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Jo Nesbø

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Beschreibung

Harry Hole ist endgültig aus dem Polizeidienst ausgestiegen und lebt in Hongkong. Doch dann erreicht ihn ein Alarmruf: Oleg, der Sohn seiner großen Liebe Rakel, sitzt im Gefängnis. Angeklagt wegen Mordes an einem Freund. Sämtliche Indizien deuten darauf hin, dass Oleg tatsächlich der Täter ist. Harry Hole glaubt nicht an diese einfache Lösung. Er kehrt nach Oslo zurück, um den wahren Mörder zu finden – und muss sich seiner eigenen Vergangenheit stellen. Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!

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Das Buch

Kommissar Harry Hole ist endgültig aus dem Polizeidienst ausgestiegen und lebt in Hongkong. Dort erreicht ihn ein Hilferuf: Oleg, der Sohn seiner großen Liebe Rakel, sitzt im Gefängnis. Angeklagt wegen Mordes an einem Freund. Alle Indizien sprechen dafür, dass Oleg tatsächlich der Täter ist. Doch Hole glaubt nicht an diese einfache Auflösung. Er kehrt nach Oslo zurück, um den wahren Mörder zu finden – und muss sich seiner eigenen Vergangenheit stellen.

Der Autor

JO NESBØ, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.

Von Jo Nesbø sind in unserem Hause bereits erschienen:

Fledermausmann (Harry Holes 1. Fall)Kakerlaken (Harry Holes 2. Fall)Rotkehlchen (Harry Holes 3. Fall)Fährte (Harry Holes 4. Fall)Das fünfte Zeichen (Harry Holes 5. Fall)Erlöser (Harry Holes 6. Fall)Schneemann (Harry Holes 7. Fall)Leopard (Harry Holes 8. Fall)Larve (Harry Holes 9. Fall)Koma (Harry Holes 10. Fall)Durst (Harry Holes 11. Fall)Messer (Harry Holes 12. Fall)

Außerdem:

HeadhunterDer SohnBlood on Snow. Der Auftrag · Blood on Snow. Das Versteck

Jo Nesbø

LARVE

Kriminalroman

Aus dem Norwegischenvon Günther Frauenlob

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2011

unter dem TitelGjenferd

bei H. Aschehoug & Co., Oslo.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie

etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder

Übertragung können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

ISBN 978-3-8437-0071-9

© 2011 by Jo Nesbø

© der deutschsprachigen Ausgabe

Published by agreement with Salomonsson Agency

2011 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Titelabbildung: Schmetterling © plainpicture / Reilika Landen, Hintergrund © Archiv Büro Jorge Schmidt und Ausfransung © Shutterstock

Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über den Autor
Titel
Impressum
TEIL I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
TEIL II
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
TEIL III
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
TEIL IV
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
TEIL V
Kapitel 44
Quellen, Hilfen und Danksagungen
Leseprobe
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

TEIL I

Kapitel 1

Schreie. Sie riefen nach ihr. Wie Schwerter aus Licht schnitten sie durch all die anderen Laute des abendlichen Osloer Zentrums, das gleichmäßige Brummen der Autos vor dem Fenster, die entfernt heulenden Sirenen und das Läuten der Glocke, das soeben ganz in der Nähe eingesetzt hatte. In den Abendstunden und manchmal auch direkt vor Sonnenaufgang ging sie auf Nahrungssuche. Sie strich mit ihrer Nase über das dreckige Linoleum des Küchenbodens. Registrierte und sortierte die Gerüche blitzschnell in die drei zur Verfügung stehenden Kategorien: essbar, gefährlich oder irrelevant, wenn’s ums Überleben ging. Der säuerliche Mief grauer Zigarettenasche. Und die zuckrige Süße von Blut auf einem Wattebäuschchen. Der bittere Dunst von Bier auf der Unterseite eines Kronkorkens der Marke Ringnes. Gasmoleküle, Schwefel, Salpeter und Kohlendioxid, entwichen einer leeren Metallhülse mit Platz für ein Projektil des Kalibers 9 × 18 mm, unter Kennern auch als Malakov bekannt, nach der Marke der Pistole, für die dieses Kaliber ursprünglich einmal gedacht gewesen war. Der Rauch einer noch immer glimmenden Zigarettenkippe mit gelblichem Filter, auf dem schwarzen Papier prangte der russische Reichsadler. Tabak konnte man essen. Und dann noch der Geruch von Alkohol, Leder, Fett und Asphalt. Ein Schuh. Sie schnupperte daran. Und stellte fest, dass er nicht so leicht zu verdauen sein würde wie die Jacke im Schrank, die nach Benzin und dem toten Tier roch, aus dem sie gemacht worden war. Dann konzentrierte das Nagerhirn sich darauf, wie es das Hindernis überwinden sollte, das vor ihm lag. Sie hatte es von beiden Seiten versucht, hatte alles darangesetzt, ihren fünfundzwanzig Zentimeter langen und gut ein Pfund schweren Körper daran vorbeizuquetschen, aber es war ihr nicht gelungen. Das Hindernis lag auf der Seite, mit dem Rücken zur Wand und versperrte das Loch, das zu dem Nest mit ihren acht neugeborenen, blinden, haarlosen Jungen führte, die immer lauter nach ihren Zitzen schrien. Ein Berg aus Fleisch. Er roch salzig, verschwitzt und nach Blut. Es war ein Mensch. Ein noch immer lebender Mensch. Ihre empfindlichen Ohren hörten die leisen Herztöne durch die hungrigen Schreie ihrer Jungen.

Sie hatte Angst, aber ihr blieb keine andere Wahl. Das Verlangen, ihre Jungen zu ernähren, wog schwerer als alle Gefahren und Instinkte und rechtfertigte jedwede Anstrengung. Also blieb sie mit erhobener Schnauze stehen und wartete darauf, dass ihr eine Lösung zuflog.

Die Kirchenglocke läutete jetzt im Gleichklang mit dem Herzschlag des Menschen. Ein Schlag, zwei. Drei, vier …

Sie fletschte ihre Nagerzähne.

Juli. Verdammt. Man stirbt doch nicht im Juli. Ist das wirklich eine Kirchenglocke, die ich da höre, oder waren da Drogen an dieser Scheißkugel? Okay, dann ist das also das Ende. Aber, Scheiße, Mann, was macht das schon für einen Unterschied. Hier oder da? Jetzt oder später. Aber habe ich es wirklich verdient, im Juli zu sterben? Mit Vogelgezwitscher, Flaschengeklirre und dem Lachen unten vom Akerselva, dem Sommerglück direkt vor dem Fenster? Muss das wirklich sein? Hier in dieser verdreckten Junkiebude mit einem Loch zu viel im Körper, aus dem unablässig die Suppe läuft? Das Leben, Sekunden, Flashbacks mit all den Sachen, die mich hierhergebracht haben? All die kleinen und großen Dinge, der ganze Haufen von Zufällen und nicht wirklich gewagten Entscheidungen; bin das ich? Ist das alles? Ist das mein Leben? Ich hatte Pläne, Mann, die hatte ich doch, oder? Und jetzt ist das alles nicht mehr als eine Handvoll Staub, ein Witz ohne Pointe, so kurz, dass ich es schaffen könnte, ihn zu erzählen, bevor diese verdammte Uhr zu ticken aufhört. Oh, diese verfluchten Flammenwerfer! Echt, mir hat keiner gesagt, dass es so scheißweh tut zu sterben. Bist du da, Papa? Hau nicht ab. Noch nicht. Hör mir zu, der Witz geht folgendermaßen: Ich heiße Gusto. Bin neunzehn Jahre alt geworden. Und du bist ein Scheißkerl, der eine Scheißfrau gefickt hat. Neun Monate später bin ich dann rausgeflutscht und wurde zu einer Pflegefamilie verschoben, noch bevor ich »Papa!« sagen konnte. Und da habe ich dann so viel Scheiße gebaut wie nur möglich. Trotzdem haben sie ihre Decke aus Fürsorge nur noch enger um mich geschlagen und mich gefragt, was ich denn brauche, um ruhiger zu werden. Willst du ein Softeis? Ein Scheißsofteis! Die haben einfach nicht kapiert, dass Leute wie du und ich am besten gleich auf der Stelle erschossen werden; dass man uns ausrotten sollte wie Schädlinge, bevor wir Krankheiten und Verfall übertragen und uns wie Ratten vermehren, sobald wir die Chance dazu bekommen. Das haben sie sich selbst zuzuschreiben. Aber wollen tun die ja auch was. Jeder will was. Ich war dreizehn, als ich im Blick meiner Pflegemutter zum ersten Mal sah, was sie wollte.

»Du bist so schön, Gusto«, sagte sie. Sie war ins Badezimmer gekommen, obwohl ich die Tür nur angelehnt und die Dusche nicht angedreht hatte, damit die Geräusche sie nicht anlockten. Trotzdem stand sie dann gut eine Sekunde zu lange da, bevor sie endlich wieder nach draußen ging. Und ich lachte, denn jetzt hatte ich es kapiert. Das ist wirklich mein Talent, Papa; ich kann den Leuten ansehen, was sie wollen. Habe ich das von dir? Warst du auch so? Nachdem sie draußen war, habe ich mich selbst im Badezimmerspiegel angeschaut. Sie war nicht die Erste, die sagte, ich sei schön. Ich war einfach früher dran als die anderen Jungs, reifer. Groß und schlank, mit breiten Schultern und kräftigen Muskeln. Meine schwarzen Haare glänzten so, als würde alles Licht einfach reflektiert. Hohe Wangenknochen, ein breites, gerades Kinn und ein großer, gieriger Mund mit vollen, fast weiblichen Lippen. Braune, glatte Haut und dunkle, fast schwarze Augen. »Wanderratte« hatte mich einer der Jungen aus der Klasse einmal genannt. Ich glaube, Didrik war das. So ein Typ, der auf jeden Fall Konzertpianist werden wollte. Ich war gerade fünfzehn geworden, und er grölte laut durch die Klasse: »Ach, unsere Wanderratte kann ja nicht mal richtig lesen.«

Ich habe gelacht, denn ich wusste nur zu gut, warum er das machte. Und was er wollte. Schließlich war Kamilla, in die er heimlich verliebt war, nicht gerade heimlich in mich verliebt. Auf einer Klassenfete war ich mit meinen Händen mal unter ihrem Pullover auf Entdeckungsreise gegangen. Aber da war nicht viel zu entdecken gewesen, was ich dann auch einigen Mitschülern gesteckt habe. Vermutlich hat das irgendwie Didrik erfahren, weshalb er mich jetzt mobben wollte. Es war mir nicht so wichtig, dazuzugehören, aber Mobben ist Mobben, weshalb ich dann zu Tutu vom MC-Club gegangen bin, für den ich schon damals in der Schule ein bisschen Hasch gedealt habe. Ich habe ihm gesagt, dass ich Respekt bräuchte, wenn ich meinen Job ordentlich machen wollte. Tutu versprach mir, sich um alles zu kümmern. Didrik hat später ein Riesengeheimnis darum gemacht, wie er es geschafft hat, gleich zwei Finger unter das obere Scharnier der Klotür auf dem Jungenklo zu schieben, aber Wanderratte hat er mich danach nie wieder genannt. Und – richtig – Konzertpianist wurde er auch nicht. Scheiße, Mann, tut das weh! Nein, Papa, ich brauche keinen verdammten Trost. Ich brauche einen Schuss. Nur einen letzten Schuss, dann verlasse ich diese Welt auch still und ruhig. Glaub mir. Da, die Uhr hat schon wieder geschlagen. Papa?

Kapitel 2

Es war schon fast Mitternacht auf dem Osloer Flughafen Gardermoen, als dieSK-459 aus Bangkok auf den ihr zugewiesenen Platz am Gate 46 rollte. Pilot Tord Schultz bremste, und der Airbus 340 kam zum Stehen, dann schaltete er die Benzinzufuhr ab. Das metallische Heulen der Jetmotoren sank in der Frequenz und wurde zu einem gutmütigen Brummen, bis es vollends verstummte. Tord Schultz merkte sich automatisch den Zeitpunkt, drei Minuten und vierzig Sekunden nach demtouch-down, zwölf Minuten vor der im Flugplan angegebenen Zeit. Gemeinsam mit seinem Copiloten ging er erst dieshutdown-checklistund dann dieparking-checklistdurch, da das Flugzeug über Nacht an diesem Ort verbleiben sollte. Inklusive all der Sachen, die darin waren. Er blätterte das Logbuch durch. September 20.. In Bangkok war noch immer Regenzeit. Es war wie immer dampfend heiß gewesen, so dass er voller Sehnsucht an die ersten kühlen Herbstabende zu Hause gedacht hatte. Oslo im September. In dieser Jahreszeit gab es keinen besseren Ort auf der Welt, dachte er und vergaß für einen Moment, dass sie das Haus übernommen hatte und er gar nicht mehr in Oslo wohnte, sondern außerhalb. Dann notierte er den Benzinstand für die Treibstoffabrechnung. Es war vorgekommen, dass er sich für den hatte rechtfertigen müssen. Wenn er auf Flügen nach Amsterdam oder Madrid schneller als ökonomisch sinnvoll geflogen war und so Tausende von Kronen für Sprit verbraten hatte, nur um rechtzeitig zu sein. Einmal hatte ihn sich sogar sein Chef zur Brust genommen.

»Rechtzeitig?«, hatte der ihn angebrüllt. »Sie hatten nicht einen Passagier mit einemconnecting flight!«

»Aber wir sind doch die pünktlichste Fluggesellschaft der Welt«, hatte Tord Schultz es mit dem Werbeslogan versucht.

»Ja, aber auch die wirtschaftlich angeschlagenste! Ist das Ihre einzige Erklärung?«

Tord Schultz hatte nur mit den Schultern gezuckt. Die wahren Gründe konnte er ihm ja nicht nennen, oder sollte er etwa zugeben, dass er aufs Gaspedal gedrückt hatte, weil er selbst rechtzeitig vor Ort sein musste, um seinen nächsten Flug zu erreichen? Nach Bergen, Trondheim oder Stavanger. Dass es von essentieller Bedeutung war, dasserund nicht einer seiner Kollegen diesen Flug übernahm.

Nach all den Dienstjahren konnten sie nicht mehr tun, als ihm eine Rüge zu erteilen, das wusste Tord Schultz. Ihm waren keine schweren Fehler unterlaufen, die Gewerkschaft stand hinter ihm, und in ein paar Jahren würde erthe two fiveserreicht haben, fünfundfünfzig, und so oder so pensioniert werden. Tord Schultz seufzte. Es blieben ihm nur noch wenige Jahre, um alles geradezubiegen, wollte er nicht als der wirtschaftlich angeschlagenste Pilot enden.

Er unterzeichnete das Logbuch, stand auf und verließ das Cockpit, um den Passagieren die perlweißen Zähne in dem sonnengebräunten Pilotengesicht zu zeigen. Das Lächeln, das ihnen signalisieren sollte, dass er die Sicherheit in Person war. Der Pilot. Früher hatte sein Beruf in den Augen der anderen mehr Prestige besessen. Frauen und Männer, Kinder und Alte hatten anerkennend zu ihm aufgesehen und das Charisma entdeckt, den nonchalanten, jugendlichen Charme, aber auch die kühle Präzision und Entschlossenheit des Flugkapitäns. Seine überlegene Intelligenz und den unbändigen Mut desjenigen, der sich den Gesetzen der Schwerkraft und den allen Menschen angeborenen Ängsten widersetzte. Aber das war lange her. Heute war er kaum mehr als der Busfahrer, der er im Grunde war und den man fragen konnte, was das billigste Ticket nach Las Palmas kostete oder warum man bei der Lufthansa mehr Beinfreiheit hatte.

Zum Teufel mit den Passagieren. Zum Teufel mit allen!

Tord Schultz stellte sich am Ausgang neben die Stewardess, richtete sich auf, lächelte und sagte in dem breiten Texas-Amerikanisch, das sie auf der Flugschule in Sheppard gelernt hatten:»Welcome back, Miss.«Er erntete ein anerkennendes Lächeln. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der ein solches Lächeln schon beinahe so etwas wie eine Verabredung in der Abflughalle gewesen war. Verabredungen, die er nur zu gerne wahrgenommen hatte. Von Kapstadt bis Alta. Frauen. Das war immer sein Problem gewesen. Und seine Lösung. Frauen. Viele Frauen. Andere Frauen. Und jetzt? Der Haaransatz wich unter der Mütze unaufhörlich zurück, aber die maßgeschneiderte Uniform betonte noch immer die große, breitschultrige Gestalt. Auf sie hatte er geschoben, dass er es in der Ausbildung nicht in die Düsenjäger geschafft hatte, sondern als Pilot einer Hercules-Transportmaschine, eines geflügelten Lastesels, geendet war. Zu Hause hatte er so getan, als ob er ein paar Zentimeter zu groß gewesen wäre, um in das Cockpit eines Starfighters, einer F-5 oder F-16, zu passen, die allesamt nur für Zwerge gedacht waren. Doch das war nicht der wirkliche Grund gewesen. Er hatte sich einfach nicht gegen die Konkurrenz durchsetzen können. Sein Körper hatte den Anforderungen entsprochen. Wie immer. Ihn hatte er in Schuss halten können, während alles andere den Bach hinuntergegangen war. Wie seine Ehen. Seine Familie. Sein Freundeskreis. Wie war es bloß so weit gekommen? Und wo war er gewesen, als es geschehen war? Vermutlich in einem Hotelzimmer in Kapstadt oder Alta, mit Kokain in der Nase, um die potenztötenden Drinks aus der Bar zu kompensieren, den Schwanz in irgendeinerNot-welcome-back-Miss, um all das zu kompensieren, was er nicht war und niemals sein würde.

Tord Schultz’ Blick fiel auf einen Mann, der ihm zwischen den Sitzreihen entgegenkam. Er ging mit gesenktem Kopf, überragte aber trotzdem alle anderen Passagiere. Er war schlank und breitschultrig wie er selbst. Die kurzen, blonden Haare standen wie die Borsten einer Bürste von seinem Kopf ab. Er war jünger als Tord, sah aus wie ein Norweger, schien aber nicht zu den Touristen zu gehören, die wieder ins Land zurückkamen. Eher sah er aus wie einexpat,mit dem gedämpften, fast grauen Braun der Haut, das so typisch war für Weiße, die sich lange in Südostasien aufhielten. Der braune, ohne Zweifel maßgeschneiderte Leinenanzug stand für Qualität und Seriosität. Vielleicht ein Geschäftsmann. Mit einem nicht gerade florierenden Geschäft, schließlich war der Mann Economy-Class geflogen. Aber es war weder der Anzug noch die Größe des Mannes, die Tord Schultz’ Aufmerksamkeit erregt hatten. Es war die Narbe. Sie führte vom linken Mundwinkel wie eine geschwungene Sichel bis hinauf zum Ohr. Grotesk und herrlich dramatisch.

»See you.«

Tord Schultz zuckte zusammen, schaffte es aber nicht, den Gruß des Mannes zu erwidern, bevor dieser das Flugzeug verlassen hatte. Die Stimme hatte heiser und rau geklungen, und die blutunterlaufenen Augen ließen annehmen, dass er gerade erst aufgewacht war.

Das Flugzeug war leer. Der Minivan mit dem Personal, das das Flugzeug reinigen sollte, wartete bereits auf der Rollbahn, als die Crew das Flugzeug geschlossen verließ. Tord Schultz registrierte, dass der kleine Russe mit der gedrungenen Figur als Erster ausstieg und über die Gangway nach oben lief. Sein Blick glitt über die gelbe Schutzweste mit dem Logo der Firma, Solox.

See you.

Tord Schultz’ Hirn wiederholte die Worte, als er durch den Korridor in Richtung Crewcenter ging.

»Hattest du auf dem Koffer nicht noch so einen Boarding Bag?«, fragte eine der Stewardessen und zeigte auf seinen Rollkoffer von Samsonite. Er wusste nicht mehr, wie sie hieß. Mia, oder Maja? Auf irgendeinem Stop-over hatte er sie mal gevögelt. Aber das musste mindestens ein halbes Jahrhundert her sein. Wenn es denn nicht eine andere gewesen war.

»Nein«, sagte Tord Schultz.

See you. Wie in »wir sehen uns wieder«? Oder wie in »ich sehe, dass du mich ansiehst«?

Sie gingen an der Trennwand des Crewcenters entlang, hinter der im Prinzip auch ein Zollbeamter lauern konnte. In neunundneunzig von hundert Fällen war der Stuhl, der dort stand, aber leer. Im Laufe der dreißig Jahre, die er inzwischen bei der Fluggesellschaft arbeitete, war er nicht ein einziges Mal kontrolliert oder durchsucht worden.

See you.

Wie in »ich sehe dich ganz genau« und in »ich sehe, wer du bist«.

Tord Schultz schob sich eilig durch die Tür des Crewcenters.

Sergej Ivanov sorgte wie gewöhnlich dafür, als Erster aus dem Minivan zu steigen, als dieser neben dem Airbus hielt, und sprintete über die Treppe nach oben in das leere Flugzeug. Er nahm den Staubsauger mit ins Cockpit, schloss die Tür hinter sich und zog die Latexhandschuhe bis zu seinen Tätowierungen hoch. Dann klappte er den Deckel des Staubsaugers auf und öffnete den Schrank des Flugkapitäns. Er nahm den kleinen Samsonite Boarding Bag heraus, zog den Reißverschluss auf, löste den Metallboden und versicherte sich, dass die vier backsteinartigen Ein-Kilo-Blöcke darin waren. Dann stopfte er die Tasche in den Staubsauger und drückte sie zwischen den Schlauch und den großen Staubsaugerbeutel, den er vorher sorgsam geleert hatte. Nachdem er den Deckel wieder geschlossen hatte, öffnete er die Tür des Cockpits und begann zu saugen. Die ganze Operation war im Laufe weniger Sekunden erledigt.

Als sie die Kabine aufgeräumt und gereinigt hatten, kletterten sie aus dem Flugzeug und luden die hellblauen Müllsäcke hinten in den Daihatsu, dann fuhren sie wieder zurück in ihren Aufenthaltsraum. Nur noch eine Handvoll Maschinen sollte starten oder landen, bis der Flughafen über Nacht gesperrt wurde. Ivanov sah über seine Schulter zu Jenny, die die Schicht leitete. Sein Blick glitt über denPC-Bildschirm, der die Ankunfts- und Abflugzeiten anzeigte. Keine Verspätungen.

»Ich nehme Bergen, die 28er«, sagte Sergej mit seinem harten, russischen Akzent. Aber er sprach wenigstens die Sprache, es gab Landsleute, die seit zehn Jahren in Norwegen lebten und noch immer auf Englisch ausweichen mussten. Als Sergej zwei Jahre zuvor hierhergeholt worden war, hatte der Onkel ihm gesagt, er müsse Norwegisch lernen, was ihm aber vielleicht gar nicht so schwerfallen würde, wenn er etwas von seiner Sprachbegabung habe.

»Die 28er ist schon voll«, sagte Jenny. »Du kannst Pause machen bis zur 22er nach Trondheim.«

»Nein, ich nehme Bergen«, sagte Sergej. »Nick nimmt Trondheim.«

Jenny sah ihn an. »Wie du willst. Aber überarbeite dich nicht, Sergej.«

Sergej ging zu einem der Stühle an der Wand, setzte sich und lehnte sich vorsichtig zurück. Zwischen den Schulterblättern war die Haut noch immer empfindlich. Dort hatte der norwegische Tätowierer Sergej die Zeichnungen eintätowiert, die ihm Imre, der Tätowierer im Gefängnis von Tagil, geschickt hatte. Es fehlte noch einiges, bis alles komplett war. Sergej dachte an die Tätowierungen von Andrej und Peter, den Adjutanten des Onkels. Die blassblauen Bilder auf den Körpern der beiden Kosaken aus Altaj erzählten von einem dramatischen Leben voller Heldentaten. Aber auch Sergej hatte schon ein Meisterstück hinter sich. Einen Mord. Nur ein kleiner, doch der war bereits mit Nadel und Tinte als kleiner Engel verewigt worden. Und vielleicht sollte ja noch ein Mord hinzukommen. Ein großer. Solltedas Notwendigenotwendig werden, hatte der Onkel gesagt und ihn gebeten, sich bereitzuhalten, mental wach zu sein und sich im Umgang mit dem Messer zu üben. Er hatte gesagt, ein Mann wird erwartet. Es sei jedoch nicht ganz sicher, ob er auch wirklich kommt.

Höchstwahrscheinlich aber schon.

Sergej Ivanov sah auf seine Hände. Er hatte die Latexhandschuhe anbehalten. Natürlich war es ein glückliches Zusammentreffen, dass ihre normale Arbeitskleidung dafür sorgte, dass sie keine Fingerabdrücke auf den Paketen hinterließen, sollte mal etwas schieflaufen. Seine Hände zitterten nicht die Spur. Er machte diese Arbeit schon so lange, dass er sich manchmal das Risiko in Erinnerung rufen musste, um die Konzentration nicht schleifen zu lassen. Er hoffte nur, dass seine Hände ebenso ruhig waren, wenndas Notwendige – to sjto nuzhju– ausgeführt werden musste. Wenn er sich die Tätowierung verdienen konnte, deren Zeichnung er bereits geordert hatte. Noch einmal stellte er sich vor, wie es sein würde, wenn er zu Hause in Tagil sein Hemd aufknöpfte und all seinen Urkabrüdern die neuen Tätowierungen zeigte. Weitere Erläuterungen waren dann nicht mehr nötig, alles sprach für sich. Er würde niemandem etwas verraten, aber an ihren Augen erkennen, dass er nun nicht mehr Klein Sergej war. Seit Wochen betete er in seinem Abendgebet dafür, dass der Mann käme und das Notwendige notwendig wurde. Bald.

Die Aufforderung, umgehend die Maschine nach Bergen zu reinigen, drang krächzend durch das Walkie-Talkie.

Sergej stand auf. Gähnte.

Die Prozedur im Cockpit war noch leichter. Staubsauger öffnen. Boarding Bag herausnehmen und in den Schrank des Copiloten stellen.

Auf dem Weg aus dem Flugzeug kam ihnen die Crew entgegen. Sergej Ivanov vermied es, den Copiloten anzusehen. Er blickte zu Boden, registrierte aber, dass dieser die gleiche Art Rollkoffer hatte wie Schultz. Einen roten Samsonite AspireGRT. Ohne den kleinen Boarding Bag, der oben befestigt werden konnte. Sie wussten nichts voneinander, hatten keine Ahnung, welche Beweggründe sie antrieben oder wie ihr Privatleben oder ihre Familie aussah. Das Einzige, was sie miteinander verband, waren die Telefonnummern auf ihren nicht registrierten Handys, gekauft in Thailand, um eineSMSschicken zu können, sollte es eine Änderung im Flugplan geben. Sergej zweifelte daran, dass Schultz und der Copilot etwas voneinander wussten. Andrej achtete peinlich darauf, alle Informationen absolut auf das Wesentliche zu beschränken. So wusste auch Sergej nicht, was später mit diesen Päckchen geschah. Wenn er auch eine Ahnung hatte. Denn wenn der Copilot eines Inlandsfluges zwischen Oslo und Bergen von der Rollbahn durch den Flughafen nach draußen ging, gab es weder Zoll- noch Sicherheitskontrollen. Er konnte den Boarding Bag mit in das Hotel nehmen, in dem die Crew übernachtete, bis es mitten in der Nacht diskret an der Tür klopfte und vier Kilo Heroin von Hand zu Hand gingen. Auch wenn diese neue Droge, Violin, den Preis für Heroin etwas gedrückt hatte, kostete ein Schuss, ein sogenannter Null-Zweier, auf der Straße noch immer mindestens zweihundertfünfzig Kronen. Das Gramm einen Tausender. Und wenn man den Stoff noch ein weiteres Mal streckte, machte das insgesamt acht Millionen Kronen. Rechnen konnte er. Gut genug jedenfalls, um zu wissen, wie unterbezahlt er war. Andererseits wusste er auch, dass er sich für Höheres empfahl, wenn erdas Notwendigegetan hatte. Dann würde er mehr bekommen, so dass er sich in ein paar Jahren ein Haus in Tagil kaufen, sich eine hübsche sibirische Frau suchen und vielleicht Mutter und Vater einziehen lassen konnte, wenn sie in die Jahre kamen.

Sergej Ivanov spürte das Jucken der Tätowierungen zwischen den Schulterblättern.

Sogar seine Haut schien sich auf die Fortsetzung zu freuen.

Kapitel 3

Der Mann mit dem Leinenanzug verließ den Flughafenzug am Osloer Hauptbahnhof und stellte fest, dass der Tag in seiner alten Heimatstadt warm und sonnig gewesen sein musste, denn die Luft war noch immer weich und samtig. Er hatte einen beinah komisch wirkenden Lederkoffer bei sich und verließ den Bahnhof schnell und zielstrebig durch den südlichen Ausgang. Draußen schlug ruhig und gleichmäßig das Herz von Oslo – dessen Vorhandensein von manchen Menschen bezweifelt wurde. Ruhepuls, Nachtrhythmus. Die wenigen Autos, die oben auf dem höher gelegenen Verteiler herumkurvten, bogen eines nach dem anderen ab, nach Osten in Richtung Stockholm oder Trondheim, nach Norden in andere Stadtteile oder nach Westen in Richtung Drammen und Kristiansand. In Größe und Form erinnerte dieser Verteiler an einen Brontosaurus, ein aussterbender Gigant, der bald Wohnungen und Büros weichen musste, die hier entstehen sollten, in Oslos neuem Glamourviertel, nahe der glamourösen neuen Oper. Der Mann blieb stehen und starrte auf den weißen Eisberg, der zwischen Verteiler und Fjord lag. Die neue Oper hatte bereits weltweit Architekturpreise eingestrichen, und die Menschen kamen von weit her, um über das italienische Marmordach zu laufen, das schräg bis in den Fjord abfiel. Das Licht hinter den großen Fenstern war ebenso intensiv wie das Mondlicht, das auf das Gebäude fiel.

Es war verdammt noch mal wahr, dieser Bau war ein Gewinn, dachte der Mann.

Dabei ging es ihm nicht um die hochfliegenden Erwartungen an einen neuen Stadtteil, sondern um die Vergangenheit. Denn früher hatte sich hier die Osloershooting gallerybefunden, das Reich der Junkies, der verlorenen Kinder der Stadt. Im Schutz der Bretterwände billiger Baracken, die sie von ihren wohlmeinenden, sozialdemokratischen Eltern trennten, hatten sie sich ihre Spritzen gesetzt und ihre Trips geritten. Gewinn, dachte er. Jetzt gingen sie in netteren Gegenden vor die Hunde.

Es war drei Jahre her, dass er zuletzt an diesem Ort gewesen war. Alles war neu. Nichts war anders.

Sie hatten sich auf einem Fleckchen Gras eingerichtet, das zwischen Autobahn und Bahnhof wuchs. Beinahe eine Rabatte.

Nicht weniger stoned und abwesend als früher. Auf dem Rücken liegend, mit geschlossenen Augen, als brenne die Sonne vom Himmel. Andere knieten und suchten nach einer Ader, die sich noch nicht ganz verabschiedet hatte, oder standen gebeugt da, mit leicht angewinkelten Junkieknien und einem Rucksack auf dem Rücken, ohne zu wissen, ob sie kommen oder gehen sollten. Es waren die gleichen Gesichter. Nicht dieselben lebenden Toten wie damals, als er noch in der Stadt wohnte, denn die waren längst wirklich tot. Aber die gleichen Gesichter.

Auf dem Weg in Richtung Tollbugata stieß er auf noch mehr von ihnen, und da ihre Welt mit dem Grund seiner Rückkehr zusammenhing, versuchte er, sich einen Eindruck zu verschaffen. Zu erkennen, ob sie zahlreicher geworden waren oder nicht. Er registrierte, dass auch auf der Plata wieder einiges lief. Das kleine viereckige, weißgestrichene Asphaltplateau auf der Westseite des Bahnhofs war so etwas wie das Taiwan Oslos gewesen, eine Freihandelszone für Drogen, eingerichtet, damit die Behörden einen gewissen Überblick hatten, was los war. Und vielleicht auch, um die jungen Erstkäufer abzufangen. Als sich der Handel jedoch immer prächtiger entwickelte und die Plata Oslos wahres Gesicht enthüllt hatte, nämlich das einer brutalen europäischen Drogenmetropole, war aus diesem Ort die reinste Touristenattraktion geworden. Der Heroinumsatz und die Überdosis-Statistik waren schon lange dunkle Flecken auf der weißen Weste der Hauptstadt gewesen, aber kein so offensichtlicher Schandfleck wie die Plata. Zeitungen und Fernsehen fütterten den Rest des Landes mit Bildern von zugedröhnten Jugendlichen, Zombies, die am helllichten Tage durch das Zentrum schwankten. Die Schuld wurde den Politikern zugeschoben. Wenn die Rechten das Heft in der Hand hatten, donnerten und protestierten die Linken: »zu wenig Behandlungsprogramme«, »Gefängnisstrafen schaffen uns nur noch mehr Abhängige«, »die neue Zwei-Klassen-Gesellschaft führt zu Gangbildung und zu vermehrtem Drogenkonsum unter Einwanderern«. Und waren die Linken an der Macht, brachten die Rechten lauthals ihre Slogans vor: »mehr Polizei«, »höhere Anforderungen an Flüchtlinge«, »sieben von zehn Häftlingen sind Ausländer«.

Nach Jahren des offenen Grabenkampfes hatte die Osloer Stadtverwaltung sich schließlich zu einer klaren Selbstschutzmaßnahme entschlossen, den ganzen Scheiß unter den Teppich gekehrt und die Plata geschlossen.

Der Mann in dem Leinenanzug beobachtete einen Mann, der in einem rotweißen Arsenal-Trikot auf einer Treppe stand, vor sich vier Menschen, die unruhig auf der Stelle traten. Der Kopf des Arsenal-Spielers drehte sich ruckartig wie bei einem Huhn nach links und rechts. Die Köpfe der vier anderen bewegten sich nicht, sie starrten nur den Jungen mit dem Trikot an. Ein Zug. Der Verkäufer auf der Treppe wartete, bis sie genug waren, bis der Zug voll war, fünf oder sechs Leute. Dann würde er das Geld für die Bestellungen entgegennehmen und sie zu dem Mann mit dem Dope führen, der irgendwo hinter der nächsten Ecke oder in einem Hinterhof wartete. Das Prinzip war einfach, derjenige, der das Dope hatte, kam nie in Kontakt mit dem Geld, und der mit dem Geld hatte nie Dope in den Taschen. Für die Polizei war es so deutlich schwieriger, auch nur einem von ihnen den Drogenhandel sicher nachzuweisen. Trotzdem stutzte der Mann in dem Leinenanzug, denn diese Methode war alt, sie war schon in den achtziger und neunziger Jahren angewandt worden. Als die Polizei aufgehört hatte, die kleinen Dealer auf der Straße zu jagen, ließen die Verkäufer die umständliche Vorgehensweise fallen und sammelten auch keine Leute mehr, sondern dealten einfach, sobald ein Kunde kam; das Geld in der einen Hand, den Stoff in der anderen. Hatte die Polizei den Kampf gegen die Kleindealer wieder aufgenommen?

Ein Mann in Fahrradklamotten näherte sich ihnen. Helm, orange Brille und atmungsaktives Trikot in Signalfarben. Kräftige Oberschenkelmuskeln zeichneten sich unter den engen Shorts ab, und das Fahrrad sah teuer aus. Vermutlich nahm er es deshalb mit, als er dem Arsenal-Spieler mitsamt dem kleinen Trupp um die Ecke hinter das Gebäude folgte. Alles war neu. Nichts war anders. Aber es schienen weniger zu sein, oder täuschte er sich da?

An der Ecke der Skippergata sprachen ihn die Huren in schlechtem Englisch an –»Hey baby!«,»Wait a minute, handsome!«, der Mann in dem Leinenanzug antwortete ihnen nur mit einem Kopfschütteln. Anscheinend eilte ihm der Ruf seiner Keuschheit oder seiner fehlenden finanziellen Möglichkeiten voraus, denn etwas weiter die Straße hinunter interessierten sich die Mädchen schon nicht mehr für ihn. Zu seiner Zeit hatten die Osloer Huren noch Jeans und Windjacke getragen. Und so viele wie jetzt waren es auch nicht gewesen. Damals hatten sie noch den Markt bestimmt, doch inzwischen war die Konkurrenz hart. Mit kurzen Röcken, hohen Absätzen und Netzstrümpfen. Die Afrikanerinnen schienen bereits zu frieren. Wartet nur, bis es Dezember ist, dachte er.

Immer tiefer drang er in das Viertel Kvadraturen vor, das ursprüngliche Zentrum Oslos, das heute nur noch eine Asphalt- und Mauerwüste mit Verwaltungsgebäuden und Büros für gut fünfundzwanzigtausend Arbeitsbienen war, die sich auf den Heimweg machten, kaum dass es vier oder fünf Uhr geschlagen hatte. Dann überließen sie den Stadtteil den nachtarbeitenden Nagern. Bis zu der Zeit, in der ChristianIV. diesen Stadtteil nach den Idealen der Renaissance mit quadratisch angelegten Straßenzügen neu erbauen ließ, waren die Einwohner von Kvadraturen von Feuern in Schach gehalten worden. Einer alten Überlieferung zufolge konnte man hier in jeder Schaltjahrnacht brennende Menschen zwischen den Häusern hindurchlaufen sehen und ihre Schreie hören, bis sie verbrannt und verdampft waren. Wenn es einem gelang, das Häuflein Asche aufzusammeln und hinunterzuschlucken, zu dem diese Menschen wurden, bevor der Wind sie forttrug, würde das Haus, in dem man selbst wohnte, niemals brennen. Wegen der Brandgefahr ließ ChristianIV., gemessen an dem bescheidenen Osloer Standard, recht breite Straßen bauen. Außerdem bestanden die Gebäude ganz unnorwegisch aus Ziegelsteinen. Vor ihm lag eine Bar, deren Tür offen stand.

Eine grauenhafte Dancereggae-Version von Guns N’ Roses’Welcome To The Jungle,die sowohl Marley und Rose als auch Slash und Stradlin verhöhnte, strömte nach draußen zu den vor der Tür stehenden Rauchern. Er blieb vor einem ausgestreckten Arm stehen.

»Feuer?«

Eine etwas füllige, vorderlastige Frau Ende dreißig sah zu ihm auf. Die Zigarette wippte auffordernd zwischen ihren rotgeschminkten Lippen.

Er zog eine Augenbraue hoch und warf der Freundin der Frau einen Blick zu, die lachend mit einer glühenden Zigarette hinter ihr stand. Die Vorderlastige bemerkte es und musste, einen Schritt zur Seite taumelnd, selber lachen.

»Komm schon, zier dich nicht so«, sagte sie in dem Sørlandsdialekt der Kronprinzessin. Angeblich hatte sich eine Hure der Stadt eine goldene Nase damit verdient, wie die Kronprinzessin auszusehen, wie sie zu sprechen und sich wie sie zu kleiden. Die fünftausend Kronen, die sie pro Stunde verlangte, sollten ein Plastikzepter einschließen, mit dem ihre Kunden so ziemlich alles anstellen durften.

Die Hand der Frau legte sich auf seinen Arm, als er weitergehen wollte. Sie lehnte sich zu ihm vor und blies ihm ihren Rotweinatem ins Gesicht.

»Du scheinst ein netter Kerl zu sein. Willst du mir nicht … Feuer geben?«

Er wandte ihr die andere Seite seines Gesichts zu. Die schlechte Seite. Die Nicht-so-netter-Kerl-Seite. Sie zuckte zurück und ließ ihn los, als sie das Andenken aus dem Kongo sah, die Narbe, die der Nagel hinterlassen hatte und die sich als schlecht genähter Riss vom Mund bis hinauf zum Ohr zog.

Er ging weiter, und ein anderes Lied wurde gespielt. Nirvana.Come As You Are. Die Originalversion.

»Hasch?«

Die Stimme drang aus einer Toreinfahrt zu ihm, doch er ging weiter, ohne sich umzudrehen oder stehen zu bleiben.

»Speed?«

Er war seit drei Jahren clean und hatte nicht vor, jetzt wieder anzufangen.

»Violin?«

Ganz sicher nicht jetzt.

Vor ihm auf dem Bürgersteig war ein junger Mann neben zwei Dealern stehen geblieben. Er redete mit ihnen und zeigte ihnen etwas. Der Junge blickte auf, als er näher kam, und richtete seine grauen Augen prüfend auf ihn. Polizeiblick, dachte der Mann und schaute zu Boden. Sicher war das reichlich paranoid, denn es war höchst unwahrscheinlich, dass ein derart junger Polizist ihn erkannte. Da war das Hotel. Die Herberge. Das Leons.

Dieser Abschnitt der Straße war fast menschenleer. Nur auf der anderen Straßenseite standen zwei Leute. Einer davon war der Dopekäufer in der Fahrradmontur. Er stand breitbeinig über seinem Rad und half einem anderen Fahrradfahrer in ebenso professioneller Bekleidung, sich eine Spritze in den Hals zu setzen.

Der Mann in dem Leinenanzug schüttelte den Kopf und blickte an der Fassade vor ihm empor.

Noch immer hing das gleiche verdreckte Banner zwischen der vierten und der obersten Etage. »Vierhundert Kronen pro Tag!« Alles war neu. Nichts war anders.

Der junge Mann an der Rezeption des Leons war neu. Er empfing den Gast im Leinenanzug mit einem überraschend freundlichen Lächeln und – für das Leons – erstaunlich wenig Misstrauen. Ohne eine Spur von Ironie in der Stimme begrüßte er ihn mit einem»Welcome«und bat um seinen Pass. Der Mann nahm an, dass er wegen seiner braungebrannten Haut und dem Leinenanzug für einen Ausländer gehalten wurde, und hielt dem Hotelangestellten seinen roten norwegischen Pass hin. Er sah abgenutzt aus und hatte viele Stempel. Zu viele, um von einem guten Leben zu zeugen.

»Oh«, sagte der Mann an der Rezeption und gab ihm den Pass zurück. Legte ein Formular auf die Theke vor sich und reichte ihm einen Stift.

»Die angekreuzten Felder reichen.«

Ein Eincheckformular im Leons?, dachte der Mann. Vielleicht war doch etwas anders geworden. Er nahm den Stift entgegen und sah, wie der Blick des Mannes auf seinem Mittelfinger ruhte. Auf dem, was einmal sein Mittelfinger gewesen war, ehe dieser ihm in einem Haus am Holmenkollåsen abgetrennt worden war. Das untere Glied war durch eine matte blaugraue Titanprothese ersetzt worden. Gut zu gebrauchen war sie nicht, diente aber immerhin als Stütze für Ring- und Zeigefinger, wenn er etwas greifen wollte, und war – da eher kurz – nicht im Weg. Der einzige Nachteil waren die unvermeidlichen Erklärungen, die er an jedem Flughafen abgeben musste, wenn er durch die Sicherheitskontrolle wollte.

Er schrieb seinen Namen hinterFirst NameundLast Name.

Date of Birth.

Als er das Datum notierte, dachte er, dass er wieder mehr wie ein Mann Mitte vierzig aussah und weniger wie der mitgenommene, verletzte Alte, der hier drei Jahre zuvor ausgecheckt hatte. Seither hatte er sich einem strengen Regime unterzogen. Training, gesundes Essen, ausreichend Schlaf und – selbstverständlich – hundertprozentige Abstinenz. Das Regime zielte nicht darauf ab, jünger auszusehen, sondern zu überleben, nicht zu sterben. Außerdem passte es ihm ganz gut in den Kram. Feste Tagesabläufe, Disziplin und Ordnung waren ihm schon immer entgegengekommen. Deshalb hatte er auch keine Erklärung dafür, warum sein Leben zu einem solchen Chaos aus Selbstzerstörung und kaputten Beziehungen geworden war, immer wieder unterbrochen von tiefschwarzen Phasen voller Drogen und Alkohol.

Die folgenden leeren Rubriken starrten ihn fragend an. Aber sie waren viel zu kurz für die Antworten, die sie forderten.

Permanent Address.

Nun. Die Wohnung in der Sofies gate war direkt nach seiner Abreise vor drei Jahren verkauft worden, desgleichen sein Elternhaus oben in Oppsal. Bei seinem aktuellen Job hätte eine feste, offizielle Adresse ein gewisses Risiko dargestellt. Also schrieb er auf, was er immer aufschrieb, wenn er in ein Hotel zog: Chungking Mansion, Hongkong. Eine Angabe, die im Grunde nicht weit von der Wahrheit entfernt war.

Profession.

Mord. Er ließ das Feld leer. Es war nicht angekreuzt.

Phone Number.

Er notierte eine beliebige Zahl. Handys können aufgespürt werden, so dass weder die Gespräche noch der Aufenthaltsort geheim bleiben.

Phone Number Next of Kin.

Nächste Angehörige? Welcher Ehemann gab freiwillig die Nummer seiner Frau an, wenn er im Leons eincheckte? Dieser Ort war doch fast so etwas wie ein Bordell inmitten von Oslo.

Der Mann hinter dem Empfangstresen las offensichtlich seine Gedanken: »Nur für den Fall, dass Sie krank werden sollten und wir jemanden rufen müssen.«

Harry nickte. Für den Fall eines Herzinfarktes während des Aktes.

»Sie brauchen da nichts einzutragen, wenn es niemanden gibt …«

»Nein«, sagte der Mann und starrte die Worte an. Nächste Angehörige. Er hatte Søs. Eine Schwester mit einem – wie sie es selbst nannte – »Anflug von Down-Syndrom«, die ihr Leben aber weitaus besser gemeistert hatte als ihr großer Bruder. Sonst hatte er niemanden. Wirklich niemanden.

Tja, nächste Angehörige.

Er kreuzte an, cash zahlen zu wollen, unterzeichnete und gab dem Mann das Formular zurück, der es kurz überflog. Und endlich sah er so etwas wie Misstrauen aufflackern.

»Sie sind … Harry Hole?«

Harry Hole nickte. »Ist das ein Problem?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf. Schluckte.

»Gut«, sagte Harry Hole. »Geben Sie mir dann einen Schlüssel?«

»Oh, entschuldigen Sie! Hier, die 301.«

Harry nahm den Schlüssel entgegen und registrierte, dass sich die Pupillen des Jungen geweitet hatten und seine Stimme gequälter klang.

»Das ist … wegen meinem Onkel«, sagte der junge Mann. »Er betreibt das Hotel und hat früher immer hier gesessen. Er hat mir von Ihnen erzählt.«

»Nur Gutes, hoffe ich«, sagte Harry, lächelte, nahm seinen kleinen Koffer und ging die Treppe hoch.

»Der Fahrstuhl …«

»Mag keine Fahrstühle«, sagte Harry, ohne sich umzudrehen.

Der Raum war wie früher. Abgelebt, klein, aber einigermaßen sauber. Nein, nicht ganz, es gab eine neue Gardine. Grün und steif. Sicher bügelfrei. Apropos. Er hängte den Anzug ins Badezimmer und drehte die Dusche auf, damit der Dampf die Falten glättete. Der Anzug hatte ihn im Punjab House in der Nathan Road achthundert Hongkong-Dollar gekostet, aber in seinem Job war das eine notwendige Investition. Niemand respektierte einen Mann in Lumpen. Dann stieg er selbst unter die Dusche und ließ das heiße Wasser auf seine Haut prasseln, bis sie sich noppte. Anschließend ging er nackt durch den Raum, trat ans Fenster und öffnete es. Zweiter Stock. Hinterhof. Aus einem geöffneten Fenster drang gekünsteltes enthusiastisches Stöhnen. Er legte die Hände an die Gardinenstange und lehnte sich nach draußen. Direkt unter ihm stand ein offener Müllcontainer. Der süßliche Gestank drang bis zu ihm nach oben. Er spuckte aus und hörte den Speichel unten auf Papier klatschen. Dann folgten ein Knistern, das nichts mit dem Papier zu tun hatte, ein Knacken, und die grüne, steife Gardine ging rechts und links neben ihm zu Boden. Verdammt! Er zog die dünne Gardinenstange aus den Ringen. Die alte, hölzerne Stange mit den zwiebelartigen Spitzen an jedem Ende war gebrochen. Aber nicht zum ersten Mal, wie er an dem einfachen Klebeband sehen konnte, mit dem sie geflickt worden war. Harry setzte sich aufs Bett und öffnete die Schublade des Nachtschränkchens. Eine Bibel mit hellblauem Skaibezug und ein Nähset in Form einer Nadel und eines schwarzen Fadens, der um ein Stückchen Pappe gewickelt war, lagen darin. Gar nicht so unpassend, dachte Harry nach einer Weile. So konnten die Gäste abgerissene Hosenknöpfe wieder annähen und sich anschließend über die Vergebung der Sünden informieren. Er legte sich hin und sah an die Decke. Alles war neu, und doch war nichts anders. Er schloss die Augen. Er hatte im Flugzeug nicht geschlafen, und mit oder ohne Jetlag, mit oder ohne Gardinen würde er jetzt schlafen und wieder den Traum träumen, den er im Laufe der letzten drei Jahre jede Nacht geträumt hatte. Ein langer Flur, über den er vor einer donnernden Lawine davonzulaufen versuchte, die alle Luft aufsog, so dass er nicht atmen konnte.

Er musste nur noch ein bisschen durchhalten, nur die Augen geschlossen halten.

Dann verlor er die Kontrolle über seine Gedanken, sie glitten weg.

Nächste Angehörige.

Angehören. Gehören.

An-ge-hö-ri-ge.

Ja, das war er. Und genau deshalb war er zurück.

Sergej fuhr über die E6 in Richtung Oslo. Er sehnte sich nach seinem Bett in Furuset. Beachtete die Geschwindigkeitsbegrenzung, fuhr nie schneller als einhundertundzwanzig, obwohl so spätabends viel Platz war. Dann klingelte sein Handy. Das Handy. Es war Andrej. Er hatte mit dem Onkel gesprochen, demataman– dem Anführer –, den Andrej Onkel nannte. Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, konnte Sergej sich nicht länger beherrschen. Er drückte das Gaspedal durch. Schrie vor Freude. Der Mann war gekommen. Heute, an diesem Abend. Er war hier! Sergej sollte vorerst noch nichts unternehmen, hatte Andrej gesagt, es sei möglich, dass die Situation sich ganz von allein wieder entspannte. Aber er sollte jederzeit bereit sein, mental wie körperlich, mit dem Messer trainieren, schlafen und sich konzentrieren. Für den Fall, dass das Notwendige notwendig wurde.

Kapitel 4

Tord Schultz nahm das Flugzeug, das über das Dach des Hauses hinwegdröhnte, kaum wahr, als er schwer atmend auf dem Sofa saß. Der Schweiß lag wie ein dünner Film auf seinem nackten Oberkörper, und noch immer hallte es metallisch zwischen den kahlen Wänden des Zimmers wider. Hinter ihm stand das Stativ mit der Hantelstange, die sich über die vor Schweiß glänzende Bank mit dem Skaibezug spannte. Donald Draper zwinkerte ihm aus dem Fernseher durch Zigarettenrauch zu und nippte an seinem Whiskey. Wieder flog ein Flugzeug lärmend über das Haus.Mad Men. Sechziger Jahre.USA. Frauen in anständigen Kleidern. Ordentliche Drinks in ordentlichen Gläsern. Und keine Filterzigaretten mit Mentholgeschmack. Damals machte einen alles, was einen nicht tötete, nur noch härter. Er hatte nur die erste Staffel gekauft, sah sich diese dafür aber wieder und wieder an. Woher sollte er wissen, ob ihm die Fortsetzung gefallen würde?

Tord Schultz musterte die weiße Line auf dem gläsernen Couchtisch und wischte den unteren Rand seinerID-Karte ab. Wie gewöhnlich hatte er das Pulver mit der Karte aufgelockert, die er an der Brusttasche seiner Flugkapitänsuniform trug, der Karte, die ihm Zutritt zur Airside verschaffte, zum Cockpit, zum Himmel, zum Lohn. Erst diese Karte machte ihn zu dem, der er war. Und auch sie würde ihm – zusammen mit all dem anderen – genommen werden, sollte jemals jemand etwas erfahren. Genau deshalb fühlte es sich richtig an, dieID-Karte für diesen Zweck zu verwenden. Das hatte – inmitten all der Unehrlichkeit – etwas Redliches, etwas Wahres.

Morgen früh sollten sie zurück nach Bangkok fliegen. Dann folgten zwei wohlverdiente Ruhetage in der Sukhumvit Residence. Es würde alles gut werden. Besser als bisher. Die Vorgehensweise bei den Flügen aus Amsterdam hatte ihm nicht gefallen. Das Risiko war zu hoch gewesen. Nachdem bekannt geworden war, welch großen Anteil die südamerikanischen Crews am Kokainschmuggel nach Schiphol hatten, liefen alle Crews gleich welcher Fluggesellschaft Gefahr, kontrolliert zu werden. Es gab Handgepäckkontrollen und Leibesvisitationen. Außerdem war er bei dem früheren Vorgehen gezwungen gewesen, die Päckchen selbst mit aus dem Flugzeug zu nehmen und in seinem eigenen Gepäck aufzubewahren, bis er später mit dem Inlandsflug nach Bergen, Trondheim oder Stavanger flog. Inlandsflüge, die er einfach kriegenmusste,auch wenn das zur Folge hatte, dass er ab und zu eine Extraportion Flugbenzin verbriet, sollte es in Amsterdam zu Verspätungen gekommen sein. In Gardermoen war er bei diesen Aktionen natürlich die ganze Zeit auf der Airside geblieben, wo es keine Zollkontrollen gab, aber trotzdem hatte er den Stoff so manchmal bis zu achtzehn Stunden in seinem eigenen Gepäck mit sich herumgetragen, bevor er ihn abliefern konnte. Und auch die Übergaben waren nicht immer risikofrei gewesen. Autos auf Parkplätzen. Spärlich besuchte Restaurants. Hotels mit aufmerksamen Angestellten.

Er rollte einen Tausender aus dem Umschlag zusammen, den er bei ihrem letzten Besuch bekommen hatte. Es gab speziell für diesen Zweck hergestellte Plastikröhrchen, aber die brauchte er nicht. Er war ja kein Schwerstabhängiger, obwohl seine Frau dies dem Scheidungsanwalt gegenüber behauptet hatte. Diese blöde Hexe hatte doch wirklich angegeben, sich von ihm scheiden lassen zu wollen, weil ihre Kinder nicht bei einem drogenabhängigen Vater aufwachsen sollten, und sie es nicht ertrug, still dabei zuzusehen, wie er Haus und Hof wegsniffte. Und dann hatte sie noch behauptet, es habe gar nichts mit den Stewardessen zu tun; daran habe sie sich längst gewöhnt,she couldn’t care less, außerdem würde sich das mit dem Alter schon von selbst regeln. Sie und ihr Anwalt hatten ihm ein Ultimatum gestellt. Sie wollte das Haus, die Kinder und den Rest des väterlichen Erbes, den er noch nicht verschwendet hatte. Willigte er nicht ein, würde sie ihn wegen Drogenbesitzes und Kokainmissbrauch anzeigen. Ihre Beweise waren so umfangreich, dass sogar sein eigener Anwalt nicht daran zweifelte, dass er verurteilt und von seiner Fluggesellschaft rausgeschmissen werden würde, sollten diese jemals publik werden.

Die Entscheidung war ihm verdammt leichtgefallen, auch wenn er so nur seine Schulden hatte behalten dürfen.

Er stand auf, trat ans Wohnzimmerfenster und sah nach draußen. Wollten sie nicht langsam kommen?

Der Plan war noch ziemlich neu. Er flog jetzt auch Päckchen aus, nach Bangkok. Wussten die Götter, wofür das gut sein sollte. Eulen nach Athen und so weiter. Aber egal, es war das sechste Mal, und bisher war immer alles wie am Schnürchen gelaufen.

Im Nachbarhaus brannte Licht, aber die Häuser lagen weit auseinander. Einsam, dachte er. Früher, als Gardermoen noch ein Militärflughafen gewesen war, waren das die Offiziersbaracken gewesen. Eingeschossige, identische Kästen, umgeben von großen, kahlen Rasenflächen. So niedrig wie möglich, damit auch tieffliegende Maschinen nicht mit den Gebäuden kollidierten. Und mit ausreichend Abstand zueinander, damit sich ein Feuer nach einem eventuellen Absturz nicht ausbreiten konnte.

Während seiner Militärzeit, als er die Hercules geflogen war, hatten sie schon einmal hier gewohnt. Damals waren die Kinder zwischen den Häusern herumgerannt und hatten mit den Kindern der anderen Kollegen gespielt. Samstag. Sommer. Die Männer an den Grillgeräten, mit vorgebundenen Schürzen und einem ersten Anfeuerbier in den Händen, während durch die geöffneten Küchenfenster Klirren zu hören war, wenn ihre Frauen Salat machten und Campari tranken. Wie eine Szene aus seinem Lieblingsfilm,Der Stoff aus dem die Helden sind,mit den ersten Astronauten und dem Testpiloten Chuck Yeager. Wie verdammt hübsch diese Pilotenfrauen gewesen waren. Auch wenn es nur die Hercules gewesen war, damals waren sie glücklich gewesen, oder nicht? War er deshalb wieder hierhergezogen? Hatte er den unbewussten Wunsch, zu etwas zurückzufinden? Oder zu ergründen, wann genau was falsch gelaufen war. Versuchte er etwas in Ordnung zu bringen?

Als er das Auto kommen sah, blickte er automatisch auf die Uhr und registrierte wie in seinem Logbuch, dass sie achtzehn Minuten zu spät kamen.

Er ging zum Couchtisch. Atmete zweimal tief durch. Dann legte er den zusammengerollten Tausender an den unteren Rand der Line, beugte sich darüber und sog das Pulver in die Nase. Es brannte auf den Schleimhäuten. Er benetzte seine Fingerkuppe, fuhr mit ihr über das verbliebene Pulver und rieb es in sein Zahnfleisch. Es schmeckte bitter. Dann klingelte es an der Tür.

Es waren dieselben beiden Mormonen wie beim letzten Mal. Ein kleiner und ein großer, wie immer in ihren Sonntagsanzügen. Aber die Tätowierungen, die sich bei beiden bis auf die Handrücken erstreckten, standen in einem seltsamen Kontrast zur Kleidung und wirkten beinahe komisch.

Sie gaben ihm das Päckchen. Ein halbes Kilo in einer länglichen Wurst, die exakt in das Metallrohr des versenkbaren Rollkoffer-Handgriffs passte. Er sollte das Päckchen herausnehmen, wenn sie in Suvarnabhumi gelandet waren, und es unter die Decke hinten im Pilotenschrank des Cockpits legen. Danach hatte er nichts mehr damit zu tun, vermutlich kümmerte sich das Bodenpersonal um den Rest.

Als Mr Small und Mr Big mit dem Auftrag gekommen waren, Päckchen mit nach Bangkok zu nehmen, hatte er zuerst an einen Scherz geglaubt, gab es doch keinen Ort auf der Welt, an dem die Straßenpreise für Drogen höher waren als in Oslo. Warum also Waren exportieren? Trotzdem hatte er nicht gefragt, er wusste ganz genau, dass er keine Antwort bekommen würde, und das war in Ordnung so. Er hatte sie aber darauf hingewiesen, dass in Thailand für Heroinschmuggel die Todesstrafe galt, und deshalb eine bessere Bezahlung verlangt.

Sie hatten gelacht. Erst der Kleine, dann der Große. Tord hatte sich unweigerlich gefragt, ob kürzere Nervenbahnen vielleicht schnellere Reaktionen ermöglichten. Vielleicht waren die Cockpits der Düsenjäger so niedrig, um lange, träge Piloten gleich von vornherein auszuschließen.

Der Kleine hatte Tord in seinem harten, russisch klingenden Englisch erklärt, dass es sich nicht um Heroin handele, sondern um einen ganz neuen Stoff. So neu, dass er noch nicht einmal verboten sei. Auf Tord Schultz’ Frage, warum sie denn einen legalen Stoff schmuggeln müssten, hatten sie nur noch lauter gelacht und ihn aufgefordert, keine weiteren blöden Fragen zu stellen, sondern einfach mit ja oder nein zu antworten.

Tord Schultz hatte ja gesagt und sich dabei gefragt, ob eine andere Antwort überhaupt möglich gewesen wäre. Welche Konsequenzen hätte ein Nein gehabt?

Das Ganze lag sechs Touren zurück.

Tord Schultz betrachtete das Päckchen. Ein paarmal schon hatte er vorgehabt, Spülmittel auf die Kondome und Gefrierbeutel zu schmieren, die sie nutzten, aber jemand hatte ihm gesagt, dass die Drogenspürhunde Gerüche separieren konnten und sich von derart einfachen Tricks nicht beeinflussen ließen. Dass es einzig und allein auf die Dichtigkeit des Plastiks ankam.

Er wartete. Nichts geschah. Dann räusperte er sich.

»Oh, I almost forgot«, sagte Mr Small.»Yesterdays delivery…«

Er griff in seine Jacke und grinste boshaft. Wenn es denn boshaft war, vielleicht war das auch einfach nur Ostblock Humor? Tord hätte ihm am liebsten eine geklebt, ihm ungefilterten Zigarettenqualm ins Gesicht geblasen oder zwölf Jahre alten Whiskey in die Augen gespuckt. West-Humor. Stattdessen murmelte er»thank you«und nahm den Umschlag entgegen. Er fühlte sich dünn an. Es mussten große Scheine sein.

Anschließend stellte er sich ans Fenster und sah dem Auto nach, das im Dunkeln verschwand, die Motorengeräusche wurden von einer Boeing 737 übertönt. Oder war das eine 600er? Auf jeden Fall eineNG. Ihre Stimme war heiserer und hatte einen höherenpitchals die der alten, klassischen Maschinen. Er sah sein eigenes Spiegelbild im Fenster.

Ja, er hatte eingewilligt. Und er würde das auch in Zukunft tun. Alles akzeptieren, was das Leben ihm ins Gesicht klatschte. Denn er war kein Donald Draper. Kein Chuck Yeager oder Neil Armstrong. Er war Tord Schultz. Ein zu lang geratener Busfahrer mit Schulden. Und einem Kokainproblem. Er sollte …

Seine Gedanken wurden von der nächsten Maschine übertönt.

Verfluchte Kirchenglocke! Kannst du sie sehen, Papa? All die sogenannten Angehörigen, die sich über meinen Sarg beugen, ihre Krokodilstränen auf mich fallen lassen und mit bedröppelten Gesichtern jammern: Ach, Gusto, warum konntest du denn nicht lernen, so wie wir zu sein? Nein, ihr verdammtenhypocrites, das konnte ich nicht! Ich konnte nicht werden wie meine Pflegemutter, strohdoof, verwöhnt, den Kopf voller Nichts und Blümchen. Mit ihren blödsinnigen Ansichten, dass alles gut wird, wenn man nur das richtige Buch liest, dem richtigen Guru zuhört oder die richtigen Scheißkräuter isst. Immer spielte sie dieselbe Karte aus, wenn jemand die Luft aus ihrem sorgsam aufgeblasenen Ballon auswendig gelernten Wissens ließ: »Mein Gott, was haben wir nur aus unserer Welt gemacht; überall Krieg und Ungerechtigkeit, die Menschen leben nicht mehr in natürlicher Harmonie mit sich selbst.« Drei Dinge, Baby. Erstens. Natürlich sind: Krieg, Ungerechtigkeit und Disharmonie. Zweitens. Du bist die am wenigsten harmonische in unserer kleinen Scheißfamilie. Du wolltest immer nur die Liebe, die dir verwehrt wurde, und hast einen Scheiß auf die gegeben, die du tatsächlich bekommen hast. Sorry, Rolf, Stein und Irene, aber sie hatte immer nur Platz für mich. Was Punkt drei umso amüsanter macht. Ich habe dich nie geliebt, Baby, wie sehr du auch geglaubt haben magst, meine Liebe zu verdienen. Ich habe dich Mama genannt, weil dich das glücklich gemacht hat und mein Leben so ein bisschen leichter wurde. Ich habe getan, was ich getan habe, weil du das zugelassen hast und weil ich es nun mal nicht sein lassen konnte. Ich bin eben, wie ich bin.

Rolf. Du hast mich wenigstens nicht gebeten, dich Papa zu nennen. Und du hast wirklich versucht, mich liebzugewinnen. Aber es ist dir nicht gelungen, dich gegen deine Natur aufzulehnen, auch du musstest einsehen, dass du dein eigen Fleisch und Blut mehr liebtest, Stein und Irene. Wenn ich anderen gegenüber erwähnt habe, dass ihr »meine Pflegeeltern« seid, lag immer ein verletzter Ausdruck auf Mamas Gesicht. Und Hass auf deinem. Nicht weil ich euch durch den Begriff »Pflegeeltern« auf die einzige Funktion reduziert habe, die ihr für mich hattet, sondern weil ich damit die Frau verletzt habe, die du aus unbegreiflichen Gründen tatsächlich geliebt hast. Eigentlich glaube ich, dass du dich selbst so eingeschätzt hast, wie ich dich gesehen habe; als einen Menschen nämlich, der sich irgendwann im Leben, berauscht von seinem eigenen Idealismus, hat hinreißen lassen, die Verantwortung für ein Kuckuckskind zu übernehmen, was er schnell darauf heftig bereut hat. Die Rechenaufgabe ist irgendwie nicht aufgegangen. Der monatliche Betrag, den sie dir für deine Fürsorge bezahlt haben, hat die wirklichen Ausgaben nämlich bei weitem nicht gedeckt. Dafür war ich zu sehr Kuckuck. Habe alles gefressen, was du geliebt hast. Alle, die du geliebt hast. Du hättest das früher erkennen und mich aus dem Nest werfen müssen, Rolf! Schließlich hast du als Erster bemerkt, dass ich stahl. Zuerst nur einen Hunderter. Ich habe es geleugnet. Behauptet, den Schein von Mama bekommen zu haben. »Nicht wahr, Mama? Den hast du mir doch geschenkt!« Und »Mama« hat zögerlich genickt, mit Tränen in den Augen, und dann gesagt, sie habe das sicher nur vergessen. Beim nächsten Mal waren es tausend Kronen. Aus deiner Schreibtischschublade. Geld, das eigentlich für unsere Ferien gedacht war. »Das Einzige, was ich will, sind Ferien von euch«, antwortete ich, als du mich zur Rede gestellt hast. Und da schlugst du zum ersten Mal zu. Irgendwie schien das dann etwas in dir losgetreten zu haben, denn anschließend hast du weitergeschlagen. Ich war damals schon größer und breiter als du, habe mich aber nie aufs Prügeln verstanden. Nicht so, nicht mit Fäusten und Muskelkraft. Meine Art zu kämpfen war eine andere, eine Art, auf die man gewinnt. Aber du hast immer weitergeprügelt, mit geballter Faust. Warum, habe ich schnell kapiert. Du wolltest mein Gesicht kaputtmachen. Mir meine Macht nehmen. Aber die Frau, die ich Mama genannt habe, hat sich zwischen uns geworfen. Und da hast du es gesagt. Das Wort. Dieb. Wie wahr. Nur dass du damit dein eigenes Grab geschaufelt hast, denn jetzt musste ich dich zerstören, du kleiner Mann.

Stein. Der stille große Bruder. Der Erste, der den Kuckuck an seinem Federkleid erkannt hat, aber klug genug war, Abstand zu halten. Der kluge, hintersinnige, smarte Eigenbrötler, der sich bei der erstbesten Gelegenheit in die am weitesten entfernte Unistadt abgesetzt hat. Allerdings nicht, ohne zuvor seine Schwester zu bearbeiten, mit ihm zu gehen. Er war der Meinung, dass sie ihre Schule auch in Trondheim abschließen konnte und dass es ihr sicher guttäte, aus Oslo rauszukommen. Aber Mama wehrte sich gegen Irenes Evakuierung. Sie hatte ja keine Ahnung. Wenn sie denn überhaupt etwas wissen wollte.

Irene. Hübsche, nette, sommersprossige, zerbrechliche Irene. Du warst zu gut für diese Welt. Warst all das, was ich nicht war. Und hast mich trotzdem geliebt. Hättest du das auch getan, wenn du es gewusst hättest? Wenn dir klar gewesen wäre, dass ich deine Mama vögelte, seit ich fünfzehn war? Diese rotweinbetörte, winselnde Schnalle? Dass ich sie von hinten an die Klotür genagelt habe, an die Kellertür, die Küchentür, ihr dabei »Mama« ins Ohr geraunt habe, weil das sie und mich so aufgegeilt hat? Dass sie mir Geld gegeben hat, Geld und Rückendeckung, wenn etwas vorgefallen war, und immer gesagt hat, sie wolle mich nur für eine Weile ausborgen, bis sie zu alt und hässlich war und ich ein süßes Mädchen träfe. Wenn ich dann zu ihr sagte, »aber Mama, du bist doch alt und hässlich«, tat sie das mit einem Lachen ab und flehte mich um mehr an.

An dem Tag, an dem ich ihn auf der Arbeit anrief und bat, bereits um drei Uhr nach Hause zu kommen, weil ich ihm etwas Wichtiges zu sagen habe, hatte ich noch immer blaue Flecke von seinen Schlägen und Tritten am Körper. Ich lehnte die Haustür an und flüsterte ihr etwas ins Ohr, damit sie ihn nicht kommen hörte. Sachen, die sie liebte.

Als er in der Küchentür stand, sah ich sein Spiegelbild im Fenster.

Tags darauf ist er ausgezogen. Irene und Stein bekamen zu hören, dass Mama und Papa ein paar Probleme hätten und zurzeit nicht so gut aufeinander zu sprechen seien, weshalb sie sich eine Weile trennen wollten. Irene war am Boden zerstört. Stein war in seiner Unistadt, er ging nicht ans Telefon, antwortete aber später per SMS. »Traurig. Zu wem soll ich denn an X-mas kommen?«

Irene weinte und weinte. Sie liebte mich. War doch klar, dass sie mich suchen würde, mich, den Dieb.

Die Kirchenglocke schlägt zum fünften Mal. Weinen und Schluchzen aus den Reihen. Kokain, Wahnsinnsgewinne. Miete dir eine Wohnung im noblen Westen des Zentrums, registriere sie auf den Namen irgendeines Junkies, der dir für einen Schuss seinen Namen borgt, und verkaufe kleine Mengen im Treppenhaus oder an der Tür. Treib den Preis in die Höhe, wenn die Leute sich sicher fühlen. Diese Koks-Sniffer zahlen, was du willst, wenn du sie nur in Sicherheit wiegst. Komm hoch, los, komm nach vorn, nimm weniger Dope und mach was aus dir. Und verrecke nicht wie irgendein Verlierer in so einem Loch. Der Pastor räuspert sich. »Wir sind hier zusammengekommen, Gusto Hanssens zu gedenken.«

Eine Stimme von ganz hinten: »Dem D-d-dieb.«

Tutus Stottern, der in MC-Jacke und Piratenkopftuch dasitzt. Und noch weiter entfernt, das Winseln eines Hundes. Rufus. Guter, treuer Rufus. Seid ihr zu mir zurückgekommen? Oder bin ich bereits bei euch?

Tord Schultz legte den Samsonite-Koffer auf das Förderband der Durchleuchtungsanlage und nickte dem lächelnden Wachmann zu.

»Ich kapiere nicht, warum du dich nicht gegen deinen Flugplan wehrst«, sagte die Stewardess. »Zweimal in der Woche nach Bangkok!«

»Ich habe selbst darum gebeten«, sagte Tord und ging durch den Metalldetektor. Jemand in der Gewerkschaft hatte offen mit Streik gedroht und dagegen protestiert, dass die Crewmitglieder mehrmals täglich dieser Strahlung ausgesetzt wurden, nachdem eine Studie in denUSAzu dem Ergebnis gekommen war, dass Piloten und Flugbegleiter überdurchschnittlich häufig an Krebs erkrankten. Die Streithähne hatten aber nichts davon gesagt, dass auch die durchschnittliche Lebenserwartung höher als normal war. Das Flugpersonal starb an Krebs, weil man ja an irgendetwas sterben musste. Sie führten die sichersten – und langweiligsten – Leben der Welt.

»Du willst selber so viel fliegen?«

»Ich bin Pilot, ich fliege gerne«, log Tord, nahm den Koffer vom Band, ließ die Stange des Handgriffs herausgleiten und setzte sich in Bewegung.

Sie hatte schnell wieder zu ihm aufgeschlossen. Ihre Absätze klackerten so laut über den grauenAntique-foncé-Marmor, mit dem der Flughafenboden ausgelegt war, dass sie das Stimmengewirr, das den Raum unter dem hohen, von Holzbalken und Stahl getragenen Dach erfüllte, fast übertönten. Ihre leise geflüsterte Frage vermochten sie hingegen nicht zu übertönen:

»Machst du das, weil sie dich verlassen hat, Tord? Weil du jetzt so viel Zeit hast und dein Leben so leer ist? Fällt dir zu Hause die Decke auf …«

»Ich mache das, weil ich das Geld für die Überstunden brauche«, fiel er ihr ins Wort, was nicht einmal gelogen war.

»Ich könnte das gut verstehen, weißt du. Ich bin ja selbst erst letzten Winter geschieden worden.«