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Über die Kraft sich immer wieder neu zu erfinden – der neue Roman von Christophe Boltanski.
Ein Jahr lang, zwischen 1973 und 1974, lässt sich ein gewisser Jacob B’chiri täglich und in wechselnder Verkleidung in einem Fotoautomaten ablichten. Wozu dienten die geheimnisvollen Aufnahmen? Christophe Boltanski begibt sich fasziniert auf Jacobs Spur, die von Paris über Rom und Marseille führt, zu den Friedhöfen von Djerba und an die Ränder der israelischen Negev-Wüste. Dabei fördert er eine unglaubliche Biographie zu Tage, in der sich Kriegs- und Exilerfahrung mit künstlerischen Ambitionen vermischen. Leichthändig und klug setzt er das Leben eines Fremden zu einer Erzählung über Identität, Glauben und die großen Tragödien des 20. Jahrhunderts zusammen.
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Seitenzahl: 221
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Über die Kraft sich immer wieder neu zu erfinden — der neue Roman von Christophe Boltanski.Ein Jahr lang, zwischen 1973 und 1974, lässt sich ein gewisser Jacob B’chiri täglich und in wechselnder Verkleidung in einem Fotoautomaten ablichten. Wozu dienten die geheimnisvollen Aufnahmen? Christophe Boltanski begibt sich fasziniert auf Jacobs Spur, die von Paris über Rom und Marseille führt, zu den Friedhöfen von Djerba und an die Ränder der israelischen Negev-Wüste. Dabei fördert er eine unglaubliche Biographie zu Tage, in der sich Kriegs- und Exilerfahrung mit künstlerischen Ambitionen vermischen. Leichthändig und klug setzt er das Leben eines Fremden zu einer Erzählung über Identität, Glauben und die großen Tragödien des 20. Jahrhunderts zusammen.
CHRISTOPHE BOLTANSKI
Die Leben des Jacob
Roman
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Hanser
Für Emma
Dasselbe sein, auf alle mögliche Art, zur selben Zeit,
In sich die gesamte Menschheit aller Augenblicke verwirklichen
In einem einzigen Augenblick, verschwommen, verschwenderisch,
vollkommen und fern. […]
Ich vervielfältigte mich, um mich zu fühlen,
Um mich zu fühlen, mußte ich alles fühlen.
Fernando Pessoa, Vom Vergehen der Stunden
Du gehst auf den Vorhang zu und schaust zwangsläufig darunter hindurch, um dich zu vergewissern, dass dort niemand ist. Der dicke, schwere Faltenstoff erinnert dich sicher an ein Theater. Markiert sein Auf- und Zugehen nicht deinen Auftritt? Mit den Fingerspitzen schiebst du ihn zur Seite und verschwindest dahinter, wie durch Zauberei. Beim Hindurchgehen streift dein Kopf die raue Oberfläche, ihr staubiges schwarzgraues Moiré. Mit einer jähen Bewegung zerrst du ihn wieder zu, so, wie du eine Tür zuknallst. Du betrittst die Bühne lieber unter Ausschluss der Öffentlichkeit und hattest es sicher eilig, aus dem Gedränge herauszukommen. Entlang der Vorhangstange ziehst du eine punktierte Linie, eine zitternde Grenze zwischen dir und den anderen. Das ist deine Art, einen Schritt beiseitezutreten, dich zu vereinzeln. Und auch, deinen Platz zu finden.
Du verlässt deine graue Metro und alles, was damit zusammenhängt, den immer gleichen Alltag voller Routine und Langeweile. Ein einfacher, halbhoher Behang genügt, dich von der Welt abzusondern. Schon bist du inmitten der Menge abgeschieden. Deine Mitmenschen haben kein Gesicht mehr. Sie sind reduziert auf Schritte, auf ein Kommen und Gehen von Schuhen auf dem Asphalt. Sicher magst du dieses Gefühl des Dazwischenseins, gleichzeitig drinnen wie draußen zu sein, dich zu verbergen — und das vor aller Augen.
Die Kabine des Fotoautomaten steht, zwischen Fahrkartenschalter und den Rolltreppen, in der Ecke eines Ganges vor einer gefliesten Wand. Über ihr prangt ein Leuchtschild, man sieht nur sie und doch bemerkt sie niemand. Ihr Standort hat keine große Bedeutung. Sie könnte überall stehen. In einem Wartesaal, einer Postfiliale, einem Kaufhaus. Dein Versteck hat eine Vorliebe für Schatten, zugige Ecken, Unterführungen, zugleich bevölkerte und anonyme Orte, wo Menschen sich begegnen, ohne sich anzusehen. Damit gehört es zum städtischen Mobiliar, genau wie Zeitungskioske oder Litfaßsäulen. Es macht dich froh, überall, wo du hingehst, dieselbe Quaderform, denselben geriffelten Stahlboden, denselben gusseisernen Drehsitz, dasselbe aseptische Ambiente eines Operationssaals anzutreffen.
Du leerst deine Taschen und vergewisserst dich, dass du Kleingeld hast. Du suchst vier 1-Franc-Münzen heraus, denn wir befinden uns am Anfang der 1970er Jahre. In dieser Phase der Umwälzungen scheinst du klare, kantige Dinge zu mögen. Gut geölte Maschinen. Streng getaktete Operationen.
Das grelle Licht der Scheinwerfer lässt dich blinzeln. Schon bist du nicht mehr derselbe. Dein metallenes Gehäuse vermittelt dir einen Anflug von Stabilität. Wie ein Buddha auf seinem Sockel, gleichgültig gegenüber dem dumpfen Trubel der Passanten und dem aus den Tiefen dringenden Quietschen, schenkst du den unter deinen Füßen vibrierenden Zügen keine Aufmerksamkeit. Wo du bist, kann nichts und niemand dich erreichen. Reglos, fast hieratisch, versuchst du, dich zu konzentrieren, wie ein Sportler vor einem wichtigen Wettkampf. Du hast eine Verabredung mit dir selbst.
Trotz der Enge, dem Schmutz, dem Schweißgeruch, den obszönen Graffiti fühlst du dich in diesem für alle offenen Kubus zu Hause. Jedes Mal, wenn du dorthin zurückkehrst, empfindest du eine Art Taumel. Du atmest ein und weitest dich. Das hier ist deine Maschine, um dich zu kopieren. Du kommst allein und gehst in vier Exemplaren. Du ziehst dich von den anderen ab, um dich dir besser hinzuzufügen.
Ist der Schemel zu niedrig? Mit der flachen Hand stellst du ihn höher, während du einen unsichtbaren Punkt irgendwo am Horizont fixierst. Jetzt versuchst du, den Mantel auszuziehen, eine heikle Übung, wenn der Platz nicht einmal reicht, um die Arme auszustrecken. Am Ende einer Reihe eher plumper akrobatischer Verrenkungen kannst du dich endlich setzen und deinem Äußeren wieder einen Anschein von Ordnung verleihen. Du inspizierst deine Gestalt in dem dir gegenüber fixierten Glaskarree und entblößt eine makellose Zahnreihe. Eine Tastatur aus funkelndem Elfenbein, ohne Erhöhung, ohne Dämpfer. Maximal gestreckte Jochbeinmuskeln, gepresste Kiefer, bis zu den Ohren geöffneter Mund. All deine Muskeln leisten ihren Beitrag, um dieses undurchdringliche marmorne Lächeln zu formen, fast bis zur Grabesstarre.
Die Kontraktion deiner Mundwinkel bewirkt, dass die beiden Büsche über deinen Augenhöhlen sich verbinden. Du wirkst angespannt, vor allem ernster als gewöhnlich. Du posierst in Dreiviertelansicht, mit leicht geneigtem Kopf. Deine Erscheinung ist gepflegt. Du trägst ein helles, perfekt gebügeltes Hemd mit englischem Kragen, das sich von deiner matten Haut abhebt, eine klassisch geschnittene Jacke von grauer oder brauner Farbe und eine dazu passende Clubkrawatte. Unmöglich, Genaueres zu sagen. Das Foto, das deinen Besuch bezeugt, ist schwarz-weiß.
Deine kräftige Mähne hast du gebändigt. Nichts steht ab oder kräuselt sich. Oben auf dem Schädel ist dein Haar dichter; nach hinten geklatscht, an den Schläfen gestutzt, verleiht es dir das Aussehen eines Klassenprimus. Sicher kommst du gerade vom Friseur. Deine Haut ist glatt, am Morgen, höchstens am Abend zuvor rasiert. Wie die Spur einer Schnittwunde verschattet ein kreisförmiger Fleck deine Lippe. Die Anspannung deiner Züge offenbart einen leicht vorstehenden Kiefer. Dein großer Mund, die hervortretenden Wangenknochen, die hohe Stirn, das spitze Kinn, das ausdrucksstarke, ein wenig clowneske Gesicht zeigen eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Roberto Benigni. Du bist vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt.
Deine Brille mit großen ovalen Gläsern und dickem Gestell hast du abgenommen. Wie es üblich ist, zeigst du dein Gesicht frei, die Haut unbedeckt, den Blick offen. Du setzt dich schutzlos aus, so entblößt wie möglich, als hinge die Wahrheit deines Wesens davon ab, dabei manifestiert sich genau das Gegenteil. Unsere Appretur macht uns menschlicher, die Mittellosigkeit gleicht uns an.
Wahrscheinlich startest du die erste Etappe einer langen Prozedur, die zur Ausstellung irgendeines Dokuments führt. Das würde deine etwas steife Haltung erklären. Deine Box, die kaum größer ist als ein Sarg, erfüllt die Aufgabe einer öffentlichen Einrichtung. Sie hilft dabei, die Menschen zu kartographieren, sie aktenmäßig zu erfassen, zu laminieren, zu stempeln und in einen Umschlag zu stecken. Fast ist es, als beträtest du das Vorzimmer eines Rathauses oder einer Präfektur. Vor deinem automatischen Schalter zeigst du dich gewiss beeindruckt und verhältst dich mit größter Vorsicht, wie jedes Mal, wenn du einem kalten Ungeheuer entgegentrittst.
Also wirfst du dich in die Brust, hältst die Luft an, spannst die Ringmuskeln, um die Pupillen weit geöffnet zu halten, wenn der Blitz aufflammt. Tastend steckst du die Münzen in den eingefassten Geldeinwurf. Dein ganzer Körper wird starr. Der Apparat produziert vier dumpfe Laute, wie eine Luftblase, die aus der Wasseroberfläche dringt, oder die Schüsse einer Pistole mit Schalldämpfer in einem Film von Michel Audiard. Ein blendender Strahl dringt aus seinem Inneren und erhellt dein Gesicht. Und dann, nichts mehr. Kein Schimmer mehr, kein Geräusch. Noch immer geblendet, verlierst du dein gewandtes Auftreten und sackst zusammen, wie jene alten Komiker, die eine Art Starrsucht überkommt, kaum ist ihre abgenudelte Nummer zu Ende. Du erwachst aus deiner Lethargie und ziehst eilig den Mantel wieder an. Eine letzte Anweisung fordert dich auf, so schnell wie möglich das Feld zu räumen: »Bitte bleiben Sie nicht in der Kabine, damit der Nächste sie benutzen kann«, ist ganz unten auf dem Schild als Epilog zu lesen.
Niemand kommt und trachtet nach deinem Platz. Der Apparat zieht nie viele Menschen an. Du fragst dich manchmal, ob du nicht sein einziger Kunde bist. Die Leute um dich herum wollen so schnell wie möglich an die frische Luft oder in die entgegengesetzte Richtung, was genau dort, wo du dich befindest, einen Stau verursacht. Du wirst zwischen zwei Fahrgastströmen unterschiedlicher Stärke und Dichte hin und her gestoßen. Die ersten drängen im Rhythmus der Züge in Wellen hinaus, während die anderen in kleinerer Zahl, aber kontinuierlich hineinströmen. Ungeduld überkommt dich. Den Blick auf die Uhr geheftet, zählst du die Minuten. Es kommt nicht in Frage, ohne deine Visage auf Zelluloid wieder zu gehen. Du wirst sie nicht als Musterbild an die Wand geklebt oder wie ein benutztes Metroticket auf dem Boden zurücklassen. Du spitzt die Ohren und stellst dir deinen Avatar gefangen in einem gewaltigen Uhrwerk vor, mitgerissen von Zahnrädern, Kurbelstangen und Riemen, wie er Achten zwischen zwei Zylindern beschreibt, als wäre er Charlie Chaplin in Moderne Zeiten. Du wartest auf ein Klicken, das Geräusch einer Feder, das deine Erlösung ankündigt. Und plötzlich siehst du dich, Kopf voran, aus der Maschine dringen, wie Laub unter der Einwirkung des Gebläses zittern und vorsichtig ins Körbchen fallen.
Als ich die ersten Seiten durchblätterte, sah ich nichts als ein fröhliches Gesicht. Die Mundwinkel leicht hochgezogen und dazwischen die Zurschaustellung von Emaille. Das Lächeln war aufgesetzt, vergleichbar einem Gebiss, einer abnehmbaren Klappe, es hatte ein Eigenleben. Sein ovaler Stempel prägte das erste Foto und kehrte unermüdlich wieder, wie ein Motiv auf einem Stoff. Es haftete nicht so recht am Rest des Körpers. Eher glich es einem Schmuckstück, einem Collier, einer Art Heiterkeitskette, etwas, was man anlegen und wieder ablegen kann. Als könnte man es an den gepunkteten Linien ausschneiden und mit Gummibändern hinter den Ohren befestigen, wie einen Schutz.
Es war allgegenwärtig, strahlte aus der Mitte des Rahmens und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich, ohne dabei Aufsehen zu erregen. Es war von einer steinernen Schwere, ohne Ausdruck. Es blieb stumm. Es war keine Lücke, auch kein Spalt, sondern ein volles Lächeln, ein hermetisches Lächeln, das nur ein Diamantfunkeln zurückwarf. Vergeblich suchte man darin eine Spur von Ironie, eine Leichtigkeit, ein Jubeln, den Ausdruck eines besonderen Gefühls, einen Anflug von Doppeldeutigkeit. Ein Lächeln spricht. Ein Lächeln ist vergänglich, es dauert nur einen Augenblick. Dieses da schien aus einem Block Kunstharz geformt. Es musste das Werk eines Kieferorthopäden sein. Solide und leuchtend mit Zehnjahresgarantie.
Entsprach es dem Anlass? Eine Kamera ist im Allgemeinen mit kollektiver Freude verbunden und entspannt die Muskeln. Hier erfolgte das Lächeln auf mechanischere Weise, ähnlich dem Apparat, der es aufgenommen hatte. Der Ort lud nicht zum Sich-Gehen-Lassen ein. Er animierte eher zu strammer Haltung. Wie soll man einem Roboter gegenüber natürlich bleiben? Kann man in einem Metallkasten lebendig und munter sein? Dieser Mimik aus der Konserve mangelte es an Frische, und unweigerlich wurde sie zur Grimasse, zum nervösen Tick.
Trotz ihrer Bedingtheit weckte diese Halbmaske meine Neugier. Sie bildete den Fixpunkt eines lebenden Bildes. Das Scharnier, um das sich alle anderen Elemente drehten: die Kopfhaltung, die Anordnung der Haare, die Kleidung, die Gesten der Hände. Lauter Glimmer, die sich unendlich neu bildeten wie bei einem sich um die eigene Achse drehenden Kaleidoskop. Der Eindruck war so stark, dass ich anfangs glaubte, ich hätte es nicht mit einem, sondern mehreren Individuen zu tun, ein jedes reduzierbar auf ein paar unveränderliche Attribute, und alle mit demselben maskenhaft verzerrten Lächeln versehen.
Der optische Effekt hielt einer aufmerksameren Prüfung nicht stand. Hinter dem Auftaktlächeln steckte nur eine einzige Person. Ein Unbekannter, reduziert auf seine Herme, ein Rumpfmensch mit einem Arm, eingesperrt in ein kleines Papierrechteck mit weißem Rand. Abzüge in Standardgröße: 3,5 Zentimeter breit, 4,5 Zentimeter hoch, das für einen Pass oder einen Führerschein vorgesehene Format. Was gibt es Alltäglicheres? Das Ausweisfoto gehört zu den verbreitetsten Dingen der Welt. Administrative Überbleibsel, Spiegel einer verlorenen Jugend — wir alle besitzen ein paar aus dem Verkehr gezogene Exemplare davon, irgendwo tief in einer Schublade vergraben.
Betrachtet man diese vorschriftsmäßigen oder dazu erklärten Porträts einzeln, so sind sie offen gestanden nur von mäßigem Interesse. Bis auf wenige Ausnahmen provozieren sie keinen besonderen Kommentar. Das ist unvermeidlich. Ein Fotoautomat wirkt keine Wunder. Extrem vereinfachte Regeln der Bildaufnahme, Verwendung von Blitzlicht, das jede Tiefenwirkung auslöscht, um ein einheitliches Bild zu erhalten, mit vorgeschriebener Bildeinstellung und Entfernung. All diese aufeinanderfolgenden Gesichter waren in dieselbe monotone Form gebracht.
Mich verblüffte ihre Anzahl. Sie bildeten eine kompakte Masse, eine homogene Vielzahl, hervorgegangen aus Teilungsvermehrung derselben Matrix. In senkrechten Vierer- oder Fünfer-Streifen zogen sie hinter einem Zellophanfilm vorüber, gerade, unerschütterlich, wie eine Armee von Klonen. Sie waren aneinandergedrückt, eng auf durch die Jahre vergilbte kartonierte Blätter nebeneinandergeklebt und füllten ein ganzes Heft.
Mit seinem zwischen den Händen klebrigen Einband aus grünmarmoriertem Kunstleder, übersät mit kleinen schwärzlichen Runzeln ähnelte das Album einem alten Zauberbuch. Es war schwer, voluminös, völlig verstaubt und verströmte den Mief des Elends. Man erwartete, kabbalistische Zeichen darin zu entdecken oder okkulte Riten. Man stieß auf hunderte von Selfies. Genau gesagt auf dreihundertsiebenundsechzig Schwarz-Weiß- und zwei Farbbilder, alle oder fast alle in einem Fotoautomaten aufgenommen, wie es der immer selbe Rahmen, die starre Brennweite, das von vorn kommende Licht und der unvermeidliche Vorhang im Hintergrund bezeugten.
Dies hatte nichts von den disparaten Ensembles, die im Laufe der Jahre angehäuft werden, mit hier und da zusammengelesenen Erinnerungen, die man in ein und demselben Band vereint, weil sie ja irgendwo abgelegt werden müssen. Das Objekt, das ich zum ersten Mal sah, zeugte nicht von Zufall, Nostalgie oder Seltenheit, von sorgfältig bewahrten Augenblicken, sondern von Serienproduktion und maschineller Fertigung. Es trug Merkmale eines methodischen, gleichsam zwanghaften, unbegrenzten Projekts.
»Der Typ ist doch gaga, findest du nicht?«, warf mir die Filmproduzentin zu, als ich wieder aufblickte. Bei allem bekundete sie die gleiche Begeisterung. »Als ich das gesehen habe, also … — der totale Wahnsinn!« Aus Gewohnheit hatte sie mich sofort geduzt. Dieselben professionellen Reflexe brachten sie dazu, es mit Superlativen zu übertreiben und die Hälfte ihrer Sätze zu verschlucken. Als sie mich zum Mittagessen in einen vietnamesischen Imbiss gegenüber dem Büro ihrer Les Copains d’abord getauften Produktionsfirma einlud, hatte ich gerade meine Stelle verloren. Schon lange hoffte sie, etwas aus dem vier Jahre zuvor auf dem Flohmarkt gefundenen Album zu machen. Sie wollte es mir anvertrauen, damit ich den Stoff für ein Filmexposé daraus ziehe. Sie schwankte zwischen Dokumentar- und Spielfilm, zwischen einer, wie sie sagte, »realistischen Schiene« und einer anderen, »verrückteren«, »durchgeknallteren«. Ihren Reden nach schien alles offen. Ich konnte meiner Phantasie freien Lauf lassen. »Und wenn aus dem Film nichts wird, kannst du immer noch ein Buch draus machen«, fügte sie hinzu, um mich zu überzeugen.
Sie sagte, sie sei fasziniert von dem jungen Mann und seiner seltsamen Manie, Bilder mit seinem Abbild anzuhäufen, die, endlosen Veränderungen und unendlichen Metamorphosen unterworfen, alle Möglichkeiten seines Wesens zu erkunden schienen. Er war eins und vielfältig zugleich. Er sammelte sich und andere. »Er ist Jemand und alle Welt zugleich«, wie die Produzentin ganz richtig bemerkte.
Er begnügte sich nicht damit, einen mit seinem Raubtierlächeln von vorn anzusehen. Auf Dauer schien er dieses »cheese« auf Kommando müde zu werden. Vielleicht ein Krampf der Gesichtsmuskeln? Zwischen zwei weißen Wänden zeigte er sein wie mit der Gartenschere geschnittenes Profil, meistens das rechte, zog die Lefzen auseinander und betrachtete die Decke oder vielleicht ein himmlisches Jenseits. Von übernatürlichem Licht angezogen, befand sein Gesicht sich plötzlich in Ekstase. Gelegentlich posierte er auch in Dreiviertelansicht, die Augen wieder erhoben, erfasst nicht von der Gnade, sondern von einem entschlossenen Optimismus, einer strahlenden Zukunft zugewandt, einem neuen Morgen, wie ein Kandidat auf einem Wahlplakat.
Ab der Hälfte der Sammlung schien er allmählich von Melancholie erfasst und stellte eine traurige Maske à la Buster Keaton zur Schau. Auf mehreren Seiten zeigte er sich phlegmatisch und umwölkt. In Gedanken versunken, schien er der Präsenz des Objektivs gegenüber gleichgültig, schloss die Lider, ließ sich hängen. Klick! Er tat, als sei er verkatert, mit halb geschlossenen Augen, hängenden Lippen. Klick! Hielt sich den Kopf, als würde er explodieren. Klick! Heuchelte Langeweile, indem er ein Gähnen unterdrückte. Klick! Rauchte eine Zigarette, die er deutlich sichtbar zwischen Mittel- und Zeigefinger hielt. Und fand dann seinen Schwung wieder und lachte schallend. Klick! Oder zeigte ein galligeres, höhnischeres Grinsen. Klick!
Erneut gab er den Hanswurst. Er spielte. Den jungen Liebhaber, den Ganoven, den vorbildlichen Angestellten, den Geheimagenten, dunkle Brille und grauer Anzug. Er schlüpfte in Rollen. Hier Elvis, pomadisiertes Haar, offenes Hemd mit Spitzkragen und einschmeichelnd verzogenem Gesicht, hier Rasputin, mit aufgerissenen Augen, wirrem Haar. Ein dem Irrenhaus entsprungener Prophet.
Jedes Mal war es eine andere Schnurre. Hatte da jemand von der anderen Seite des Vorhangs gerufen? Er spitzte das Ohr und formte, demonstrativ wie ein lauschender Pierrot, mit der Hand ein Hörrohr. Ein paar Seiten weiter dann die verliebten Augen eines Crooners, inszeniert wie im Pariser Studio Harcourt, Kinn auf dem Zeigefinger, Daumen an der Wange, Fliegeruhr am Handgelenk, rebellische Strähne, weit über die karierte Jacke geöffneter Hemdkragen. Er vollführte eine Pantomime. Er erzählte uns stumm. Wenn er den Mund so weit aufriss, dass er sich schier den Kiefer ausrenkte, hörte man fast, wie er ein Aaa! ausstieß, als sei er beim Arzt. Blatt für Blatt reihte er seine Nummern aneinander, mit einem abwechselnd befriedigten, komplizenhaften, erstaunten, spaßvogelhaften, spöttischen, unbestimmt schielenden, ernsten oder besessenen, fast verrückten, beinahe beängstigenden Gesicht.
Manchmal wirkte es, als machte er Werbung für einen Laden mit Haarteilen aller Art: ein sorgfältig gestutzter Hipsterbart, der üppige Vollbart eines alten Seebärs, mephistophelischer Spitzbart, Rockabilly-Koteletten, Bürsten- oder Pyramidalschnurrbart … Er änderte die Haartracht fast ebenso häufig wie die Art der Kleidung. Er sah seinen Fotoautomaten als Anprobekabine, wechselte vom Anzug zu legerer Kleidung, zu einem hellen, weichen Lederblouson, einer Lammfelljacke, dem Ölzeug eines Matrosen oder einem Trevira-Rollkragenpullover, wie die Compagnons de la chanson ihn trugen. Auf Dauer muss er seinen gesamten Kleiderschrank ausgeschöpft haben. In regelmäßigen Abständen sah ich ihn mit denselben Kleidungsstücken auftauchen, im Rhythmus seiner Waschtage, wie ich vermute, seiner beruflichen Verpflichtungen oder ganz einfach seiner Vorlieben. Um ein wenig Abwechslung in die Sache zu bringen, erlaubte er sich hier und da eine kleine Laune: ein Seidentuch, ein Schal mit Schottenkaro, ein Satin-Disco-Hemd, eine geblümte Krawatte, ein wie ein Strampelanzug gestreiftes Unterhemd.
Auf das Vorsatzblatt hatte er geschrieben: »Album des Jahres 1973-1974«. Im Singular, als würde er sich auf ein Universitätsjahr oder einen mit einem Examen abzuschließenden Zyklus beziehen. Die Zeitangabe rief den Putsch von Pinochet in Erinnerung, das Ende des Vietnamkrieges, Ponchos aus Lamawolle, indische Kleider, Räucherstäbchen, die Tour Montparnasse oder die Filme von Pierre Richard. Und wenn sein Lächeln das eines Post-68er-Studenten war? Wenn es einer Epoche entsprach? Einem Befehl zum Glück? Einem Aufruf zu grenzenlosem Genuss? Und wenn das alles nichts als der Ausdruck einer hedonistischen, narzisstischen Jugend war? Das Symbol einer Unterhaltungsgesellschaft?
Seine Fotositzungen müssen sich über einen langen Zeitraum erstreckt haben. Man tauscht einen sorgfältig getrimmten Schnurrbart nicht mit einem Fingerschnips gegen einen dichten Vollbart. Seine unzähligen Haar- und Bartwechsel bezeugten das Vergehen der Zeit. Es war, als sähe man jemandem im Zeitraffer beim Altern in einer rostfreien Konserve zu. Beim Durchblättern seines Portfolios sah ich, wie seine Züge massiger wurden und sich die ersten Fältchen um die mandelförmigen Augen zeigten. Sein gesamtes Gesicht war in Bewegung, entwickelte sich ruckartig, wie bei einem Daumenkino für Kinder.
Ich hatte nicht mehr den lachenden Mann vor mir, sondern eine einsame und verletzliche Persönlichkeit. Er erschien mir wie ein Gefangener, der an sein eigenes Bild gefesselt ist. Seine Box war sein Panoptikum, sein Isolationstrakt, seine Taschenzelle. Im französischen photomaton steckt das Wort maton, der Gefängnisaufseher. Ein Wärter für Gesichtsdelikte. Ein Satz von Guy Debord kam mir in den Sinn: »Je mehr er betrachtet, desto weniger lebt er.«
Man sucht sich eine Geschichte nicht aus. Sie drängt sich einem auf. Plötzlich springt sie los, ohne Vorwarnung, einfach so. Man vertreibt sie. Sie kommt zurück. Auf den ersten Blick betrifft sie einen nicht. Sie scheint sogar ziemlich weit von unseren Sorgen und Interessen entfernt, und doch trifft sie einen. Man versucht, zu verstehen warum, aber es gelingt einem nicht. Man weiß nicht, von welcher Seite man sie packen soll, bis zu dem Moment, wo man eine vertraute Note wahrnimmt, wie ein dumpfes Echo unserer eigenen inneren Musik, und langsam lässt man sich anstecken. Die Geschichte geht einem nicht aus dem Kopf, wie ein Ohrwurm. Man wird müde, sie immer wieder aufzuwärmen, aber es ist unmöglich, sich von ihr zu befreien. Allmählich beherrscht sie einen. Und jetzt gibt es nur noch eine einzige Möglichkeit, um sie loszuwerden: sie zu schreiben.
Aber selbst dort, vor dem Bildschirm, ist man nicht stärker Herr der Situation. Die Geschichte spielt einem Streiche, sie verwickelt einen, und manchmal verschlingt sie einen mit Haut und Haar. Ohne es zu wollen, gehört man dazu, wird man zu einer ihrer Figuren. Diese Geschichte begnügte sich nicht damit, mich heimzusuchen, sie begann, mich in eine lange Reihe von Prüfungen hineinzuziehen.
Am Anfang ging es nur um eine Schnitzeljagd, die Verfolgung eines Unbekannten, darum, sein Leben zu rekonstruieren oder, wo das nicht ging, es zu erfinden. Ein Album ist in seiner wortwörtlichen Bedeutung ein weißes Blatt. Man kann es füllen, womit man will.
Bei jedem unserer Treffen äußerte die Produzentin neue Mutmaßungen über ihn, den sie der Einfachheit halber »John Doe« nannte. An einem Tag war er »bekloppt«, am nächsten »schwul«, am dritten machte sie eine Art Fantomas aus ihm, eine im Verborgenen lebende, nicht zu greifende Person. Sie war überzeugt, sein Album verberge ein Geheimnis. Wegen eines auf der hinteren Innenseite des Umschlags eingeklebten, mit den Jahren verblassten Etiketts. Ein gelbliches Rechteck, dessen Aufschrift, in fetten Großbuchstaben verfasst, wie um ihre Wichtigkeit zu betonen, ich mehrmals las: »IM FALLE EINES UNFALLS BITTE KONTAKTIEREN: Israelisches Konsulat, 3 rue Rabelais, Paris 8e.«
Was suchte er mit seinem Scanner zu erkennen? Sich selbst? Irgendetwas in ihm? Eine in seinem tiefsten Inneren verborgene Wahrheit? Und was tat er, wenn er wieder aus ihm hinaustrat? Ging er nach Hause? Hatte er überhaupt eine Wohnung? Eine Frau? Kinder? Freunde? Einen Beruf? Oder lebte er nur für diese kurzen Momente in den Strahlen seiner Maschine? Wie viel Zeit ließ er zwischen zwei Sitzungen vergehen? Ein paar Tage? Mehrere Wochen? Wechselte er jedes Mal den Automaten, um seine Spuren zu verwischen, oder kehrte er immer wieder an denselben Ort zurück, aus Gewohnheit oder Fetischismus? Was für ein Gesicht machte er, wenn er wieder ins echte Leben zurückkehrte? Jenes, das er auf seinem weißen Streifen zur Schau trug? Zeigte er sein versteinertes Lächeln in der Menge oder behielt er es seinem Einwegspiegel vor? Da ich ihn nur in der Abschottung gesehen hatte, stellte ich ihn mir öffentlichkeitsscheu vor, schweigsam und zerstreut, als Träumer, eher der Betrachtung als der Aktion zugeneigt. Sicher zu Unrecht. Ich hatte keinerlei Gewissheit, was ihn betraf. Nur Fragen.
Wie sah er nach all diesen Jahren wohl aus? Ich hatte ihn nur auf seinem Drehhocker gesehen, in einer erstarrten Pose, sozusagen querschnittsgelähmt. Ich wusste nicht, ob er klein oder groß war, schmächtig oder dickbäuchig. Hätte ich ihn überhaupt erkennen können, wenn ich ihm zufällig auf der Straße begegnet wäre? Jede Personenbeschreibung hat ein Verfallsdatum, ab dem sie ihre Gültigkeit verliert. Zu allem Überfluss fehlte mir das Wesentliche: sein Blick, der nur im Austausch, in der Konfrontation mit jemand anderem erfasst werden kann, seine ihrem Wesen nach flüchtige Mimik, seine Art, sich zu halten, zu gehen, die Schwerfälligkeit oder Lebhaftigkeit seiner Gestik, die Modulation seiner Stimme, all das, wodurch er sich von seinen Mitmenschen unterschied, was nicht auf einer Platte festgehalten werden kann, so empfindlich sie auch sein mag, jenes unmerkliche Etwas, das bewirkte, dass er er war und nicht jemand anderes.
Lebte er noch? Das Schicksal seines grünen Hefts, die schlichte Tatsache, es in den Händen zu haben, verleitete leider dazu, das Gegenteil zu glauben. Ein derartiger Gegenstand, der den Körper, die Intimität berührt, landet nicht einfach so auf der Stellage eines Trödlers. Man verstreut kleine Stücke seiner selbst selten in der Gegend, außer vielleicht, man will irgendetwas entkommen, in einer Art reflexhafter Selbstverstümmelung, so wie eine Eidechse ihren Schwanz abwirft.
Die Produzentin war in diese alten Fotos vernarrt, die ihr gelegentlich als Arbeitswerkzeuge dienten. Da sie so viele Erinnerungen von anderen sammelte, meist auf Märkten, über Trödler, die sie kannte, hatte sie eine Regel daraus abgeleitet, die den Vorteil bot, die heikle Frage des Rechts am eigenen Bild zu klären: »Wenn du so was findest, kannst du sicher sein, dass die Person verstorben ist«, sagte sie immer.
Ein herrenloses Album als Todesanzeige. Ich verstand nicht, warum ich solche Traurigkeit empfand bei dieser letztlich banalen Vorstellung, die einer sich der Vergangenheit widmenden Kunst inhärent ist. Auch wenn mir klar war, dass die Fotografie ihrem Wesen nach festhält, was nicht mehr ist, weigerte ich mich anzuerkennen, dass all diese Augen, diese kleinen Strahlen, die nach ihrer jahrzehntelangen Reise bis zu mir gedrungen waren, zu einem toten Stern gehören konnten.
Ich misstraue Bildern, Bildschirmen, allem, was als Hindernis zwischen mir und den anderen steht. Sprechanlagen schüchtern mich ein. Gitter verursachen mir Beklemmung. Heutzutage, da ein Glas billiger Wein, vor dem Spion eines Computers geschwenkt, den Aperitif unter Freunden ersetzt, verabscheue ich Filter und Barrieren mehr denn je. Ich habe auf diese erzwungene Virtualisierung der Welt nicht zu warten brauchen — ich war schon immer überzeugt, dass nichts eine Begegnung ersetzt. Die Blinden haben recht. Wie sie glaube ich nur an die Berührung, an den Gehörsinn, den Atem, den Geruch, an Umarmungen. Der Rest ist nur Illusion. Ich schätze das Tête-à-tête, nicht das Vis-à-vis, diesen Abgrund zwischen Häuserfronten. Fenster zum Hof gebären nichts als Missverständnisse und Trugbilder.
Nichts Kälteres, Glatteres, Trügerischeres als ein standardisiertes, der Norm entsprechendes Bildnis. Kann man, von einem Oberkörper ausgehend, ein ganzes Leben rekonstruieren? Ich verfügte nur über ein Detail, eine Synekdoche. Ein Teil für ein Ganzes, vergleichbar einer Reliquie. Ich musste diesem Fragment zurückgeben, was es zu Beginn vermeintlich herstellen sollte: eine Identität.
Die würde ich nicht auf dem Flohmarkt finden. Mein Verkäufer, misstrauisch, ohne dabei aggressiv zu sein, immer auf dem Sprung, selbst wenn er nichts zu tun hatte, sträubte sich, die Herkunft seiner Ware preiszugeben. »Ich hab keine Zeit«, erklärte er mir jedes Mal, auch unter der Woche, als sein Stand am Rand des Gehsteigs menschenleer war. Mit den Händen in den Taschen und den gekrümmten Schultern wirkte er verschlossen wie eine Auster. »Ruf mich später an«, fügte er hinzu und deutete auf die Handynummer hinten auf seinem Lieferwagen. Seine Freundlichkeit beschränkte sich aufs Duzen. Meine Anrufe kamen immer im unpassenden Moment. »Ich kann jetzt nicht mit dir reden, ich bin grade bei Kunden«, antwortete er mit den immer selben Worten, was in seinem Mund bedeutete, dass er eine Wohnung auflöste.