Die Legende Der Hüterin - Jill Caroline Schöttli - E-Book

Die Legende Der Hüterin E-Book

Jill Caroline Schöttli

0,0

Beschreibung

Die junge Studentin Sienna Gordon wacht ohne jegliche Erinnerung in einem fremden Wald auf. Neben ihr liegt ein Säckchen mit drei magischen Steinen. Ohne zu wissen, was sie zu bedeuten haben und warum sich diese in ihrem Besitz befinden, macht sie sich auf die Suche nach Hilfe. Als sie dabei einem mysteriösen, aber durchaus anziehenden Lord und seinen Gefährten begegnet, weiss sie noch nicht, dass sie mitten in einen Krieg zwischen den Bewohnern der mystischen Insel Avalon und einem mächtigen Magier geraten ist. Eine wilde Reise beginnt und während sie und der junge Lord sich näher kommen, ahnt sie nicht, dass sie der Schlüssel zum Sieg oder Untergang Avalons ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 746

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Für Mische

Die Gewehrsalven zerreißen die Luft. Schmerzensschreie übertönen den prasselnden Regen. Ein Schützengraben, gefüllt mit verlorenen Seelen, bäumt sich auf. Dreck und Schlamm spritzen in alle Richtungen. Der junge Soldat zieht mit letzter Kraft seinen verwundeten Kameraden aus dem Loch. Im Schutze der Höhle versucht er die Blutung zu stoppen. Seine Hände rutschen ab.

Der Verwundete schaut aus glasigen Augen seinen Freund an. „Rette mich. Lass mich nicht hier, Vincent.“ Eine Explosion, so nah, dass die Wände der Höhle zittern. Mit einem letzten, rasselnden Atemzug erlischt sein Licht. Vincent zuckt zurück. Blind rennt er in die Höhle, sucht Schutz, den er niemals erhalten wird. Er bricht zusammen, betet, dass er diese Hölle überleben wird. Ein Beben, das durch die Wände geht, lässt ihn aufhorchen. Dann ist nur noch Licht. Vincent drückt schmerzerfüllt die Augen zu, hält sich den Arm vors Gesicht.

Dann endet die Welt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel EINS: Schicksal

Kapitel ZWEI: Die Reise beginnt

Kapitel DREI: Verwirrung

Kapitel VIER: Cliff Fall Edge

Kapitel FÜNF: Nach Hause

Kapitel SECHS: Spion

Kapitel SIEBEN: Eingewöhnung

Kapitel ACHT: Eine Offenbarung

Kapitel NEUN: Tiefe Wunden

Kapitel ZEHN: Training

Kapitel ELF: Angriff

Kapitel ZWÖLF: Eine Drohung

Kapitel DREIZEHN: Die Steine

Kapitel VIERZEHN: Aufbruch

Kapitel FÜNFZEHN: Hinterhalt

Kapitel SECHZEHN: Versteckt

Kapitel SIEBZEHN: Ein Entschluss

Kapitel ACHTZEHN: Ein klärendes Gespräch

Kapitel NEUNZEHN: Feuer

Kapitel ZWANZIG: Eine unerwartete Wendung

Kapitel EINUNDZWANZIG: Schatten

Kapitel ZWEIUNDZWANZIG: Ängste und Sorgen

Kapitel DREIUNDZWANZIG: Fallen

Kapitel VIERUNDZWANZIG: Die Schlucht

Kapitel FÜNFUNDZWANZIG: Versagen, Versagen, Versagen

Kapitel SECHSUNDZWANZIG: Streitigkeiten

Kapitel SIEBENUNDZWANZIG: Entladung

Kapitel ACHTUNDZWANZIG: Nachtwandler

Kapitel NEUNUNDZWANZIG: Die Perlen reihen sich auf

Kapitel DREISSIG: Eine unerwartete Begegnung

Kapitel EINUNDDREISSIG: Der Wasserfall

Kapitel ZWEIUNDDREISSIG: Die Königsprophezeiung

Kapitel DREIUNDDREISSIG: Zeiten ändern sich

Kapitel VIERUNDDREISSIG:Fremde

Kapitel FÜNFUNDDREISSIG: Die Barriere

Kapitel SECHSUNDDREISSIG: Wurzeln

Kapitel SIEBENUNDDREISSIG: Erinnerungen

Kapitel ACHTUNDDDREISSIG: Dunkle Omen

Kapitel NEUNUNDDREISSIG: Verstärkung

Kapitel VIERZIG: Verrat

Kapitel EINUNDVIERZIG: Ein Plan

Kapitel ZWEIUNDVIERZIG: Der Kampf

Kapitel VIERUNDVIERZIG: Das Ende

Kapitel VIERUNDVIERZIG: Hüterinnen

Kapitel FÜNFUNDVIERZIG: Rache

Kapitel SECHSUNDVIERZIG: Ein neuer Anfang

EINS

Schicksal

„Sienna, komm endlich! Ich will nicht den ganzen Tag hier sein!“

Sienna grinste breit, während ihre Freundin sie die Stufen des Colleges hinunterzog, ohne Rücksicht auf sie zu nehmen. „Miranda, so schnell, wie du rennst, kann dir niemand folgen! Man könnte meinen, du flüchtest vor etwas.“

Die blonden Locken ihrer Freundin wippten vor ihrer Nase auf und ab, und Sienna musste sich auf die Stufen konzentrieren, um nicht ihre Bücher und Taschen fallen zu lassen. „Außerdem beginnt das Fest erst in ein paar Stunden. Wir haben noch genug Zeit, uns vorzubereiten!“

Auf jeden Schritt achtend, wäre sie fast in Miranda gelaufen, als diese plötzlich stehen blieb und sich umdrehte. „Sienna, was heißt hier erst? Wir haben nur noch vier Stunden Zeit! Ich muss nach Hause, mich duschen, schminken und anziehen, mit Seth Hausaufgaben machen und Mama Abendessen kochen. Und du weißt, wie Seth zur Schule steht. Er würde sogar Schnecken essen, wenn ihn das von den Hausaufgaben befreien würde.“

Sienna seufzte mitfühlend. Miranda hatte recht. Ihre Mutter war Krankenschwester im nahegelegenen Krankenhaus, was viele Spätschichten bedeutete. Deshalb musste sie sich nach der Uni um ihren kleinen Bruder kümmern. Und achtjährige Jungs waren nicht sehr begeisterungsfähig, wenn es um das Thema Schule ging. Deshalb half Miranda ihrer Mutter, wo sie nur konnte.

„Na komm. Verschwinden wir von hier.“ Sienna schaute noch einmal zum imposanten Gebäude der University of Chicago. Hier hatte sie vier Jahre ihres Lebens verbracht. Insbesondere in ihrer geliebten Bibliothek. Jahre, auf die sie gern zurückblickte. Der Gedanke an die langen Korridore, die hohen Decken und besonders der Duft, den die Bücher verströmten, versetzte ihr einen Stich. Sienna hatte es geliebt, ihre Schritte auf dem Boden hallen zu hören, wenn sie ins Gebäude und zu einer ihrer Vorlesungen ging. Oh, wie würde sie die weitläufigen Korridore vermissen, wenn sie erst einmal ihr Diplom in Händen halten würde. In einer Woche war es soweit. Dann hatte sie offiziell ihren Collegeabschluss in der Tasche. Während sie zum Parkplatz liefen, kamen Erinnerungen in ihr hoch. Sie konnte sich noch gut an ihren ersten Tag erinnern. Sie hatte sich ständig verlaufen. Obwohl das Gelände eigentlich übersichtlich war, hatte sie ständig irgendwo anhalten müssen. Die Gebäude mit den Spitzdächern, den verschnörkelten Seitenwänden und den grauen Steinmauern ließen das Areal wahrlich majestätisch wirken. Die vielen Bäume, die um das Gelände herum gepflanzt worden waren, umsäumten die Gehwege und im Winter verbreiteten die vielen Straßenlaternen eine heimelige Stimmung. Sie hatte nicht viel Zeit gebraucht, um sich in die Atmosphäre zu verlieben. Zwar hatte sie die Universität schon davor gekannt, schließlich war sie hier in Chicago aufgewachsen, trotzdem hatte es ihr die Sprache verschlagen, als sie zum ersten Mal durch die Tore gelaufen war. Und so sehr sie sich auf den Winter freute, waren sie momentan weit davon entfernt. Der Sommer stand vor der Tür. Das Journalismusstudium hier im Herzstück von Chicago hatte sie durch Nebenjobs und ihre Eltern finanzieren können. Miranda hingegen hatte ein volles Stipendium bekommen. Mirandas Noten und Engagement waren etwas, wofür Sienna sie schon immer bewundert hatte.

Sie durchquerten den Campus und liefen auf einen alten Kombi zu. Weil Semesterende und Freitag war, hatte sie beschlossen, das Auto zu nehmen, anstatt mit der U-Bahn zu fahren. Die „Chicago Elevated“ war sicher brechend voll.

„Das hier werde ich vermissen.“ Miranda schaute nun ebenfalls zurück, bevor sie ins Auto stieg. „Noch haben wir ein wenig Zeit, uns daran zu gewöhnen. Wann fängst du in deinem neuen Job an?“ Sienna startete den Motor.

Ein paar ihrer Mitstudenten winkten ihnen beim Ausfahren zu. Kaum hatten sie die Uni und den Park hinter sich, traf sie der Lärm der Stadt. Gott, wie sie diese Stadt liebte!

„In zwei Wochen. Oh man, bin ich aufgeregt.“ Miranda quietschte und zwirbelte eine Locke um ihre Finger. „Aber noch will ich nicht darüber nachdenken. Heute Abend haben wir Spaß! Kannst du hier rausfahren?“ Sie zeigte auf eine Ausfahrt, und nagte an ihren Nägeln .

Sienna grinste. „Kein Problem.“

Sienna hatte ihr ganzes Leben in Chicago verbracht. Sie liebte das Chaos, die hohen Wolkenkratzer, selbst die überfüllten Straßen und der Lärm waren Musik in ihren Ohren. Die meisten ihrer Studienfreunde lebten auf dem Campus oder kamen wie Miranda aus Randgebieten. Es war zeitaufwändig, von einem Ort zum anderen zu kommen. Weswegen sie jetzt die Abkürzung nahm, um in den Stadtteil „Roscoe Village“ zu gelangen. Sie selbst durfte sich glücklich schätzen, eine Wohnung ganz in der Nähe für sich zu haben. Ihre Eltern reisten praktisch das ganze Jahr, so hatte sie Unmengen an Platz für sich allein.

„Und bevor du fragst, ich werde auch dieses Mal die Baustelle umfahren, damit du mehr Zeit zum Schminken hast.“ Sienna fand, dass Miranda es gar nicht nötig hatte, sich zu schminken. Mit ihren babyblauen Augen, dem weizenblonden Haar und der hochgewachsenen, schlanken Figur sah sie auch ohne Schminke wunderschön aus. Da konnte Sienna mit ihren leicht schräg stehenden, grünen Augen und dem dichten, braunen Haar nicht ganz mithalten. Trotzdem war sie zufrieden mit sich, nur etwas größer wäre sie gern.

Miranda hatte das Herz am rechten Fleck, das war Sienna an ihrer Freundin das Wichtigste. Sie waren seit dem Kindergarten durch dick und dünn gegangen.

Miranda grinste breit und legte dramatisch eine Hand an die Stirn. „Ach Darling, du weißt einfach, wie du mich glücklich machen kannst!“

Die gute Stimmung im Auto wurde auch durch den höllischen Nachmittagsverkehr nicht getrübt. Die Freundinnen alberten herum, bis sie endlich ans Ziel gelangt waren. Sienna setzte Miranda vor dem kleinen Einfamilienhaus ab und winkte ihr zum Abschied zu.

„Vergiss nicht, das gelbe Kleid anzuziehen!“, rief ihr Miranda noch zu, bevor sie die Tür zuknallte. Doch Sienna tat, als ob sie es nicht mehr gehört hätte, und lachte amüsiert, als Miranda eine Schnute zog. Sie würde auf gar keinen Fall ein Kleid tragen. Langsam fädelte sie sich wieder in den Verkehr ein. Trotz der geteilten Meinungen über ihre Garderobe freute sich Sienna auf das Wochenende. Die Party, von der Miranda gesprochen hatte, war eigentlich eine Kirmes, die einmal im Jahr in nördlichen Stadtteil veranstaltet wurde und immer für Aufsehen sorgte. Am Tag war die Kirmes eine reine Attraktion für Familien, aber am Abend wurden auch Discos auf dem Festgelände eröffnet und die jungen Erwachsenen der Umgebung kamen in Scharen und mit Freude zu diesem Sommereinläuten. Sienna lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Sie musste wirklich ein Outfit für heute Abend finden.

Wenig später rannten Kinder freudeschreiend an Sienna vorbei. Zu diesem Zeitpunkt stand die Sonne schon sehr tief, erschöpfte Eltern verließen mit ihrem Nachwuchs langsam das Gelände und Sienna und Miranda schlenderten an den verschiedenen Buden vorbei. Sienna biss sich ein großes Stück Zuckerwatte ab und ließ es genüsslich auf der Zunge zergehen. Nichts ging über eine gesunde Portion Zuckerwatte. Die Luft war erfüllt vom süßlichen Duft gebrannter Mandeln, an ihre Ohren drang der typische Kirmeslärm; vor Vergnügen quietschende Kinder und das leise „Peng“ von den Schießbuden, an denen die Leute ihr Glück versuchten. Gerade hatte ein junger Mann einen überdimensional großen Teddybären gewonnen, sein Lachen war über die ganze Straße zu vernehmen.

„Oh, sieh mal, Sinni!“ Miranda zeigte auf das große Einrad vor ihnen. „Da müssen wir unbedingt eine Runde mitfahren.“ Miranda war so begeistert, dass sie Siennas gequälten Gesichtsausdruck nicht bemerkte.

Sie war kein großer Fan von Höhen. Sie bevorzugte einen Tauchgang oder eine gute Wanderung. „Och, ich bleib lieber hier unten und schaue dir zu.“

Aus zusammengekniffenen Augen schaute Miranda sie nun an.

„Was?“

„Du schuldest mir was. Weil du das Kleid nicht anhast.“

Sienna verdrehte die Augen. „Miri, du weißt, dass ich Kleider nicht mag“.

Bevor sie antworten konnte, ertönten zwei vertraute Stimmen.

„Hey, Mädels, da seid ihr ja!“ Die Zwillinge Dean und Denver, zwei großgewachsene, sportliche Jungs mit moccafarbener Haut, kamen gut gelaunt auf sie zu. Sie waren ebenfalls Studenten an der University of Chicago und immer für einen Spaß zu haben. Sie gesellten sich jetzt zu den jungen Frauen und fingen sogleich an, von ihrem Tag zu erzählen.

„… und dann hättest du Dean sehen sollen! Mitten ins Gesicht hat er den Ball abbekommen!“ Als Draufgabe boxte Denver seinem Bruder in die Seite, worauf Dean theatralisch in die Knie ging. Miranda, die sich heimlich näher an Denver geschlichen hatte, tat so, als wollte sie mehr über den Vorfall erfahren. Sie schaute Sienna eindringlich an. Sag jetzt bloß nichts, sollte ihr Blick sagen.

Diese zuckte nur mit den Achseln und grinste. Keine Ahnung, wovon du redest, war ihre mentale Antwort. Sienna und Miranda waren lange genug befreundet, um jeden Blick der anderen deuten zu können. Manchmal war es schon fast unheimlich, wie schnell sie wussten, was die jeweils andere dachte. Sienna wusste genau, dass Miranda eine Schwäche für Denver entwickelt hatte, weswegen sie jetzt vielsagend mit den Augenbrauen wackelte. Wären sie allein gewesen, hätte sie sie gnadenlos aufgezogen, jetzt aber hielt sie sich zurück. Sie gönnte es ihrer Freundin und hoffte, dass Denver langsam den Wink mit dem Zaunpfahl verstand. Für Sienna waren die beiden Chaoten einfach gute Freunde.

„Wollte Lexy nicht mitkommen?“

Die Gruppe schlenderte an den Buden vorbei. Lexy war Deans Freundin, sehr zum Missfallen aller anderen Anwesenden. Nächtliche Anrufe und ständiges Durchsuchen des Telefons würde manch einer als Kontrollzwang bezeichnen. Sie war sogar mit nach Chicago gekommen, damit sie und Dean gemeinsam studieren konnten und somit praktisch unzertrennlich waren. Dean allerdings schien das alles nicht zu stören, denn er antwortete fröhlich: „Lexy? Ich glaube, sie hat sich nicht ganz wohl gefühlt heute. Keine Ahnung was sie hat, auf jeden Fall ist sie zu Hause geblieben.“

Sienna nickte nur. Das Aufatmen der anderen war ihr Bestätigung genug. Keiner wollte sie dabeihaben, und zu wissen, dass sie einen Abend „frei“ hatten, ließ sie alle etwas entspannen. Sie hatten oft genug versucht, mit Dean zu reden, jetzt musste er selbst darauf kommen.

Das Gespräch änderte die Richtung und Sienna hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Der Himmel verdunkelte sich, vereinzelt waren Sterne aufgegangen, immer mehr Pärchen und Gruppen junger Leute strömten aufs Gelände und Sienna genoss die Gesellschaft ihrer Freunde. Die Anspannung in ihren Schultern, die sie schon seit Wochen plagte, löste sich langsam, und glücklich ließ sie ihre Gedanken dahinwandern.

„Was meinst du dazu, Sienna?“

Gedankenverloren schaute sie zu den anderen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie stehen geblieben waren und vor einem Wahrsagerstand Halt gemacht hatten. „Oh, Entschuldigung. Was hast du gesagt?“

Miranda lachte auf und hakte sich bei Denver unter. „Jaja, Sienna. Immer nur am Träumen. Denver hatte die tolle Idee“, und dabei schaute sie ihn mit ihrem süßesten Lächeln an, „dass wir doch mal in diese Wahrsagerbude gehen könnten und uns die Zukunft voraussagen lassen.“

Sienna schaute sich die kleine Hütte genauer an. Sie war schwarz angestrichen und über dem Eingang stand in verschnörkelten Buchstaben

Wasilis Wahrsagerei

Die Zukunft beginnt heute

Normalerweise machte sie um solche Spinnereien einen großen Bogen, aber es schien recht harmlos zu sein. Sie konnte sehen, dass sich beim Aufbau jemand Mühe gegeben hatte und sie wollte Miranda, die sie mit hoffnungsvoller Miene ansah, nicht den Spaß verderben. Was konnte schon passieren? Ein paar Dollar bei einem Wahrsager zu lassen und sich einen Spaß daraus zu machen, konnte nicht allzu gefährlich sein.

Ihre Freunde warteten immer noch auf eine Antwort, also beeilte sie sich zu antworten. „Ja klar, warum nicht? Dürfte ganz lustig werden.“

„Super!“

Miranda zog sie ins Innere der kleinen Hütte und die Zwillinge folgten ihnen. Drinnen war es drückend heiß und es roch … nach Weihrauch? Muss wohl den Gruseleffekt verstärken, dachte Sienna und trat in die Ecke, damit auch die Jungs Platz in dem kleinen Raum hatten. Die Hitze war hier noch unangenehmer und sofort wünschte sie sich, sie hätte nein gesagt. Sienna drehte sich einmal um ihre eigene Achse und schaute sich dabei die Einrichtung an. Die vorherrschende Farbe war lila. Schwere Samtvorhänge hingen von den Wänden, dicke, weiche Teppiche ließen die Füße versinken, und überall auf dem Boden waren Kissen verteilt. Mehrere Lampen standen hinter den Vorhängen, sodass der Raum indirekt beleuchtet wurde und eine geheimnisvolle Atmosphäre entstand. Außer ihnen war niemand im Laden .

„Wow, hier hat sich einer richtig Mühe gemacht.“ Dean schaute sich um und pfiff anerkennend.

„Danke, junger Mann.“ Ein älterer Herr war zu ihnen getreten, scheinbar aus dem Nichts. Sein Haupthaar war schneeweiß, seinen Bart trug er ungewöhnlich lang. In seinen Ohren hingen viele Goldringe und beim näheren Hinsehen erkannte Sienna sogar welche in seinem Bart. Er war so klein, dass er Sienna nur bis unters Kinn reichte, und das sollte schon was heißen, denn mit ihren eins dreiundsechzig war sie nicht die Größte. Das musste also Monsieur Wasili sein, dachte Sienna und schaute ihn genauer an.

Sein Anzug war fein herausgeputzt und wies keinerlei Flecken oder Falten auf. Ihr Blick fiel wieder auf sein Gesicht. Er hatte ein blaues und ein braunes Auge, eine große, gerade Nase und einen, man könnte fast sagen, schön geschwungenen Mund. Er ließ sich beobachten und nahm seine Hände, die er bis jetzt hinter dem Rücken verschränkt hatte, nach vorne. Sienna hob die Augenbrauen. Seine Unterarme waren voll mit Tattoos, die sie nicht deuten konnte. Es waren exotische Muster, die ineinander verschlungen waren und unter seinen Hemdsärmeln verschwanden. Am liebsten hätte Sienna gefragt, was sie bedeuteten.

Als sie ihn immer noch anstarrten, räusperte er sich kurz. „Nun denn, wer von Euch möchte sich die Zukunft voraussagen lassen?“ Er schaute sie einen nach dem anderen an. Sein forschender Blick blieb kurz an Sienna hängen, wanderte aber, als sie es bemerkte, schnell zu Miranda.

„Ich möchte es gerne.“ Miranda trat vor. „Und meine Freundin hier.“ Sie packte Sienna am Arm und zerrte sie nach vorne.

Etwas unbeholfen stand sie vor diesem seltsamen Mann und ließ sich von ihm begutachten.

„Hi“, sagte sie schwach. Es war ein wenig befremdlich, vor diesem Mann zu stehen. Vielleicht lag es an seinen Augen oder an der Art, wie er sie ansah, aber ihre Armhärchen stellten sich auf.

„Weißt du Miri, ich denke, du solltest das allein machen.“

„Was, wieso?“ Miranda starrte sie verwirrt an. „Ach, komm schon, du hast gesagt, es wäre in Ordnung!“ Bittend schaute sie ihrer Freundin in die Augen.

Sienna rollte schon zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag mit den Augen. „Okay, ich mach’s ja. Aber schau mich nicht mit diesem Dackelblick an.“

Triumphierend richtete sich Miranda zu ihrer vollen Größe auf und blickte zu den Jungs hinüber. „Macht ihr auch mit?“

Die Zwillinge hatten es sich auf ein paar der Kissen bequem gemacht und winkten ab. „Nee, macht ihr das nur. Wir kennen unsere Zukunft schon.“ Dean schaute seinen Bruder an, der zustimmend nickte. Falls die beiden in diesem Jahr die Prüfungen nicht bestanden, würde ihr Vater sie zurück nach Ohio holen, und sie mussten dort ihr Mathematikstudium beenden. Und zurück nach Hause zu gehen, kam für beide nicht in Frage. Dafür war ihnen ihre Unabhängigkeit viel zu wichtig.

„Okay, dann sind das nur wir zwei.“ Miranda blickte den Mann erwartungsvoll an.

„Nun denn, bitte folgt mir.“ Seine kleine Gestalt machte eine Verbeugung und dabei streckte er seinen rechten Arm aus. Er zog einen der Vorhänge zurück und ließ sie vorgehen. Ein kleiner Raum, ebenfalls mit Vorhängen und Kissen geschmückt, kam zum Vorschein. Nur war hier ein kleiner Tisch samt Hocker im Fokus. Der Weihrauchgeruch schien hier noch stärker zu sein. Sienna tränten die Augen davon und sie nahm sich vor, ein langes Bad mit ihrem Lieblingsduft, Zimt mit Apfel, zu nehmen, sobald sie zu Hause war. Der Mann zeigte auf den Hocker und setzte sich an den Tisch. „Bitte, nehmt Platz.“ Miranda eilte nach vorne, setzte sich hin und legte die Hände auf den Tisch.

„Ich habe so etwas noch nie gemacht, was muss ich tun?“ Miranda strich nervös die Tischbedeckung glatt.

Monsieur Wasili räusperte sich, ein freundliches Lächeln lag auf seinem Gesicht. Er legte ein paar Sachen auf den Tisch. Er musste sie wohl unter dem Tisch gelagert haben, anders konnte sich Sienna deren Erscheinen nicht erklären. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf die Utensilien, während sie sich auf eines der weichen Kissen hinter Miranda plumpsen ließ.

Äpfel? Säckchen mit Gewürzen und Stroh? Brauchte man nicht zum Wahrsagen einfach die Hand der Person, eine Glaskugel oder ein paar Tarotkarten? Der Mann legte zusätzlich noch ein Stück Papier daneben. Er legte eine Konstellation aus den Utensilien an, die Sienna nicht richtig sehen konnte. „Bitte legt Eure linke Hand hier auf die Mitte.“ Miranda tat, wie ihr geheißen. Der Mann platzierte ihre Hand noch einmal richtig, sprach ein paar fremd klingende Worte aus. Während er ihre Hand betrachtete und den feinen Linien nachging, schrieb er einige Wörter auf. Miranda und Sienna tauschten verstohlen Blicke aus. Als der Mann eine besonders empfindliche Stelle drückte, zuckte Miranda zurück. „Aua! Das war ein wenig grob, Monsieur Wasili.“ Sie rieb sich die schmerzende Stelle.

„Wissen fordert ihren Preis, Madame.“

Während er das sagte, begann das Papier, auf dem die Wörter standen, zu vibrieren. Die Buchstaben, die soeben wild hingekritzelt worden waren, schienen ein Eigenleben zu entwickeln. Vor ihren Augen begannen sie sich zu bewegen und zu drehen, bis sie sich in sinnvoller Reihenfolge zusammengesetzt hatten. Als alle Wörter an der richtigen Stelle standen, konnten die beiden Frauen zusehen, wie die Tinte auf dem Papier trocknete. Hatten sich die Wörter gerade bewegt?

„Zwickt mich mal jemand?“, murmelte Miranda.

Noch Sekunden danach saßen die beiden wie gelähmt da, nicht wissend, was gerade geschehen war. Miranda schaute das Papier an, als wäre es eine giftige Schlange. Sienna hegte ähnliche Gefühle. Als beide keine Anstalten machten, es aufzuheben, nahm der Mann es in die Hand und reichte es Miranda. „Hier, es gehört Euch.“ Etwas zögernd nahm sie es entgegen. Auf dem Blatt stand nun geschrieben:

Tapfere Kriegerin durchschreitet die Nacht,

Das Leben sich bald wenden,

Durch nichts sie sich lässt blenden,

der Weg gezeichnet durch Kraft.

„Das ist alles?“ Fragend schaute sie den Mann an.

Dieser zuckte nur mit den Schultern.“ Ich kann nicht bestimmen, was Euch gegeben wird. Ich bin nur der Bote.“ Miranda blinzelte ein paar Mal, dann blickte sie zu Sienna. Sie schauten sich eine Weile an, dann meinte Miranda nur: „Sienna, das war ein total abgefahrener Zaubertrick, du musst es unbedingt auch ausprobieren!“

Sienna richtete sich ruckartig auf. „Was? Miranda, die Wörter haben sich bewegt! Hast du nicht gesehen, was gerade passiert ist?“ Sie zeigte auf das Blatt in Mirandas Hand. „Das mache ich ganz sicher nicht.“

Miranda wiederum, nun Feuer und Flamme für dieses Thema, erwiderte nur: „Sienna, wann passiert schon so etwas Cooles? Probiere es aus. So was sehen wir nicht alle Tage. Vielleicht geschieht ja gar nichts. Und so können wir sehen, ob wir unseren eigenen Augen trauen können.“ Eine Minute des Schweigens brach an, wobei sich Sienna den Kopf zerbrach, ob sie es auch wagen sollte. Ihr war die Sache etwas unheimlich, aber sie musste zugeben, auch sie war trotz allem neugierig geworden. Es war verdammt eindrucksvoll gewesen.

Ihren Zweifel zurücksteckend, meinte sie nur: „Na gut, ich mach es. Aber nur für dich.“ Der Mann nickte. Während der Unterhaltung zwischen den Freundinnen hatte er den Tisch leergefegt und geputzt. Nun sortierte er von neuem die Utensilien. Miranda tauschte den Platz mit Sienna, blieb aber an ihrer Seite, damit sie alles mitverfolgen konnte. Der Mann forderte Sienna auf, ihre Hand auf die Mitte der Tischplatte zu legen. Um sie herum waren rätselhafte Zeichen gemalt worden. Sie konnte jetzt genauer hinschauen und entdeckte, dass der Mann mit dem Stroh und dem Pulver aus den Säckchen gemalt hatte. Könnte keltisch sein, aber Sienna wusste es nicht genau. „Wieso sieht das bei mir anders aus?“

Der Mann nahm wieder Feder und Papier zur Hand und begann das Schauspiel von neuem.

„Natürlich ist es anders. Jede Person ist anders. So auch Eure Runen.“

Bevor sie darauf etwas erwidern konnte, sprach der Mann fremde Worte aus und schrieb wieder. Der Schmerz, den er beim Drücken ihrer Hand verursachte, ließ Sienna auf dem Hocker hin- und herrutschen. Wieder geschah nach kurzer Zeit dasselbe, was vorhin schon geschah. Als die Worte sich fast fertig gebildet hatten, flammten die Buchstaben plötzlich auf und drohten den Tisch zu versengen.

„Bei allen Göttern!“ Schnell streute der Mann ein Pulver auf das Blatt, was das Blubbern der Worte zum Ersterben brachte. Er pustete den Staub weg und wartete, bis sich der Staub legte. Sienna war unterdessen zurückgerutscht und hielt Mirandas Hand umklammert.

Zögernd hob Monsieur Wasili das Blatt und reichte es Sienna. „Hier, es ist Eures.“ In seinen Augen stand ein eigentümlicher Ausdruck, den Sienna nicht deuten konnte. Mechanisch nahm Sienna das dargebotene Papier entgegen.

Kriegerin so alt wie die Zeit

Geformt aus Schmerz und Blut

Der Weg ist lang, die Bürde schwer

Der Kampf hat begonnen

Die Zeit nun verronnen

Und am Ende des Tages

Nur einer wird siegen

Beide starrten eine Zeit lang auf das Blatt. Sienna runzelte die Stirn bei diesen Worten. „Das ist ja nicht gerade sehr aufmunternd.“ Ratsuchend schaute sie zu dem Mann auf, doch der war in ein Nebenzimmer verschwunden. „Was ist denn jetzt los?“

Die jungen Frauen schauten sich um, konnten ihn aber nirgends finden.

„Wo ist er hin?“ Miranda war ebenso erstaunt wie Sienna.

„Komm, lass uns zu den anderen gehen. Die warten bestimmt schon.“

Beide standen auf. Miranda legte ein paar Scheine als Bezahlung auf den Tisch, dann verließen sie das Zimmer und gingen den Weg zurück zu den Jungs. Die waren in der Zwischenzeit aufgestanden und drehten sich jetzt unisono zu den hereinkommenden Mädchen.

„Da seid ihr ja endlich. Ihr habt eine Ewigkeit gebraucht.“

Beide sahen auf die Blätter in den Händen ihrer Freundinnen. „Was ist das?“ Denver stellte sich neben Miranda und nahm ihr das Blatt aus der Hand. Als er es gelesen hatte, schaute er sie verwirrt an. „Hä? Ist das so eine Art Gedicht? Er sah sich die Buchstaben genauer an. „Mit was ist das denn geschrieben worden?“

„Einer alten Feder“, kam von beiden gleichzeitig die Antwort. „Aber das ist noch nicht das Coolste.“ Miranda schilderte den Jungs, was sich soeben abgespielt hatte.

„Aha?“ Etwas verwirrt starrte jetzt auch Dean auf das Blatt in Siennas Hand. „Ich dachte, wahrsagen ist so was mit Handlesen und so ein Zeug. Nicht mit rollenden Buchstaben.“

„Dachten wir auch.“ Miranda ließ sich von Denver hinausführen. „Kommt, wir gehen erstmal hier raus. Frische Luft schnappen, dann könnt ihr uns alles nochmal ganz genau erzählen. Diesen Trick hätte ich selbst gern gesehen.“

Als Siennas Freunde schon hinausgetreten waren, kam ein kleiner Zischlaut aus der Ecke. Sienna drehte sich um und sie erkannte die Umrisse des alten Mannes. Sie machte instinktiv einen Schritt zurück, als er auch schon vor ihr stand. „Wir haben Ihnen ein paar Dollar ...“

Er erstickte ihren Erklärungsversuch, indem er ihre Hand nahm und ein kleines Samtsäckchen hineinlegte. Mit dieser Geste stieß er sie hinaus auf die Straße. „Das werdet Ihr brauchen, geht jetzt!“

Noch bevor sie etwas darauf erwidern konnte, hatte er ihr schon die Tür vor der Nase zugeknallt. Völlig perplex stand sie vor der verschlossenen Tür ,das Säckchen in der Hand haltend .

„Sienna, kommst du?“

Die Stimme ihrer Freundin riss sie aus der Erstarrung, sie drehte sich um und rannte schnell zu den anderen. „Komme“, murmelte sie schwach.

„Also, was ist genau passiert?“, hörte sie Dean sagen, als sie aufschloss.

„Das wüsste ich auch gern“, erwiderte Miranda. „Welche Art von Zaubertrick lässt Buchstaben fliegen?“

Dean hob das Blatt hoch, sodass alle es sehen konnten. Sienna hatte ihr eigenes in die Hosentasche gesteckt.

„Ja, findet ihr das nicht auch seltsam? Und erst die ganze Atmosphäre. Kein Wunder, dass da niemand war. Von dem lass ich mir sicher nicht noch einmal die Zukunft voraussagen.“ Miranda schien erst jetzt begriffen zu haben, was sich abgespielt hatte, und rieb sich die Arme. „Die Buchstaben, die haben sich ganz einfach bewegt! Vor unseren Augen!“

Denver zuckte mit den Schultern. „Das musste doch so sein, sonst wäre es kein Trick.“

Miranda fixierte ihn. „Also ich fand nicht, dass das nach einem Trick aussah.“

Sie diskutierten noch eine Weile über das Geschehene. Sienna hielt sich im Hintergrund und lauschte den Theorien ihrer Freunde. Aber ihre Gedanken kehrten immer wieder zum alten Mann zurück. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, nachzuschauen, was in dem Säckchen war. Ich werde es brauchen? Wozu? Und erst noch ihr Gedicht. Das war ja mehr als unheimlich. Darin kamen die Worte Kampf, Krieg, Blut und Schmerz vor. Das waren alles Themen, mit denen sie höchstens in ihren Geschichtsvorlesungen zu tun hatte. Trotz intensiven Grübelns kam sie auf keinen grünen Zweig. Sie beschloss, das Thema vorerst fallen zu lassen und sich zu entspannen. Es war ihr erstes lernfreies Wochenende. „Los, Leute, genug von all dem wirren Zeug. So gruselig das eben war, wir haben morgen noch genug Zeit, uns den Kopf zu zerbrechen. Heute wollen wir uns entspannen und feiern gehen.“

Ihre Freunde stimmten zu. Sie beschlossen, noch einen Abstecher ins „Cube“ zu machen. Die Disco wurde jedes Jahr aufgestellt und lief auch dementsprechend gut. Die Musik dröhnte aus riesigen Lautsprechern, die Tanzfläche war brechend voll und es war so heiß wie in einem Backofen. Mit jedem Wummern löste sich die Anspannung der Freunde ein Stück mehr.

„Herrlich. Endlich wieder Zeit zum Ausgehen!“ Denver grinste breit und schaute zu Miranda hinüber. Diese errötete bei seinem Blick und schaute schnell weg.

Sie bewegten sich zur Bar, bestellten ihre Drinks und stießen an.

„Auf einen tollen Sommer und gute Freunde!“, sagte Dean und erntete Beifall. Sie tanzten bis spät in die Nacht hinein.

ZWEI

Die Reise beginnt

Als Sienna nach Hause kam, war es schon weit nach Mitternacht. Sie warf ihre Schlüssel auf den Esstisch, schlüpfte aus ihrer Jacke und lief in die Küche. Diese war in einer L-Form gebaut. Stand sie zum Fenster hin an der Spüle, befand sich hinter ihr eine kleine Bar mit Barhockern. So konnte man sich nach dem Kochen gleich an die Bar setzen. Den Esstisch hatten sie nur für den Fall gekauft, dass einmal Gäste kamen. Ihre Eltern waren gerade in Tansania auf Reisen. Oder waren es die Cap Verden? Jedenfalls hatte sie die Wohnung für die nächsten Wochen ganz für sich allein.

Sienna drückte auf den blinkenden Anrufbeantworter und lauschte der Stimme ihrer Mutter. Die Nachricht enthielt einen kurzen Bericht über die Abenteuer, die ihre Eltern gerade erlebten. Sie hofften, Sienna hätte die Prüfungen gut bestanden. Noch ein paar Abschiedsworte und das war es. Einmal pro Woche ein obligatorisches Lebenszeichen. Damit Sienna wusste, dass sie in der Zwischenzeit nicht zur Vollwaise geworden war. Schließlich gingen ihre Eltern nicht immer in ungefährliche Gebiete. Beide, Richard und Susan Gordon, waren mit Herzblut Ärzte ohne Grenzen. Beide liebten die Gefahr und sahen es als ihre Pflicht an, die Welt zu retten. Sienna archivierte die Nachricht, ging zum Kühlschrank, öffnete ihn, goss sich ein Glas Milch ein, setzte sich an die Bar und ließ ihren Blick über die Wohnung gleiten. Sie war relativ groß und die Küche war mit dem Esszimmer verbunden. Ihre Mutter hatte das beim Einzug sehr praktisch gefunden, auch wenn sie selbst fast nie da war, um es zu benutzen. Wenn man nach rechts trat, kam man ins riesige Wohnzimmer. Das braune Sofa deckte die ganze Breite der Wand ab. Die hohe Decke war mit riesigen Fenstern bestückt, sodass jeden Morgen das Licht des anbrechenden Tages hereinschien und das Zimmer wunderschön erhellte. Eine Kommode mit Dekoration stand in der Ecke, der Plasmafernseher war in der Mitte aufgestellt worden, und an fast jeder Wand hingen Gemälde aus Ländern, die ihre Eltern bereist hatten. Ein dicker, cremefarbener Teppich lag auf dem Boden. Der Kamin, den ihr Vater vor zwei Jahren hatte einbauen lassen, verströmte im Winter wohlige Wärme. Aber das Highlight des Raumes, so zumindest empfand es Sienna, waren die kleinen Flaschen und bunten Scherben, die von der Decke herunterhingen. Ihre Mutter hatte sie dort vor Ewigkeiten aufgehängt, und wenn die frühen Sonnenstrahlen sich darin fingen, tanzten im ganzen Raum fröhliche Lichtflecke.

Vom Wohnzimmer aus gelangte man in den Flur und weiter nach hinten in die Schlafzimmer. Das in blau gehaltene Elternschlafzimmer befand sich rechts. Siennas Zimmer lag auf der linken Seite des Flurs und hatte ein eigenes Bad, was sie sehr zu schätzen wusste.

Als sie ausgetrunken hatte, stellte sie das Glas in das Spülbecken und lief in ihr Zimmer. Sie ging weiter ins Badezimmer und schaute in den Spiegel.

Sie hatte Augenringe und war etwas bleich, aber das lag wohl am mangelnden Schlaf der letzten Wochen und an der durchzechten Nacht. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und putzte sich die Zähne. Ihr Haar ließ sie, wie es war. Es war die Mühe nicht wert, es jetzt noch durchzukämmen. Morgen früh würde es ohnehin wie ein Vogelnest auf ihrem Kopf thronen. Sienna griff in ihre Hosentasche und holte ihr Gedicht heraus. „Was für ein Bockmist.“ Damit ließ sie das Papier achtlos auf den Boden fallen und ging zurück ins Zimmer. Sie schwankte ein bisschen, als sie eintrat.

„Huch, hatte wohl doch mehr Alkohol, als gut war.“ Mit einem Lächeln im Gesicht schritt sie auf ihren Schrank zu und wich dabei der schlafenden Katze und ihren auf dem Boden liegenden Kleidungsstücken aus. Mia starrte sie aus grünen Augen vorwurfsvoll an, als Sienna fast auf sie draufgestanden wäre. „’tschuldigung“, murmelte sie und hatte das Gefühl, der Schrank vor ihr drehe sich.

Die Katze vergaß den Vorfall schnell und schmiegte sich mit ihrem grau schimmernden Fell an Siennas Beine, was diese erneut fast zum Stolpern gebracht hätte. „Jaja, schon gut. Du bist ein braves Miezekätzchen.“ Sie bückte sich, um Mia hinter den Ohren zu kraulen und kam wieder hoch, als die Katze genug hatte und durch die Tür verschwand. Wohl etwas zu schnell richtete sie sich wieder auf, denn sie musste sich am Schreibtisch abstützen. Ihr Blickfeld hatte angefangen, sich zu drehen.

„Was ist denn jetzt los?“ Sie kniff die Augen zu und versuchte mehrmals zu blinzeln, aber immer noch tanzten schwarze Punkte vor ihren Augen. Ein dumpfer Schmerz hatte sich in ihrer rechten Kopfseite breitgemacht, gepeinigt hielt sich Sienna den Kopf. „Aua!“ Der Schmerz ließ nicht nach und Sienna wollte sich umdrehen und zu ihrem Bett gehen, als sie sich das Knie am Bettrand anschlug. Aufschreiend und immer noch halb blind, hüpfte sie auf einem Bein hin und her. „Verdammter Mist!“ Sie setzte sich auf die Bettkante und wartete. Ihr Kopf war wie ein Karussell. Nur mit Mühe stützte sie sich mit den Händen auf den Knien ab. Sie versuchte langsam ein- und auszuatmen. Langsam verschwand der Schwindel und sie öffnete die Augen. Als sie dachte, dass es ihr etwas besser gehen würde, entschloss sie sich, ein Ibuprofen zu nehmen. Sie war im Begriff, wieder zum Badezimmer zu humpeln, als erneut ein Schmerz in ihrem Kopf explodierte und sie mit den Knien hart auf dem Boden aufschlug. Mit einer Hand hielt sie sich wimmernd den Kopf und fragte sich, woher dieser Anfall kam, als sie sich plötzlich ganz leicht fühlte. Obwohl sie jetzt beide Hände als Stütze auf den Boden presste, merkte sie, dass ihr Körper ihr den Dienst versagte. Dafür spürte sie das Samtsäckchen ganz deutlich in ihrer Hosentasche pochen. Es fühlte sich heiß und lebendig an. Darüber wundern konnte sie sich nicht, denn in diesem Moment verstärkte sich das Schwindelgefühl und langsam verlor Sienna das Bewusstsein. Ihre Welt wurde schwarz, noch bevor ihr Körper kraftlos auf den Boden sank.

Der Vogel zwitschert sein fröhliches Lied. Vincent wird aus seiner Ohnmacht geweckt.

Wo bin ich?

Ein Feld. Aber keines mit Blut. Kein Tod ist hier in Sicht.

Hier herrscht Ruhe, Frieden.

Das Licht …

Das Licht war verschwunden.

Keine Gewehrsalven, kein Panzerdonnern ertönt in der Nähe.

Vincent durchbricht den Schleier der Verwirrung. Das hier war nicht mehr England.

Die Hügel um ihn herum sind zu hoch, das Gras zu grün, die Sonne zu grell.

Wo bin ich?

DREI

Verwirrung

Der Staub in ihrer Nase weckte sie.

Noch halb benebelt, nieste Sienna mehrmals kurz hintereinander und stellte instinktiv fest, dass sie nicht auf ihrem Schlafzimmerboden lag. Was…? Ihr Gehirn versuchte, einige Bruchstücke zusammenzusetzen.

Etwas drückte ihr in den Rücken. Sienna kniff die Augen zusammen. Der Boden war hart.

Langsam hob sie einen Arm, wollte sich damit die Augen reiben. Sie hielt inne. Ihre Handfläche war dreckig. Erde?

Stück für Stück nahm ihr Gehirn die Umgebung war. Sie lag auf dem Erdboden. Draußen. Endlich erkannte sie, dass sie auf einer Wurzel lag und sie stöhnte auf. Wie war sie hierhergekommen? Verwirrt drehte sie sich auf die Seite. Ihr Magen protestierte und von der Bewegung wurde ihr schlecht. Eine Weile still daliegend, versuchte sie, ruhig zu atmen. Ihr war der Schweiß ausgebrochen, ihr war übel und ihr Puls raste wie nach einem Marathonlauf. Langsam drehte sie sich wieder auf den Rücken. Ihr Körper schmerzte. Sie blinzelte mehrmals, um ihre Augen an das Licht zu gewöhnen. Sienna stellte fest, dass sie geradewegs zu einem Blätterdach hinaufsah.

Endlich wachten auch ihre anderen Sinne aus dem Schlaf auf.

Ohne Zweifel befand sie sich in einem Wald. Die Baumkronen verdeckten ihr die Sicht auf die Sonne. Kleine Staubkörner flogen durch die Luft und hier und da stahlen sich ein paar Sonnenstrahlen durchs Geäst. Sie konnte jetzt die Vögel in den Ästen zwitschern hören und irgendwo huschte ein Tierchen über den Laubboden. Mühsam setzte sie sich auf und schaute sich um. Weit und breit nur Wald. Grüner, dichter Wald.

„Wo bin ich?“ Die Frage laut stellend, kratzte sie sich am Kopf und bemerkte, dass ihre Lieblingsjeans ein großes Loch am Knie und ihr langarm T-Shirt einige Risse hatte. Es war dreckverkrustet. In ihrem Kopf hämmerte es und das Knie pochte unangenehm. Ein paar Minuten nahm sie sich Zeit und saß einfach so da. Der erdige Geruch des Waldbodens stieg ihr in die Nase. Wie um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte, fuhr Sienna mit den Fingern über den Boden. Feucht und schwer blieben Erdklümpchen an ihrer Hand haften. Das fühlte sich real an. Wie war sie hierhergekommen?

Als sie sicher war, dass ihr Kopf nicht gleich wieder loshämmern würde, versuchte sie aufzustehen. Keuchend kam sie auf die Beine und klopfte sich so gut es ging den Schmutz von den Kleidern. Sie musste sich wohl die Seite angeschlagen haben, denn ihre Rippen taten verdammt weh.

„Hallo? Ist da jemand?“ Sie schaute sich um. „Hallo?“

Nichts. Der Wald hatte ihre Rufe verschluckt. Seufzend fuhr sie sich durch die dunkelbraunen Haare. Es war ein Desaster. Bis sie diese Knoten draußen hatte, konnten Jahre vergehen.

Sienna konnte weder sagen, wie spät es war, noch, wo sie war. Frustriert ließ sie die Hände fallen. „Keine Panik“, murmelte sie vor sich hin, denn ihr Herz hatte angefangen, schneller zu schlagen. Das Gefühl völliger Orientierungslosigkeit ließ sie kribbelig werden.

„Alles ist gut, du hast nur ein wenig zu heftig gefeiert gestern. Das ist alles.“ Um die aufsteigende Angst zu unterdrücken, massierte sie sich die Hände und atmete ein paar Mal langsam ein und wieder aus. Um nicht gleich wieder umzukippen, stützte sie sich an einem Baum ab.

Sie hörte Insekten summen, Vögel flogen von Baum zu Baum, alle sahen gleich aus. Hier war niemand, der ihr helfen konnte.

„Oh Gott, wo bin ich nur gelandet?“, sprach sie zu sich selbst, damit sie wenigstens den vertrauten Klang ihrer Stimme hören konnte. Sie versuchte, sich an letzte Nacht zu erinnern, und sofort begann ihr Kopf wieder zu schmerzen. Langsam richtete sie sich auf. Etwas wackelig stand sie aufrecht. „Miranda? Dean?“

Nichts. Wo waren bloß die anderen? Ein Bild, wie sie sich von ihnen verabschiedete, schoss ihr durch den Kopf. Sie meinte sich zu erinnern, wie sie die Wohnungstür öffnete und ihre Katze streichelte. Als die Kopfschmerzen wieder einsetzten, schüttelte sie den Kopf. „Jesus und Maria.“

Sienna entschied, ein Stück zu laufen. Sie hatte einmal gelesen, dass man, wenn man verloren ging, seine Position nicht ändern sollte. Aber da sie nicht wusste, wie und mit wem sie hierhergekommen war, musste sie sich umsehen. „Vielleicht träume ich ja“, murmelte sie beim Gehen. „Vielleicht komme ich auch gleich zu einer Hauptstraße.“

Als sie über eine Wurzel stolperte und ihr Knie sich meldete, verfluchte sie sich selber.

„Ich kann nicht träumen, dafür sind die Schmerzen zu real.“

Sie hoffte, dass bald ein Haus oder eine Tankstelle auftauchen würde. Oder Reiter oder ein Jäger. Irgendjemand, der ihr sagen konnte, was hier gespielt wurde. Der Wald jedoch war so undurchdringlich und die Bäume so dicht aneinandergereiht, dass sie ihre Hoffnungen bald aufgab. Sienna musste höllisch aufpassen, dass sie sich den Fuß nicht vertrat, die Wurzeln schienen immer dicker zu werden. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit zu einer kleinen Lichtung kam, bemerkte sie, dass die Vögel aufgehört hatten zu singen und sich die Sonne hinter den Wolken versteckte hatte. Wie viel Uhr war es? Mittag? Nachmittag?

Von irgendwoher fing die Erde an zu beben. Hufgetrappel bahnte sich einen Weg durchs Unterholz und kam immer näher. Pferde? Das bedeutete, es kamen Reiter, und die konnten ihr bestimmt helfen. Als sie sich hoffnungsvoll umdrehte, preschten ungebremst sechs Reiter aus dem Wald.

Zu ihrem Entsetzen erkannte Sienna sehr schnell, dass die fremden Reiter bis auf die Zähne bewaffnet waren. Angezogen wie im Mittelalter, mit Leder, Fell und Kettengehänge, kamen sie auf sie zu. Sie schienen nicht mit ihr gerechnet zu haben, denn einer von ihnen stieß einen kurzen Schrei aus, woraufhin die anderen ihre Formation änderten und anfingen, sie zu umrunden. Die Pferde scheuten und die Lanzen, die auf Sienna gerichtet wurden, sahen verdammt spitz aus. Die Hände schnell in die Luft erhebend, hoffte sie, dass man sie nicht gleich aufspießen würde.

Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. Sie schluckte mehrmals und ihr Blick huschte von einem Fremden zum anderen. Okay, einfach ruhig bleiben, hier muss sich doch sicher eine Lösung finden. Irgendein Städtchen wird in der Nähe ein Mittelalterfestival ausrichten und die grimmig dreinschauenden Männer gehören dazu. Keine Panik, Sienna.

Der Anführer, der den Schrei ausgestoßen hatte, näherte sich ihr. Prüfend schaute er auf sie herab. „Dies sind die Ländereien von Lord Ronan! Wer seid Ihr, Mädchen, und was macht Ihr allein im Dark Forrest?“

Dark Forrest? Sienna hatte keinen blassen Schimmer, was der Dark Forrest war, aber in der Nähe von Chicago hieß definitiv kein Wald so.

„Sagt schon! Oder muss ich die Worte aus Euch herauspressen?“

Der Mann wirkte ziemlich furchteinflößend auf Sienna und sein Akzent deutete auf fremdländischen Ursprung hin.

„Äh, mein Name ist Sienna Gordon. Ich habe mich … verirrt.“ Ja, das traf die Sache auf den Punkt. „Wissen Sie, wo ich mich befinde?“

Der Mann stieß einen Lacher aus und ignorierte ihre Frage. „Pff … eine Maid ohne Begleitung und in solch seltsamer Kleidung. Mich dünkt, Ihr könntet eine Spionin von Lord Vissil sein?“ Ein tückisches Grinsen breitete sich auf seinem vernarbten Gesicht aus und seine verfaulten, braunen Zähne kamen zum Vorschein. Gelächter von den anderen.

Sienna verzog bei diesem Anblick das Gesicht. Sie hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach, und die Spieße hinter ihrem Rücken trugen auch nicht zur Verbesserung der Situation bei.

Der Mann hat seine Rolle ziemlich gut einstudiert, dachte Sienna. Er kommt mir überhaupt nicht entgegen.

„Hören Sie, Mister, Sir. Ich will Ihr Ritterding nicht unterbrechen, aber ...“

„Oho!“, unterbrach er sie. „Mister? Sir? Täubchen, wenn es eins gibt, dass ich nicht bin, dann ein Sir!“ Seine Genossen um sie herum fingen wieder an zu lachen, während er sie eingehend musterte.

Sienna sah verstohlen zu den anderen Männern. Sie alle waren verdreckt, hatten Messer und andere Waffen bei sich und auf den unberittenen Pferden türmten sich Fellhaufen und andere Dinge. Waren das Wildschweine? Und Fasane? Ungläubig schaute sie genauer hin. Auch Wachteln, vereinzelte Kaninchen und andere kleine Tiere waren festgebunden und ruhten auf den Rücken der Pferde oder baumelten herab. Sie war noch nie jagen gegangen, konnte also nicht sagen, ob zu Hause Fasan zum täglichen Brot gehörte.

Ihr sank das Herz in die Hose, als die Männer näherkamen. Die Männer umkreisten sie und ließen dabei keinen Platz zum Flüchten. Ihr war, als würde die Situation von Minute zu Minute schlechter mit diesen fremden Reitern. Schnell schaute sie wieder zum Anführer. „Ich bin keine Spionin von wem-auch-immer.“ Sie war sich der Gefahr bewusst, in der sie sich befand, aber trotzdem zeigte sich auf ihrem Gesicht ein entschlossener Gesichtsausdruck, und der Fremde rieb sich das Kinn.

„Hmm … Mädchen, wir nehmen Euch zu Lord Ronan mit. Er wird wissen, was er mit einem verwirrten Weib wie Euch anstellen kann.“

Sie wollte protestieren, wegrennen, dankend ablehnen, nur um hier wegzukommen. Der vernarbte Mann schien ihre Absichten zu erahnen und beugte sich zu ihr herunter. „Flucht ist zwecklos. Entweder Ihr kommt freiwillig mit, oder Toad wird Euch behilflich sein.“ Er zeigte auf einen froschgesichtigen Mann, der, wenn das überhaupt möglich war, noch gemeiner aussah als der Narbenmann.

Alles in ihr schrie „Lauf weg“, aber die lange Lanze, oder was auch immer das war, zeigte auf ihre schmerzende Rippe. Verängstigt nickte sie.

Vielleicht wurde mit diesem Lord Ronan endlich Licht ins Dunkel gebracht. Wer nannte sich denn bitte heutzutage noch Lord?

Einer der Reiter war abgestiegen und erschien zu ihrer Rechten, um ihr beim Aufsteigen zu helfen. Sie fiel fast vom Pferd, als ihr sein Geruch in die Nase stieg. Gott, wie lange hatte der nicht mehr geduscht? Sie versuchte, ihn zu ignorieren und betete, sie möge nicht in Ohnmacht fallen. Sienna fühlte Blicke auf sich ruhen. Sie schaute ihren Reiter an. Der Mann sah nicht gerade so aus, als könne man mit ihm bei Kaffee und Kuchen sitzen. Ein Zittern ging durch ihren Körper, das sie zu unterdrücken versuchte. Der Narbenmann pfiff und die Gruppe setzte sich in Bewegung. Sienna versuchte sich an irgendetwas zu klammern, um nicht vom Pferd zu fallen. Sie fand eine Stelle an dem seltsam geformten Sattel und betete zu Gott, dass sie hier nicht gerade entführt wurde.

Niemand sprach und Sienna hatte Zeit, sich zu beruhigen. Wieso waren diese Männer alle so eigenartig gekleidet? Warum kannte hier keiner eine Dusche und vor allem, wo war sie nur hineingeraten? Sie spann ihre Gedanken weiter. Die Sprechweise des Narbenmannes war gänzlich veraltet. Entweder sie alle waren verdammt gute Schauspieler bei irgendeinem Ritterfestival, oder sie waren auf Drogen. Sienna sah jetzt verstohlen auf die Kleidung der Reiter. Lederhosen, lange Tuniken mit eleganten Mustern, gedeckte Farben. Ein paar trugen Lederbänder an ihren Armen oder um den Rumpf. Hatte sie diese Muster schon einmal gesehen?

Sie ritten immer tiefer in den Wald hinein, wie es schien. Auf Straßen musste sie hier nicht hoffen, dafür war alles viel zu dicht beieinander. Nicht einmal ein Flugzeug war zu hören. Sie wünschte sich ihr Handy sehnlichst herbei. Sie schalt sich dafür, dass sie nicht nachgeschaut hatte, ob sie es an ihrer Aufwachstelle liegen gelassen hatte, und starrte auf eine ihrer Schuhspitzen.

Wieder versuchte sie, sich an den gestrigen Abend zu erinnern. Ihr Kopf schmerzte bei der Anstrengung, ihr Herz raste vor Angst. Trotzdem schloss sie die Augen und holte tief Luft. Panik würde sie nicht weiterbringen. Ihr Pferd stolperte über eine Wurzel und mit dem Ruck kamen ihr plötzlich Erinnerungsfetzen ins Bewusstsein.

VIER

Cliff Fall Edge

Die Erinnerungen an letzte Nacht standen ihr klar vor Augen. Das Semesterende, Miranda, wie sie lachend die Treppe des Universitätsgebäudes herunterrannte, das Sommerfest mit all seinen Gerüchen und der alte Wahrsager. Der Wahrsager! Sienna spürte noch immer das Säckchen, aber jetzt war es weder warm, noch pochte es. Sie verbot sich, es hervorzuholen, aus Angst, man könnte es ihr wegnehmen.

So ritten sie eine ganze Weile und Sienna hatte sich soweit beruhigt, dass sie versuchte, sich die Richtung zu merken, aus der sie gekommen waren. Aber alles schien hier gleich auszusehen, sodass Sienna bald den Überblick verlor.

Die Gruppe machte Halt.

Erstaunt blickte sie hoch. Die Männer stiegen von den Pferden ab, nahmen sie an den Zügeln und begannen, nacheinander einen schmalen Pfad zu betreten. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass der Wald hier aufhörte. Stattdessen waberte Nebel um ihre Füße und von irgendwoher hörte sie einen Wasserfall rauschen.

Sienna und ihr Reiter stiegen ebenfalls ab, aber er ließ sie vor sich laufen, damit sie ja nicht auf die Idee kam zu flüchten. Als ob sie das wagen würde. Der Pfad war ein schmaler Weg, der an einer Felswand entlangführte, wobei er rechts tief in die Senkrechte ging.

Ein falscher Schritt und sie würde in die Tiefe stürzen.

Sienna musste schlucken. Ihr Hintermann stupste sie leicht an, damit sie vorwärts ging. Dunstwaben stiegen hoch und benetzten ihre Haut. Man konnte hören, wie die Wassermassen donnernd hinunterkrachten. Sienna machte den Fehler, wieder nach unten zu schauen. Der Abhang war mindestens ein paar hundert Meter tief und endete in einem Fluss. Als sie in der Mitte des Pfades war, brach ihr der Schweiß aus, denn sie konnte förmlich spüren, wie sie hinabfiel. Als sie zu schwanken begann, packte sie eine Hand grob am Arm und richtete sie auf. „Pass auf, Mädchen.“ Einer der Reiter hatte sie festgehalten, bevor sie das Gleichgewicht hatte verlieren können. Sie schaute ihn stumm an und entschied, nicht wieder hinab zu sehen, sondern sich auf das beladene Pferd vor ihr zu konzentrieren. Vor lauter Schwindel bemerkte sie nicht, wie eine unsichtbare Kraft das Ende des Pfades beschützte.

Die Kerle sahen zum Fürchten aus und Sienna dankte allen Göttern, dass keiner ihr große Beachtung schenkte. Sie waren ihr unheimlich, aber außer ein paar groben Worten hatte keiner Anstalten gemacht, ihr zu nahe zu treten. Keiner sprach mit ihr, was sie ganz in Ordnung fand. Der Anführer schaute ein paar Mal zu ihr rüber und vergewisserte sich, dass sie nicht auf dumme Gedanken kam. Diese Narben! Waren die echt? Und wenn ja, wie hatte er sich die wohl zugezogen? Die langen Schwerter und Bögen an seinem Körper klapperten bei jeder Bewegung und Sienna wusste instinktiv, dass er nicht vor ihrem Gebrauch zurückschrecken würde. Als sie wieder auf die Pferde stiegen, dachte Sienna an zu Hause. In Chicago gab es zwar keine Jäger wie diese Männer hier, aber Irre gab es überall. Und die schienen ernst zu machen. Wo auch immer sie war, Sienna fragte sich unwillkürlich, wer ihr Anführer sein könnte. War er auch so wie die Männer hier? Raubeinig, fies und ohne jegliche Körperhygiene? Es schüttelte sie. Sicher würde gleich jemand aus der Ecke springen und „versteckte Kamera“ rufen. Dann würde alles gut werden. Sie bezweifelte es zwar, hoffte aber dennoch. „Bitte, lass das nur ein Scherz sein.“ Und wenn sich alles geklärt hatte, dann würde sie dem Verantwortlichen gehörig den Marsch blasen. Kurzfristig beruhigt von dieser Möglichkeit ließ ihre Anspannung etwas nach. Der Wald verschluckte sie wieder.

Jetzt mischte sich viel Braun zum Grün und Sienna hatte das Gefühl, das auch die Umgebung dunkler wurde. Lag es jetzt am Tageslicht oder sah der Wald düster und bedrohlich aus? Die Männer stiegen ab und Sienna tat es ihnen nach. „Ab hier müssen wir Euch die Augen verbinden.“ Sienna zuckte zusammen, denn sie hatte gar nicht bemerkt, dass ein großgewachsener Reiter neben ihr stand. Trotz seiner imposanten Größe war er ohne das geringste Geräusch an ihrer Seite aufgetaucht. Der Reiter, dessen Gesicht sie stark an das einer Kröte erinnerte, wickelte ihr ein altes, stinkendes Tuch um den Kopf, sodass sie nichts mehr sehen konnte. Jetzt verlor sie auch den letzten Rest von Orientierung und hätte kein besseres Ziel abgeben können. Ihr Körper wappnete sich innerlich für einen Angriff, aber als nichts kam, wagte sie es, sich etwas zu entspannen. Wenn auch nur ein bisschen. Eine Hand wurde ihr auf die Schulter gelegt und diente als Führung. Sie zuckte zusammen.

Wieder setzte sich die Gruppe in Bewegung und jedes Mal, wenn sie fast stolperte, fing sie die Hand auf und gab ihr Halt. Sienna kam es vor, als wären sie eine Ewigkeit gelaufen. Von ihren täglichen Joggingeinheiten war sie zwar das Laufen gewöhnt, aber das Gelände war recht hügelig und bald taten ihr die Knöchel vom dauernden Stolpern weh.

Die Gruppe wurde bald langsamer und sie konnte hören, wie ein schweres Tor geöffnet wurde. Sie passierten und Sienna spitzte ihre Ohren. Jetzt, wo ihr das Augenlicht fehlte, konnte sie sich nur auf ihr Gehör verlassen. Sie hörte einen Bach in der Nähe plätschern, Schritte, Stimmen und Hundegebell. Kinderlachen mischte sich darunter, die Kinder jagten an ihr vorbei. Sie schrien sich gegenseitig Wörter zu, die Sienna nicht verstand. Als sie immer näherkamen, hörte sie auch Frauenstimmen, die miteinander flüsterten. Pferde wieherten, Männer brüllten sich gegenseitig ein paar Worte zu, irgendwo ertönte das Klirren von Metall und anscheinend kochten ein paar Leute, denn sie roch gebratenes Fleisch.

„Na, was habt ihr uns dieses Mal mitgebracht?“ Eine tiefe, männliche Stimme war klar aus dem Stimmengewirr um sie herum herauszuhören und Sienna war sofort von ihr angezogen. Ein gemurmelter Austausch, der zu leise für ihr Gehör war. Sie vernahm Schritte auf sie zukommen und ohne Warnung wurde ihr die Binde vom Kopf genommen. Vom plötzlichen Lichteinfall geblendet, musste Sienna ein paar Mal blinzeln, bevor sie scharf sehen konnte.

Vor ihr stand ein Riese.

Zweifelsohne gehörte die Stimme dem Mann, der gerade eben gesprochen hatte. Er war groß, fast zwei Meter, hatte braunes, schulterlanges Haar und stechend blaue Augen. Auch er war in Leder gekleidet und sein undurchdringlicher Blick war geradewegs auf sie gerichtet. Sie stand vor einer riesigen Robin-Hood-Kopie. Breite Schultern, schmale Taille und lange Beine. Sienna schätzte ihn auf Ende zwanzig, plus/minus ein paar Jahre. Es war schwer, ihn besser einzuordnen, da sein Kinn von Stoppeln übersät war, sein Blick undurchdringlich. Auch seine Kleidung wies diese Muster auf. Verschlungene Fäden, die sich wie Schlangen um seinen Kragen wanden, fesselten ihren Blick.

Der Mann musterte sie interessiert von oben bis unten und eine Falte erschien zwischen seinen Augenbrauen. Anscheinend war er ebenso verwirrt über ihr Auftreten wie seine Reiter vor ihm. Sienna war von seiner massigen Gestalt so gebannt, dass sie unfähig war, auch nur ein Wort herauszubringen.

„Seid gegrüßt, Lord Ronan! Wir haben sie im Dark Forrest gefunden, nicht weit von der Cliff-Fall-Brücke. Scheint verwirrt zu sein, das junge Ding.“ Narbengesicht, wie Sienna ihn nannte, hatte sich zu ihnen gesellt und wartete nun auf weitere Anweisungen. „Wir dachten, es wäre am besten, sie hier zu Euch zu bringen.“

Sienna verzog den Mund. Der Typ konnte nicht sehr clever sein. Erst bezeichnete er sie als Spionin und damit als potenzielle Gefahr, und jetzt brachten sie sie anscheinend geradewegs ins Herzstück von wo auch immer sie waren. Entweder war er sehr dumm oder sehr sicher. Oder das Ganze war ein Scherz und gleich würde alles auffliegen.

Statt sie aufzuklären, machte Robin Hood nun ein nachdenkliches Gesicht. Er beobachtete, wie sie scheinbar ohne Furcht seinen besten Jäger anstarrte. „Wie heißt Ihr?“ Er hatte sie direkt angesprochen und wartete auf eine Antwort. Seine Frage war mehr ein Befehl. Er war es gewohnt, sie zu erteilen. Aber Sienna blieb stumm. Sie konnte nicht sprechen. Sie hatte einen Kloß im Hals. Das war also Lord Ronan und wie es aussah, war er der Anführer. Sie musterte ihn ebenso wie er sie. Nun ja, er war ... sehr imposant und in keiner Weise, wie sie ihn sich vorgestellt hatte.

Der Mann neben Ronan stieß einen ungeduldigen Laut aus. „Sienna“, antwortete der Reiter für sie. Der Lord schaute sie an. Anscheinend überlegte er, was er mit ihr anstellen sollte. Sienna sah ihm unverwandt in die Augen. So sehr er ihr auch Angst machte, sie wollte es ihm nicht zeigen.

„So, so. Sienna also.“ Ihr Name klang aus seinem Mund melodisch. „Was treibt ein junges Mädchen so allein im Wald? Wisst Ihr nicht, dass es hier von Räubern und Banditen nur so wimmelt?“ Er wollte, dass sie endlich zu ihm sprach.

Sie räusperte sich und sagte mit aller ihr verbliebenen Würde: “Ich habe mich verlaufen.“ Dieses vermeintliche Eingeständnis war ihr etwas peinlich, aber ihm zu erklären, dass sie am Vorabend noch in einer Disco in einer Großstadt wild getanzt hatte, erschien ihr im Moment nicht angebracht. Bis sie herausgefunden hatte, was hier los war, hielt sie lieber den Mund.

Dumpfes Gelächter ertönte hinter ihr. Die Männer fanden sie wohl lustig. Lord Ronan ließ sie keine Sekunde aus den Augen.

„Verlaufen?“ Etwas verdutzt sah er sie an. „Nun, wir sind drei Tagesmärsche vom nächsten Dorf entfernt, Ihr müsst also eine weite Reise hinter Euch haben. Falls Ihr es nicht wisst, Ihr seid jetzt in meinen Herrschaftsländern.“

Eisblaue Augen warteten auf ihre Reaktion, aber Sienna war zu keiner Regung fähig.

Ein Schnaufen ertönte hinter ihr. Einer der Reiter wurde ungeduldig. Er wollte endlich die Ladung abladen und zu seiner Familie gehen. Das ließ selbst Lord Ronan aufblicken. Mit einem geübten Blick erfasste er die erlegten Tiere und nickte knapp. „Na gut. Grimbl, bring sie zu Madge. Sie wird wissen, was zu tun ist. Wenn du fertig bist, komm rüber zum Haupthaus. Wir müssen noch die Planung für nächste Woche erledigen.“ Er schaute wieder zu Sienna. „Folgt Grimbl. Ich werde mich später um Euch kümmern.“ Nach diesen knappen Worten wandte er sich ab und ging zu den Beutetieren.

Narbengesicht, der wohl Grimbl hieß, nickte. Der große, froschgesichtige Toad, der Sienna vorhin die Augenbinde umgelegt hatte, brüllte jetzt Befehle und mit einem letzten Blick zu ihr ging auch er fort.

Grimbl bedeutete Sienna, mit ihm zu kommen. Sie hatte keinen Plan, wie es weitergehen sollte, also setzte sie sich in Bewegung und folgte ihm; aber nicht, ohne noch einmal nach hinten zu schauen.

Ronan schaute den beiden nach und wunderte sich, woher dieses wunderschöne Geschöpf kam. Als er Grimbl mit seinen Männern gehört hatte, war er in der Schmiede gewesen. Seine Nackenhärchen hatten sich aufgerichtet, als er die Pferde durchs Tor laufen gehört hatte. Ohne zu wissen warum, hatten sich seine Füße in Bewegung gesetzt. Verwirrt, woher der Drang kam, so schnell wie möglich zum Tor zu gelangen, hatte er sich die Gruppe angeschaut. Ein wachsamer Blick hatte sofort die zierliche Gestalt mit den braunen Haaren entdeckt.

Während er die Tiere jetzt ablud, dachte er über sie nach. Sie war alleine unterwegs gewesen und verwirrt. Zum Glück, und das schien ihm das Wichtigste zu sein, schien von ihr keine Bedrohung für seine Gemeinde auszugehen, sonst hätte sie die Cliff-Fall-Brücke nicht passieren können. Wo auch immer sie herkam, es musste von weit her sein. Er hatte noch niemals eine solche Kleidung bei einer Frau gesehen. Er musste zugeben, dass er bei keinem Menschen jemals eine solche Kleidung gesehen hatte. Sie hatte seinem Blick standgehalten, was ihn beeindruckte. Selbst seine treuesten Männer hatten Mühe, ihm in die Augen zu schauen. Vor allem, wenn er wütend war. Seine Augenfarbe stand krass im Kontrast zu seiner gebräunten Haut. Nun denn. Er riss sich aus den Gedanken, bellte Befehle und verdrängte sie in sein Unterbewusstsein. Er konnte später mehr über sie herausfinden. Er musste sich jetzt um anderes kümmern. Die Vorräte mussten überprüft werden, die Fallen neu gestellt werden, die Beute musste gerecht aufgeteilt werden, ein paar Wachen mussten für die Nacht aufgestellt werden und eine Ratsversammlung stand noch bevor. Bei dem Gedanken nahm sein Gesicht einen grimmigen Ausdruck an. Solche Treffen waren stets geheim und konnten bis tief in die Nacht dauern, und nicht immer waren am Ende alle mit seinen Entscheidungen zufrieden. Das konnte zu Reibereien führen. Dann musste er seine Leute wieder daran erinnern, wer das Sagen hatte. Das tat er nicht gerne, aber manchmal hatte er keine andere Wahl. Sie waren mit ihm durch Tod und Schmerz gegangen vor so vielen Jahren und er vertraute ihnen blind. Als sein Vater damals gestorben war, Lord Nathaniel Kendrick, Landsherr und Beschützer dieser Gemeinde, hatte er sich geschworen, in seine Fußstapfen zu treten, sein Erbe fortzuführen und sie alle zu beschützen .

Ronan schob die düsteren Gedanken beiseite und kehrte in die Gegenwart zurück. Er übergab die Pferde den Stallburschen und ging Richtung Vorratskammer.

Sienna folgte diesem Grimbl durch die Siedlung. Wer bitte hieß Grimbl? Sie spürte Lord Ronans sengenden Blick im Rücken, drehte sich aber nicht noch einmal um. Sie war viel zu sehr von dem Anblick fasziniert, der sich vor ihr erstreckte. Sie waren auf einer Lichtung, umringt von Bäumen. Ihr Blick fiel auf Häuser, die meisten davon waren aus Holz. Aber es gab auch solche, die aus Stein waren. Sie alle hatten Strohdächer, die sich wie spitze Türmchen aufrichteten. Die Siedlung war mitten im Wald angelegt und viele Details, die sie bei ihrer Ankunft nicht gesehen hatte, vielen ihr erst jetzt auf. Die Häuser wiesen kunstvolle Schnitzereien auf, einige hatten primitive Windspiele, die sanft im Wind klingelten. Als sie nach oben blickte, konnte sie einige Säcke von den höheren Ästen herabhängen sehen. Wahrscheinlich wurde dort das Fleisch gelagert, zum Schutz vor Tieren, dachte Sienna. Sie sah sich in ihrem Verdacht bestätigt, als sie zwei Männer vor einem massigen Baum entdeckte, die mit vereinter Kraft zwei weitere Säcke hochzogen. Sienna nahm alle neuen Eindrücke in sich auf. Sie staunte nicht schlecht, als sie bemerkte, dass einige Hütten so mit dem Erdreich verschmolzen waren, dass man zweimal hingucken musste, um sie zu entdecken. Neugierige Kinder kamen näher oder beäugten sie unverhohlen. Sie alle trugen entweder Tuniken oder, die Jungen, Hosen und ein Leinenhemd. Die jüngeren hielten sich an den Röcken ihrer Mütter fest, die nicht minder neugierig gafften. Als Sienna an ihnen vorbeikam, schreckten einige zurück oder liefen zurück in die Häuser. Einige der Frauen nickten Grimbl zu, andere musterten sie ohne Scheu. Sienna unterdrückte den Drang, sie ebenso anzustarren.

Als sie an ihnen vorbeigegangen waren, kamen sie an einer Eisenschmiede vorbei. Sie konnte die Hitze des Feuers auf ihrer Haut spüren und das rhythmische Klirren von Metall auf Metall. Ein glatzköpfiger Mann mit Bierbauch und rußverschmierter Schürze hörte kurz auf, ein Hufeisen zu bearbeiten, und warf ihnen einen grimmigen Blick zu. Als plötzlich ein ohrenbetäubendes Scheppern zu hören war, drehte er sich ruckartig um und stampfte zur Quelle des Geräusches. „Jake! Bei allen Göttern, pass besser auf! Das ist heikles Material!“ Sienna verrenkte sich den Hals und konnte gerade noch einen blonden