Von der Liebe und anderen Körperteilen - Félix J. Palma - E-Book

Von der Liebe und anderen Körperteilen E-Book

Félix J. Palma

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Beschreibung

Dies ist eine Auswahl der schönsten Erzählungen von Félix J. Palma. Da schenkt ein Mann seiner Freundin als Liebesbeweis sein Auge und sein Herz, da beglückt ein anderer als verstorbener Sohn eine Dame. Eine Katze scheint sprechen zu können, ein Geiger wartet auf seinen Auftritt, um ihn dann zu verpassen. Eine falsche Mutter wird begraben, ein Schiff mit Albatrossen kommt angefahren. Franz Kafkas Puppengeschichte wird neu erzählt und das Schicksal von Anna Karenina öffnet einem Ehemann während des Sonntagsessens bei den Schwiegereltern die Augen. Mit hintergründigem Humor berichtet Palma von möglichen und unmöglichen Lebenslagen und entwirft unvergessliche Figuren, die die Grenze zwischen Wirklichkeit und Illusion nicht anerkennen wollen und die Leser in Palmas wunderbare Welt der tausend Möglichkeiten entführen.

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Seitenzahl: 351

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Félix J. Palma

Von der Liebe und anderen Körperteilen

Erzählungen

Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Dies ist eine Auswahl der schönsten Erzählungen von Félix J. Palma.

Da schenkt ein Mann seiner Freundin als Liebesbeweis sein Auge und sein Herz, da beglückt ein anderer als verstorbener Sohn eine Dame. Eine Katze scheint sprechen zu können, ein Geiger wartet auf seinen Auftritt, um ihn dann zu verpassen. Eine falsche Mutter wird begraben, ein Schiff mit Albatrossen kommt angefahren.

Franz Kafkas Puppengeschichte wird neu erzählt und das Schicksal von Anna Karenina öffnet einem Ehemann während des Sonntagsessens bei den Schwiegereltern die Augen.

 

Über Félix J. Palma

Inhaltsübersicht

Der Geiger auf dem DachDie SchneekugelEin Wort von dirDas Schiff der AlbatrosseRosen gegen den WindFauna der GefühleVon der Liebe und anderen KörperteilenMiauenDer tapfere AnästhesistDer Mann hinter dem VorhangDas Karenina-SyndromMakabre VerwechslungLand der PuppenHimmelfahrt zur HölleQuellenangaben

Der Geiger auf dem Dach

Es geschah während eines besonders heißen Sommers, in dem Brooklyns Übergewichtige eine Geheimgesellschaft zu bilden schienen, die sich mit Signalen von weißen Taschentüchern auf schweißüberströmten Gesichtern verständigten; in dem das Eis in den Waffeln schmolz und die Hände mit einem Netzhandschuh aus Milch überzog, bevor man einen Schattenplatz gefunden hatte, wo man es in Ruhe aufschlecken konnte; in dem der nächtliche Schlaf ein glitschiger Fisch war, der sich nur mit den Rauchsäulennetzen der Zigaretten einfangen ließ, die auf den Feuertreppen geraucht wurden, wo man Erwachsene und Katzen sich lieben hörte in den Armen eines klebrig-feuchten Universums. Ich stelle mir gern vor, dass ich der Einzige war, der die Ankunft des Geigers in all seiner Pracht und Herrlichkeit beobachtete; der Einzige, der jedes Detail seines Erscheinens im Gedächtnis bewahrte, als wüsste er schon, dass er davon später einmal würde berichten müssen. An jenem Morgen schaute ich aus dem Flurfenster im zweiten Stock unserer Pension zu Tom und Bobby hinunter und wartete darauf, dass sie endlich den Widerstand des Hydranten überwanden, damit ich hinuntergehen und mich nach gemurmelter Entschuldigung wegen Zuspätkommens unter dem dicken Wasserstrahl erfrischen konnte, der seinen Segen dann über den Gehweg ergießen würde. Tom und Bobby würden sich zwar vielsagende Blicke zuwerfen, doch die Hitze würde schon dafür sorgen, dass sich ihre Beschwerden auf den nächsten Tag verschoben. Mit meinen jüngst erreichten dreizehn Jahren war mir schon klar, dass das Leben denen gehörte, die die schwere Arbeit anderen überließen, besonders im Sommer. An diesem Tag jedoch wäre ich bereit gewesen, ihnen zu helfen, da sie sich zu ungeschickt anstellten und das Wasser einfach nicht kommen wollte. Mein Blick wanderte noch über die Straße, über jenen Zipfel der Welt, den ich wie meine Hosentasche kannte und dem ich keinerlei Überraschung mehr zutraute. Da sah ich den Geiger um die Ecke biegen, sah ihn gemessenen Schritts in unseren Vanilleeissommer eindringen, schmal wie ein Docht und blass wie ein Rettich, eingezwängt in einen Anzug, so schwarz wie die Spucke eines Bergmanns. Am meisten aber erregte der geheimnisvolle schwarze Geigenkasten meine Aufmerksamkeit, der auf Höhe seiner Knie zu erschauern schien wie ein auf den Strand geworfener kleiner Wal. Die ganze Straße stellte das Leben vorübergehend ein, um den Geiger herankommen zu sehen. Vielleicht verhinderten meine Stoßgebete, dass er am Ende der Straße wieder verschwand und uns unserem erbärmlichen Alltag überließ; bewirkten meine geballten Fäuste und Versprechen, nie mehr meine Mutter auf die Palme zu bringen, dass seine staubigen italienischen Schuhe vor der Tür unserer Pension zum Stillstand kamen.

Er schrieb sich nur mit seinem Nachnamen ein, Peterson, einem Tausendfüßler von Buchstaben, der kaum in die Spalte passte, auf die Papas fetter Finger wies, und der seine Rätselhaftigkeit noch vervollständigte, indem er sich mit den langweiligen Alltagsnamen der übrigen Gäste zusammentat. Die Geige war sein einziges Gepäckstück, sodass ich keinen Vorwand in Form einer Tasche oder eines Koffers fand, um ihn zu seinem Zimmer zu begleiten. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zuzusehen, wie er so geräuschlos nach oben glitt, dass die in den Sesseln des Vestibüls eingenickten Gäste verwundert aufschauten.

Die Erwachsenen warfen sich kurze Blicke zu, bevor sie sich wieder ihren Zeitungen widmeten, verwandten maximal eine Minute ihres Daseins darauf, sich am Kinn zu kratzen und auf die Treppe zu starren. Das Leben hält so viele Rätsel bereit, dass ab einem gewissen Alter eines mehr gar nicht auffällt. Aber ich war dreizehn; genau das richtige Alter, um mich mit der Mission zu betrauen, dem Geheimnis des Geigers auf die Spur zu kommen. Was suchte er ausgerechnet in unserem Viertel? War er ein berühmter Musiker? War er auf der Flucht? Musste er sich verstecken? Die Tatsache, dass sich eine so ungewöhnliche Person unter den gewöhnlichen Gästen unserer Pension befand, kam mir wie eine einzigartige Chance vor, etwas über die Welt jenseits unseres Viertels zu erfahren, jenseits des Gewirrs von Straßen und Gassen, die meinen Lebensraum bildeten. Und natürlich würde es mein Ansehen steigern, dass ich eine Geige in meiner Nähe, vielleicht sogar in Händen gehalten hatte. Wo wir wohnten, hatte man nicht besonders viele Gelegenheiten, außerhalb des Schaufensters von Eds Musikladen eine Geige zu sehen, geschweige denn zu berühren. In den nächsten Tagen ließ ich also sein Zimmer nicht aus den Augen, als würde die Tatsache, einen Geiger zu kennen, meine Kindheit retten oder ihr zu einer besonderen Geltung verhelfen können.

Die ersten Tage verließ der Geiger sein Zimmer nur zum Abendessen, und das nahm er immer im letzten Turnus ein, wenn ich schon seit zwei Stunden im Bett lag. Mama sagte, er äße nicht gern mit anderen zusammen, und obwohl der letzte Turnus nur aus zwei Gästen bestand, deren Tagewerk erst nach dem Abendessen begann, setzte sich Peterson an den abgelegensten Tisch, den er sich mit seinem schwermütigen Blick und den ewigen Zigaretten im Mundwinkel auserkoren zu haben schien. Eine so unruhige Erscheinung war er, dass er schon wieder beruhigend wirkte. Mama fand es angenehm, festzustellen, dass nicht alles im Leben mit einem Grinsen oder wutschnaubend aufgenommen werden musste, sondern dass man sich abseits halten konnte und damit begnügen, die Dinge zu beobachten, die Füße aus dem Wasser zu halten, nicht zwanghaft eine Wahl treffen zu müssen, weil jede Wahl einen Verlust bedeutete, dass man auch mit schrecklicher Geduld tausend Nächte und tausend Zigaretten lang auf den richtigen Wind warten konnte. Mama versicherte – vielleicht nur, um Papa zu widersprechen –, dass Peterson – mochte er in seiner von Zigarettenqualm umwölkten Ecke auch so wirken – kein Tagedieb war, sondern jemand, der mehr Dinge erlebt hatte, als uns erlaubt waren; so als hätte er seine Schwester nackt gesehen und quäle sich jetzt damit, dass sie ihm gefallen hatte.

Am fünften Tag meines Wachens bekam ich die Belohnung einer angelehnten Zimmertür, die ich mir nicht entgehen ließ. Ich betrat das Zimmer mit diesem verzagten Blick, den Erwachsene von einem Kind meines Alters erwarten und den ich auch gern als Generalschlüssel in solchen Situationen einsetze, obwohl ich darüber längst hinaus bin. Peterson saß auf dem Bett mit einer erlöschenden Zigarette in seiner Rechten und einem dieser Blechaschenbecher, die Mama in ihre Schürze lud und auf alle Zimmer verteilte. Nie waren mir die vier Wände unserer Gäste trostloser vorgekommen als in diesem Moment. Die Haltung des Geigers, wie er diskret auf der Kante eines Bettes saß, auf dem keine anderen Falten zu sehen waren als die, welche er durch sein Körpergewicht hervorrief, so als hätte er sich noch nicht die Mühe gemacht, den Rest der Matratze auszuprobieren, sowie die Tatsache, dass der still auf dem Nachttisch liegende Geigenkasten und das wie eine ausgeblutete Fledermaus am Haken hängende Jackett die einzigen Anzeichen für ein belegtes Zimmer waren, verliehen der Szene eine schmerzliche Behelfsmäßigkeit. Als er mich hereinkommen hörte, schickte er mir durch das Gewölk seines Zigarettenqualms einen nichtssagenden Blick zu, der mich weder zurückwies noch einlud. Mit dem Passierschein meines schwachsinnigen Gesichtsausdrucks näherte ich mich dem Bett. Peterson schien das aufgeregte Wedeln nicht zu stören, das ich um seine qualmende Gestalt herum veranstaltete, während ich mir einen genialen Satz auszudenken suchte, der der Anfang eines Gesprächs sein könnte. Erst als ich ihn bat, mir seine Geige ansehen zu dürfen, schien er mich zu bemerken. Er fügte den Stummel seiner Zigarette dem Seerosenkranz der ausgedrückten Kippen im Aschenbecher hinzu und schaute mich an. Es war ein merkwürdiger, anhaltender Blick, der sich wie ein feuchtes Handtuch um mich legte. Ich fühlte, wie seine Augen sich unendlich gelassen auf mich richteten, als wäre das ihre unvermeidliche Aufgabe, und der Blick dann gleichsam Wurzeln in mir schlug, als wollte er sich nie mehr von mir lösen. Gern hätte ich geglaubt, dass ich in dem faden Drama, das sein Leben vermutlich war, aufgehört hatte, nur Teil des Dekors zu sein, und ein qualifizierter Mitspieler geworden war, der auf der Bühne etwas darstellte, und was mich mit Stolz erfüllte.

«Eine stumme Geige ist die traurigste Sache der Welt», sagte er schließlich, auf eine Bitte antwortend, die mir schon so weit zurückzuliegen schien, als hätte ich sie im Traum oder in einem anderen Leben ausgesprochen. Seine Stimme klang schrecklich brüchig und welk, wie eine Musikbox an einem regnerischen Tag; als wäre sie gewohnt, sich nur in einer behaglichen Stille wie dieser zu entfalten und nie gegen Lärm und andere Stimmen anzukämpfen. «Eine Geige in ihrem Kasten zu betrachten», fuhr er fort, «ist dasselbe, wie ein Kind in seinem kleinen Sarg liegen zu sehen. Umhüllt von der leblosen Schönheit des Todes.» Er zog an der neu angezündeten Zigarette und wandte den Blick von mir ab. «Es ist nur ein seelenloser Gegenstand», sagte er, als ich nicht antwortete. Meine Neugier, mit der ich den schwarzen Geigenkasten auf dem Nachtschränkchen betrachtete, war noch größer geworden. «Dann spielen Sie doch etwas», bat ich. Peterson wandte langsam den Kopf in meine Richtung, etwas verärgert wohl, dann kniff er die Augen zusammen und spitzte die Lippen, und in seiner Miene schien sich Bestürzung abzuzeichnen. Das kraftlose Licht der blutrot untergehenden Sonne, das sich durch die schmale Fensteröffnung ins Zimmer schlich, verlieh seinen scharfen Gesichtszügen eine verschwörerische Dramatik. «Ich kann nicht, noch nicht», sagte er entschuldigend, «tut mir leid.» Eine Weile schauten wir uns durch den Rauch seiner Zigarette wortlos an, übertrieben, ja, lächerlich ernst, wie benommen von der unerwarteten Wendung, die unser Gespräch genommen hatte.

Das war alles, was wir an diesem Morgen sprachen. Trotz meiner lebhaften Neugier beschloss ich, sämtliche Fragen, die in meinem Kopf Schlange standen, zurückzustellen, den Geiger seinen düsteren Grübeleien zu überlassen und die Karte des geduldigen Vertrauten zu spielen. Die folgenden Tage beobachtete ich sein Kommen und Gehen möglichst unauffällig und prägte mir seinen Tagesablauf eines im Glas gefangenen Insekts ein. Peterson verbrachte viel Zeit draußen vor dem Hauseingang, lässig an einen Laternenpfahl gelehnt oder auf dem Bürgersteig auf und ab gehend, eine glimmende Zigarette in der einen, den Geigenkasten in der anderen Hand, als warte er auf eine endlos verspätete Straßenbahn. Den übrigen Gästen, die sich ebenfalls müßig in der Nähe der Pension herumtrieben, schenkte er so gut wie keine Beachtung. Für ihn waren sie wahrscheinlich kaum mehr als Geister aus dem Totenreich, und eine langsam ins Gesicht gepustete Qualmwolke war alles, was sie erhielten, wenn sie versuchten, mit dem langen, hageren Schweiger ein Gespräch anzufangen. Sein Blick glitt träge über die Straße wie ein Hund, der lustlos an den Hauswänden schnüffelt, um dann ohne jede Ankündigung jäh zum Himmel hinaufzuzucken wie eine erschrocken aufflatternde Taube und gleich darauf wieder mit der taumelnden Lustlosigkeit einer herabsinkenden Feder auf die Erde zurückzukehren. Die meiste Zeit des Tages verbrachte Peterson jedoch auf der Dachterrasse. Er nahm sich einen Stuhl mit hinauf und saß dort rauchend, den Geigenkasten zu seinen Füßen wie einen alten Hund, der zwischen seinen Schuhen schlief. Und abends, wenn die Dunkelheit sich herabsenkte, um die Abschabsel des Tages fortzufegen, stieg er wie entmutigt in das kleine Wohnzimmer der Pension hinunter, wo er fast immer zum Telefon ging und ein kurzes Gespräch führte, das aus kaum mehr als einsilbigem Flüstern und düsterem Kopfnicken bestand und nach dem er oft noch niedergeschlagener wirkte.

Ich versuchte, mich in jeder freien Minute lautlos in seinem Blickfeld zu bewegen, sodass ich der erste Mensch wäre, auf den er seine Augen richtete, wenn er in die Wirklichkeit zurückkehrte und sich zu orientieren suchte. Jedes Mal, wenn Mama Bettlaken zum Trocknen aufhängen wollte, riss ich ihr den Wäschekorb aus der Hand und rannte, eine Fährte von Pfützen und Wäscheklammern hinterlassend, die Treppe hinauf, glücklich, mich auf so unverfängliche Weise in die Nähe des Geigers bringen zu können, während Mama meinen Eifer vermutlich als das vorbildliche Verhalten eines zukünftigen Gentlemans ansah. Nachdem ich die Wäsche aufgehängt hatte, lungerte ich noch auf der Dachterrasse herum und ging Peterson sogar um eine Zigarette an, um noch eine Weile in seiner Nähe sein und ihm helfen zu können, das Abendrot zu beobachten, das sich vor uns auftat.

Auf diese Weise entdeckte ich, dass meine Geduld, wie die aller Menschen, mit Ausnahme vielleicht des Geigers selbst, ihre Grenzen hatte. Eines Abends, ich hatte genug von seiner Schweigsamkeit und kannte alle Farben des verlöschenden Tages für immer auswendig, wagte ich es, an unser vor Tagen schon unterbrochenes Gespräch anzuknüpfen. «Warum spielen Sie nie auf Ihrer Geige?», fragte ich. Peterson bedachte mich mit einem langen Blick aus seinen wie immer halb beleidigt und halb verdrossen wirkenden Augen. Aber er rauchte einfach stillschweigend weiter, ignorierte meine Frage, machte meine vage Hoffnung auf Kameraderie gewissenlos zunichte. Erst am nächsten Abend gab er mir Antwort, als ich schon im Begriff stand, mit dem leeren Wäschekorb unterm Arm die Treppe hinunterzugehen, eine gekränkte Miene zur Schau tragend, als letzte Patrone gewissermaßen einer Strategie, die mir definitiv durchkreuzt worden zu sein schien. Sein unerwarteter Stimmungswechsel überraschte mich. Peterson winkte mich zu sich heran, als bereue er die Gleichgültigkeit, mit der er mich am Tag zuvor behandelt hatte. Er ließ mich vor seinem Stuhl auf den Boden hocken und versuchte sich an einem Lächeln, einem unbeholfenen und rührenden Lippenschürzen, dem Lächeln eines Clowns, der zum ersten Mal in der Arena steht und sich zu viel Farbe ins Gesicht geschmiert hat. Vielleicht brauchte er am Ende auch einen Freund; jemanden, der ihm als Oase diente auf der einsamen Reise, auf die er sich begeben hatte; jemanden, an dem er ausprobieren konnte, ob seine Worte noch funktionierten und nicht unbrauchbar geworden waren vor lauter Schweigen. In vertraulichem Ton erzählte er mir, wie er Geige spielen gelernt hatte, von den Jahren des Übens und der beinahe religiösen Hingabe an dieses sinnliche und hochmütige Instrument, dessen delikate Rundungen aus Holz ihm in seiner Jugend die warmen Formen ersetzt hatten, nach denen seine Finger eigentlich verlangten. Mit einem ganz unerwarteten Spektrum erregter Gesten und dramatischer Züge an seinen Zigaretten berichtete er von langen, einsamen Nächten, in denen er den Rohstoff eines Talents bearbeitete, für das ein alter Lehrer seiner Kindheit, an dessen Namen er sich schon nicht mehr erinnerte, vor seiner Mutter gebürgt hatte, bis seine Finger schließlich eine mehr als bemerkenswerte Geschicklichkeit erlangten. Doch damit nicht genug, wollte er noch herausfinden, ob wahres Genie in ihm schlummerte, ob die unvermeidlichen Träume, die durch sein Hirn geisterten, auch nur die geringste Chance hatten, wahr gemacht zu werden. Zur Vervollkommnung seiner Kunst wählte er La Campanella des von ihm bewunderten Meisters Paganini, eines Geigers aus Genua, von dem es hieß, er habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Er spielte dieses Stück über Jahre und Rückfälle hinweg, näherte sich seinem Ideal so verzweifelt langsam, dass er schon glaubte, es nie zu erreichen. Doch eines Nachts dann, als er wieder einmal ohne rechte Überzeugung sein Instrument strapazierte, stellte er nach dem letzten Ausklang fassungslos und regelrecht bestürzt fest, dass er das vielbefummelte Stück soeben in höchster Vollendung gespielt hatte. Nachdem das Wunder geschehen war, hatte ihn jedoch eine Art Aberglaube gehindert, das Stück noch einmal zu spielen. Vielleicht hatte er auch nur Angst, festzustellen, dass die meisterhafte Interpretation mehr dem Zufall als seiner mutmaßlichen Geschicklichkeit zu verdanken war. Dieser beunruhigende Gedanke hatte dazu geführt, dass er die Geige fortan in ihrem Kasten unter Verschluss hielt, als könnte er dort den herrlichen Klang der ihren Saiten entlockten Melodie bewahren, so wie man eine Taube in seinen Händen hält, ihr Temperament unterdrückend, ihr den Himmel vorenthaltend, bis der richtige Augenblick gekommen ist.

Und dieser Augenblick konnte jeden Moment eintreten, versicherte er. In der obersten Etage des Gebäudes gegenüber unserer Pension besaß Don Paolo Volpi ein großes Apartment. Volpi war ein wohlhabender Impresario, der unter vielen anderen Unternehmen auch ein bekanntes Varieté am Broadway leitete. Im Viertel wusste man nicht viel über ihn zu berichten, doch das Wenige, was ich von Don Paolo wusste, war, dass er gutes Essen mochte, dicke Zigarren und dralle Tänzerinnen. Und dass er in Geld schwamm, denn er hatte einen Goldzahn und war immer auf Reisen. Nur selten sah man seine wohlgerundete Gestalt durch die Straßen unseres Viertels schlendern, die Händler und Ladenbesitzer mit seinem strahlenden Lächeln grüßen wie ein Staatsmann, der ein Bad in der Menge nimmt. Die meiste Zeit des Jahres waren die Rollläden vor seinen Fenstern geschlossen, und sein Balkon zeigte schamlos eine Reihe verstaubter Keramiktöpfe voller verwelkter Blumen. Zu diesem Balkon wanderte immer und immer wieder Petersons Blick, denn Don Paolo, erzählte mir der Geiger, rühmte sich des vortrefflichsten Gehörs der ganzen Ostküste und hatte, wenn man den Kritikern glauben durfte, das wohl einzige Orchester gegründet, das es mit einem Engelschor aufnehmen konnte. In dieses Orchester aufgenommen zu werden, war Petersons Traum, doch er hatte es nie bis zu einem Vorspieltermin gebracht. Das war der Grund, weshalb er in unserem Viertel gelandet war, warum er Stunde um Stunde auf unserer Dachterrasse saß und mit tragischer Gebärde zwischen Katzen und zum Trocknen aufgehängter Wäsche seine Zigaretten rauchte. Darum hockte er auf dem Dach, die Geige stets bereit, den Blick auf Don Paolos Balkon gerichtet und in den Fingern das zuckende Verlangen, in die Saiten zu greifen und noch einmal jenes unbändige Ross zu reiten, das Paganinis Campanella war. «Wenn er sich sehen lässt, hole ich die Geige heraus», sagte er mir, «das schwöre ich dir.» Er nahm einen tiefen Zug und beschloss seinen Bericht mit einem zittrigen Lächeln, das eher die Grimasse eines gequälten Mannes war.

Ich lächelte ebenfalls, weil ich fasziniert, vor allem aber hochzufrieden war. Petersons Geschichte hatte alle meine Erwartungen mehr als erfüllt. Ich ahnte, dass der Geiger eine ebenso wunderbare wie mysteriöse Vergangenheit hinter sich herschleppte wie ein Pfau sein zusammengelegtes Schwanzgefieder und dass er allein mir Einblick in diese Vergangenheit gewährt, mir den ganzen Fächer ihrer herrlichen Farben vorgeführt hatte. Ich stellte mir vor, wie er ganz allein mit seiner Geige aufgewachsen war, abgeschnitten von der Welt in seinem Aquarium aus Noten und Partituren, gebannt wie eine Motte vom Glamourlicht des Ruhms, der auf meiner Dachterrasse seine Vollendung finden würde und dessen Zeuge ich sein würde, und sollte es mich das Leben kosten: Peterson als stehender Schattenriss gegen das glühende Rot der Abendsonne, die Geige unters Kinn geklemmt, den Rücken durchgedrückt, die sorgsam gehegte Melodie zu den Ohren eines überraschten Don Paolo hinaufschwebend, der oben seine Blumen goss. Meine gerührte Miene schien Peterson zu gefallen, sodass sein Lächeln an Starre verlor und Natürlichkeit gewann. «Niemand darf davon erfahren, verstanden?», fügte er hinzu. «Es bleibt unser Geheimnis.» Ich nickte aufgeregt ob dieser Bitte, die seine Geschichte noch wahrhaftiger machte, ob der behutsamen Komplizenschaft, mit der er mir ein Stück seiner Seele anvertraut hatte, wie ein Cowboy, der den Kaffee mit einem teilt, der an sein Lagerfeuer getreten ist. Er ging sogar so weit, seine freundliche Geste dadurch zu vervollständigen, dass er mir mit der Hand durchs Haar fuhr, was wohl eine eher ungewohnte Bewegung für ihn war, gemessen daran, wie wenig graziös sich seine geschmeidige Rechte durch meinen Lockenschopf wühlte. Dann wandte er mir wieder den Rücken zu und begrub seinen Blick in die untergehende Sonne, die den Himmel entzündete. Ich betrachtete seinen Nacken, das Wippen der Zigarette, die krakelige Schrift ihres kräuselnden Qualms, in meiner Brust ein Gefühl, das fast Zärtlichkeit war. Bis zur Ankunft des Geigers war mein Herz unfähig gewesen, ein Gefühl wie dieses hervorzubringen, Mitleid und Bewunderung, Bedauern und Stolz in sich zu vereinen. «Wen rufen Sie jeden Abend an?», fragte ich, begierig, auch dieses Teil in das faszinierende Puzzle seiner Geschichte einfügen zu können. Ich sah die Finger, die die Zigarette hielten, wie in einem Krampf erstarren, um dann in altgewohnter Eleganz ihren Weg zu den Lippen zu finden. Es dauerte drei nachdenkliche Züge, bevor er antwortete. «Evelyn», sagte er dann, «ich rufe Evelyn an.» Eine weitere Erklärung war nicht nötig. Der untröstliche Ton, in dem er den Namen aussprach, genügte, um mir eine schöne schlanke Frau mit einer Frisur wie ein Filmstar vorzustellen, die ihn in einem Zuhause erwartete, das ohne seine Anwesenheit von Tag zu Tag kleiner wurde; die sich fragte, wie lange ein Traum brauchte, um wahr zu werden, wie lange sie es noch aushalten konnte, nur seine am Telefon immer brüchiger werdende Stimme zu hören. Evelyn und ihre hellen Augen hinter den Jalousien. Evelyn im Regen auf der Straße. Evelyn, die an endlosen Abenden Schatten zählt. Evelyn, der all die Küsse und Liebkosungen verdorren, die sie in ihrer Erinnerung bewahrt. Evelyn, eines herrlichen Gemäldes letzter Pinselstrich.

Am nächsten Morgen schickte Mama mich los, mehrere Besorgungen zu machen, die mich bis fast an den Rand unseres Viertels führten. Die ganze Nacht lang war mir die Geschichte des Geigers nicht mehr aus dem Kopf gegangen, hatten mich die romantischen Bilder verzaubert, die sie in meinem Geiste entzündet hatte. Auf dem Rückweg beschloss ich, in Eds Musikladen vorbeizuschauen, denn ich musste mir unbedingt eine Geige ansehen, endlich eine klare Vorstellung von diesem Instrument bekommen, das Petersons Leben so nachdrücklich bestimmte. Ein paar hingen im Schaufenster wie Räucherfische im Kamin. Trotz ihrer nicht zu leugnenden Schönheit, ihrer harmonischen Linien einer sprungbereiten Gazelle, konnte ich nicht mehr in ihnen erblicken als leblose Gegenstände, traurige Objekte ohne Seele. Ohne die begnadeten Hände, die es brauchte, ihnen Sinn zu entlocken, waren sie nicht mehr für mich als ein willkürliches Zusammenspiel von Holz und Metall.

Zurück in der Pension, wollte ich Peterson davon erzählen. Papa saß hinterm Empfangstresen, in die Sportseiten der Morgenzeitung vertieft, da er zu jener Sorte von Erwachsenen gehörte, die den Wechselfällen des Baseballs mehr Bedeutung beimessen als denen des eigenen Lebens. Ich sah den Geiger nicht im Vestibül, daher nahm ich an, dass er sich noch in seinem Zimmer aufhielt. Ich trabte die Treppen hinauf und bog um die Ecke des Korridors. Die Tür von Petersons Zimmer war geschlossen, was mich wunderte, da er sich angewöhnt hatte, sie immer einen Spalt offen stehen zu lassen, damit der Zigarettenqualm nicht das ganze Zimmer einnebelte. Vielleicht war er schon oben auf der Dachterrasse. Ich hob schon die Hand, um anzuklopfen, da wurde die Tür von innen geöffnet. Mama schaute mich eine Sekunde lang an, als ob sie mich nicht erkannte. Ich lächelte sie an, stellte mein Lächeln jedoch sogleich wieder ein, als sie es nicht erwiderte, sondern mich mit zusammengekniffenem Mund und argwöhnischem Blick nur anstarrte. Ihre ernste Miene beunruhigte mich, und ich starrte zurück, weil ich mich nicht zu verhalten wusste. Schließlich öffneten sich ihre Lippen – nicht ohne Mühe – zu einem Lächeln, das wer weiß wen von uns beiden beruhigen sollte. Ich sah, dass sie mehrere der Blechaschenbecher in der Hand hielt. Mit der anderen Hand fuhr sie mir dann übers Haar und ging zum nächsten Zimmer, warf mir über die Schulter noch einmal diesen merkwürdigen Blick zu. Peterson stand in seiner üblichen eingesunkenen Haltung am Fenster und rauchte. Der Qualm, den er langsam über seine Lippen quellen ließ, hatte die Form von Seepferdchen. Ich musste mich räuspern, damit er mich bemerkte. Als er mich sah, schien er zusammenzuzucken. Er lächelte in sich hinein, schüttelte den Kopf und kam dann so langsam auf mich zu, als schritte er durch eine Wasserpfütze. Er legte mir seine rechte Hand auf die Schulter. Er hatte einen seltsamen Geruch an sich, herb und mild zugleich, als hätte er auf einem Bett aus Chrysanthemen geschlafen. «Komm, Junge, ich lade dich zu einem Eis ein», sagte er.

Rody’s war die beste Eisdiele im Viertel, und sie lag gleich in unserer Straße. Der Geiger kaufte jedem zwei Kugeln Schokoladeneis, und wir setzten uns damit auf den Bordstein vor unserer Pension. Der Nachmittag ließ sich Zeit, in den Abend überzugehen, die Hitze nahm eher noch zu, und kein Lüftchen rührte sich. Die Welt war wie eine Fotografie ihrer selbst. Ich konzentrierte mich sofort auf mein Eis, als die ersten Schokoladenrinnsale in der Farbe trockenen Blutes von der Waffel zu tropfen begannen. Es war das erste Mal, dass ich zwei Kugeln Eis bekommen hatte, und ich war nicht gewillt, das kleinste bisschen davon zu verschwenden. Ich wünschte, Tom und Bobby würden auftauchen, von dem seltenen Geruch erfüllter Wünsche angelockt, als stumme Zeugen meinem Genießen beiwohnen und die Schokoladenewigkeit mit ihrem Neid unsterblich machen. Denn wozu war es gut, zwei Kugeln Eis in der Waffel zu haben, wenn niemand sie sah! Da sprang Peterson plötzlich auf die Beine. Ich schaute ihn überrascht an. Seine Gesicht war verzerrt, die Augen weit aufgerissen, die Lippen dunkel von Schreck und Schokolade. Ich folgte seinem Blick zu Don Paolos Balkon. Der Impresario hatte die Unterarme auf das Geländer gestützt und betrachtete die Straße mit der Mischung aus Wohlgefallen und Gleichgültigkeit dessen, der der Hölle entronnen ist, sich aber noch sporadische Besuche leisten kann. Die dünnen Haarsträhnen auf seinem Kopf waren ungekämmt, der mächtige Bauch wurde von einem Trägerunterhemd gehalten, aus dem eine Wolke grauen Brusthaars quoll. Peterson drehte sich zu mir, gab mir sein Eis und rannte in die Pension.

Ich reagierte zu spät, brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass der Ausgang der Geschichte, die mich so gefangen hielt, jetzt stattzufinden begann. Peterson lief zu seiner Geige, und ich müsste hinterherlaufen, wenn ich einen Platz in der ersten Reihe ergattern wollte. Ich blickte auf die beiden wie Trophäen glänzenden Eiswaffeln in meinen Händen. Ich schaute auf den verbeulten Papierkorb, der sich so passend und in einladender Nähe links von mir befand. Ich warf einen Blick zu Don Paolo hinauf, der sich gerade mit müder Geste eine Fliege aus dem Gesicht scheuchte. Der nächste Blick galt wieder den beiden schon halb geschmolzenen Zeptern in meinen Händen. Ich stieß einen Fluch aus und warf sie in den Papierkorb, dennoch dankbar, dass wenigstens Tom und Bobby es nicht sahen, für die eine solche Tat etwa dasselbe gewesen wäre, wie in einen Kelch zu pinkeln.

Papa sah ohne übermäßiges Interesse zu, wie ich durchs Vestibül flitzte, war vollkommen immun gegen die plötzlichen Anwandlungen eines Sohnes, die zu verstehen ihm ebenso unmöglich schien, wie ein ganzes Kreuzworträtsel zu lösen. Ich verschlang die Treppenstufen mit kannibalischen Sprüngen und stürmte durch den Flur, schier trunken ob des unmittelbar bevorstehenden Finales, und meine in Schokoladeneis gebadeten Finger hinterließen an den Tapeten flüchtige Abdrücke wie von flatternden Motten, die Mama sich nicht würde erklären können. Als ich an Petersons Zimmer vorbeikam, warf ich einen raschen Blick hinein, um mich davon zu überzeugen, dass der Geigenkasten, wie ich vermutet hatte, nicht mehr auf dem Nachtschränkchen lag. Ich keuchte vor Verbitterung. Der Geiger hatte einen beträchtlichen Vorsprung. Wenn in diesem Augenblick die vom Dach herabperlenden Klänge der Geige an mein Ohr drängen, würde ich wenig mehr tun können, als mitten im Flur auf die Knie zu sinken und in hilflose Tränen auszubrechen. Auf den letzten Stufen zur Dachterrasse schlug mein Herz vor Aufregung und Anstrengung hoch im Hals, und atemlos nahm ich die letzten Stufen, weil mir die Brust eng wurde von einem unerfreulichen Vorgefühl der Enttäuschung. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn sich der Ausgang dieser Geschichte noch ein paar Tage verzögert hätte, oder wenigstens so lange, dass ich die Vorfreude darauf voll hätte auskosten und mich auf eine letzte Vorstellung hätte einstellen können, die vielleicht wunderschön wäre, bei der aber auch endgültig der Vorhang fiel. Denn danach würde Peterson gehen; siegreich oder geschlagen, aber er würde gehen. Nichts würde ihn auf unserer Dachterrasse halten.

Als ich oben ankam, sah ich gerade noch, wie Peterson den Geigenkasten mit einer schlaffen Geste zuklappte, vernahm mit schrecklicher Klarheit das Einrasten der Schlösser. Ich rannte zu ihm, beugte mich keuchend über das Geländer und suchte Don Paolo, doch sein Balkon war leer. Peterson war zu spät gekommen. Seine Geige aus dem Zimmer zu holen, hatte ihn die Zeit gekostet, die der Impresario benötigt hatte, um wieder ins Haus zu gehen, weil er vielleicht der Fliegen überdrüssig war oder angewidert vom gedankenlosen Hin und Her seiner Nachbarn, der tristen Art, ihr Leben zu fristen, ohne mehr davon zu verlangen, als vom reichgedeckten Tisch die Krümel aufzulesen. Neben mir stand Peterson steif wie ein Totempfahl und starrte mit verhaltenem Zorn auf den leeren Balkon, als könne er nicht glauben, was geschehen war. Eine ganze Weile stand er so, ohne Kraft oder Lust, sich eine Zigarette anzuzünden, die linke Hand wie schwebend über dem Deckel des Geigenkastens. Ich blieb an seiner Seite, beobachtete den Balkon des Impresarios, obwohl immer offensichtlicher wurde, dass Don Paolo sich nicht mehr blicken lassen würde; hielt den schwarzen Kasten im Auge, in dem sich die Geige befand, die zu sehen sich so schwierig gestaltete; betrachtete zwischendurch sein Gesicht und war überwältigt von der Gier, die in seinen Augen loderte, von der Entschlossenheit, die seine Lippen straffte. In seinem Gesicht sah ich die Abenddämmerung herabsinken. Ich sah den Nachmittag in seinen Haaren welken, in seinen Pupillen träge ersterben. Ehe ich michs versah, war es dunkel geworden. Mit den Händen in den Hosentaschen stieg ich die Treppen hinunter zum Abendessen, wohl wissend, dass ich kaum mehr als darin herumstochern und schließlich zu Bett gehen würde, ohne diesen Sauerkirschengeschmack aus dem Mund zu bekommen, den verpasste Gelegenheiten hinterlassen.

«Du siehst noch trübsinniger aus als die Salatköpfe von Mrs. Flannery», sagte Mama am nächsten Morgen zu mir, als sie mich schlaff hinter dem Tresen hängen sah. Damit hatte sie wohl recht, denn ich hatte den ganzen Vormittag still nach ihr verlangt, brummend in alle Ecken gespäht und meine mutlose Gestalt immer wieder in ihr Blickfeld geschoben. Ich musste mit ihr sprechen, musste wissen, ob das Skalpell ihres Verständnisses scharf genug war, mir das Angstgeschwür herauszuschneiden, das mir über Nacht gewachsen war, als die Ereignisse des Nachmittags sich allmählich setzten und ich sie mit dieser schrecklichen Klarheit vor mir sah, die die Schlaflosigkeit mit sich bringt. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass es das bisher einzige Mal gewesen war, dass Peterson ohne seine Geige auf die Straße ging, und dass ich, erkannte ich mit stechendem Unbehagen, letztlich verantwortlich war für diese Nachlässigkeit, denn obwohl Peterson die Idee mit dem Eis gehabt hatte, war doch offensichtlich, dass nur meine Anwesenheit in seinem Zimmer ihn dazu gebracht hatte, diesen Vorschlag zu machen. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass, wäre ich nicht bei ihm aufgetaucht, der Geiger wie immer aufs Dach hinaufgestiegen oder auf die Straße gegangen wäre, auf jeden Fall aber sein Instrument mitgenommen hätte. Mich der Last dieser Schuld zu entledigen oder sie wenigstens leichter zu machen, sollte das Ziel meiner Beichte sein, auch wenn ich damit neue Schuld auf mich lüde, die darin bestand, dass ich Peterson verriet, wenn ich Mama in unser Geheimnis einweihte; ich betrachtete dies indes als einen harmlosen, für mich jedoch vorteilhaften Schuldtausch. Mama lauschte meiner Geschichte mit einem verständnisvollen Lächeln auf den Lippen, derweil Papa hin und wieder über den Rand seiner Zeitung schaute und uns missbilligende Blicke zuwarf, als begreife er nicht, was an unserem Gespräch ausgerechnet jetzt so wichtig sein sollte, da sich der beste third base, den die New York Americans je gehabt hatten, das Bein gebrochen hatte. «Quäle dich nicht, mein Junge», tröstete mich Mama, «manchmal passieren Dinge auf die eine und nicht auf die andere Weise. Außerdem wird Don Paolo sicher noch eine Weile bleiben, und bald wird sich eine neue Gelegenheit ergeben, die Peterson nicht verpassen wird.»

Mit Mama zu sprechen, erleichterte mich ein wenig; trotzdem traute ich mich den ganzen Tag nicht in Petersons Nähe, der, als wäre auch er von meiner Schuld überzeugt und wolle mir das deutlich machen, seinen Geigenkasten sogar mit hinunter ins Speisezimmer nahm. Ich beobachtete ihn, wie er, den Blick unverwandt auf Don Paolos Balkon gerichtet, auf dem Bürgersteig patrouillierte, mit dem Geigenkasten im Schoß auf der Dachterrasse saß und rauchte, Evelyn anrief und dabei kraftloser klang als je zuvor. Und genauso wäre auch der nächste Tag vergangen, wenn mein Vater mir nicht am späten Vormittag aufgetragen hätte, den Geiger aufzusuchen und zu ihm ins Vestibül zu bringen. Verdrossen stieg ich die Treppen hinauf. Nicht nur, dass ich das zwischen uns entstandene Schweigen würde brechen müssen, ich würde es auch noch mit einer schlechten Nachricht tun müssen, denn dass Papa die Anwesenheit des Geigers im Vestibül nicht wünschte, um sich mit ihm über Musik zu unterhalten, war ja wohl offensichtlich. Wahrscheinlich war Peterson mit der Miete im Rückstand. Wenn dem so war, würde ihm das sicher den Rest geben. Ich fand ihn in seinem Zimmer am Fenster sitzen und rauchen und überbrachte ihm die Nachricht mit versagender Stimme, ohne ihn direkt anzuschauen zu wagen. Peterson nickte mürrisch, ergriff seinen Geigenkasten und folgte mir nach unten.

Keiner von uns beiden war darauf vorbereitet, im Vestibül auf das breite Goldzahngrinsen von Don Paolo zu treffen. Papa stand neben ihm und zeigte ebenfalls grinsend ohne jede Scham seine schadhaften, gelb angelaufenen Zähne. Mama stand hinter dem Anmeldetresen und betrachtete die Szene schweigend. Don Paolo trug einen eleganten weißen Anzug, das Haar war mit Pomade auf Hochglanz gebracht, und zwischen den dicken Fingern seiner Rechten klemmte eine Havanna, deren Geruch nach Reichtum sich so schnell nicht verziehen würde. «Das ist der junge Mann, Paolo», verkündete Papa. Don Paolo trat einen Schritt näher und musterte den Geiger von Kopf bis Fuß, begutachtete sein scharf geschnittenes Gesicht, seinen verschlissenen schwarzen Anzug, schließlich blieb sein Blick auf dem Geigenkasten ruhen, den Peterson in seiner bleichen Hand hielt. Dann schaute er Peterson in die Augen, und dieser hielt dem Blick nur mit sichtbarer Mühe stand. «So, so, du willst also in meinem Orchester spielen», sagte er. Peterson wurde blass. Auf Don Paolos Lippen zeigte sich ein belustigtes Lächeln. Sein Goldzahn blitzte bei der Gelegenheit wie ein aufschnappendes Stilett. «Alles bereit», rief jemand aus dem Wohnzimmer heraus. Papa nickte zufrieden, legte dem verwirrten Peterson einen Arm um die Schulter und schob ihn in den Salon.

Zwei unserer Gäste hatten Stühle in Reihen aufgestellt und so ein improvisiertes Parkett geschaffen. Papa bat den Geiger nun feierlich und mit melodramatischer Stimme, auf dem Stuhl davor Platz zu nehmen, während wir übrigen uns auf die restlichen Stühle verteilten und eine erwartungsvolle und etwas lärmende Hörerschaft bildeten. Das Getuschel erstarb jedoch, als Don Paolo mit einer sensenden Armbewegung die Luft durchschnitt und damit jene tiefe, ehrfurchtsvolle Stille eintreten ließ, die man in Kirchen antrifft. Ich beobachtete die verstummte Zuhörerschaft, all die vertrauten Gesichter, die jetzt, vor Neugier erstarrt, den ernsten Ausdruck römischer Büsten zeigten. Zu den beiden Gästen, die die Stühle aufgestellt hatten, hatten sich noch Passanten von der Straße gesellt. Mama hatte sich der Hörerschaft ebenfalls angeschlossen, wenngleich sie es vorzog, uns vom Eingang her im Blick zu behalten. Als Papa sie sah, zog sich sein Lumpenhändlergrinsen noch mehr in die Breite. Don Paolo hatte sich in seinen Sessel geklemmt und betrachtete den Geiger mit so wohlgefälligem Lächeln, als führte er gerade seine Tochter zum Altar. Von seinem improvisierten Vorsitz aus schaute Peterson mit schmalen Lippen und argwöhnischem Blick verzagt in die Runde. Die ganze Sache war ihm aus den Händen geglitten. Ich sah, wie er nach Luft schnappte und um Fassung rang, als Realität zu begreifen suchte, was sich ihm als blanker Irrsinn darstellte, den zitternden Geigenkasten auf seinen dünnen Beinen ruhig zu halten suchte. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, bemüht, die eigene Erregung ebenfalls zu unterdrücken. Es war zwar nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber dennoch stand ich jetzt im Begriff, den Ausgang von Petersons Geschichte mitzuerleben, den letzten Vorhang seines bewegenden Heldenstücks. Endlich würde ich seine Geige sehen, seiner Musik lauschen, an seinem Traum teilhaben. Als ich die Größe des Augenblicks einigermaßen verinnerlicht hatte, straffte sich Peterson auf seinem Stuhl und bohrte seinen Blick in Don Paolos forschende Augen. Ich wunderte mich, als ich den absurden Zorn darin erkannte, der seine Pupillen weitete; eine starrende Wut, die seine Augen überquellen ließ. Vermutlich passte es nicht in sein Weltbild, dass trotz ihres chaotischen Anscheins die Welt eine hübsch geordnete Gegend war, in der man die beiden einzig existierenden Parteien derer, die träumten, und derer, die Träume wahr werden ließen, leicht voneinander unterscheiden konnte. Der Impresario hielt dem zornsprühenden Blick unbeeindruckt stand, zog genussvoll an seiner Havanna und sein Lächeln so in die Breite, dass es verstörend, beinahe schon boshaft wirkte. Er schien die Angst des Geigers zu genießen, als wäre dieser ein Insekt, das sich unter der gebündelten Hitze seiner Lupe wand. Das Duell der Blicke schien bereits eine Ewigkeit zu dauern, als Don Paolo mit den Augen auf den Geigenkasten deutete und dazu den Kopf etwas auf die Seite legte; eine Geste höflicher Aufforderung, die den Geiger noch mehr aufzubringen schien. Peterson betrachtete den Geigenkasten auf seinen Knien mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Hass; dann wanderte sein Blick zurück zu dem herausfordernden, dublonenglänzenden Grinsen des Impresarios und richtete sich schließlich wieder auf seinen Geigenkasten. Seine bleichen Hände strichen melancholisch über die metallenen Schlösser, während in seine Miene unerbittliche Entschlossenheit trat. Und als wir schon glaubten, jetzt würden die Schlösser aufspringen und die Geige freigeben, erhob Peterson sich brüsk von seinem Stuhl, riss den Geigenkasten an sich und stürzte aus dem Zimmer, wobei er sich mit dem Ellenbogen Bahn brach durch die verdutzten Gäste, die ihm im Weg standen.

Die unerwartete Flucht rief summendes Gemurmel hervor, in das wie eine Explosion das verstörende Gelächter Don Paolos krachte. Der Impresario schien der Einzige zu sein, den Petersons Flucht nicht überrascht hatte. Er saß in seinem Sessel und schüttelte sich vor Lachen; einem heiseren, schaudern machenden Lachen von diabolischer Bosheit. Ich schlich mich in dem Durcheinander nach draußen. Auf der Straße sah ich die entschwindende Gestalt des Geigers. Wie ein schlanker Kirchturm ragte sie über den Fußgängern auf. Mit einer Unwiderruflichkeit, als würde mir die Milz herausgenommen, sah ich ihn am Ende der Straße verschwinden. Das war das Ende, der letzte Akt eines unvollendeten Stücks. Peterson hatte nicht den Mut aufgebracht, seinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, und all seine Opfer kamen mir jetzt auf schmerzliche Weise nutzlos vor. Der kalte Abscheu, der unbändige Hass, den ich in seinen Augen gesehen hatte, war vielleicht auf niemand anderen als auf ihn selbst gerichtet, weil er im Augenblick der Wahrheit erkannte, dass er feige und verzagt war, unfähig, etwas zu riskieren, ein mögliches Versagen in Kauf zu nehmen, welches seinem Leben jeden Sinn genommen hätte. Ich stellte ihn mir an Evelyns Fenster vor: ein verwundeter Schatten, der seinen Geigenkasten über den Boden schleift, erledigt, ausgelaugt, vielleicht betrunken, zufrieden, dass es regnete und man seine Tränen nicht sah. Ich schüttelte den Kopf. Das war ein unerträgliches Bild. Nein, ich würde ihn nicht verurteilen. Ich weigerte mich, ihn als Feigling zu sehen. Vielleicht festigte ihn die Prüfung ja, anstatt ihn zu zerstören. Evelyn würde ihn mit ihren Zärtlichkeiten wieder aufrichten, die Last seines Kreuzes mit ihrer unerschütterlichen Hingabe erleichtern, und eines Tages vielleicht würde Peterson wieder genug Mut zusammenbringen, um sein Schicksal anzunehmen, sich vor Don Paolo hinzustellen, mit strahlendem Lächeln seinen Geigenkasten zu öffnen und auf Gedeih oder Verderb die Geige herauszuholen. «So gut wird er wohl doch nicht gewesen sein», hörte ich meinen Vater im Wohnzimmer sagen, gefolgt von seinem Kaninchenkichern. «Mit Sicherheit nicht, Irving», bestätigte Don Paolo, dessen Gelächter allmählich versiegte, «mit Sicherheit nicht.» An diesem Abend stieg ich auf die Dachterrasse, um den Sonnenuntergang zu betrachten, und rauchte eine Zigarette auf das Wohl des Geigers, derweil der Himmel im üblichen Farbenrausch ertrank.

Nach Petersons Fortgang verloren meine Tage ihren Glanz, wurden wieder so wie vorher, flossen eintönig und vorhersagbar dahin, mit schon tausendmal ausgeheckten Streichen, schon tausendmal zum Besten gegebenen Zoten, zwei Kugeln Schokoladeneis in der Waffel wieder unerreichbar fern. Manchmal traf ich mich abends mit Tom und Bobby auf der Dachterrasse und erzählte ihnen die Geschichte des Geigers. Sprach von seinem rätselhaften Blick, dem schwarzen Anzug, den selbstmörderischen Zigaretten, von seinem ganz der Geige gewidmeten Leben und auch, obwohl ich da erfinden musste, von dem herrlichen Instrument, das mit Paganinis zwischen den Saiten ersterbender Melodie in dem Geigenkasten ruhte; von seiner Zerbrechlichkeit, seiner Leichtigkeit und davon, wie es sich in seine Bestandteile aufzulösen drohte, wenn ich es einmal in die Hand nahm. Auf die Dauer jedoch wurde uns das langweilig, vor allem auch, weil Bobby jedes Mal behauptete, das einzige Orchester, das Don Paolo in seiner Spielhölle habe, sei eine mittelmäßige Jazzcombo, das wisse er von seinem Vater. Darum wechselten wir bald das Thema und sprachen über Baseball und die Tochter von Mrs. Flannery, von der es hieß, sie habe in diesem Sommer angefangen, einen BH