Die Last der Lust - Marion Petznick - E-Book

Die Last der Lust E-Book

Marion Petznick

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Beschreibung

Lisa Liebich hat ihr Jurastudium gegen eine feste Stelle im Team des Rostocker Kommissariats eingetauscht. Kurz nach dieser Entscheidung ist ihr Spürsinn gefragt, ein Fall konfrontiert sie und ihre Kollegen mit finsteren Machenschaften im Darknet. Die Ermittler stoßen auf eine Gruppe, die nach dem besonderen Kick Ausschau hält, indem Frauen gedemütigt und Opfer brutal misshandelt werden. Aber schreckt die Gruppe auch vor Mord nicht zurück? Die Frage stellt sich, als eine Frauenleiche gefunden wird.

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Marion Petznick
Last der Lust
Ostsee-Krimi
Ostsee-Krimi

Inhaltsverzeichnis

Last der Lust

Motto

Prolog

Lisas Rückkehr

Rostock, Innenstadt

Rostock, Kriminalkommissariat

Graal-Müritz, Muschelweg

Klinikum Südstadt Rostock

Rostock, Kriminalkommissariat

Graal-Müritz, Dr. Maximilian Schäfer

Rostock, Kriminalkommissariat

Rostock, CityHotel

Graal-Müritz

Rostock, Kriminalkommissariat

Rechtsmedizin

Rostock, Kriminalkommissariat

Rostock, Kunsthalle »Vernissage«

Rostock, Kriminalkommissariat

Rostock, Brauhaus »Zum Alten Fritz«

Rostock, Kriminalkommissariat

Lisa in Aufruhr

Rostock, Kriminalkommissariat

CityHotel

Auf der Flucht

Lisa in Graal-Müritz

Rostock, Kriminalkommissariat

Epilog

Personen

Impressum

Title Page

Inhaltsverzeichnis

Leidenschaften sind die Pferde am Wagen des Lebens; aber wir fahren nur gut, wenn der Fuhrmann mit Vernunft die Zügel lenkt.
Unbekannt
Alle agierenden Personen, Namen und Handlungen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen ist rein zufällig.

Prolog

Er drückte den Deckel seines Laptops beinahe zärtlich zu. Dann ließ er sich in den weichen Sessel zurückfallen und schloss zufrieden seine Augen.
Kaum, dass er die Gruppe im Chatroom verlassen hatte, ahnte er, dass sich ab jetzt alles in seinem Leben ändern würde. Hier im Netz verstand man ihn.
Niemals zuvor hatte er offen über seine Neigungen und Begierden gesprochen. Ja, er kannte nicht einmal einen einzigen Menschen, dem er sich hätte anvertrauen können.
Im Chatroom war es anders. Er brauchte nicht umständlich nach passenden Worten zu suchen. Immer kam ihm jemand rechtzeitig zuvor und ersparte ihm, sich lange erklären zu müssen.
Von Anfang an hatte er sich bemüht, zu erfahren, ob er sich nicht irrte und tatsächlich Gleichgesinnte traf.
Er wollte nicht wieder enttäuscht werden.
Gleich nach der ersten kurzen Vorstellungsrunde war klar gewesen, dass alle Chatteilnehmer ähnlich tickten. Bereits in den ersten Minuten hatte er wertvolle Tipps erhalten, mit denen er schnell an das Ziel seiner Begierde gelangen konnte. Ein Teilnehmer aus der Gruppe hatte ihm geraten, mit allen Mitteln vorzugehen. Aber mit welchen? Davon wollte er erst später mehr berichten.
Nur eines war ihm nicht klar. Wie sollte er seine speziellen Interessen in sein altes verstaubtes Leben integrieren? Kam ihm seine Frau in den Sinn, wurde er nervös. Und der Gedanke an sie ließ ihn nicht mehr los. Seine Hände klopften automatisch auf den Tisch, als ob ihm dadurch die Idee käme, sich von ihr zu trennen. Aber erst der Gedanke, sich irgendwann outen zu müssen, sorgte für heftige Kopfschmerzen.
Zwar ging es um eine Leidenschaft, die er lange schon mit sich herumschleppte, aber bisher war es ihm perfekt gelungen, sein anderes Ich zu verschleiern.
Besonders aufpassen musste er in seiner engeren Umgebung. Selbst seine Ehefrau ahnte nichts von seinen besonderen Vorlieben.
In einem bescheidenen Umfang lebte er ja seine Lust längst schon aus. Doch bald würden seine Treffen Grenzen überschreiten. Wer weiß, wohin ihn das Unbekannte bringen würde? Viel Neues erwartete ihn. Er wollte aufpassen und sich besser tarnen. Vor allem seine Frau sollte nicht merken, was er machte, und zwar viel lieber mit anderen, als mit ihr.
Ihm selbst war das ganze Ausmaß kaum bewusst. Nicht eine winzige Idee hatte er, wohin ihn seine Begierde führen würde.
Im Internet hatte er von Praktiken erfahren, die ihn neugierig machten. Vieles passte zu ihm. Er wusste, dass er genau das tun musste, wonach sein Innerstes verlangte, damit es ihm gut ging. Richtig gut ging.
Beim ersten Mal hatte es ihn erschreckt, zu welcher Ekstase er fähig war. Obwohl er nicht mal viel brauchte, um richtig wild zu werden. Es genügte eine Frau, die gierig war. Meist stellte er das im Internet mit ein paar Fragen schnell fest, spätestens aber, wenn er sie sah und roch. Sein Geruchsempfinden war ausgeprägt, genauso sein Gespür für sinnlich weiche Materialien. Immer musste er den Frauen viel zu lange erklären, was sie anzuziehen hatten. Vor allem welchen Stoff und welche Farbe ihre Kleidung haben sollte. Dann die Frage nach ihrem Lieblingsparfüm. Schrecklich, was da mitunter herauskam.
Die erste Begegnung brachte meist an den Tag, ob er sich getäuscht hatte oder er der Frau eine weitere Chance einräumte. Es gab leider nur Wenige, die ihn richtig antörnten und wild machten. Seine Wut darüber konnte er schon lange nicht mehr beherrschen.
Durch die Gruppe würde er bald mehr wissen, vor allem, wie er die Frauen zähmen und beherrschen konnte. Einer aus der Gruppe meinte, alles sei recht, egal mit welchem Mittel er vorging. Er wusste, dass er viel Unbekanntes erfahren würde, und dafür war er jetzt schon dankbar …

Lisas Rückkehr

Gut vier Monate waren inzwischen vergangen, seit Lisa Liebich zum letzten Mal den beeindruckenden Anblick des Hafens der Warnow genießen konnte. Ihr wurde wieder deutlich vor Augen geführt, welch außergewöhnliche Lage ihre Dienststelle hatte.
Eine Ewigkeit, dachte sie gerade, als sie die wenigen Treppenstufen zum Hauseingang hinter sich gelassen hatte. Sie stand vor der vertrauten Bürotür und zögerte etwas, ehe sie eintrat. Seit Lisa aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte sie sich Gedanken gemacht, wie sie bei der Rückkehr nach ihrer langen Abwesenheit empfangen würde. Sie kam zwar auf eigenen Wunsch ins Kommissariat zurück, gleichzeitig fühlte sich dieser Moment fremd an.
Erneut zeigte sich das maue Gefühl in der Magengegend. Der trübe Novembertag mit einem rauen Nordwestwind machte ihre Gefühlslage nicht besser.
Erst jetzt war sie in der Lage, ihren Dienst aufzunehmen. Dabei hatte ihr die mehrwöchige Psychotherapie geholfen, bei der die Therapeutin den Finger auf ihre seelischen Wunden gehalten hatte, die sie nach dem Übergriff des Mörders erlitten hatte. Kaum war es Lisa besser gegangen, wollte sie zurück zur Kripo. Dazu war es vor allem nötig, dass Peter Heilmeyer, ihr Chef, sie nach dem Vorfall fest anstellte. Sie hatte als Polizistin bei der Aufklärung eines Falls absolut fahrlässig gehandelt. Gleichzeitig konnten die Kollegen erst durch ihre ungewollte Beteiligung am Tatgeschehen, den Fall des Serienmörders zum Abschluss bringen. Der Täter wurde zu einer lebenslänglichen Haft verurteilt. Eine anschließende Sicherheitsverwahrung wurde später gerichtlich beschlossen. Mit der Festsetzung des Mörders konnte die Akte »Soko Weiße Calla« endgültig geschlossen werden.
Diese lange Auszeit hatte sie gebraucht, um in diesen Job erneut einzusteigen. Von dem Plan, ein Jura-Studium zu beginnen, hatte sie sich bereits im Krankenhaus, nach dem brutalen Übergriff endgültig verabschiedet.
Während sie zu Hause bleiben musste, hatte sie mehrfach telefonisch das Gespräch zu ihrem Chef gesucht. Der hatte versprochen, sich zu melden, sobald das Team sich einig darüber wurde, ob es Lisa trotz des Vorfalls dabeihaben wollte. Vor einer Woche hatte sie endlich erfahren, dass die Entscheidung für sie positiv ausgefallen war.
Endlich war sie hergestellt und konnte in Heilmeyers Team zurückkehren. Mit dem Wiedereinstieg in den Job wollte sie mehr denn je üblen Verbrechern das Handwerk legen.
Jetzt stand Lisa Liebich vor dem Eingang des Kommissariats und klopfte zaghaft an die Tür, bevor sie diese öffnete. Kaum stand sie im Raum, wurde sie mit einem freudigen Hallo begrüßt. Alle waren da, selbst Tess aus der Gerichtsmedizin. Mit so einem Empfang hatte Lisa nicht gerechnet. Sofort waren alle Zweifel für einen Neubeginn verflogen.
»Na, du hast uns ja lange zappeln lassen. Aber gut, dass du zurück bist«, preschte Olli vor und begrüßte sie als erster in seiner kumpelhaften Art.
Für einen Arbeitstag, wie Lisa ihn kannte, war dieser eher besonders. Die Kollegen hatten Kaffee mit Kuchen vorbereitet und ein bunter Blumenstrauß stand mitten auf dem Tisch.
Tess deutete auf den Kuchen. »Den habe ich gebacken. Hoffe, dass er dir schmeckt.«
Lisa lächelte verlegen. »Woher weißt du, dass ich Käsekuchen besonders mag?«
»Wer mag den nicht?«
Lisa antwortete mit einem Lächeln.
So schnell wie sie gekommen war, verflog die anfängliche Unsicherheit, genauso das maue Gefühl in ihrer Magengegend. Ab jetzt freute sich Lisa ungehemmt über die herzliche und bedingungslose Begrüßung ihrer Leute.
Olli wartete nicht lange und schob sich ein Stück Kuchen in den Mund. »Köstlich«, sagte er mampfend.
Der Kuchen von Tess schien auch den anderen zu schmecken, alle langten kräftig zu.
Jens schluckte schnell einen Bissen hinunter und sah Lisa an. »Traust du dir die Arbeit bei uns überhaupt wieder zu?«
Olli wartete Lisas Antwort gar nicht erst ab und meinte: »Wir hatten Angst um dich, gut, dass du keinen körperlichen Schaden genommen hast.«
Die meisten Kollegen hatte Lisa tatsächlich in den letzten Monaten nicht zu Gesicht bekommen. Lediglich Tess, Olli, Jens und der Chef hatten sie im Krankenhaus und zu Hause regelmäßig besucht.
Im Dienstraum hob sich allmählich der Geräuschpegel und kaum jemand verstand mehr sein eigenes Wort.
Peter Heilmeyer zeigte auf seine Uhr. »Leute lasst uns mit der Besprechung beginnen. Es wird Zeit.« Dann sah er Lisa an. »Du merkst, dass alle sich freuen, dich wieder dabeizuhaben. Aber jetzt kommt bitte langsam zum Schluss der Kaffeerunde, auf uns wartet jede Menge Arbeit. Der neue Fall ist zwar kein Mord, aber er wird uns mindestens genauso intensiv beschäftigen. Davon gehe ich jedenfalls fest aus. Er birgt jede Menge Gewaltpotenzial und könnte weitere Straftaten nach sich ziehen.«
Lisa kannte den Chef, wenn er in dieser vehementen Art seine Stimme erhob, duldete er keinen Widerspruch und erwartete, dass jeder zur Sachlage überging. Er konnte es nicht ausstehen, unnütz Zeit zu verlieren.
»Ich bin mir sicher, Lisa, du bist bald mittendrin in der Arbeit und wirst dich schnell zurechtfinden. Wir werden dich nicht schonen, das kann ich dir versprechen. Es gibt jede Menge zu tun und wir brauchen jeden Einzelnen, der konzentriert bei der Sache bleibt.«
Der Hauptkommissar wollte ihr offenbar zeigen, dass sie keine Praktikantin mehr war, sondern ein vollwertiges Mitglied im Team.
»Ich brauche keine Sonderbehandlung, ich bin hier, um das Beste zu geben. Bevor es für mich aber richtig losgeht, muss ich ein Dankeschön loswerden. Leute, danke! Für alles«, betonte Lisa, froh darüber einen guten Start hingelegt zu haben.
»Schon gut. Das eben war vielleicht etwas direkt, aber du kennst mich hoffentlich noch. Nichts für ungut.« Während Heilmeyer den letzten Satz herausbrachte, lächelte er Lisa zaghaft an. Sie lächelte zurück und das Eis zwischen ihnen war gebrochen.
Heilmeyer sprach weiter: »Lasst uns die bisherigen Ermittlungen besprechen, damit Lisa auf demselben Wissensstand wie wir ist. Übrigens passt dieser Fall perfekt zum gerade erschienenen statistischen Bericht. Vergewaltigung und sexuelle Nötigung stehen an zweiter Stelle der seit zwei Jahren erhöhten Straftaten in unserem Land. In dem Bericht wurde aufgezeigt, dass es eine satte Steigerung von 12,8 % gibt. Diese Info nur mal nebenbei.«
Heilmeyer war ganz bei der Sache. Er machte seine Tasche auf, holte einige Fotos hervor, mit denen er in die Richtung der zentral angebrachten Pinnwand ging. Die große, fast die Hälfte der Wand einnehmende Schautafel stand in direkter Blickrichtung zu allen Teilnehmern der Runde. Neben den Fotos heftete Heilmeyer auch einige Notizen an, von denen er manche farblich markierte.
Während der Hauptkommissar mit den Infos an der Pinnwand beschäftigt war, räumte Tess leise sämtliches Geschirr vom großen Arbeitstisch ab. Dann gab sie Lisa ein Zeichen, dass sie später telefonieren würden, und verließ den Raum.
Heilmeyer blickte intensiv auf ein Foto, markierte es farbig, ging einen Schritt zurück und betrachtete es wieder. Dann drehte er sich um. »Lasst uns Struktur hier reinbringen. Fällt euch etwas auf?«
Stille im Raum. Nicht nur Lisa konnte nichts mit den Pfeilen und Farbmarkierungen Heilmeyers etwas anfangen.
Lisas Augen huschten von Bild zu Bild. Aber was sollte sie schon mit ihnen anfangen? Schließlich war heute ihr erster Arbeitstag.
»Was soll uns dieses Foto mit der brutal zugerichteten Frau überhaupt sagen?«, fragte Lisa deshalb laut.
Auf einmal sah es aus, als wollten alle eine Antwort geben. Dabei murmelten sie sich nur untereinander etwas zu. Der Chef unterbrach die lauter werdenden Stimmen und schaute alle im Raum erwartungsvoll an. »Was gibt es da so lange zu überlegen? Seht euch alle Fotos an, nicht nur die mit den misshandelten Frauen. Wie ihr seht, haben wir zwei Opfer, die sind klar auf den Bildern hier zu erkennen. Von der anonymen Anruferin haben wir keine persönlichen Angaben. Aber ich will auf etwas anderes hinaus. Gibt es etwa nicht einen einzigen scharfsinnigen Beobachter unter euch?«
Lisa sah von Kollege zu Kollege und las in deren Gesichtern viele Fragezeichen. Heilmeyer wollte gerade selbst die Antwort geben, als Lisa eine Idee kam. »Ich bin zwar in den aktuellen Fall nicht involviert, aber das Foto der Frau auf der rechten Seite kommt mir bekannt vor. Und wenn ich das Logo darunter richtig deute, ist es dieselbe Partnervermittlung vom Sommer. Die spielte ja bereits im August keine unwesentliche Rolle. Wir konnten denen zwar keinen direkten Einfluss nachweisen, aber ganz geheuer waren mir die Damen nicht.«
»Bingo, Lisa! Genau diese Agentur meinte ich. Willkommen im Team! Ich merke, du bist dabei. Seit einiger Zeit betreiben die Leute neben dem uns bekannten Partnerportal eine mysteriöse Seitensprungagentur, und das nicht ganz legal. In diesen Kreisen sind sie längst keine Unbekannten mehr.«
Olli schaute irritiert. »Seitensprungagentur? Wie bitte darf ich mir so einen Laden vorstellen? Und was soll die mit unserem Fall zu tun haben?«
Heilmeyer sah Olli an. »Olli, stell dich nicht dümmer an als nötig. Der Name sagt es bereits. Aber eigentlich läuft alles im Hintergrund über eine Webseite ab, und genau die Seite wird von dieser ominösen Agentur angeboten. Dort melden sich oft unzufriedene Frauen an. Sie suchen für ihre speziellen Vorlieben einen entsprechenden Mann, weil sie sich nicht trauen, ihrem Partner oder Ehemann ihre speziellen Wünsche anzuvertrauen.«
»Meinst du etwa, sie sind Gefangene ihrer Triebe oder so was in der Art? Ich meine damit, dass sie ohne eigene Kontrolle, nymphoman oder so was Ähnliches sind?«
»Soweit würde ich nicht gehen, Olli, aber sicher haben die Männer und Frauen ihre Motive. Um ans Ziel ihrer Wünsche zu gelangen, ist ihnen sicher jedes Mittel recht, und wie es den Anschein hat, fängt hier unsere Arbeit an. Es hat sich herausgestellt, dass das Portal gleichermaßen alle Geschlechter anspricht. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass das Interesse von Frauen und Männern sich die Waage hält.«
»Okay, soweit klar. Aber noch einmal. Was haben diese speziellen Interessen von, wie du sagst, ›Getriebenen‹ mit unserem Fall zu tun? Wäre das nicht eher was für den Fachbereich Sitte?«
»Wir haben bisher zwei Frauen, die geschädigt wurden«, mischte sich Jens ein und sah von Olli zu Heilmeyer. Letzterer zeigte auf die Wand. »Seht euch die Fotos an! Das Opfer auf dem rechten Bild meldete sich direkt aus einem Hotel und rief in unserer Zentrale an. Inzwischen wissen wir, dass das Hotel ein beliebter Treffpunkt für Paare ist, die sich zum Sex verabreden. Und die Frau selbst gab offen zu, dass sie sich immer wieder mal mit fremden Männern traf, um mit ihnen Sex zu haben. Angeblich, weil sie den zu Hause von ihrem Mann nicht bekommt.«
»Das ist nicht gerade viel. Denn weder sprach sie davon, dass sie den Täter über ein Seitensprungportal kennenlernte, noch, dass sie mehrmals verletzt wurde«, warf Jens ein.
Heilmeyer hörte ihm aufmerksam zu und meinte schließlich: »Ich habe da noch etwas.«
Er öffnete seine Tasche und zog einen Ordner mit weiteren Fotos heraus, die er neben die anderen an die Wand anbrachte. Das neue Bild zeigte eine jüngere blonde Frau mit zerrissener Bluse und blutverschmiertem Oberkörper. Außerdem war ihr Gesicht stark gequollen. Genau wie auf dem Bild, das er schon angebracht hatte, machte die Frau einen desolaten Eindruck. Mit blauen Flecken und tiefen Wunden blickte sie ängstlich in die Kamera.
Heilmeyer hatte nun alle seine Fotos angebracht. »Seht euch die Fotos genau an. Frau Paul berichtete freiheraus auf ›nicht normalen Sex‹ zu stehen. So nannte sie das am Telefon, und dafür traf sie sich eben mit speziell veranlagten Männern. Sie wandte sich nur deshalb an die Polizei, weil sie das letzte Mal lebensbedrohlich verletzt wurde. Sie meinte, dass die Aktion einer Vergewaltigung gleichgekommen wäre und sie wohl von Glück sprechen könne, dass sie noch am Leben sei.«
»Und das alles erzählte sie am Telefon?« Lisa war überrascht.
»Genau, sie hatte den Mann noch am selben Tag angezeigt und erwähnt, dass der Schläger ein Kondom benutzt hat, bestimmt, um bei einem möglichen Gentest keine verwertbaren Spuren zu hinterlassen.«
»Und? Wann war das?«, wollte Olli ungeduldig wissen.
»Das war vor zwei Tagen!«
»So ein Date läuft natürlich absolut anonym ab, oder?«
»In der Regel schon.«
»Und? Wir sollen untersuchen, ob der Mann derselbe ist, der auch die andere Frau hart zugerichtet hat?«
»Ganz richtig, Jens. Einiges spricht dafür, anderes weniger. Auf den ersten Blick sieht es jedenfalls nach einem möglichen Zusammenhang aus. Frau Paul, die in der Lage war bei uns anzurufen, meldete sich ja gleich am selben Tag. Ihr erinnert euch? Sie nannte sogar das Hotel, aus dem sie anrief. Ob Frau Stolz im gleichen Hotel unterwegs war, müssen wir erst klären. Wir werden sie später sprechen, wenn sie überhaupt dazu in der Lage sein sollte, noch erlauben es die Ärzte nicht.«
»Der Typ hat sie ziemlich zugerichtet, jedenfalls soweit es auf den Bildern zu erkennen ist«, äußerte sich Lisa angewidert.
Heilmeyer antwortete nicht und ließ die Aussage für sich stehen.
»Das ist kein Zufall und wir sollten nicht warten, bis Frau Stolz vernehmungsfähig ist. Wir müssen handeln!« Ollis Ton klang ungewohnt barsch.
»Solange werden wir auch nicht brauchen«, gab Heilmeyer zur Antwort.
»Gibt es weitere Hinweise?«, meldete sich nun Lisa erneut zu Wort.
»Ja, der Mann hat sein mitgebrachtes Messer mehrfach zum Einsatz gebracht, um Frau Stolz bewusst Schmerzen zuzufügen. Wahrscheinlich befriedigte ihn das sexuell. Aber diese Verletzungen reichten ihm nicht, er fesselte sie auch und fügte Frau Stolz lebensgefährliche Schnittwunden zu. Nicht nur am Hals, wie hier deutlich zu sehen ist, sondern auch an den Armen, aber vor allem am Oberkörper. Mit seiner Quälerei zwang der Täter sie, perverse Handlungen an ihm vorzunehmen.«
»Ja und? Berichtete die Frau, die anonym aus dem Hotel anrief, Ähnliches?«
»So ist es, Jens. Wir haben es hier also jedes Mal mit einem identischen Muster zu tun. Deshalb habe ich mich im forensischen Bereich kundig gemacht.«
Olli nickte, bevor er seine Stimme erneut erhob »Die Fotos zeigen ganz klar sadistische Züge. Die Würgemerkmale, die blauen Flecken, alles sieht selbst auf den Fotos noch grauenvoll aus.«
»Hmm …« Lisa runzelte die Stirn. »Warum wurden die Frauen überhaupt mit dem Messer so stark verletzt, wenn er sie zuvor gefesselt hat?«
»Eine berechtigte Frage Lisa, die einem normal denkenden Menschen natürlich sofort aufkommt. Die Psychologen nennen das Dissexualität. Das ist eine Verhaltensstörung, die in beiden Fällen klar zu erkennen ist.«
Heilmeyer stand auf, ging zur Pinnwand und stellte sich, die Arme verschränkt, davor. Auf seiner Stirn erschien eine tiefe Falte, die Lisa sogar von ihrem Sitz aus gut erkennen konnte.
»Hierzulande kommt es zum Glück nur selten zu derartig schweren Übergriffen mit Vergewaltigungen in einem solchen schweren Ausmaß. Aber genau aus diesem Grund liegt das jetzt mit hoher Priorität auf unserem Tisch. Ich möchte noch mal die Psychologen zitieren, die meinen, dass bis zum sexuell motivierten Töten nur ein kurzer Weg sein kann. Der eine oder andere wird sich dunkel daran erinnern, dass wir im Strafgesetzbuch unter ›Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung‹ in den Paragrafen § 174 – 184 alles zur Rechtslage nachlesen können. Wen das im Detail interessiert, sollte da ruhig mal reinschauen, weil wir mit derartigen Straftaten eher selten zu tun haben.«
»Also können wir davon ausgehen, dass die Männer oder der Einzeltäter bald töten wird?«
»Genau, Jens. Solange diese Männer ihre Fantasie in den eigenen vier Wänden mit ihren eigenen Partnern auf freiwilliger Basis ausleben und kein anderer Mensch geschädigt wird, bleiben die Handlungen eine persönliche Angelegenheit. Sobald Personen vergewaltigt und zu perversen Handlungen gezwungen werden, ist das abnorm und wir müssen handeln.«
Peter Heilmeyer machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Ihr wisst, die Umstände machen die Tat. Wir müssen also verhindern, dass aus der nächsten Vergewaltigung ein Mord wird.«
»Und zwar so schnell wie möglich. Es dürfen nicht noch mehr Frauen in die Falle dieser kranken Männer tappen«, mischte sich Lisa mit fester Stimme ein. Die brutalen Vergehen an diesen Frauen erinnerten sie nur allzu genau an ihre eigene drastische Situation vor wenigen Monaten. Sie schluckte schwer. Besann sich aber schnell und wollte sich besser auf die anstehende Arbeit mental einstellen und aktiv werden.
»Ich könnte mich morgen früh gleich auf den Weg in die Partnervermittlungsstelle machen und den Frauen dort mal auf den Zahn fühlen. Die dürften nicht mehr so unwissend rüberkommen wie beim letzten Mal. Zumal Reiman, der von uns überführte Mörder, auch ein Klient von ihnen war. Kooperativ konnte man die Zusammenarbeit mit denen ohnehin nicht nennen. Bin gespannt, was die Blondinen dieses Mal zu bieten haben.«
»Gut, Lisa. Du kennst dich dort ja aus. Doch wie gesagt, es geht uns jetzt nicht um die Partnervermittlung, sondern um die neue Seitensprungagentur.«
»Vielleicht gibt es weitere geschädigte Frauen, die ihren Lover dort kennengelernt haben?«
»Zumindest Frau Paul gab an, dass sie den Mann auf dieser Seite kennengelernt hat.«
Olli zog sein Handy aus der Tasche und tippte auf diesem kurz rum, bis er vielsagend aufblickte. »Hört mal, ich habe da was recherchiert.« Er räusperte sich, bevor er begann den herausgesuchten Text laut vorzulesen: »Vergiss enttäuschende Bekanntschaften – hier gibt es Männer und Frauen, die Spaß haben wollen! Melde dich bald an und du findest garantiert den Partner, der zu dir passt. Unsere Leute von Seitensprung.de sind natürlich, tolerant und lechzen nach neuen Abenteuern. Du kannst all deine Fantasien ausleben und lang ersehnte Träume wahr werden lassen! Bisher hat jeder bei uns seinen perfekten Gegenpol gefunden.«
»Na ja, das hört sich maßlos übertrieben an, aber das muss es wohl auch, um überhaupt die Leute mit speziellen Vorlieben zu erreichen.« Jens betonte das Wort »maßlos« besonders stark und ergänzte: »Wobei ich denke, dass solche Foren gar nicht schlecht sind. Wenn wirklich ein Topf seinen Deckel finden würde, wäre alles okay. Böse wird es erst, wenn einer von beiden eine andere Vorstellung vom Sex oder der Herangehensweise zum Höhepunkt hat.«
Heilmeyer unterbrach Jens, der seine ausschweifenden Anmerkungen gerade fortsetzen wollte. »Uns interessieren weniger die sexuellen Vorlieben dieser Herren als ihre Straftaten, die in dem Zusammenhang stehen. Deshalb der Reihe nach, der letzte Übergriff auf eine Frau, wurde uns erst gestern gemeldet. Wir prüfen sämtliche Zusammenhänge, die es auch mit anderen Frauen gab, und laden diese so schnell wie möglich zur Befragung zu uns ein.«
»Ich überprüfe die Angaben zum Hotel. Vielleicht plaudern die an der Rezeption etwas aus«, meinte Olli, sah Lisa dann an und gab ihr mit den Augen ein Zeichen. Sie verstand ihn sofort. »Ich könnte mit Olli gemeinsam zum CityHotel fahren und würde von Graal-Müritz mit dem Zug fahren, so wäre es kein Umweg.«
»Meinetwegen, übernehmt ihr morgen früh das Hotel und im Anschluss könnt ihr gleich die Partneragentur aufsuchen.«
»Apropos Hotel, das CityHotel soll in unmittelbarer Nähe zum Rostocker Hauptbahnhof sein. Von dort ist man relativ schnell aus der Stadt verschwunden. Seht euch das genauer an. Vielleicht ist es sogar möglich, anonym rein- und rauszuspazieren.«
Lisa nickte. Sie kannte sich in der Gegend relativ gut aus, weil sie manchmal mit dem Zug von Graal-Müritz nach Rostock fuhr.
»Nicht schlecht gewählt«, meinte auch Olli.
»Aus diesem Grund nehmt ihr morgen als Erstes das Hotel unter die Lupe. Bin gespannt, welche Neuigkeiten ihr herausbekommt. Wenn es als Stammhaus des Seitensprungportals läuft, dürfte das den Leuten von der Rezeption nicht entgangen sein«, ergänzte Heilmeyer.
Olli nickte unruhig und deutete auf seine Uhr als Zeichen, dass er noch einen Termin in anderer Sache hatte.
»Gebt mir eine Minute, bevor wir für heute etwas zeitiger auseinander gehen. Jens, du machst bei den Webseiten im Netz weiter. Vielleicht gibt es noch mehr Portale, die spezielle Dates anbieten.« Heilmeyer stand auf, ging zur Pinnwand und zeigte auf die angebrachten Fotos. »Die beiden Frauen hier an der Wand sind nicht die Einzigen. Die dritte Frau blieb bis auf wenige Telefonangaben bis jetzt zwar anonym, aber ich denke, dass keine weitere dazukommen darf. Das ist uns allen wohl klar. Macht heute mit euren Recherchen weiter. Ich bin im Außendienst, morgen schließen wir an dieser Stelle an.«
Lautes Klopfen auf den Tisch wurde von schrillem Schurren der Stühle verstärkt.
Bevor sie mit den anderen hinausging, verschaffte sich Lisa in einem Ordner einen Überblick über die Arbeit der letzten Monate und merkte, dass einiges nachzuholen war.
Um 17 Uhr war Lisas erster Arbeitstag Geschichte, aber ihr Job als vollwertige Kollegin in Heilmeyers Team hatte gerade erst begonnen. Sie war keine Praktikantin mehr, und das wollte sie ab jetzt auch unter Beweis stellen.
Alle Kollegen waren bereits auf dem Weg zu ihren Autos, nur Olli kam ihr entgegen und hielt sie am Arm fest. »Hey, nicht so schnell. Ich freu mich wirklich, dass du zurück bist. Wollte dir das nur noch einmal persönlich sagen. Um welche Uhrzeit treffen wir uns morgen?«
»Wie gesagt, manchmal fahre ich mit dem Zug von Graal-Müritz nach Rostock, das dauert etwa eine halbe Stunde. Ich denke, um neun Uhr könnte ich am Bahnhof sein. Hol mich dort ab, dann laufen wir zum Hotel rüber und anschließend zur Partneragentur.«
»Gut, so machen wir das. Kann ich sonst irgendwas für dich tun?«
Lisa schaute Olli überrascht an. »Hallo? Du, ich bin fit. Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ich habe genug getan, um die böse Geschichte vom Sommer loszuwerden. Aber, wenn was sein sollte, wärst du der Erste, der davon erfährt. Versprochen.«
»Dann verstehen wir uns ja und fangen einfach dort an, wo wir im Sommer aufgehört haben. Ich denke, das wird die beste Basis für eine gute Zusammenarbeit sein.«
»Danke Olli, du hast recht. Wir sollten so schnell wie möglich zur Normalität zurückkehren. Morgen wird ein guter Start dafür sein. Dir einen schönen Abend, bis später.«
Olli nickte zustimmend und ging mit ihr zusammen in Richtung Parkplatz. Als er in sein Auto stieg, schaute Lisa ihm mit einem langen Blick hinterher und spürte plötzlich ein wohliges Gefühl durch ihren Körper fließen. »Ich bin zurück«, dachte sie gut gelaunt.
Auf der Heimfahrt nach Graal-Müritz ließ Lisa den ersten Arbeitstag Revue passieren. Dieser war deutlich einfacher verlaufen, als sie es zuvor vermutet hatte. Ihre Leute freuten sich aufrichtig und erleichterten ihr mit ihrer Freude den Wiedereinstieg. Ihr wurde zwar immer noch mulmig zumute, wenn sie am Waldstück in der Rostocker Heide vorbeifuhr, in das der Mörder sie entführt hatte. Doch ab heute sollte der normale Alltag beginnen. Sie wollte endlich zur Normalität zurückkehren.
Sie erreichte gerade Torfbrücke, den Vorort von Graal-Müritz, als ihr der leuchtend bunte Blätterwald auffiel. Die goldenen Baumkronen glitzerten in der Sonne und ihr wurde vom Anblick warm.
Bis vor einigen Tagen hatte Lisa überhaupt keine Augen für den Herbst mit seiner bunten Pracht gehabt. Die fallenden Blätter sah sie als Gleichnis für ihre momentane Situation. Altes fiel ab, damit Neues entstehen konnte. Dieser Gedanke gefiel ihr und sie atmete leicht und unbeschwert durch, so wie schon lange nicht mehr.
Selbst zu Hause ging Lisa vieles leichter von der Hand. Sie dachte daran, dieses besondere Gefühl an diesem Abend mit einem Titel ihrer Lieblingsmusik zu unterstreichen. Sie ging ihre übersichtliche und gut sortierte Schallplattensammlung durch. Nach dem Umzug von Rostock nach Graal-Müritz vor drei Jahren, wollte sie nur noch wenige behalten. Die mit Nelly Furtado war zwar eine Platte älteren Datums, aber der Titel »I'm Like A Bird« sprang ihr dennoch sofort ins Gesicht. Mit diesem Lied ließ sich garantiert ihre gute Laune verstärken.
Behutsam legte sie die Platte auf den uralten Player und drehte die Lautstärke ungewöhnlich laut auf. Die Musik würde eh niemanden stören, weil im Herbst kaum Leute anzutreffen waren. Selbst das Haus, in dem sie lebte, blieb meist Feriengästen vorbehalten, sodass Lisa in der Nachsaison fast allein in diesem dreistöckigen Haus wohnte.
Graal-Müritz strahlte in der Nachsaison eine entspannte Ruhe aus. Der Ort gehörte wieder den Einheimischen, aber das bedeutete nicht, dass Lisa sich einsam fühlte. Sie mochte den Herbst mit all seiner bunten Pracht besonders gern. Die Abende wurden zwar kürzer, aber umso gemütlicher machte sie es sich in dieser dunklen Jahreszeit zu Hause mit einem guten Buch vor dem knisternden Kamin. Sie würde neu durchstarten und den Kollegen zeigen, dass es richtig war, ihr eine zweite Chance zu geben. Der Anfang war geschafft. Ihre Gedanken wanderten in eine positive Richtung, nach vorn. Sie war raus aus dem Tief.

Rostock, Innenstadt

Punkt neun Uhr kam Lisa auf dem riesigen Bahnhofsvorplatz an. Olli stand rauchend am Auto und als Lisa ihn sah, musste sie lächeln. Er war wie immer überpünktlich und hatte das mehr als einmal unter Beweis gestellt. Sie stiegen ohne lange Begrüßungsfloskeln ins Auto und Olli steuerte zügig das CityHotel an. Das Hotel befand sich in unmittelbarer Nähe, eigentlich hätten sie dorthin laufen können. Im Anschluss wollten sie aber gleich den Termin in der Altstadt wahrnehmen und um 14 Uhr hatte der Chef wie immer die Besprechung geplant, also brauchten sie das Auto, um zügig voranzukommen. Nicht erst beim Aussteigen fiel Olli auf, wie gut gelaunt Lisa war. Kaum zu vergleichen mit dem gestrigen Tag. »Du bist richtig gut drauf, hast dich wohl auf mich gefreut?«
Lisa sah Olli mit schrägem Blick an. »Ich dachte eigentlich, das Kapitel ist abgeschlossen. Aber ansonsten freue ich mich immer, wenn ich dich sehe.«
Ollis Stimmung verschlechterte sich augenblicklich, nicht wegen Lisas Abfuhr, es gab schlichtweg in der Nähe des Hotels keinen Parkplatz. Extra in die Tiefgarage wollte er nicht fahren, also hieß es: Weitersuchen.
»He, da fährt gerade ein Auto weg, beeil dich!«
»Offenbar bist du mein Glücksbringer, da kann der Tag ja nur gut werden.«
Nach wenigen Schritten standen sie vor der Eingangstür des Hotels, die genauso schmucklos aussah wie der gesamte Hotelkomplex.
»Ein Haus ohne Gesicht«, stellte Lisa gleich fest.
»Kein Wunder, Leute, die anonym bleiben wollen, suchen sich so einen Kasten aus. Der ist vergessen, ehe man drin gewesen ist. Also mein Geschmack ist anders.«
Lisa antwortete auf Ollis Feststellung mit einem müden Lächeln.
Sie durchschritten eine große Pendeltür und standen in einem ausladenden Foyer. Zwei schwere Säulen ließen den Raum riesig erscheinen. In ihrer direkten Blickrichtung lag die mittig angebrachte Rezeption. Zwei Mitarbeiterinnen waren mit Unterlagen beschäftigt und ein Mann unterhielt sich mit einem Gast. Auf der gegenüberliegenden Seite saß eine junge Frau auf einem bequemen Schwingsessel an einer kleinen Café Bar.
Lisa und Olli hatten sich darauf geeinigt, an diesem Tag nur das Haus zu inspizieren, ohne sich dem Personal gegenüber zu outen. Fürs erste sollte es reichen, sich einen Überblick über die Achtsamkeit der Leute an der Rezeption zu verschaffen.
Behielt das Personal wirklich das Kommen und Gehen der Gäste im Blick oder ging es eher salopp zu?
Das war zumindest gleich nach dem Betreten des Hotels ihr erster Eindruck. Sie wollten vor allem nach Fluchtwegen Ausschau halten und sich einen ersten Eindruck vom Hotel verschaffen. Vielleicht hatten sie ja Glück und ein sexhungriges Paar ließ sich blicken.
Erst einmal fuhren sie mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage, dabei entging ihnen nicht, dass das problemlos möglich war, selbst, ohne Gast des Hotels zu sein. In vielen Häusern gab es längst eine Karte, die als Zimmer- und Fahrstuhlschlüssel diente. Ohne ein angemietetes Zimmer bekam niemand die Chance, den Lift zu nutzen. Unliebsamen Besuchern wurde durch so ein Prozedere ein Riegel vorgeschoben. Aber das schien der Hotelleitung offenbar nicht wichtig zu sein.
Im obersten Stockwerk angekommen, erstreckten sich lange, weitläufige Flure. Ein Putzwagen stand zwar im Flur, doch eine Putzfrau war weit und breit nicht in Sicht. Alles machte den stillen Eindruck eines leeren Hauses.
Plötzlich öffnete sich eine Tür, heraus kam ein gut gelauntes Paar. Der Mann zog einen Rolli hinter sich her und die ihm nachfolgende Frau trug leichtes Handgepäck. Die Frau ließ die Tür offen stehen, wahrscheinlich für die Putzfrau, deren Wagen genau vor der Tür stand. Lisa und Olli gingen weiter in Richtung der offenen Tür. Lisa blieb vorsichtshalber draußen, um Olli rechtzeitig zu warnen, falls jemand käme.
Olli warf einen vorsichtigen Blick zunächst in den Flur, dann ging er in das großzügige Zimmer hinein.
»Beeile dich, ich kann die Putzfrau schon hören«, meinte Lisa unruhig.
Olli ging unsicher weiter, ohne weiter auf Lisas Worte zu achten. Auf einmal rief er begeistert: »Das musst du dir ansehen! Das ist ein besonders großes Appartement, ich würde sagen erster Klasse.«
»Erkennst du etwas, das mit unseren Nachforschungen zu tun hat?«
»Ich sehe mich jetzt in dem separaten Wohnbereich etwas näher um.«
Dieser Raum war hell und sah von innen weitaus freundlicher aus, als das Haus von außen vermuten ließ. Beim Blick aus dem Fenster sah Olli einen großzügigen Innenhof mit wenigen rotgoldenen Blättern an den Bäumen und Rosen, die sehr kurz beschnitten waren. Die parkähnliche Anlage machte einen gepflegten Eindruck, dabei störten lediglich die ungeordneten Tische und Stühle.
Draußen hatte er genug gesehen.
Interessiert begann Olli die Räume weiter nach Auffälligkeiten abzusuchen. Dabei entgingen seiner Aufmerksamkeit die hochwertigen Möbel und die dazu passenden Zierfiguren nicht. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt und machte einen stilvollen, gehobenen Eindruck. Es gab viel Platz, obwohl eine moderne Sitzgruppe mitten im Raum ihren Platz fand. Das Badezimmer war mit einem Whirlpool ausgestattet, an dessen Rand hochwertiger Nippes standen.
Ansonsten gab es nichts Interessantes zu sehen, also kehrte Olli um und gab Lisa das Zeichen, hineinzugehen.
»Schau du dich auch um, vielleicht fällt dir etwas auf, was ich übersehen habe.«
Olli übernahm die Beobachterrolle und Lisa betrat die Suite.
Auf den ersten Blick erkannte Lisa nichts, was ihr wichtig erschien. Deshalb wollte sie gerade den Rückweg antreten, als ihr ein winziger Knopf an der Wand auffiel, der zunächst unscheinbar aussah. Nur durch Zufall sah sie dorthin, weil an dieser Stelle ein Buch stand, das ihr Interesse weckte.
Lisa drückte am Knopf hin und her, ihr Spürsinn vermutete sofort einen geheimen Raum dahinter. Doch selbst nach festem Drücken bewegte sich nichts. Es musste einen besonderen Trick geben und ihre Fantasie überschlug sich jetzt erst recht. Zuerst dachte sie an ein Versteck für jene, die nichts Seriöses im Schilde führten. Aber wofür so ein Raum wirklich gut sein sollte, wollte sie besser mit Olli besprechen.
»Beeil dich, ich höre Schritte, die in unsere Richtung kommen«, rief Olli laut in den Flur des Appartements hinein.
Lisa hatte verstanden und kam unmittelbar nach Ollis Ruf heraus.
»Hast du etwas Markantes entdeckt?«, fragte er Lisa ungeduldig.
Lisa schüttelte zuerst den Kopf, dann dachte sie an den womöglich geheimen Raum »Ist dir der winzige Knopf an der Bücherwand aufgefallen?«
»Nee, was soll da sein?«
»Ein geheimes Versteck, was sonst. Wozu manipuliert oder tarnt man denn sonst eine Wand mit einem Bücherregal?«
»Wie kommst du auf ein Versteck? Das passt gar nicht zu diesen first-class Räumen.«
»Vielleicht gerade deshalb. Wenn du jedenfalls genau davorstehst und hinsiehst, erkennst du ganz genau den Rand, der sich präzise abzeichnet. Es könnte aber auch etwas anderes dahinterstecken.«
Ollis Interesse schien geweckt zu sein. Er ging selbst ins Zimmer zurück, um sich das aus der Nähe anzusehen. In dem Moment öffnete sich in unmittelbarer Nähe eine Tür und die Putzfrau kam heraus. Die sah Lisa erstaunt an.
Lisa ging ihr geistesgegenwärtig entgegen, um sie abzulenken. »Haben Sie vielleicht ein kleines Mädchen gesehen? Eben war sie noch da«, sagte Lisa extra laut, damit Olli sie auch hören konnte. Der verstand ihr Ablenkungsmanöver zum Glück sofort und verließ schnell die Räume.
»Liebling. hier ist Susann auch nicht«, meinte er, dann sprach er die Putzfrau an. »Hat meine Frau schon gefragt, ob Sie unsere Tochter Susann gesehen haben?«
Lisa riss ihre Augen weit auf. Sie hoffte, dass er sich nicht in Einzelheiten verstricken würde, und sprach daher dazwischen: »Lass uns unten weitersuchen. Vielleicht ist sie schon draußen. Hoffentlich ist ihr nichts passiert.« Lisa legte all ihr schauspielerisches Talent in ihre Stimme, um ehrlich besorgt zu klingen.
Die dunkelhäutige Frau musterte Olli, dann Lisa und zuckte mit den Schultern, was wohl bedeuten sollte, dass sie nichts verstanden hatte.
Lisa und Olli verabschiedeten sich wie aus einem Mund und gingen hastig zur Treppe.
»Glück gehabt, hätte auch anders ausgehen können. Und? Was meinst du? Bist du meiner Meinung?«
»Ja, könnte sein. Vielleicht ist es nur ein Raum für Eltern, die mit Kindern reisen und mal für ein paar Minuten ungestört sein wollen.« Seine Antwort schien ihm selbst eher vage zu sein, weshalb er mit den Schultern zuckte. »Das werden uns die Leute vom Haus sicher besser erklären können. Auch, ob dieser Bereich häufiger frequentiert wird als andere.«
Lisa wäre dennoch am liebsten sofort der Sache auf den Grund gegangen, doch Olli verstand es sie zu besänftigen. »Das werden wir erfahren, gedulde dich bis zum nächsten Mal. Spätestens, wenn wir im Kommissariat mit der Befragung der Frauen weitergekommen sind, wissen wir mehr.«
»Ja, und der Chef wird zufrieden sein, weil wir für den Anfang vorsichtig vorgegangen sind.«
»Bisher hat jedenfalls niemand Verdacht geschöpft.«
In den oberen Räumen hatten sie vorerst genug gesehen. Auf dem Rückweg liefen sie über die Treppe und nahmen dabei auch die anderen Gänge in Augenschein. Die darunter liegende Etage sah genauso aus wie die darüber, nur ohne die Schrägen des Dachs. Sie stiegen Treppe für Treppe nach unten, entdeckten aber nichts, was ihr Interesse weckte. Später wollten sie sich gegebenenfalls von der Rezeption den Fluchtplan geben lassen. Aber erst, wenn klar war, ob auch die anderen Frauen dieses Haus als Treffpunkt genutzt hatten.
Eine gute halbe Stunde später kamen sie erneut an der Rezeption vorbei. Alles lief genauso ab wie zuvor. Die Frauen waren mit Papieren beschäftigt, an der Bar saßen inzwischen drei Personen mit jeweils einem Kaffee in der Hand, die sich unterhielten.
Niemand schien von ihnen Notiz zu nehmen, geschweige denn, dass sie gefragt wurden, wohin sie wollten oder ob sie Gäste des Hauses waren. Die Leute von der Rezeption schauten nicht mal hoch, als Lisa und Olli mit einem Gruß an ihnen in Richtung Ausgang gingen.
»Also perfekt für diejenigen, die unentdeckt und anonym bleiben wollen«, sprach Olli aus, was Lisa dachte.
»Damit hat sich meine Vermutung bestätigt. Aber wir sind in diesem Haus bestimmt noch lange nicht fertig«, brachte Lisa gerade noch raus und war bereits mit dem nächsten Ziel beschäftigt. Sie suchte schnell die Rufnummer der ihr vom Sommer her bekannten Partnervermittlungsstelle raus, dann bat sie Olli darum, den Besuch dort schon mal anzukündigen. »Ruf du an. Sie werden dich sicher für einen potenziellen Kunden halten.«
»Weiß zwar nicht, wozu das gut sein soll, aber ich mache es. Gib mal die Nummer ein und mach den Lautsprecher an.«
Ein lautes Klingeln ertönte, prompt hörten sie die dominante Stimme einer Frau. »Hallo? Weber am Apparat, Partnervermittlung ›Meer – Lust‹ in der Altstadt!« Weiter kam die Stimme nicht, weil Olli hastig auf die Aus-Taste drückte. »Also ehrlich, ich habe keinen Bock auf solche Spielchen. Da ist jemand, das wars doch, was wir wissen wollten.«
Lisa schaute ihren Kollegen fragend an, besann sich, bevor sie eine pampige Antwort gab, und meinte kurz: »Beruhige dich, es ist alles gut, Olli. Nix passiert.« Dann machte sich ein Schmunzeln in ihrem Gesicht breit. Olli musste auch lächeln und schien selbst über sein schroffes Verhalten erstaunt zu sein. »Du kennst mich, ich schieße gern mal übers Ziel hinaus.«
Nachdem es ihnen gelang, das Auto in einer Querstraße abzustellen, liefen sie die paar Meter bis in die Altstadt zu Fuß weiter. Lisa war froh, ein paar Schritte gehen zu können, der Nachmittag im Büro würde noch lang genug werden.
An der Fensterfront zur Partnervermittlung entdeckte Lisa sogleich die erste Veränderung: Keine Gesichter von strahlenden Männern und Frauen auf riesigen Fotos wie im Sommer, sondern zeitlose Naturaufnahmen aus der Ostseeregion. Wer nicht wusste, dass sich hier eine Partneragentur versteckte, vermutete auch keine. Genauso hatte sich auch der gesamte Eingangsbereich verändert. Nichts erinnerte Lisa an ihren ersten Besuch, dabei waren seitdem gerade mal drei Monate vergangen.
Der einst geräumige und ungemütlich wirkende Eingangsbereich war jetzt strukturiert und gut aufgeteilt. Olli und Lisa gelangten zunächst in einen Vorraum, in dem sie von einer Empfangsdame begrüßt und nach dem Anliegen gefragt wurden.
»Hier, mein Anliegen!« Olli hielt seinen Ausweis vor das Gesicht der Empfangsdame, sodass sie die Polizeimarke genau erkennen konnte. »Mein Name ist Olaf Wilke.« Er deutete auf Lisa, die sich selbst vorstellte. »Lisa Liebich, wir möchten die Geschäftsführerin, Silke Peters, sprechen.«
»Frau Peters gibt es bei uns nicht mehr. Etwa vor zwei Monaten hat der Inhaber gewechselt. Die frühere Chefin hatte alles urplötzlich verkauft und ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Sie soll ins Ausland gegangen sein, munkeln einige. Hatte wohl einige Leichen im Keller, aber da wissen Sie wahrscheinlich mehr als ich.«
Lisa schaute ihren Kollegen fragend an. »Habe ich etwas überhört? Kannst du dich erinnern, dass Heilmeyer davon gesprochen hat?«
Olli wirkte nicht minder überrascht, ließ sich aber fast nichts anmerken, und reagierte stattdessen forsch. »Na, dann eben jemanden von der Geschäftsführung. Oder gibt es hier auch keine Partnervermittlung mehr? Die müsste sich erst gestern aufgelöst haben, sie steht jedenfalls im Register.«
»Natürlich arbeiten wir hier weiter, nur unter einem neuen Chef. Ich läute mal durch, ob Niels … Pardon, Herr Sauer, frei ist.«
»Sagen Sie ihm bitte gleich, falls er keine Zeit haben sollte, darf er uns auch gern im Kommissariat beehren. Ein zweites Mal kommen wir nämlich nicht vorbei.«
»Ist ja schon gut.«
Sie wählte kurz und nuschelte unverständliche Worte in den Hörer. Anschließend dauerte es nicht lang und Niels Sauer stand in der Tür.
»Womit habe ich Ihren Besuch verdient? Bitte kommen Sie doch mit in mein Büro.« Er hielt die Tür zum angrenzenden Raum auf und zeigte auf eine gemütliche Sitzecke.
»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«
Keine Antwort abwartend, gab er der Mitarbeiterin am Empfang ein Zeichen. Niels Sauer war ein smarter, gut aussehender Mittdreißiger, der mit guten Umgangsformen zu glänzen verstand. Doch Lisa ließ sich davon nicht beeindrucken. »Ich konnte im August Ihre Vorgängerin Silke Peters kennenlernen, damals sah es nicht so aus, als wolle sie bald ihren Dienst quittieren.«
»Das ist interessant, davon weiß ich gar nichts. Und Sie sagen, dass Sie schon einmal den Kontakt zu uns suchten? Im August war ich ja auch schon da. Die Partnervermittlung habe ich endgültig erst vor wenigen Monaten übernommen, sozusagen als ihr ehemaliger Stellvertreter. Silke verschwand Hals über Kopf, weil es für sie nach jede Menge Ärger aussah. Eine Angestellte hatte sie verklagt. Aber wieso und weshalb, das brauche ich Ihnen wohl nicht zu erzählen. Außerdem arbeitet diese Angestellte auch nicht mehr bei uns.«
»Moment mal. Das hängt ganz davon ab, ob die Sache auch mit unseren Fragen zu tun hat.«
»Uns ist bekannt, dass seit einiger Zeit über Ihre Partneragentur eine weitere ›Vermittlung‹ angeboten wird. Ein sogenanntes Seitensprung-Dating-Portal, richtig?« Olli blickte Niels Sauer herausfordernd an.