse investiert, geangelt und sich fürs Akkordeonspielen interessiert. Und jetzt natürlich fürs Skaten.«

Ich riss die Augen auf. »Deine Mom skatet?«

»Nö«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Sie hat ein paar Stunden genommen, aber dann ziemlich schnell aufgegeben. Meistens feuert sie Gus an und versucht, mich mit ihm zusammenzubringen, weil ich auch skate. Das nervt, ist aber wenigstens besser als diese Akkordeon-Bands!« Er tat so, als würde er ein Akkordeon zudrücken und aufziehen und führte dabei einen kleinen Tanz auf, der uns beide zum Lachen brachte.

»Und was ist mit dir?«, fragte Arlo, als unser Gelächter verklang. »Dein Dad ist ja ein krass guter Skater. Dann skatest du bestimmt auch, oder?« Er nickte in Richtung meiner Klamotten. Ich sah an mir runter, und erst dann fiel mir auf, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Ich trug mein übliches oversized T-Shirt, meine ausgebeulten Ben-Davis-Shorts und meine Vans. Vielleicht hätte ich mir besser von Sam ein paar ihrer Vintage-Kleider aus dem Secondhandladen leihen sollen. Denn so sah es aus, als passte ich perfekt zu meinem Vater. Und das tat ich nicht. Überhaupt nicht. Doch ich wollte die gute Stimmung zwischen Arlo und mir nicht trüben. Also zuckte ich irgendwie mit den Schultern und fragte ihn, ob er heute Abend auch bei Gus sein würde.

»Du meinst die Skate-Session der alten Männer?«, fragte er.

»Äh, ich glaube, mein Vater hat das irgendwie anders genannt.«

»Ja.« Arlo lachte. »Ich ärgere sie gerne ein bisschen. Die Typen sind doch viel zu alt, um so begeisterte Skater zu sein. Ich werde da sein. Was ist mit dir?«

»Ich glaub schon.«

»Cool. Dafür, dass sie schon so uralt sind, skaten sie ziemlich gut. Ich filme sie meistens dabei.« Er rückte den Gurt über seiner Brust zurecht und gab der Kameratasche an seiner Seite einen sanften Klaps. »Ich mache diesen Sommer einen Kurs übers Filmemachen. Als ich Gus davon erzählt habe, hat er mir einen Haufen klassischer Skaterfilme gezeigt, Dogtown and Z-Boys, Spike Jonze, lauter so Sachen. Es hat mich irgendwie total inspiriert.«

Ich hätte ihn gern noch mehr gefragt – von dem Film hatte ich noch nie gehört –, aber draußen rief eine Frauenstimme nach ihm: »Arlo! Wir müssen los!«

»Meine Mom.« Er stand auf. »Bis später.«

»Bis später«, wiederholte ich.

Nachdem Arlo und Gus gegangen waren, goss sich mein Vater auch ein Glas Limonade ein und setzte sich hin. »Du scheinst dich ja gut mit Arlo zu verstehen. Das ist doch schön, dass du diesen Sommer schon einen Freund hast, nicht wahr?«

»Ich habe ihn gerade erst kennengelernt. Wir sind keine Freunde.« Der Teil von mir, der bei dem Gespräch mit Arlo etwas aufgetaut war, erstarrte wieder. Wenn mein Vater dachte, dass es für mich jetzt in Ordnung war, hier bei ihm zu sein, nur weil ich mich mit dem Nachbarsjungen unterhalten hatte, dann irrte er sich. Ich wollte sowieso nicht lange genug hierbleiben, um Freundschaften zu schließen. »Kann ich in mein Zimmer gehen? Ich will Mom eine Nachricht schreiben.«

Mein Vater kratzte sich im Nacken. »Sie ist doch noch im Flugzeug, oder?«

Mist. Ich hätte nicht gedacht, dass er das wusste. »Ich will, dass sie eine Nachricht von mir hat, wenn sie landet.«

»Klar. Natürlich.« Er nickte, aber als ich aus der Küche ging, runzelte er die Stirn und starrte auf den Tisch, das Limonadenglas vergessen in seiner Hand.

Nicht mein Problem.

Ich zog mein Handy raus, ließ mich aufs Bett fallen und wurde wieder wütend. Ich schrieb meine Nachricht an Mom:

Kann noch immer nicht glauben, dass du mich bei jemandem zurückgelassen hast, den ich kaum kenne. 😠

Ich schob die Kissen an das Kopfteil des Bettes – drei Stück, alle groß und kuschelig, mit Bezügen, die zur Bettwäsche passten. Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme. Ich sah mich im Zimmer um – in meinemZimmer – und stellte mir vor, wie ich es Sam beschreiben würde. Sams Eltern waren auch geschieden, deswegen verstand sie, wie schwierig das mit meinem Vater war. Trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, wie ich ihr erklären sollte, wie glücklich mich dieses Zimmer machte, aber gleichzeitig auch so wütend auf ihn.

Ich sah nach oben. Die weite weiße Zimmerdecke über mir, das riesige weiche Bett unter mir, das Fenster, durch das die Sonne fiel – das alles gab mir das Gefühl, dass auch in mir drin alles weit wurde. Ich seufzte und ließ die Arme fallen. Vielleicht könnte ich einfach den peinlichen Unterhaltungen mit meinem Vater aus dem Weg gehen, indem ich hier abhing, bis ich meinen Plan umsetzen konnte.

Ich nahm wieder mein Handy und schrieb noch eine weitere Nachricht an Mom.

Hast du schon gefragt? Wann kann ich dich besuchen kommen?

Es gab keinen Grund, warum mein Plan nicht aufgehen sollte. Ich war schließlich schon ein paarmal mit am Set gewesen. Ich wusste, dass ich mich still und unauffällig verhalten und im Wohnwagen bleiben musste, bis mir jemand sagte, dass ich rauskommen durfte.

Aber ich schickte die Nachricht nicht ab. Ich schämte mich ein wenig für meine wütende SMS von gerade eben.

Als Mom die Rolle in dem Film bekommen hatte, hatten wir beide geschrien und waren durchs Wohnzimmer getanzt. Wir waren so laut, dass unser Nachbar rüberkam, um zu gucken, ob alles in Ordnung war. Als ich sie später fragte, ob ich auch mit nach Prag kommen konnte, hatte Mom mir gesagt, sie wolle nicht den Eindruck erwecken, dass es schwierig sei, mit ihr zu arbeiten. Ein paar Tage danach hatte sie mir gesagt, dass ich zu meinem Dad sollte. Ich war so wütend auf sie! Sie versprach mir, dass sie sich was überlegen würde, ich ihr aber Zeit lassen sollte. Ich seufzte wieder und löschte die SMS.

Sag Bescheid, wenn du landest! Und schreib mir, wenn du die Stars triffst! Warte mal! Du musst sie gar nicht treffen, bist ja jetzt selber einer! 😉

Das würde ihr gefallen. Wegen Prag würde ich sie später fragen.

Schrapp-knall! Nebenan wurde wieder geskatet. Ich legte mich auf die Kissen zurück und schloss die Augen. Der Klang der Skateboards in der Bowl wiegte mich in den Schlaf.

Kapitel 3

Als jemand an meine Tür klopfte, schreckte ich hoch. Ich griff nach meinem Handy, um zu sehen, wie spät es war. Schon vier Uhr nachmittags? »Ja?«, sagte ich und versuchte, nicht verschlafen zu klingen.

Mein Vater steckte den Kopf durch die Tür und sah sich um. Dachte er, ich hätte mich schon eingerichtet, oder was? In dem Moment beschloss ich, nichts an meinem Zimmer zu machen, was ihn auf die Idee bringen könnte, ich würde mich hier zu Hause fühlen. Es lohnte sich eh nicht, bald würde ich wieder weg sein. »Zeit, zu Gus zu gehen. Bist du so weit?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Daphne. Bitte komm doch mit. Ich habe allen von dir erzählt.« Er ließ ein frustriertes Schnauben hören – es war leise, aber ich konnte es trotzdem hören. »Sie wollen dich echt kennenlernen. Gus und Rusty machen danach für uns alle Tacos. Kommst du?«

Er fragte mich auf so hoffnungslose Art, dass mir klar wurde: Würde ich sagen, dass ich keine Lust hätte, dann würde er die Tür schließen und mich in Ruhe lassen. Aber plötzlich war die Vorstellung, den ganzen Abend lang allein in meinem Zimmer zu hocken, gar nicht mehr so toll. Außerdem wollte ich mir die Bowl von Gus angucken. Ich hatte noch nie gehört, dass jemand eine im Garten hatte. Ich schwang meine Beine auf den Boden. »Dann komm ich halt mit«, murmelte ich, als würde ich ihm damit einen riesigen Gefallen tun.

Als wir beinahe zur Tür raus waren, sagte er: »Oh! Fast hätte ich es vergessen!« Er verschwand den Flur runter und kam mit einem Board und einem Helm wieder. Er hielt mir das Skateboard hin. »Hier, das kannst du benutzen.« Ich trat einen Schritt zurück, weg von seinem Angebot. Worte sprudelten in mir hoch. Aber ich konnte keins davon sagen.

»Na, eigentlich« – er wackelte mit dem Board – »kannst du es haben. Den Helm auch. Beides den ganzen Sommer lang benutzen. Und dann mit nach Hause nehmen, wenn du willst. Das, das ich dir zum Geburtstag geschenkt habe, ist bestimmt schon zu klein für dich, stimmt’s?« Er lächelte, als wäre die Tatsache, dass er mir vor drei Jahren mal was zum Geburtstag geschenkt hatte, etwas, auf das man stolz sein könnte.

Mein Gesicht wurde rot, und fast wären die Worte doch aus mir rausgesprudelt: Du meinst, als ich dich das letzte Mal gesehen habe? Als du mir versprochen hast, mir beizubringen, wie man auf dem Board fährt? Als ich mir geschworen habe, nie wieder auf ein Skateboard zu steigen, nach dem, was passiert ist? Stattdessen presste ich die Lippen zusammen und senkte den Blick. »Ich will es nicht.« Ich schob mich an ihm vorbei, die Hände zu Fäusten geballt.

Ich stolzierte aus der Haustür hinaus, wusste dann aber nicht, in welche Richtung ich weitergehen sollte, also musste ich auf ihn warten. Ich folgte ihm über den vertrockneten Rasen zum Tor nebenan. Aus dem hinteren Garten schallte laute Musik, und als mein Vater über den Zaun griff, um das Tor zu entriegeln, hörte ich einen Jubelschrei und dann ein hämmerndes Geräusch, das mein Herz höherschlagen ließen. »Was war das?«, fragte ich.

»Da ist wohl jemandem ein Trick gelungen.« Mein Vater grinste. »Die, die zugucken, hauen dann mit ihren Boards auf die Kante der Bowl. So drücken wir unsere Wertschätzung aus, du wirst schon sehen.«

Die Musik und das Kratzen und Kreischen der Skateboard-Rollen wurden immer lauter, während wir zwischen den Bäumen und blühenden Stauden, die sich über den Steinpfad ergossen, durch den eigentlich ganz gewöhnlichen Garten gingen. Noch konnte ich die Bowl nicht sehen, aber mit jedem Schritt, der uns näher zu dem Krach führte, schlug mein Herz schneller.

Im hinteren Teil des Gartens lehnte eine Leiter an einer niedrigen Mauer. »Komm, wir gehen hoch«, sagte mein Vater mit lauter Stimme. Als wir oben waren, richtete sich mein Blick sofort auf den Skater in der Bowl, und mir stockte der Atem. Von den anderen Leuten, die um den Rand herumstanden, kriegte ich kaum was mit.

»Los, Daf, hier können wir nicht stehen bleiben.«

Ich konnte nicht aufhören zuzugucken. Es war Gus. Erst eine Minute später kapierte ich, dass ich meinem Vater erlaubt hatte, meine Hand zu nehmen und mich in eine Ecke zu ziehen. Ich riss mich los und sah zu, wie Gus bis an die Coping, also die Abschlusskante der Bowl, fuhr. Die eine Hand am Board, die andere an der Coping, schoss er aus der Bowl. Und hing dann kopfüber, während seine Füße irgendwie noch am Board klebten, als es in die Luft schwang. Dann sauste er wieder nach unten und landete mitten in der Bowl.

»Wow«, hauchte ich. Und genau wie mein Vater gesagt hatte, fingen alle an, mit einem Grinsen im Gesicht mit ihren Boards auf die Coping zu schlagen.

»Ein Frontside Invert«, sagte mein Vater. »Ziemlich gut, nicht wahr? Er hat das schon eine ganze Weile geübt.« Ich nickte, meinen Blick immer noch auf die Bowl gerichtet. Auf der anderen Seite ließ sich jetzt ein anderer Typ hineinfallen.

»Na komm, Daf. Ich will dich allen vorstellen.«

Ich sah mich um. Arlo stand auf der anderen Seite, und wir winkten einander zu. Rechts neben uns wartete ein Typ mit langen schwarzen Haaren, bis er an der Reihe war, das gekippte Board in der Hand. Auf seinen Armen wanden sich bunte Tattoos, zu viele, um sie genau erkennen zu können. Er drehte sich zu uns um, als mein Dad versuchte, die Musik zu übertönen, und rief: »Diego, das hier ist Daphne.«

Mein Vater legte seine Hand auf meine Schulter, als würde es der Typ sonst nicht kapieren. Ich wand mich aus seinem Griff.

»Hi«, sagte ich. Diego lächelte mich an, und ich war froh, dass es ihm genauso schwerfiel wie mir, seinen Blick von der Bowl loszureißen. Dann wandten wir uns alle wieder um und guckten weiter zu.

Mein Vater zeigte auf den Typen, der gerade in der Bowl hin- und herfuhr. »Das ist Isaiah, unser aufsteigender Stern«, sagte er.

Gus’ Trick war echt cool gewesen, aber Isaiah fuhr so gewandt, als wäre das Skateboard nichts als eine Verlängerung seiner Füße. »Siehst du, wie er die Schultern locker lässt und sie sich mit dem Board mitbewegen? Das ist der Schlüssel«, sagte mir mein Vater ins Ohr, und ich nickte – genau das war mir auch aufgefallen –, und es überschwemmte mich wieder, dieses verlässliche Gefühl von damals, als ich noch klein war und kein Board hatte und mein Vater mit mir in die Skateparks ging. Ich konnte mich noch daran erinnern, wie es sich in mir drin anfühlte, wenn die Skater ihre Tricks machten, sodass ich mir vorstellte, mein Inneres wäre eine winzige Bowl. Mein Vater kommentierte dann immer ihren Stil, genau wie jetzt auch, und die Tricks und Begriffe kamen ihm leicht über die Lippen. Damals habe ich sie mir wieder und immer wieder in Gedanken vorgesagt, wie ein Gebet: Ollie, Nollie, Kickflip, Shove It, Backside, Frontside, Fakie, Grind. Ich presste die Kiefer aufeinander. Das war vor langer Zeit. Ich schob den Gedanken weg.