Die Landkarte des Chaos - Félix J. Palma - E-Book

Die Landkarte des Chaos E-Book

Félix J. Palma

4,4
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach«Die Landkarte der Zeit» und «Die Landkarte des Himmels» ist dies nun der letzte Teil der Trilogie des spanischen Bestsellerautors. Die Geliebte wiederfinden, die er verloren hat: Das ist der große Traum des Millionärs Gilmore. Und bis jetzt ist ihm alles gelungen, was er sich vornahm. Seine Verlobte Emma ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, und um sie wiederzuerwecken werden keine Mittel gescheut. Wie gut, dass wir uns im viktorianischen London befinden, wo soeben der Spiritualismus in Mode kam und die Toten die Lebenden besuchen. Alte Bekannte und neue Freunde sind wieder dabei und nehmen an spirituellen Sitzungen teil: Inspektor Clayton von Scotland Yard hilft tatkräftig mit bei der Suche nach Emma und ist einem falschen Medium und einem echten Geist auf der Spur. H. G. Wells und seine Frau Jane erfinden ein Serum, mit dem man sich vervielfältigen kann, und huschen elegant durch verschiedene parallele Welten. Charles Dodgson alias Lewis Carroll, der Autor von «Alice im Wunderland», und Arthur Conan Doyle, der literarische Vater des Detektivs Sherlock Holmes, tragen mit ihrer Fantasie ihren Teil bei, Emma und Gilmore zusammenzubringen. Gemeinsam finden sie einen Weg, um die durch den Tod getrennten Liebenden zu vereinen. Dieser Weg wird durch einen Spiegel führen. Denn: Stärker als der Tod ist die Liebe. Ein Detektivroman, ein Abenteuerroman, ein Liebesroman: Voller wirbelnder Phantasie, Humor und überraschender Wendungen schreibt Palma im letzten Teil seiner Trilogie über das berauschende Abenteuer der Liebe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1014

Bewertungen
4,4 (12 Bewertungen)
8
1
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Félix J. Palma

Die Landkarte des Chaos

Roman

Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Nach «Die Landkarte der Zeit» und «Die Landkarte des Himmels» ist dies nun der letzte Teil der Trilogie des spanischen Bestsellerautors.

Die Geliebte wiederfinden, die er verloren hat: Das ist der große Traum des Millionärs Gilmore. Und bis jetzt ist ihm alles gelungen, was er sich vornahm. Seine Verlobte Emma ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, und um sie wiederzuerwecken werden keine Mittel gescheut. Wie gut, dass wir uns im viktorianischen London befinden, wo soeben der Spiritualismus in Mode kam und die Toten die Lebenden besuchen. Alte Bekannte und neue Freunde sind wieder dabei und nehmen an spirituellen Sitzungen teil:

Inspektor Clayton von Scotland Yard hilft tatkräftig mit bei der Suche nach Emma und ist einem falschen Medium und einem echten Geist auf der Spur. H.G. Wells und seine Frau Jane erfinden ein Serum, mit dem man sich vervielfältigen kann, und huschen elegant durch verschiedene parallele Welten. Charles Dodgson alias Lewis Carroll, der Autor von «Alice im Wunderland», und Arthur Conan Doyle, der literarische Vater des Detektivs Sherlock Holmes, tragen mit ihrer Phantasie ihren Teil bei, Emma und Gilmore zusammenzubringen. Gemeinsam finden sie einen Weg, um die durch den Tod getrennten Liebenden zu vereinen. Dieser Weg wird durch einen Spiegel führen. Denn: Stärker als der Tod ist die Liebe.

Über Félix J. Palma

Inhaltsübersicht

WidmungMottoDie PersonenErster TeilPrologIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXZweiter TeilXXIXIIXIIIXIVXVXVIXVIIXVIIIXIXXXXXIXXIIDritter TeilXXIIIXXIVXXVXXVIXXVIIXXVIIIXXIXXXXXXXIXXXIIXXXIIIXXXIVXXXVXXXVIXXXVIIXXXVIIIXXXIXXLXLIDanksagungen

Für meine Eltern und ihr Werk,

das immer mehr Seiten füllt

«Ich glaube nicht an Gespenster; aber sie machen mir Angst.»

MADAME DU DEFFAND

«Wäre es möglich, die Wahrscheinlichkeit zu beherrschen, könnten wir Dinge vollbringen, die von Zauberei nicht zu unterscheiden wären.»

MICHIO KAKU

Paralleluniversen

«Gott weiß, dass ich geträumt und gewacht und

wieder geträumt habe, bis ich nicht mehr wusste,

was Traum und was Wirklichkeit ist.»

ERIC RÜCKER EDDISON

Der Wurm Ouroboros

Die Personen

Aufgrund der komplexen Verhältnisse und der Vielzahl der Personen, die diesen Roman bevölkern, sehen wir uns verpflichtet, dem wohlmeinenden Leser die wichtigsten Charaktere kurz vorzustellen. Nach der strikten Chronologie ihres Auftretens sind dies:

Beobachter Wells: angesehener Biologe, Alternativversion des Schriftstellers H.G. Wells in einer anderen Welt.

Beobachterin Jane: Gattin des Beobachters Wells, Projektleiterin ihres Labors, Alternativversion von Amy Catherine Robbins in einer anderen Welt.

Beobachter Dodgson: Mathematikprofessor, Alternativversion des Schriftstellers Lewis Carroll in einer anderen Welt.

Newton: Border Collie, der Beobachter Wells bei seinen Experimenten als Versuchskaninchen dient.

Herbert George Wells: britischer Schriftsteller, besser bekannt als H.G. Wells, gilt als Vater der Science-Fiction-Literatur und ist Autor zahlreicher Romane wie: Die Zeitmaschine, Krieg der Welten, Der Unsichtbare. Wenn Sie die Landkarten-Trilogie gelesen haben, muss ich dem nichts mehr hinzufügen, außer vielleicht, dass 1970 ein Mondkrater nach ihm benannt wurde.

Amy Catherine Robbins: Gattin des Schriftstellers H.G. Wells, der zärtlich Jane zu ihr sagt.

Cornelius Clayton: Agent einer Sondereinheit von Scotland Yard, die auf übernatürliche Phänomene spezialisiert ist. Bei seinem ersten Einsatz verlor er den linken Arm und trägt seitdem eine ausgeklügtelte Prothese aus Holz und Metall.

Angus Sinclair: Leiter der Sondereinheit von Scotland Yard. Keiner weiß, wie er sein rechtes Auge verloren hat, darum können wir nicht ausschließen, dass es beim Augenbrauenzupfen geschah.

Valerie de Bompard: schöne französische Gräfin, die sich im verwunschenen Blackmoor niedergelassen hat und auf die Agent Clayton ein Auge geworfen hat.

Armand de Bompard: Gatte der französischen Gräfin, Wissenschaftler, seiner Zeit voraus.

Muscardinus avellanarius: gemeinhin bekannt als Haselmaus, Ureinwohnerin der Britischen Inseln.

Lady Ámbar: bekanntes Londoner Medium, Expertin in ectoplasmatischen Materialisationen.

Sir Henry Blendell: Architekt Seiner Majestät, Schöpfer der großartigsten Geheimgänge und labyrinthischsten Möbel aller Zeiten, Mann von hoher moralischer Integrität, solange man ihm nicht das Gegenteil nachweist.

Theodore Ramsey: bekannter Chirurg, Chemiker und Biologe, knackt gern mit den Fingergelenken.

William Crookes: anerkannter Wissenschaftler und Erforscher übersinnlicher Phänomene. Bekannt wurde er durch sein Eintreten für das Medium Florence Cook, die mit dem Geist von Katie King, Tochter des legendären Piraten Henry Morgan, in Verbindung trat.

Catherine Lansbury: alte Dame mit geheimnisvoller Vergangenheit, Witwe, Spiritistin, Erfinderin des Mechanischen Dieners, leidenschaftliche Konsumentin von Kemp-Keksen.

Der Unsichtbare: der Schurke dieser Geschichte, gewissenloser Mörder, dessen Identität wir – aus offensichtlichen Gründen – nicht gleich auf der ersten Seite lüften werden. Auch bekannt als M.

Clive Higgins: Doktor der Neurologie, Psychoanalyse und weiterer seelischer Beschädigungen.

Gilliam Murray: bekannt als der Herr der Zeit, zu Tode gekommen in der vierten Dimension, lebt seitdem unter der falschen Identität des Millionärs Montgomery Gilmore, leidet unter Höhenangst.

Emma Harlow: Junge, mit dem Millionär Gilmore verlobte New Yorkerin, die nicht mit den gleichen Taktiken erobert werden will wie der Rest des weiblichen Geschlechts.

Dorothy Harlow: Emmas Tante, verbitterte alte Jungfer, beharrlich einem einsamen Tod entgegensehend.

Baskerville: Gilmores Kutscher, mindestens achtzig Jahre alt, hochgradige Hundephobie.

Arthur Conan Doyle: schottischer Arzt und Schriftsteller, Spiritist und mutmaßlicher Telepath, Erfinder von Sherlock Holmes, dem berühmtesten Detektiv der Welt.

Jean Leckie: Arthur Conan Doyles Geliebte.

Exekutor 2087V: kybernetischer Organismus, darauf programmiert, Zeitreisende zu eliminieren. Verrichtet seine Arbeit hocheffektiv, wird jedoch aufgrund eines Fabrikationsfehlers von Schuldgefühlen geplagt.

Cleeve: Hausdiener von Undershaw. Über sein Privatleben ist nichts bekannt.

Alfred Wood: Alias «Woodie», Conan Doyles stoischer Privatsekretär mit einem mehr als anständigen Arm fürs Kricket.

Gran Ankoma: auch bekannt als Amoka oder Makoma, in einem Bantustamm in Südafrika aufgewachsenes, außergewöhnliches Medium, spezialisiert auf Automatisches Schreiben in Trance. Korrekt ausgesprochen bedeutet der Name so viel wie Der Letztgeborene, was allerdings nur eine annähernde Übersetzung ist.

Alicia Liddell: sechsjähriges Mädchen, eine der Töchter des Dekans Liddell und reales Vorbild der Alice im Wunderland.

Lewis Carroll: Pseudonym des britischen Schriftstellers Charles Dodgson, Autor von Alice im Wunderland und dem Nachfolgeroman Alice hinter den Spiegeln. Unter seinem richtigen Namen veröffentlichte er zahlreiche Artikel und Bücher über Mathematik. Er war ein bemerkenswerter Fotograf, harmloser Träumer und liebenswerter Stotterer. Er lehrte zwar am Christ Church College von Oxford, lehnte es jedoch ab, sich zum Priester weihen zu lassen. Die Gründe dafür sind unklar.

Elmer: Gilmores Hausdiener, glücklich verheiratet mit der nach Blaubeerwindbeuteln süchtigen Daisy.

Eric Rücker Eddison: britischer Schriftsteller, bekannt vor allem durch sein Erstlingswerk Der Wurm Ouroboros, ein Roman, der skandinavische Mythen beschwört und als Vorläufer des modernen Fantasy-Genres gilt.

Die Landkarte des Chaos: Ein Buch über die Rettung der Welt, sowohl dieser als auch aller nur vorstellbar möglichen. Das Buch eben, das zu lesen Sie sich gerade anschicken.

Erster Teil

Wohlan, geschätzter Leser, stürze dich hinein in die Seiten unseres letzten Büchleins, in dem dich noch unglaublichere Abenteuer erwarten als in den vorherigen.

Sollten die Reisen durch die Zeit und der Angriff der Marsmenschen dein Herz noch nicht genug aufgewühlt haben, so kannst du jetzt in die Welt eindringen, in der Spukgestalten und andere Verstandesungeheuer ihr Unwesen treiben.

Vielleicht überlegst du es dir noch, oder du traust dich nicht, weiterzublättern. Dann muss ich dich warnen. In diesem Fall wirst du nie herausfinden, was sich auf der anderen Seite der Wirklichkeit befindet, die du zu kennen glaubst.

Prolog

Es fehlten noch fünfzehn Minuten bis zum Beginn der Debatte, als sie den im goldenen Abendhimmel aufragenden Palast des Wissens erblickten. Auf den Mosaikkuppeln des imposanten Gebäudes, das sich gebieterisch über ein Meer spitzgiebeliger Londoner Dächer erhob, zerstoben die letzten Sonnenstrahlen zu sprühenden Funken. Um sie herum trieben dickleibige Luftschiffe, aerostatische Barkassen, Ornithopter und schwebende Cabriolets wie ein Schwarm träger Insekten zwischen den Wolken. Und in einer dieser beschwingten Kutschen, die sich mit majestätischem Flügelschlag dem Gebäude näherte, reiste der berühmte Biologe Herbert George Wells in Begleitung seiner schönen Gemahlin; nein, seiner ungewöhnlich klugen und ausnehmend schönen Gemahlin.

Der Biologe warf gerade einen Blick auf die Stadtlandschaft unter sich. Durch die Straßen, die sich schmalen Pfaden gleich zwischen schlanken, durch Hängebrücken verbundenen Türmen mit hohen Fensterfronten wanden, schob sich eine aufgeregte Menschenmenge. Die Herren – in Paletot und Zylinder – sprachen angeregt in ihre auf Mundhöhe gehobenen Sprechhandschuhe; die Damen führten mechanische Hündchen spazieren; Kinder rasten auf elektrischen Rollbrettern umher, während sich stelzbeinige Dienstautomaten – mit berechnender Eleganz den Menschen ausweichend – eilig durch die Menge bewegten, um Einkäufe und andere Aufträge zu erledigen. Aus den im Abendlicht golden glänzenden Wassern der Themse tauchten in Abständen die von Verne Industries gebauten Mini-Nautilus-U-Boote auf, die, Kugelfischen gleich, ihre Passagiere an beiden Ufern des Flusses absetzten. Doch je näher das Menschengewimmel South Kensington kam, wo sich der Palast des Wissens erhob, desto deutlicher schien dieser das alleinige Ziel zu sein. Jeder wusste, dass in jener Nacht die wichtigste Debatte stattfand, die es in den letzten zehn Jahren dort gegeben hatte. Wie um die Passagiere des Ornithopters an diese Tatsache zu erinnern, kam ein mechanischer Vogel geflogen und verkündete das Ereignis mit großschnäbeligem Kreischen. Danach segelte er zum nächsten Gebäude, wo er sich auf dem Kopf eines Wasserspeiers niederließ und die Litanei seiner Bekanntmachungen dort fortsetzte.

Drinnen stieß Wells einen Seufzer aus und rieb sich die feuchten Handflächen an den Hosenbeinen trocken.

«Meinst du, dass er auch feuchte Hände hat?», fragte er Jane.

«Aber natürlich, Bertie. Für ihn steht genauso viel auf dem Spiel wie für dich. Vergiss außerdem nicht, dass er wegen seines Problems …»

«Seines Problems? Ich bitte dich, Jane!», unterbrach Wells seine Gemahlin. «Seit Jahren ist er beim besten Logopäden des Königreichs in Behandlung. Ich glaube nicht, dass wir weiter davon ausgehen sollten, dass er ein Problem hat.»

Als wäre das Thema damit für ihn beendet, lehnte er sich in seinem Sitz zurück und betrachtete zerstreut die im Hyde Park aufgereihten Sonnenblumenhäuser, die sich auf der Suche nach den letzten Sonnenstrahlen langsam auf den Kugelgelenken ihrer Pfeiler drehten. Nie würde er Jane gegenüber zugeben, dass sein Rivale immer noch Opfer dieses heimtückischen Leidens war – welches er andererseits, wenn nötig, kaltblütig ausnutzen würde –, denn dann wäre, falls er unterlag, seine Niederlage doppelt bitter. Doch Wells hatte nicht die Absicht, zu unterliegen. Ganz gleich, ob er sein Problemchen in den Griff bekam oder nicht, er war ein viel besserer Redner als der Alte. Wenn er an diesem Abend einen seiner inspirierten Momente hatte – und selbst wenn nicht –, würde er mühelos gewinnen. Sorgen bereitete ihm nur, dass sein Gegner das Publikum mit den wohlfeilen Wortspielen, mit denen er seine Reden auszuschmücken pflegte, für sich einnehmen könnte; doch er vertraute darauf, dass sich die Leute durch billiges Feuerwerk nicht blenden lassen würden.

Wells lächelte still in sich hinein. Er war ganz und gar davon überzeugt, dass seine Generation die bedeutendste war, die jemals auf der Erde gelebt hatte, da sie im Gegensatz zu allen vorigen die Zukunft der Menschheit in ihren Händen hielt. Entscheidungen, die sie traf, würden – ob richtig oder falsch – noch in Jahrhunderten ihre Wirkung entfalten. Das war ihre Bestimmung. Trotzdem konnte Wells nicht das Hochgefühl unterdrücken, in diesem bewegenden, über Wohl oder Wehe der Menschheit entscheidenden Augenblick der Weltgeschichte dabei zu sein. Wenn alles gut lief an diesem Abend, würde sein Name für immer in die Geschichte eingehen.

«Wenn ich gewinnen will, dann nicht aus Eitelkeit», sagte er, zu seiner Gemahlin gewandt. «Ich glaube nur, dass meine Theorie die richtige ist und dass wir keine Zeit damit verlieren dürfen, die seine zu beweisen.»

«Das weiß ich doch, mein Lieber. Du magst vieles sein, aber für eitel habe ich dich nie gehalten», log Jane. «Gäbe es nur genügend Mittel, um beide Projekte verwirklichen zu können! Zu wählen ist immer riskant. Wenn wir uns falsch entscheiden …»

Jane beendete den Satz nicht, und auch Wells sagte nichts. Seine Theorie würde sich durchsetzen, sie würden nicht falsch entscheiden. Da war er ganz sicher. Obgleich er sich manchmal fragte – vor allem nachts, wenn er aus dem Fenster seines Arbeitszimmers auf die lichterstrahlende Stadt blickte –, ob sie letzten Endes nicht alle irrten; ob diese Welt, in der das Streben nach Erkenntnis alles war, jedes andere überdeckte und hintanstellte, ob diese Welt wirklich die beste war, die sie hatten schaffen können. In solchen Augenblicken der Schwäche – wie er sie bei Tag besehen nannte – hätschelte er den Gedanken, dass die Unwissenheit der Erkenntnis vorzuziehen sei. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Natur und ihre Gesetze im Dunkel der Nacht zu belassen; weiterhin zu glauben, dass Kometen den Tod des Königs ankündigten; dass dort, wo die Landkarten endeten, noch immer Drachen hausten … Doch die Kirche der Erkenntnis, die die einzige Religion auf Erden war und ihren heiligen Sitz in London hatte, die Philosophie, Theologie, Politik und alle Wissenschaften zu einer einzigen Disziplin verschmolz, sie bestimmte das Leben der Menschen, die von Geburt an gehalten waren, das Werk des Schöpfers zu entschlüsseln; zu lernen, wie es funktionierte, wie es entstanden war und welche Kräfte es zusammenhielten. Sie sollten möglichst sogar das Rätsel ihrer eigenen Existenz durchdringen. Unter Führung der Kirche hatte der Mensch das Streben nach Erkenntnis zu seinem eigentlichen Daseinszweck gemacht, und in seinem Eifer, alle Geheimnisse zu lüften, die das Universum erhellten, hatte er schließlich einen Blick hinter den Vorhang geworfen. Vielleicht bezahlten sie jetzt den Preis für ihre Tollkühnheit.

Vor dem Eingang des Palasts hatte man einen roten Teppich ausgerollt, zu dessen beiden Seiten sich eine Plakate und Transparente schwenkende Menge drängte, deren lärmende Begeisterung ein Dutzend Polizisten in Schach zu halten suchte. Seit seiner Fertigstellung hatte das hochstrebende, kathedralenhafte Gebäude große Debatten erlebt. Dort war über die Ausdehnung des Universums, den Anfang der Zeit und die Existenz des Superatoms diskutiert worden; legendäre Debatten allesamt, deren Aperçus, Bonmots und Verbalinjurien Eingang in die Alltagssprache der Menschen gefunden hatten. Der Ornithopter flog noch eine Runde um die Kuppeltürme des Palasts, bevor er zur Landung auf einem eigens abgesperrten Teil der Straße ansetzte. Putzerspinnen hatten die Fenster des Palasts zum Glänzen gebracht, mechanische Pelikane hatten sich über den Unrat auf den Gehsteigen hergemacht, und nun sah dieser Teil der Stadt so blitzsauber aus, dass es jedem peinlich sein musste, Schmutz zu hinterlassen. Als der Ornithopter schließlich landete, kam ein wie ein Lakai in Livree gekleideter Dienstautomat angestakst und öffnete den Insassen die Tür. Bevor Wells ausstieg, warf er Jane einen Blick zu, in dem Entschlossenheit und Furcht miteinander rangen, und sie schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln. Die Menge brach in Jubelgeschrei aus, als Wells auf die Straße trat. Er hörte Anfeuerungsrufe von beiden Seiten und Buhrufe von denen, die zu seinem Rivalen hielten. Mit Jane am Arm folgte er dem Dienstautomaten durch die hohle Gasse des roten Teppichs, winkte den Zuschauern und war zugleich bemüht, die Würde dessen auszustrahlen, der sich seinem Gegner weit überlegen fühlt.

Sie durchschritten den Säulengang, über dem in großen Lettern aus Eisen und Bronze zu lesen war: «Wissenschaft ohne Religion ist lahm. Religion ohne Wissenschaft ist blind.» Drinnen führte der Dienstautomat sie durch einen schmalen Gang zu Wells’ Garderobe, danach bot er sich an, Jane zur Ehrenloge zu begleiten. Dies war der Augenblick des Abschieds. Jane trat zu Wells und zupfte ihm die Krawatte zurecht.

«Ganz ruhig, Bertie. Du wirst großartig sein.»

«Danke, meine Liebe», murmelte er.

Beide schlossen die Augen und berührten sich einige Sekunden lang mit der Stirn, vereinigten ihren Geist. Nach dieser intimen Geste, mit der Paare sich der Bedeutung versicherten, welche die Gegenwart des anderen auf der gemeinsamen Reise zur Erkenntnis für sie darstellte, schaute Jane ihrem Gemahl fest in die Augen.

«Viel Glück, mein Lieber», sagte sie, «und nicht vergessen: Das Chaos ist unausweichlich.»

«Das Chaos ist unausweichlich», wiederholte Wells brav.

Lieber hätte er sich von seiner Frau mit einem Wahlspruch verabschiedet, der zur Zeit seiner Eltern üblich gewesen war: Wir sind, was wir wissen. Denn das war es, was der Hoffnung seiner Zeit am besten Ausdruck verlieh. Doch seit das schicksalhafte Ende des Universums erkannt worden war, hatte die Kirche jenen anderen Wahlspruch durchgesetzt, der die Menschheit daran erinnern sollte, dass das Ende nahe war.

Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, folgte Jane dem Dienstautomaten zu ihrer Loge. Wells schaute ihnen nach und staunte wieder einmal über die wundersame Verbindung von Genen, welche die Gestalt jener Frau hervorgebracht hatten, die so zierlich und schön war wie eine Dresdner Porzellanfigur. Er hatte nicht widerstehen können, diese Genkombination in seinem Labor heimlich zu analysieren, hatte es dann jedoch als obszön empfunden, seine Gemahlin auf ein abstraktes Gewirr von Daten und Formeln reduziert zu sehen. Bevor sie hinter der letzten Ecke des Ganges verschwand, wandte sich Jane noch einmal um und schenkte ihm ein letztes aufmunterndes Lächeln. Den Biologen überkam der plötzliche Wunsch, sie auf den Mund zu küssen, doch sogleich tadelte er sich dafür. Ein Kuss auf den Mund! Was fiel ihm bloß ein? Das war schon seit langem nicht mehr üblich; seit die Kirche der Erkenntnis solches Tun als unproduktiv und destabilisierend gebranntmarkt hatte. Nach der Debatte würde er seine Reaktion gründlich analysieren müssen, dachte er niedergeschlagen. Schon die Kleinsten wurden von der Kirche der Erkenntnis ermutigt, alles zu analysieren, sogar die eigenen Gefühle, ihr gesamtes Innenleben zu kartographieren und jede Regung von sich fernzuhalten, die nicht nützlich oder nutzbar zu machen war. Liebe, Leidenschaft oder Freundschaft waren nicht verboten. Die Liebe zu Büchern oder die Leidenschaft für die Forschung wurden allgemein gutgeheißen – so lange der Verstand die Kontrolle über sie behielt. Die Liebe zwischen den Menschen hingegen unterlag strikter Beobachtung. Man konnte ihr in aller Freizügigkeit frönen – tatsächlich ermutigte die Kirche sogar junge Leute, sich einen Partner zu suchen, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern –; aber man war gehalten, jeden Tag eine bestimmte Zeit darauf zu verwenden, die Liebe zu reflektieren und zu analysieren. Es galt, ihre geheimen Antriebe zu erkennen, den Lauf ihrer Entwicklung in Tabellen einzutragen, diese mit der des Partners oder der Partnerin zu vergleichen und über die Entstehung, die Entwicklung und die Schwankungen seiner Gefühle dem Priester der zuständigen Gemeinde regelmäßig Bericht zu erstatten. Dieser sollte den Paaren helfen, die verräterischen Emotionen so lange in ihre Einzelteile zu zerlegen, bis man sie verstanden hatte. Denn nur das Verstehen gewährleistete, dass alles unter Kontrolle blieb. Allerdings gab es kein Gefühl, das den Seziertisch des Gemeindepriesters überlebte. Je mehr man von ihnen verstand, umso blutleerer wurden sie.

Wells bewunderte insgeheim, wie die Kirche der Erkenntnis es geschafft hatte, sich dieses unbequemen Themas zu entledigen. Der Zwang, die Liebe verstehen zu müssen, war die perfekte Impfung dagegen. Ihr Verbot hätte sie nur begehrenswerter gemacht, sie erhöht, hätte womöglich zu Rebellion und Krieg und Mord und Totschlag geführt, zu einer langen Zeit der Dunkelheit, die den Fortschritt aufgehalten hätte. Und was wäre dann aus den Menschen geworden? Wells war überzeugt, dass sie niemals dahin gekommen wären, wo sie jetzt waren, wenn sie sich von ihren Gefühlen hätten beherrschen lassen. Nie im Leben hätten sie dann all dieses Wissen anhäufen können, das jetzt möglicherweise zu ihrer Rettung führte. Er glaubte fest daran, dass der Schlüssel zum Überleben der Menschheit in der klugen Entscheidung lag, die Regungen der Seele zu zügeln und sich vom Gefühl zu befreien, wie sich der Mensch vor Tausenden von Jahren vom Instinkt befreit hatte. Manchmal allerdings, wenn er Jane im Schlaf betrachtete, konnte er nicht umhin, seine Überzeugungen in Frage zu stellen. Er sah die Schönheit ihres friedlich ruhenden Gesichts, den zerbrechlich wirkenden Körper – momentan des bewundernswerten Willens beraubt, der ihm Leben einhauchte –, und er fragte sich dann, ob der Weg zur Rettung derselbe war wie der zum Glück.

Er verscheuchte die Gedanken mit einer Kopfbewegung und betrat seine Garderobe, in der er die letzten Minuten zubringen sollte, bevor er die Bühne betrat. Mitten in dem kleinen Zimmer blieb er stehen, schlug die Möglichkeit aus, in einem der Sessel Platz zu nehmen. Die Tür auf der anderen Seite führte auf die Bühne, und durch sie drang das hitzige Stimmengewirr der Menge und die Stimme des berühmten Ansagers Abraham Frey an sein Ohr. Er begrüßte soeben die verschiedenen Honoratioren, welche die Veranstaltung mit ihrem Besuch beehrten. Bald würde er Wells’ Namen nennen, und dann musste er hinaus auf die Bühne. Mit einer gewissen Wehmut betrachtete Wells die rechte Wand seiner Garderobe. Auf der anderen Seite, in der Nachbargarderobe, wartete sein Rivale, lauschte dem Zuschauerlärm, der die Halle erfüllte, vermutlich mit der gleichen aufgesetzten Entschlossenheit wie er selbst.

Dann hörte er seinen Namen, und die Tür öffnete sich; das Zeichen, seinen Bau zu verlassen. Wells holte tief Luft, dann strebte er entschlossenen Schritts auf die Bühne. Als die Zuschauer ihn erblickten, brachen sie in tosenden Beifall aus. Zwei der Aufnahmeballons, die durch die Halle schwebten, kamen auf ihn zu gesegelt und umkreisten ihn. Wells hob beide Hände zum Gruß und verzog seinen Mund zu einem breiten Lächeln, das über die Kommunikationsbildschirme Tausender Haushalte flimmern würde. Er trat an sein Rednerpult und legte die Hände auf die Ablagefläche, aus der ihm sogleich der Stiel eines Stimmverstärkers entgegenwuchs. Ein Bühnenscheinwerfer tauchte seine schmächtige Gestalt in goldenes Licht. Fünf oder sechs Meter rechts von ihm stand das andere, noch leere Rednerpult. Während er dankend den Applaus entgegennahm, ließ Wells den Blick über die Ränge gleiten, von ihm getrennt durch den Orchestergraben, in dem das mechanische Orchester eine wehmütige Weise spielte. «Die Musik schafft Ordnung aus dem Chaos heraus», hatte einmal ein berühmter und von der Kirche abgesegneter Geiger zu ihm gesagt. Unter den Zuschauern entdeckte er Plakate mit seinem Foto und seinen bekanntesten Zitaten. Ja, auch er hatte schon den einen oder anderen Satz geprägt, der berühmt geworden war, spätestens aber mit seinem Ableben glanzvoll erstrahlen würde. Über den Rängen und vor einem riesigen Wappen mit achtzackigem Stern in zwei konzentrischen Kreisen saß Königin Viktoria auf ihrem Rollstuhlthron, in dem sie sich seit kurzem bewegte. Neben ihr, auf einem etwas weniger prachtvollen Thron, saß Kardinalin Violet Tucker, oberste Würdenträgerin der Kirche der Erkenntnis, die der Debatte vorsitzen würde. Zu ihrer Linken drängte sich ihr Gefolge, eine Heerschar von Bischöfen und Diakonen mit grämlichen Gesichtern, die zusammen mit der Kardinalin die Etatkommission bildeten. Diese vertrocknete Greisin, die eine schwarze Soutane mit goldenen Seidenknöpfen trug sowie eine Schärpe und ein Barett, ebenfalls in Gold, der Farbe der Erkenntnis, würde in letzter Instanz über sein Schicksal entscheiden. Wells bemerkte das Glas, das sie in einer Hand hielt und das – wenn man den Gerüchten glauben durfte – krebsbekämpfenden Saft enthielt. Zu beiden Seiten des Saals befanden sich die Logen der Regierungsvertreter und Honoratioren, unter denen Wells den französischen Magnaten Jules Verne und Clara Shelley erkannte, die reiche Erbin der in der Herstellung von Robotern und Automaten führenden Prometheus-Werke, sowie weitere Mitglieder der wissenschaftlichen Elite. In der Ehrenloge erblickte er Jane. Sie unterhielt sich mit Dr. Pleasance, der Gemahlin seines Rivalen, einer vornehmen Dame von etwa vierzig Jahren, die, genau wie Jane, das Amt der Projektleiterin im Labor ihres Gatten ausübte. Weiter seitlich drängte sich der Rest seiner Mannschaft. Alle lächelten ihm aufmunternd zu. Zum Glück hatten sie nicht auch noch die Versuchskaninchen mitgebracht.

Zwischen dem Orchestergraben und den Rednerpulten schritt Abraham Frey einher. Er trug einen Helm aus Bronze, aus dessen rechter Seite ein Stimmverstärker ragte, der ihm die Hände freiließ, sodass er mit ihnen seine charakteristische Luftakrobatik vollführen konnte. Im Moment stellte er Wells’ Rivalen vor und zählte die Erfolge auf, die dieser in seinem langen, der Wissenschaft gewidmeten Leben erzielt hatte. Unter all den aufgezählten Namen fand auch das College der Kirche der Erkenntnis in Oxford Erwähnung, der Institution, in der Wells ebenfalls studiert hatte. Bei langen Gesprächen zwischen den ehrwürdigen Mauern und auf Spaziergängen in den umliegenden Parks hatten sie dort zu einer beide bereichernden Lehrer-Schüler-Beziehung gefunden. Wells hatte sich am Ende zwar von der Biologie begeistern lassen und sich von der Physik abgewandt, dennoch hatten sie sich weiterhin regelmäßig gesehen, da beide ihre Freundschaft als hinreichend nutzbringend betrachteten, um sie aufrechtzuerhalten. Keiner konnte ahnen, dass das Schicksal sie im Lauf der Jahre zu Rivalen machen würde, was sie im Privaten eher belustigt zur Kenntnis nahmen, sie jedoch nicht daran hinderte, kampfeslustig für ihre Theorien in den zahllosen Debatten zu streiten, die dieser heutigen vorausgegangen waren und nach der die Kirche der Erkenntnis entscheiden würde, welcher Plan zur Rettung der Welt ihr als der geeignetere erschien.

«Eure Majestät, Eure Eminenz, hochwohlangesehene Leitung der Kirche der Höchsten Erkenntnis, meine sehr verehrten Damen und Herren, begrüßen wir nun den gefeierten Physiker und Mathematiker, Mr. Charles Lutwidge Dodgson!»

Die Anhänger seines Rivalen brachen in begeisterte Jubelrufe aus, als der Name ihres Idols genannt wurde. Die Tür seiner Garderobe öffnete sich, und heraus trat ein alter Mann um die sechzig, der – genau wie Wells vorhin – nach allen Seiten grüßend zu seinem Rednerpult schritt. Er war groß und schlank, das weiße Haar sorgfältig frisiert, sein Gesicht von der welken Schönheit eines ermatteten Engels. Bei seinem Anblick empfand Wells unwillkürlich Mitleid. Zweifellos hätte Charles an diesem herrlichen Abend lieber in seinem Boot die übliche Ruderstrecke auf der Themse zurückgelegt, als mit seinem früheren Schüler über die Rettung der Welt zu diskutieren; aber sie trugen Verantwortung, und der konnte sich keiner von ihnen entziehen. Sie grüßten einander mit steifem Kopfnicken und richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Moderator. Frey beschwor Stille im Saal, streichelte dazu mit einer Hand liebkosend die Luft.

«Meine sehr verehrten Damen und Herren», rief er mit der Baritonstimme, die ihn berühmt gemacht hatte, «wie wir alle wissen, steht unser geliebtes Universum vor dem Ende. Es stirbt bereits seit Millionen von Jahren. Seit es aus einem glühenden Urknall hervorgegangen ist, hat sich unser Universum nicht nur maßlos ausgedehnt, sondern auch abgekühlt. Und dieser Abkühlungsprozess, der Leben auf der Erde ermöglicht hat, wird es auch sein, der das Leben auf Erden beendet.» Er legte eine Pause ein, steckte die Hände in seine Jackentaschen und schritt gesenkten Hauptes über die Bühne wie ein nachdenklicher Spaziergänger. «Die Galaxien können sich den drei Gesetzen der Thermodynamik nicht entziehen und entfernen sich immer weiter voneinander. Alles altert. Alles erschöpft sich. Das Ende der Welt kommt näher. Sterne werden erlöschen, die magischen Löcher verdampfen, die durchschnittliche Temperatur wird auf den Nullpunkt sinken. Die Menschheit wird ihr Tun auf dieser eisigen Weltbühne nicht mehr fortsetzen können, sie wird untergehen.» Frey stieß theatralisch einen bedauernden Seufzer aus, schüttelte den Kopf, erst still, dann immer heftiger, bis es beinahe zornig aus ihm hervorbrach: «Aber wir sind weder willenlose Pflanzen noch einem fatalen Schicksal anheimgegebene Tiere. Wir sind der Mensch! Jawohl, das sind wir! Und seitdem er diese schreckliche Entdeckung gemacht hat, fragt sich der Mensch, ob er das, was auf ihn zukommt – einschließlich des Untergangs des Universums selbst –, überleben kann. Die Antwort, meine Damen und Herren, ist ein deutliches ‹Ja›. Dazu braucht sich der Mensch nicht wie ein lebensmüder Krieger dem Chaos entgegenzustellen, muss er es nicht mit der Natur selbst aufnehmen …, mit der ganzen Welt …, mit Gott. Nein, dergleichen Bravourstücke hätten nicht den geringsten Sinn. Es reicht, wenn er … flieht. Ja, er muss nur in ein anderes Universum reisen. Aber wie soll das gehen?, werden Sie fragen. Können wir unser Universum einfach verlassen und darauf vertrauen, ein anderes zu finden, in dem die richtigen Bedingungen herrschen, um ganz von neuem anzufangen? In sämtlichen Labors dieser Welt sind die Tafeln vollgekritzelt mit Formeln, die diesen Exodus ermöglichen sollen. Doch vielleicht, meine Damen und Herren, ist unsere Rettung näher, als wir denken, und nur von einem der beiden außergewöhnlichen Geister abhängig, die heute abend unsere Gäste sind.»

Wells ließ den Blick über das Publikum schweifen, das die Ausführungen des Moderators mit tosendem Applaus bedachte. Plakate und Transparente wurden geschwenkt. Alle diese Menschen waren – genau wie er – in eine zum Tode verurteilte Welt geboren, und selbst wenn keiner von ihnen das von Frey so rücksichtslos beschriebene Ende, diesen sogenannten Tag des Chaos, erleben sollte, wussten doch alle, dass ihre Enkel oder die Enkel ihrer Enkel ihm nicht entgehen konnten. Die Voraussagen bezogen sich auf nur wenige Generationen, da die Erkaltung des Universums rascher voranschritt als anfangs angenommen. Und das sollte das Erbe sein, das sie ihren Nachkommen hinterließen? Ein erkaltetes Universum, in dem kein Leben mehr möglich war? Nein, ganz bestimmt nicht! Gott hatte sie zwar herausgefordert, aber sie hatten den Handschuh aufgenommen. Als er alt genug war, um zu verstehen, hatte seine Mutter ihm gesagt, dass alles, was er sah – und das war damals der Hinterhof ihres Hauses in Bromley; aber auch der Himmel und die Baumwipfel, die über der Mauer zu sehen waren –, zum Untergang verdammt sei, da die Welt nicht für die Ewigkeit geschaffen war, obwohl der Schöpfer so gnädig gewesen war, die Lebenszeit des Menschen kurz genug zu bemessen, dass er sich einbilden konnte, sie sei es doch. Und wie die meisten jungen Leute seiner Generation hatte auch Wells in einer orgiastischen Gier nach Wissen Bücher, Bücher und noch mehr Bücher verschlungen, angetrieben stets von dem romantischen Plan, die Welt zu retten. Konnte es ein höheres Ziel überhaupt geben? Was der naive Traum eines Kindes gewesen war, würde an diesem Abend vielleicht Wirklichkeit werden, denn er war der Fackelträger einer der beiden großen Theorien zur Rettung der Menschheit.

Wie vor der Veranstaltung ausgelost, übergab der Moderator das Wort nun an Charles, der einen Schluck aus seinem Wasserglas nahm, bevor er zu sprechen begann. Wells’ früherer Lehrer war nie einer von den hitzköpfigen, vor Energie berstenden jungen Männern gewesen, die die Welt erobern wollten. Jetzt hatte das Alter seine Gestalt gebeugt und verlieh ihr eine schmerzliche Zerbrechlichkeit. Er machte nicht einmal mehr den Eindruck, als könne seine Stimme die Kraft aufbringen, eine Gans zu verscheuchen. Nun stellte er sein Glas ab, begrüßte die Anwesenden und begann seine Rede.

«Seit der schrecklichen Nachricht, dass alles, was wir lieben, dem Untergang geweiht ist, steht die Frage im Raum, ob es uns mit Hilfe der Wissenschaft gelingen kann, unseren Planeten zu verlassen und auf einen anderen umzusiedeln. Die Antwort, verehrtes Publikum, ist ein klares Ja. Und ich bin heute Abend hier, um Ihnen zu erklären, wie wir das machen.»

Charles sprach bedächtig, vermied jede Erregung, damit seine Zunge ihm keinen Streich spielte und sich zwischen den Worten verhedderte. Gewiss hatte sein Logopäde ihn darauf eingestimmt. Seine Rede wirkte dadurch etwas steif und unterkühlt im Vergleich zu der von Wells, der sich die ganze theatralische Vehemenz zunutze zu machen gedachte, von der sich die Massen immer gerne mitreißen ließen. Zunehmend überzeugt, in der Debatte nicht unterliegen zu können, hörte er seinem alten Lehrer zu und wartete auf einen geeigneten Moment, ihm ins Wort zu fallen.

«Wie viele von Ihnen wissen, habe ich bis zu der denkwürdigen Debatte hier an diesem selben Ort, in der wir zu der Einsicht gelangten, dass das Universum sterben wird, nach einer Möglichkeit gesucht, die Atmosphäre des Planeten Mars mit Methangas anzureichern. Mein Plan war, auf dem roten Planeten einen künstlichen Treibhauseffekt zu schaffen, damit die Temperatur zu erhöhen und die Oberfläche aufzutauen, um Seen und Flüsse zu füllen und menschliches Leben zu ermöglichen, falls uns eine neue Eiszeit heimsucht und wir die Erde verlassen müssen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass die Erkenntnis vom Untergang des Universums meine Forschungsarbeit, ja mein ganzes Leben, schlagartig verändert hat. Der Mars war ebenso zum Untergang verurteilt wie der Rest des Universums. Wie jeder verantwortungsbewusste Wissenschaftler machte auch ich mich daraufhin an die Erforschung einer Möglichkeit, die Menschen in ein jüngeres Universum umzusiedeln, sie von dem über ihren Häuptern schwebenden Damoklesschwert zu erlösen. Seit der große Newton das Licht in unseren Köpfen entzündet hat – «Es werde Newton!», skandierte das Publikum im Chor –, wissen wir, dass unser Universum nicht das einzige ist, sondern nur ein Tropfen in einem endlosen Ozean, wie zahllose Studien und Experimente nachträglich bewiesen haben. Jede Gesetzmäßigkeit oder Gleichung, die dagegen spricht, gibt sich von vornherein der Peinlichkeit und Lächerlichkeit preis. Wir wissen auch, dass die Tropfen in diesem ewigen Ozean entstehen und vergehen, sich immerzu erneuern. Das ist eine schlechte Nachricht für uns, die wir uns in einem dieser vergehenden Tropfen befinden; zugleich jedoch ist es eine hoffnungsvolle Nachricht, denn in diesem Moment, in dem ich hier zu Ihnen spreche, entstehen zahllose neue Universen. Und irgendwo dort draußen erwartet uns eine leuchtende junge Welt, die sich perfekt dafür eignet, einer heimatlos gewordenen Zivilisation ein neues Zuhause zu geben. Aber wie kommen wir dahin? Wie sollen wir diesen zweifellos größten Exodus aller Zeiten in die Tat umsetzen? Ganz einfach: indem wir einen Tunnel bauen; auf so eine Idee kommt der dümmste Sträfling. Wie ich bereits in unzähligen Fachbeiträgen beschrieben habe, ist das Universum von Millionen magischer Löcher durchsetzt, die durch ihre grenzenlose Schwerkraft alles verschlucken, was in ihre Nähe kommt. Nun, möglicherweise gibt es ja einen Grund für die Existenz dieser Löcher. Vielleicht sind sie nur der subtile Fingerzeig des Schöpfers, mit dem er uns einen Ausweg aus der von ihm selbst gestellten Falle zeigt. Die Frage ist natürlich, was befindet sich hinter diesen Löchern? Theorien dazu gibt es viele, unendlich viele, wenn Sie mir den Scherz gestatten. Ich bin jedoch überzeugt, dass es in jedem dieser magischen Löcher einen Tunnel gibt, der mit dem magischen Loch eines anderen Universums verbunden ist. Noch sind wir allerdings nicht in der Lage, durch diese Löcher zu reisen, da sie sich leider in sehr weiter Ferne von unserem Planeten befinden und ihr Zustand äußerst instabil ist. Doch ein Problem ist das nicht, denn ich arbeite daran, ein künstliches magisches Loch in meinem eigenen Labor zu erschaffen. Und ich bin sicher, dass unter kontrollierten Bedingungen …»

«Das wird aber ein viel zu kleines Loch sein, mein lieber Charles», fiel Wells ihm nun ins Wort. «Ich kann mir nicht vorstellen, wie die ganze Menschheit Schlange steht, um einer nach dem andern da hindurchzumarschieren. Dabei würde ja der Schöpfer beim Zusehen einschlafen. Und ich weiß nicht, wie unser Publikum darüber denkt; aber ich will weder von einem magischen Loch noch von irgendwas sonst verschluckt werden. Sie wissen so gut wie ich, dass die dabei auftretenden Kräfte uns zermalmen würden.» Wells machte eine effektvolle Pause, dann fügte er mit spöttischer Miene hinzu: «Das Einzige, wozu Ihr magisches Loch mir gut zu sein scheint, ist, die Beweise eines Verbrechens darin verschwinden zu lassen.»

Die tausendmal vor dem Spiegel eingeübte Pointe löste die zu erwartenden Lacher im Publikum aus. Doch Dodgson ließ sich nicht beirren.

«Keine Sorge, George, das wird nicht passieren, wenn das Loch sich dreht, sodass die zentripetalen Kräfte die Schwerkraft neutralisieren. Wer durch das Loch geht, wird nicht zermalmt, sondern in ein neues Universum hineingesogen werden. Das Problem besteht nur darin, beide Kräfte in ein Gleichgewicht zu bringen, damit der Tunnel nicht zusammenbricht. Und wenn dieses Problem gelöst ist, muss natürlich auch nicht die ganze Menschheit hindurchgehen. Es würde reichen, ein paar Automaten zu schicken, in deren künstlichem Gedächtnis der genetische Code eines jeden Erdenbewohners einprogrammiert ist. Sie würden im neuen Universum Laboratorien errichten und die programmierte Information in lebendige Zellen implantieren. So könnte in kurzer Zeit die gesamte Menschheit reproduziert werden.»

«Da sei der Atlantische Kodex vor!», rief Wells in gespieltem Entsetzen, obwohl ihm dieser Lösungsansatz nicht fremd war. «Stellen Sie sich vor, die Automaten arbeiten fehlerhaft und wir alle betreten das neue Universum als Frösche!»

Neues Gelächter aus dem Publikum. Wells sah, wie Charles unruhig wurde.

«In d-d-dem Fall würde die gesamte Menschheit durch ein Loch von der Größe des Eingangs eines K-K-Kaninchenbaus passen», versuchte sich Charles mit einem Scherz aus der Affäre zu ziehen.

«Wohl wahr, wohl wahr. Aber zuerst müssten Sie das Loch einmal herstellen, mein Freund.» Wells setzte eine verdrossene Miene auf. «Meinen Sie nicht, dass das alles ein bisschen arg kompliziert ist? Warum sollte nicht jeder Mensch für sich ins neue Universum gelangen?»

«Ah, sehr gut, George. Dann machen Sie das doch! Und bringen Sie mir ein Glas Wasser von dort mit, denn meines ist leer», spottete Charles und hob sein Glas.

«Nichts täte ich lieber, als Ihren Durst zu stillen, Charles. Aber ich fürchte, dass ich Ihnen erst zu Diensten sein kann, wenn die Etat-Kommission mir die erforderlichen Mittel für den Sprung ins andere Universum gewährt.»

«Soll das heißen, Sie können den Sprung heute noch nicht tun, morgen aber wohl?», fragte der Professor mit belustigtem Lächeln.

Wells warf ihm einen verunsicherten Blick zu.

«Ja, das soll es heißen», sagte er zögernd.

«Nun, dann fürchte ich, dass es nie dazu kommen wird, denn wir werden nie im ‹Morgen› sein, immer nur im ‹Heute›.»

Das Publikum quittierte Charles’ Wortspiel mit lautem Gelächter. Wells verwünschte sich, so blind in die Falle getappt zu sein, doch er gab nicht auf.

«Was ich sagen wollte, ist, dass ich mein Ziel an dem Tag erreiche, an dem die Etatkommission mir die finanziellen Mittel zur Verfügung stellt», sagte er gedehnt, den Satz dabei auf Schwachstellen abklopfend, die Charles für ein weiteres seiner Wortspiele hätte nutzen können. «Wie Sie wissen, arbeite ich an der Herstellung eines Impfstoffs; eines künstlichen Virus, dem ich den Namen Chronothemius gegeben habe. Eine Hommage an die wissenschaftlichen Versuche aus der Renaissancezeit, als die Menschen erstmals über Zeitreisen spekulierten. Sobald es injiziert ist, verbindet sich das Virus mit unserem Blut und dem chemischen Fluidum unseres Gehirns, wobei es eine genetische Mutation auslöst, die uns ins andere Universum befördert, ohne dass wir von irgendwelchen Automaten auf der anderen Seite erst zusammengesetzt werden müssen. Ich bin nur noch einen Schritt von der Vollendung entfernt, von der ausgewogenen Dosis, die auf fast unmerkliche Weise die Molekularstruktur unseres Gehirns nachbildet und vervollkommnet, sodass wir sehen können, was uns bisher noch verborgen bleibt. Denn wie unser gebildetes Publikum zweifellos weiß, hat sämtliche Materie einen gemeinsamen Ursprung, den Urknall, aus dem das Universum hervorgegangen ist, weswegen die Atome unseres Körpers mit bestimmten Atomen von der anderen Seite des Kosmos in Verbindung stehen. Und wenn so ein Partikelchen, das sich am Rande unserer wahrnehmbaren Welt bewegt, mit uns in Verbindung treten kann, dann heißt das, dass auch wir den Abgrund dahinter überwinden können. Ob wir es wollen oder nicht, wir sind durch eine hauchdünne Nabelschnur mit diesen anderen Welten verbunden. Alles, was wir noch tun müssen, ist, sie vom Zustand des Atoms in unsere makroskopische Wirklichkeit zu übertragen.»

Die weitere Debatte verlief unter wohlfeilen Scherzen, trockenen, manchmal schneidenden Einwürfen, die darauf abzielten, den Widersacher der Lächerlichkeit preiszugeben oder ihn zu verunsichern, und sogar dem einen oder anderen Vergreifen im Ton seitens Charles Dodgsons, der immer nervöser wurde, je mehr sein ehemaliger Schüler die Gunst des Publikums zu erringen schien. Wells hingegen behielt die Ruhe, lächelte still vor sich hin, je mehr sein Rivale die Geduld verlor und sich schließlich so erregte, dass seine Ausführungen vor lauter Stottern kaum noch zu verstehen waren. Kurz vor Ende der Debatte, als er sicher sein konnte, das letzte Wort zu haben, sagte Wells, was er sorgsam einstudiert hatte:

«Ein kleiner Piekser. Nur ein kleiner Piekser mit meinem Serum, und wir alle werden Übermenschen, die in jeder denkbaren Dimension existieren können. Majestät, Eminenz, schenken Sie meinem Projekt Ihr Vertrauen und ich werde Sie zu Göttern machen, derweil mein verehrter Widersacher weiter mit seinen Kaninchenbaulöchern experimentiert.»

Charles hob zu einer Antwort an, als die Glocke erklang und das Ende der Debatte verkündete. Die Stimmverstärker fuhren ins Gehäuse der Redepulte zurück, und man hörte nur noch die Stimme Abraham Freys, der die Lebhaftigkeit und Intensität der Debatte lobte und die Führung der Kirche der Erkenntnis aufforderte, ihr Urteil zu sprechen. Das Orchester spielte wieder besinnliche Musik, und auf den Rängen diskutierten noch flüsternd die Kirchenoberen, als Kardinalin Tucker sich erhob und auf ihren Gehstock gestützt wartete, bis absolute Stille herrschte.

«Nachdem wir von beiden Kandidaten die grundlegenden Argumente für das Projekt ‹Rettung der Menschheit› vernommen haben», verkündete sie mit brüchiger Stimme, «sind wir zu folgendem Beschluss gekommen. Trotz der überaus geschätzten Gelehrsamkeit unseres verehrten Professors Charles Lutwidge Dodgsons sind wir der Meinung, dass die Verantwortung für unser aller Errettung in den Händen des überzeugenden und vielversprechenden Biologen Herbert George Wells liegen sollte, dem ich von hier aus meinen Glückwunsch aussprechen möchte. Möge die Erkenntnis mit Ihnen sein, Mr. Wells! Das Chaos ist unausweichlich!»

Wells fühlte seine Knie schwach werden, als nach der Verkündigung der höchstinstanzlichen Entscheidung die Menge in Triumphgeheul ausbrach und Hunderte von Fahnen mit dem Chaosstern den Saal in ein wogendes Meer verwandelten. Er hob die Hände, in die nun das Schicksal der Menschen gelegt war, und grüßte das tobende Publikum, das sogleich begann, rauschhaft seinen Namen zu skandieren. Er sah Jane und seine gesamte Labormannschaft sich auf der Ehrentribüne umarmen und auf die Schultern klopfen, während Dodgsons Gemahlin mit im Schoß gefalteten Händen unbewegt auf ihrem Platz verharrte und den Tumult um sich her nicht zur Kenntnis zu nehmen schien. Sie schaute nur ihren Gatten an, der mit gesenktem Kopf seine Niederlage eingestand. Wells hätte ihn gern getröstet, doch eine solche Geste wäre im Moment unangebracht gewesen. Auf ein Zeichen von Frey hin trat er an die Seite des Moderators und ließ zu, dass dieser zum Zeichen des Sieges seinen rechten Arm in die Höhe riss, woraufhin das Publikum noch lauter tobte und seinen Namen rief. Er war der Einzige in der brodelnden Halle, der neben sich die zornig hervorgestoßenen Worte seines Widersachers vernahm:

«Eppur si muove.»

Wells ignorierte sie und ließ sich breit lächelnd von seinem Publikum feiern, das jetzt von den Rängen herab- und nach vorne strömte. Eine Gruppe Studentinnen erklomm die Bühne und bat Wells, sein Autogramm in ihre Studienkladden zu kritzeln. Er tat es mit Vergnügen, während er in der vor der Bühne sich sammelnden Menge Jane entdeckte, die ihm verschwörerisch zublinzelte. Er sah nicht, wie sich Charles von seinem Redepult abwandte und von der Bühne ging, und er gewahrte auch nicht die riesige Gestalt eines Mannes, der sich zu dem alten Professor gesellte, bevor dieser in seiner Garderobe verschwinden konnte. Wells war viel zu beschäftigt damit, seinen Triumph zu genießen, denn – da konnte Charles sagen, was er wollte – er war es, der die Menschheit retten würde. Er und kein anderer. So war es beschlossen.

 

Acht Monate hatte er gebraucht, um das magische Serum zu finden, mit dem sich der Mensch ins Nachbaruniversum retten konnte, ohne irgendwelche Tunnel graben zu müssen. Acht Monate, in denen er und Jane und das gesamte Team Tag und Nacht arbeiteten, in dem ultramodernen Labor, das die Mittel der Kommission ihnen ermöglicht hatte, praktisch lebten. Als sie endlich glaubten, das Virus synthetisiert zu haben, bat Wells Jane, ihm Newton zu bringen, den Border-Collie-Welpen, den sie vor drei Monaten erworben hatten. Wells hatte beschlossen, dass ein Hund die Ehre haben sollte, dem Exodus der Menschheit voranzugehen, und nicht eine Ratte, ein Meerschweinchen oder Affe. Zwar wurde die Intelligenz letzterer Spezies allgemein als höher eingeschätzt, doch besaßen nur Hunde diesen ausgeprägten Instinkt, sogar über größte Entfernungen zu dem Ort zurückzukehren, den sie als ihr Zuhause betrachteten. Wenn der Sprung ins andere Universum also erfolgreich verlaufen sollte, bestand die winzige Chance, dass der Hund später – auf seiner eigenen Spur gewissermaßen – den Sprung zurück schaffen könnte. Sollte das gelingen, könnten sie eventuelle Spätfolgen des Serums untersuchen und die Auswirkungen, die der Sprung in ein anderes Universum auf den Organismus hatte. Jane hielt das Vertrauen ihres Gemahls in die allseits anerkannte Treue der Hunde für wenig wissenschaftlich, doch als sie den Welpen dann mit seinen freundlichen Augen und dem herzförmigen weißen Fleck auf der Stirn in seinem Käfig umhertapsen sah, schmolzen ihre Einwände wie Schnee in der Sonne. So kam der kleine Newton in das Haus der Wells mit der Aufgabe, sich Monate später in Luft aufzulösen; doch bis dahin hinderte ihn nichts, seine glückliche Rolle als Maskottchen zu spielen.

Als Jane mit dem Hündchen hereinkam, setzte Wells es auf den Labortisch, nahm sein Fell zwischen die Finger und spritzte ihm ohne große Umstände das Serum. Danach sperrten sie das Tier in einen kleinen Raum mit Fenster, der extra für diesen Zweck hergerichtet worden war, und dann wurde das ganze Laborpersonal zum Wachdienst rund um die Uhr eingeteilt. Man ging davon aus, dass das Virus durch die Blutbahn ins Hirn gelangen, dort die Zellen perforieren und ihnen neue Charaktereigenschaften zuführen würde, welche die Brisanz des Hirns zu Höhen trieb, dass es – um es bildlich auszudrücken – den Ariadnefaden sehen konnte, durch den es mit dem auf der anderen Seite des Universums wesenden Teil seines Daseins verbunden war.

Sie beobachteten Newton abwechselnd im Sechsstundenrhythmus durch die Fensterscheibe, wobei Jane lieber hineinging, um mit dem Welpen zu spielen und ihm die Ohren zu kraulen. Wells warnte sie, ihr Herz an das Hündchen zu verlieren, da es sich früher oder später in Luft auflösen werde und sie dann dasäße und nur noch den Teppich kraulte. Doch die Tage vergingen, ohne dass Wells’ Prophezeiung eintrat. Als die Zeit, die sie für den Zeitensprung veranschlagt hatten, auslief, traten sie in die Phase ein, in der die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums exponenziell zunahm, bis Wells eines Tages erkennen musste, dass ihr Warten auf das Verschwinden des Hundes mehr und mehr eine Frage des Glaubens und Starrsinns als der Wissenschaft war. Daraufhin erklärte er das Experiment für gescheitert und gab seiner Mannschaft das Leben des normalen Alltags zurück.

In den folgenden Wochen gingen sie jeden Handgriff noch einmal durch, den sie bei der Herstellung des Serums getan hatten. Der aus seiner Gefangenschaft erlöste Newton tollte ihnen dabei vergnügt um die Beine und zeigte nicht das geringste Anzeichen einer Verschlechterung seiner Gesundheit; allerdings auch keinerlei Neigung, das Wunder zu bewirken, auf das die Menschheit so sehnsüchtig wartete. Dabei sah auf dem Papier alles großartig aus. Das verdammte Serum musste funktionieren! Aber warum tat es das nicht? Sie versuchten es mit einer Veränderung der Stammkultur, aber keine der späteren Zusammensetzungen war so zuverlässig wie das Original. Alles deutete darauf hin, dass sie das richtige Virus synthetisiert hatten, das einzig mögliche. Wo also lag der Fehler? Wells suchte immer verzweifelter, war regelrecht besessen von der Idee, ihn finden zu müssen, während sein Team – einschließlich Jane – sich allmählich mit dem Gedanken anfreundete, dass die Theorie, auf der alles fußte, fehlerhaft war. Wells konnte das nicht akzeptieren, bekam sogar einen Wutanfall, als ein Mitarbeiter Entsprechendes andeutete. Ein Scheitern kam für ihn nicht in Frage. Also forschte er Tag um Tag verbissen weiter, wurde dabei immer unausstehlicher, sodass schließlich die ersten Mitarbeiter kündigten. Jane sah seinem irrationalen, immer einsameren Tun schweigend zu und fragte sich, wann er endlich einsehen würde, dass er die Mittel der Kirche an eine irrige Theorie verschwendet hatte.

Eines Morgens dann erhielten sie von Charles eine Einladung zum Tee in seiner Oxforder Wohnung. Während der letzten Monate hatten sie sich hin und wieder Briefe geschrieben, in denen sich Wells’ alter Lehrer höflich interessiert an dessen wissenschaftlichen Fortschritten gezeigt hatte, doch Wells hatte sich bedeckt gehalten. Er wollte sich Charles erst offenbaren, wenn es ihm gelungen war, sein Serum erfolgreich an Newton auszuprobieren. Dann würde er ihm schreiben oder mit seinem Sprechhandschuh anrufen und ihn zu sich nach Hause einladen, um ihn als ersten Wissenschaftler außerhalb seines Teams davon in Kenntnis zu setzen, dass die Menschheit einen Weg zu ihrer Rettung gefunden hatte. Doch Newton war nicht ins Nichts entschwunden, wie er es hätte tun sollen, und daher war es nie zu diesem Anruf gekommen. Zwei frustrierende Monate später erreichte sie dann die Einladung des alten Professors. Wells wollte sie erst nicht annehmen, da er nicht in der Stimmung dafür war. Er legte absolut keinen Wert darauf, vor Charles zugeben zu müssen, dass sein Serum nicht funktionierte. Doch Jane war der Meinung, dass die Ratschläge eines alten Freundes ihm vielleicht weiterhelfen könnten. Außerdem wohnte Charles immer noch im College der Kirche der Erkenntnis, in dem auch Wells studiert hatte. Möglicherweise würden die Erinnerungen, die in den ehrwürdigen Mauern noch lebendig waren, ihn ja beflügeln. Auf jeden Fall konnten sie in der herrlichen Umgebung des College lange Spaziergänge unternehmen, und ein bisschen frische Luft hatte noch keinem geschadet. Mehr um nicht länger mit Jane diskutieren zu müssen als aus Überzeugung oder gar Gefallen willigte Wells schließlich ein. Er gab sogar nach, als Jane darauf beharrte, Newton mitzunehmen – der, zu Hause allein gelassen, sich die Zeit damit zu vertreiben pflegte, jedes Kissen, jedes Buch oder sonstige Teil, das er zwischen die Zähne bekam, ausgiebig zu zerpflücken –, und so setzte eines kalten Winterabends ein Ornithopter das Paar samt Hund vor dem Eingang des College ab, wo Charles sie erwartete und sich vom Rotor des Flugapparats das sorgsam frisierte Haar durcheinanderwirbeln ließ.

Nachdem der Ornithopter wieder abgehoben hatte, maßen sich Wells und Dodgson einige Sekunden lang wortlos mit Blicken wie zwei Männer, die sich im Morgengrauen zu einem Duell verabredet haben. Schließlich brachen sie in Gelächter aus, traten aufeinander zu, fielen sich in die Arme und klopften sich immer wieder auf die Schultern, als wollten sie die Kälte vertreiben.

«Es tut mir so leid, dass Sie bei der Debatte unterlegen waren, Charles», sah Wells sich zu sagen veranlasst, als das Schulterklopfen aufhörte.

«Nein, nein, es muss Ihnen nicht leidtun», entgegnete Charles. «Das hätte es mir auch nicht getan, wenn Sie der Unterlegene gewesen wären. Jeder von uns glaubt, der andere irre sich; doch mir reicht es, wenn Sie mir zugestehen, ich hätte mich glänzend geirrt.»

Wells nahm mit belustigtem Lächeln zur Kenntnis, dass das Spiel mit Worten seinem alten Lehrer immer noch ein diebisches Vergnügen bereitete. Auch sein Stottern schien er gut im Griff zu haben.

«So ist es, Charles», antwortete er. «Ich selbst hätte es nicht treffender ausdrücken können.»

Charles begrüßte dann Jane mit ausgesuchter Zuvorkommenheit und entschuldigte seine Gemahlin, Pleasance, die noch im College unterrichtete. Wenn die Studenten sie nicht allzu sehr in Beschlag nahmen, würden sie sie vielleicht noch sehen.

«Und wen haben wir da?», wandte er sich an den Hund, der sogleich mit dem Schwanz zu wedeln begann.

Bevor Wells erwidern konnte, es handle sich um die unaufhörliche Erinnerung an sein Scheitern, sagte Jane:

«Das ist Newton, wir haben ihn seit fünf Monaten bei uns.»

Charles ließ sich auf ein Knie nieder und kraulte ihm den herzförmigen weißen Fleck auf der Stirn, wobei er Worte murmelte, die allein Newton verstehen zu können schien. Nach diesem Austausch von Vertraulichkeiten strich sich der alte Professor das durcheinandergewirbelte Haar glatt und geleitete seine Gäste durch einen kleinen Garten zu seiner Wohnung, die ganz in der Nähe des Turms der Kathedrale lag. In einem großen Zimmer, dessen Wände Tapeten mit tortengroßen Sonnenblumen zierten, stellte ein Dienstautomat gerade ein Teeservice auf einem edlen Holztisch ab, um den vier Chippendale-Stühle gruppiert waren. Als er sie eintreten hörte, drehte der Automat sich um, streckte seine Metallhände zu Boden und die Beine in die Luft, näherte sich ihnen im Handstand, nahm dann wieder eine menschengerechte Haltung ein und begrüßte die Neuangekommenen mit einer bühnenreifen Verbeugung, wobei er einen imaginären Zylinder zog.

«Sie können immer noch nicht der Versuchung widerstehen, Ihre Dienstautomaten umzuprogrammieren, Charles», bemerkte Wells.

«Nun, das ist meine Art, ihnen eine gewisse Persönlichkeit zuzuerkennen. Das Programm, mit denen sie geliefert werden, ist mir einfach zu langweilig», sagte der Professor schmunzelnd, und an den Dienstautomaten gewandt, fuhr er fort: «Vielen Dank, Robert Louise. Keiner drapiert die Teetassen so geschmackvoll um die Zuckerdose wie du.»

Der Dienstautomat bedankte sich artig und errötete beinahe – zweifellos ein weiteres von Dodgsons Extraprogrammen. Wells musste unwillkürlich lächeln, als Robert Louise mit knackenden Kniegelenken seinen Posten an der Tür einnahm und auf weitere Anweisungen wartete. Sein eigener Dienstautomat war ebenfalls ein Modell R.L.6 von Prometheus; aber er wäre nie auf die Idee gekommen, ihm auf Grundlage dieser Initialen einen Namen zu geben, und schon gar nicht darauf, ihm den Kopf aufzuschrauben und mittels einiger Neueinstellungen einen Zirkusakrobaten aus ihm zu machen. Charles wohl, klar. Charles konnte die Dinge nie so nehmen, wie sie kamen. Er musste sie nach seinem Ebenbild neu erschaffen. Aber genau darum hatte er ihn höher zu schätzen gelernt als seine anderen Lehrer am College.

Während Charles und Jane den Tisch deckten, sah Wells sich im Zimmer um. Hier stand neuestes technisches Gerät – ihm fiel ein Erwärmungsautomat für Nahrungsmittel ins Auge, ein Schreibhandschuh und ein Wärmestrahler und auf einem Beistelltisch sogar eine Staubschluckmaus mit ausgeweidetem Innenleben, als hätte Charles sie einer Autopsie unterzogen und dann vergessen, sie wieder zusammenzusetzen – neben allen möglichen anderen Objekten wie antikem Blechspielzeug und in einem Regal einer Sammlung von Spieluhren, die viel über das extravagante Wesen des Professors verrieten. Wells trat näher heran und strich behutsam mit den Fingern über die Kästchen, als wären es schläfrige Katzen. Er traute sich aber nicht, sie zu öffnen, ihre Musik und die kleinen Ballerinas lebendig werden zu lassen, die sich vielleicht in ihrem Innern verbargen. Am Ende des Regals wurde der Raum durch einen schweren Vorhang abgetrennt, hinter dem sich die terra ignota von Charles’ Laboratorium befand.

Die Tapeten im Zimmer waren mit Zeichnungen bedeckt, die Charles selbst angefertig hatte und mit denen einige seiner Mathematikbücher für Kinder illustriert worden waren. Trotz des spielerischen Geistes, der aus ihnen sprach, hatte die Kirche – die der Exzentrik des Professors gemeinhin wenig Positives abzugewinnen wusste – die Veröffentlichungen gutgeheißen, da sie der Meinung war, sie würden Kindern schon von klein auf helfen, ihren Verstand zu entwickeln. Trotzdem hatte Charles um seine Reputation als ernst zu nehmender Wissenschaftler gebangt und sie unter dem Pseudonym Lewis Carroll veröffentlicht. Den größten Teil dieser Bücher hatte er im goldenen Licht des Frühlings unter einem Baum am Themseufer sitzend geschrieben, nachdem er mit seinem Boot gemächlich ein Stück auf dem Fluss gerudert war. Mehr als einmal hatte Wells, der damals noch sein Schüler war, ihn auf so einer Ruderpartie begleiten dürfen.

«Setz dich zu mir», hatte Charles eines Tages zu ihm gesagt, «und stelle dir etwas vollkommen Nutzloses vor.»

«Etwas vollkommen Nutzloses?», hatte Wells wiederholt. «Ich fürchte, dazu bin ich nicht in der Lage. Was hätte das außerdem für einen Sinn?»

«Oh, mehr als du denkst», erwiderte Charles lächelnd und fügte, als er seinen Schüler immer noch zögern sah, hinzu: «Ich habe da etwas, das dir vielleicht helfen kann.»

Aus seiner Jackentasche zog er ein barockes Pillendöschen aus Porzellan, dessen Deckel sich – wie der einer Taschenuhr – durch einen Federmechanismus aufklappen ließ. Es war gefüllt mit feinem goldenem Pulver. Wells hob die Augenbrauen.

«Ist das … Elfenstaub?»

Zu seiner Überraschung nickte Charles. Nie wäre Wells in den Sinn gekommen, sein Professor könne diese Substanz konsumieren. Seit über zehn Jahren war sie von der Kirche verboten, weil man dort glaubte, sie würde das menschliche Hirn negativ stimulieren und zu unproduktiven Träumen animieren.

«Nimm ein bisschen davon und tu das Gleiche wie ich», ermunterte ihn Charles. Er nahm eine winzige Menge und schnupfte sie sich in die Nase. Dann reichte er das Döschen dem zögernden Wells. «Ich bitte dich, George. Trau dich! Was denkst du, ist der Daseinsgrund der Nase? Sich am Duft von Wiesenblumen zu erfreuen?»

Schließlich nahm Wells ein bisschen von dem Pulver, schob es sich in die Nase und sog es unter dem zustimmenden Lächeln des Professors ein, der, nachdem das Ritual nun beendet war, das Porzellandöschen wieder einsteckte, sich an den Baumstamm lehnte und zufrieden die Augen schloss.

«Jetzt lass deinen Geist fliegen, George», brummte er vergnügt. «Entdecke, welche Entfernung er zurücklegen kann.»

Wells lehnte sich ebenfalls an den Baumstamm und schloss die Augen. Mehrere Minuten lang versuchte er, an etwas Nutzloses zu denken, wie Charles vorgeschlagen hatte, doch dann richteten sich seine Gedanken unwillkürlich auf eine Frage, die ihn schon seit Tagen beschäftigte und die der Möglichkeit galt, Krankheiten festzustellen, indem man den Atem eines Patienten untersuchte, so wie man Blut und Urin untersuchte. Ein wenig enttäuscht dachte er daran, seinem Professor mitzuteilen, dass das Pulver bei ihm keine Wirkung zeigte, beschloss dann aber doch, mit immer noch geschlossenen Augen in seiner Stellung zu verharren, bis Charles ein Lebenszeichen von sich geben würde. Falls dieser dabei war, seinen Geist fliegen zu lassen, wie Kinder ihre Winddrachen fliegen lassen, wollte er ihn auf keinen Fall stören. Er konzentrierte sich darauf, die herrlich erfrischende Brise zu genießen, die das Wasser der Themse kräuselte, und um sich nicht zu langweilen, versuchte er einen Rhythmus oder eine Leitlinie in dem Gesumm der Insekten zu erkennen. Dann merkte er, wie er müde wurde. In dem Dämmerzustand fiel ihm noch auf, dass sein Geist irgendwie ins Schwanken geriet, seine Gedanken sich von hier nach dort bewegten und langsam ihrer Logik verlustig gingen. Als er erkannte, dass jeder Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, sogleich haltlos davonzutreiben begann wie ein Boot ohne Ruder, überkam ihn ein Anflug von Panik. Doch dann sagte er sich, dass sein Gehirn in Ordnung war und das Gedankenchaos in seinem Kopf allein von diesem Pulver herrührte, woraufhin er sich – mehr neugierig als ängstlich – ganz der Wirkung dieses Elfenstaubs überließ. Rätselhafte und ebenso unmögliche wie verlockende Bilder erblühten vor seinem inneren Auge, überlagerten sich und verschlangen sich ineinander in inzestuösen Kombinationen. Er sah Raumschiffe vom Mars auf die Erde zufliegen, unsichtbare Menschen und befremdliche Kreaturen, halb Schwein, halb Hyäne. Glühende Erregung packte ihn. Es war, als galoppierte er ohne Sattel auf einem wilden Pferd. Fasziniert ließ er dieses Gefühl intensiver werden, bis er das Gefühl hatte, auch auf einem Drachen reiten zu können. Er wusste nicht, wie lange das ging mit diesen Bildern, die kamen und gingen und keiner anderen Logik gehorchten als der des blanken Deliriums. Er nahm an, dass Charles an seiner Seite Ähnliches erlebte, doch als es kühler wurde und er die Augen aufschlug, sah er, dass sein Professor ihn verschmitzt lächelnd aufmerksam betrachtete.

«Was du getan hast, nennt man imaginieren, mein lieber George. Viele sind der Meinung, es sei für nichts gut; aber ich sage dir, das stimmt nicht. Wir sind, was wir imaginieren», wandelte er eine alte Redewendung ab. «Das wirst du im Laufe deines Lebens noch selbst herausfinden.»

Und so war es gewesen. Als Jane an jenem Abend schon schlief, war er in sein Arbeitszimmer gegangen und hatte sich den Schreibhandschuh übergezogen. Doch diesmal würde er weder einen wissenschaftlichen Essay noch sonst einen Artikel schreiben, der dazu beitrüge, die Rätsel der Welt zu erklären. Dieses Mal würde er die Geschichten niederschreiben, deren Bilder er unter dem Eindruck des Pulvers gesehen hatte. Er holte tief Luft und versuchte, sie sich ins Gedächtnis zu rufen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Sein Verstand, der wieder mit der gewohnten Schärfe arbeitete, tolerierte sie nicht. Es war, als würden sie seinen Widerstand herausfordern. Nachdem er stundenlang versucht hatte, sie in sein Bewusstsein zu heben, gab er sich geschlagen und trat auf die Terrasse hinaus. Der nächtliche Himmel hing voller Zeppeline. Dennoch fiel es ihm nicht schwer, die Umrisse der Albatros zu erkennen, das mit Propellern gespickte Luftschiff, das Verne Industries für den reichsten Mann des Planeten gebaut hatte: Gilliam Murray, der der Master of Fantasy genannt wurde. Auf seinen Kärtchen firmierte er zwar als Antiquitätenhändler, doch jedermann wusste, dass er es war, der den Elfenstaub synthetisch herstellte und vertrieb. Von seinem Luftschiff aus dirigierte der dicke Angeber ein unablässig wachsendes Imperium, ohne dass es der Kirchenpolizei je gelungen wäre, in das undurchdringliche Labyrinth seines Geschäftsmodells von Bestechung, Bedrohung und Erpressung auch nur einen Blick zu werfen. Unbehelligt von der mächtigsten Institution der Welt, hing die Albatros wie ein Schandfleck am Londoner Himmel und erinnerte die Menschen daran, dass sie, um die Grenzen ihres Geistes zu erkunden, nichts weiter zu tun brauchten, als eine Prise des goldenen Pulvers zu inhalieren.