Die Legende von Arc's Hill - Michael Dissieux - E-Book

Die Legende von Arc's Hill E-Book

Michael Dissieux

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Beschreibung

Alle fünf Teile der Reihe Die Legende von Arcs Hill sind nun endlich in einem Band vereint! Michael Dissieux wagt sich in lovecraftsche Gefilde und lässt die Hölle über die Erde losbrechen. Alle fünf Werke wurden für diese Gesamtausgabe nochmal von Michael Dissieux überarbeitet und redigiert! Nicht verpassen! Man sagt, Arc´s Hill sei verflucht. Tief verborgen in der ungeweihten Erde des kleinen Ortes harrt die Saat der Großen Alten seit Anbeginn allen Lebens ihrer Auferstehung. In den Nächten flüstern sie in den Träumen derjenigen, die empfänglich für die süßen Versprechen des Urbösen sind. Sie regen sich in ihren uralten Gräbern und warten auf den Tag, wenn ihnen das Tor zu den Lebenden geöffnet wird. Dann werden sie auferstehen und wie der Atem des Todes über die Erde streifen. Sie werden sich nehmen, was ihnen seit Anbeginn aller Zeiten zusteht und die Menschheit wird ihrem Ende entgegentreten.

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Seitenzahl: 721

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Ähnliche


Table of Contents

Horrorband eBook 5

KOVD Online

Titelseite

Impressum

Buch 1: Die schwarze Stadt

Buch 2: Das Grab des Teufels

Buch 3: Auferstehung

Buch 4: Brennender Phoenix

Buch 5: Das letzte Kapitel

Der Autor

Literatur Guerillas

Horror eBook

Band 5

Online zu erreichen unter:

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Impressum

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by KOVD Verlag, Herne

Artwork & Buchschmuck: Björn Craig

 

Nachdruck und weitere Verwendung

nur mit schriftlicher Genehmigung.

 

ISBN: 978-3-96987-925-2

Manche sagen, Arc´s Hill sei verflucht, eine Stadt, die den Pestatem des Bösen verbreitet.

Andere bezeichnen den Landstrich jenseits der Wälder von Durham als vom Teufel berührt.

Glaubte man den uralten Legenden, so erzählten sich die Männer, wenn sie am Abend in den Tavernen zusammen saßen, mit gewichtiger und gleichzeitig von Furcht gezeichneter Miene von den dunkelsten Nächten des Jahres. Jene Stunden, in denen man den Teufel mit seiner dämonischen Brut auf den weiten Ebenen des verfluchten Landes tanzen sehen konnte.

Und nur hinter vorgehaltener und zitternder Hand sprachen sie von den grauen Bergen, die das verfluchte Städtchen wie der feiste Schoß einer gewaltigen Bestie hüteten, und auch davon, wie das verzweifelte Wehklagen gepeinigter Kinder durch die kalte Nachtluft bis hinunter in die Gassen des Städtchens drang. Gerade so, als versuchten die kleinen, gemarterten Seelen vor jenen schrecklichen, unaussprechlichen Kreaturen zu entfliehen, welche seit Urgedenken auf den steinernen Felsen der Berge ihre Zuflucht besaßen.

Saßen die Männer am Abend im Kreise ihrer Familie in den Stuben beisammen und waren die Vorhänge zugezogen und Fenster und Türen fest verschlossen, dann erzählten die Ältesten von ihnen von den geflügelten Wesen, die man des Nachts schattengleich und schweigend durch das weite Land jenseits von Arc´s Hill streifen und den Himmel in totale Finsternis tauchen sehen konnte.

Oder aber sie sprachen mit von Furcht geweiteten Augen von den unheimlichen Stimmen, die durch die Dunkelheit drangen und direkt aus der harten und kalten Erde herzurühren schienen. Einige wenige glaubten zu wissen, dass diese fremdartigen Sprachen von Wesen aus den schwarzen Räumen zwischen den Sternen stammten. Grauenvolle Kreaturen, die aus dem Dunkel hinabgestiegen waren, um ihre unheilige Saat in den Schoß der neu erschaffenen und noch glühenden Welt zu legen.

Es gab andere, die diese archaischen Wesen als ›Die Großen Alten‹ betitelten, abscheuliche Dämonen, welche aus einem Universum weit jenseits des unseren stammten.

Doch wurde ihnen kein Glauben geschenkt und ihre Worte als Narretei und von Alkohol geschwängerte Geisterfurcht abgetan.

Dabei kamen diese Wenigen der abscheulichen Wahrheit viel näher, als jeder andere, der an den Tischen der nach Rauch und Schweiß stinkenden Tavernen oder aber im Kreise der Familie im Laufe der Jahrhunderte seine selbstersonnenen Geschichten zum Besten gegeben hatte. Auch wenn sich diese Wenigen der Bedeutung ihrer Worte kaum im Klaren waren.

Es waren eben nur Geschichten, die man sich über das verfluchte Städtchen Arc´s Hill erzählte. Worte von Narren, die im Schatten von Aberglauben und mit der Furcht ihrer Vorfahren herangewachsen waren …

 

 

1986 …

 

Wenn man alles verloren hat, was man im Leben als wichtig erachtete, ist es kein leichtes Unterfangen, wieder aus den düsteren Tiefen der Verzweiflung heraus zu gelangen. Noch aussichtsloser erscheint der mutlose Versuch, seinen Geist von der wunderlichen und verlockenden Sehnsucht nach dem Tode zu befreien oder gar zu beschützen.

In London, jener lauten und grellen Stadt, in der Wahnsinn und Hochgefühl an jeder Ecke Hand in Hand gingen, hatte Mike Osmond diesbezüglich keine Möglichkeit gesehen, den schreienden Schatten der Vergangenheit zu entfliehen und sich aus dem Sumpf von Niedergang und verzehrendem Selbstmitleid zu befreien.

Jede Straße und jeder Stein erinnerten ihn an seine Familie und zogen mit der unbarmherzigen Härte eines dunklen Dämons seinen Verstand in diese finstere Grube aus Schmerzen und Todessehnsucht hinab. Selbst das Sonnenlicht und das Flüstern des Abendwindes waren für Mike wie das Leuchten in Olivias Augen und der süße, neugierige Klang von Susans kindlicher Stimme.

Er wollte sich vor den Schrecken dieser neuen, leeren Welt – einer Welt ohne Olivia und Susan – in einer Dunkelheit verstecken, die er sich selbst erschuf, und in ihrem Schoß ganz und gar aufgehen.

Zu viel Alkohol floss seine Kehle hinab und versuchte, seine schreienden Sinne zu betäuben. Er saß in dunklen Zimmern und lag in kalten Betten, berauscht vom Gelächter von Whiskey und Bier in seinem Verstand, und lauschte einer fremdartigen, erdrückenden Stille, die ihn verspottete und zerriss.

Er war nicht mehr er selbst. Er war ein Fremder, der ihn verhöhnte und sich an seinem eigenen Leid labte.

Immer wieder tauchten ihre Gesichter vor seinen schmerzenden, schwarz geränderten Augen auf, wie Geister aus längst zerfallenden Zeiten.

Das wunderbare, weiche Antlitz von Olivia, das ihn seit der Schulzeit fast sein gesamtes Leben begleitet hatte, und dessen Lachen ihn selbst an einem stürmischen Regentag verzaubern konnte.

Wie hatte er es geliebt, dieses wie in kostbaren Marmor gearbeitete Gesicht zu berühren, zu liebkosen und zu streicheln, in ihren hellen und klaren Augen wie in einem beruhigenden Bergsee zu versinken und den weißen Grund ihrer Seele zu erforschen. Jedes Mal entdeckte er etwas Neues und Liebreizendes an ihr. Er genoss den Duft ihrer Haut und das Aroma ihrer Haare, und ließ sich von ihr zu Welten jenseits jeder Vorstellungskraft entführen.

Dann erschien Susan im trüben Nebel seiner Erinnerungen.

Seine kleine Tochter.

Ihre gemeinsame Tochter …

Das gleiche ebenmäßige Antlitz, das gleiche Lächeln, die gleichen hohen Wangenknochen und die gleichen blonden Locken wie Olivia.

Wenn Mike in der Tiefe seines finsteren Abgrunds ihr Lachen hörte, fern und vergänglich, mit dem Echo des Verlorenen behaftet, hatte er das Gefühl, einen kurzen Blick in den Himmel werfen zu dürfen.

Diese Schmerzen …

Diese Finsternis tief in seiner Seele, in der zeit seines Lebens Lichtschein vorgeherrscht hatte.

Seine Familie war der Mittelpunkt einer Welt gewesen, die weitaus imposanter und gigantischer war als alle strahlenden Welten jenseits der Sterne, und die ihn mit starken Armen und verführerischen Düften in einer Welt am Leben erhielt, die ihr Glück voller Neid und Missfallen betrachtete.

Die schreckliche Frage, welch grauenvolle und widerwärtige Kreatur das Schicksal sein mochte, konnte sich Mike in den Orgien seiner von Alkohol geschwängerten Nächte nicht zu genüge beantworten. Er kam zu dem niederschmetternden Entschluss, dass der menschliche Verstand in seiner Beschränkung nicht dazu geschaffen war, das verkommene Wesen dieser Bestie zu erfassen, die unser aller Leben in ihren schuppigen Klauen hielt und unbarmherzig mal an diesem, mal an jenem Faden zog. Und all dies nur, um sich selbst an der grauenvollen Abartigkeit seines Handelns zu laben und ein weiteres glückliches und erfülltes Leben mit einem simplen Wimpernschlag auszulöschen.

Doch der Dämon war nicht dazu in der Lage gewesen, Mikes Leben vollständig auszublenden.

Er hatte ihm Olivia und Susan genommen. In einer Nacht, die kalt und neblig war, und in der beide über eine einsame Straße liefen, die sich in jener Nacht als perverser Spielplatz des Dämons entpuppte.

Eine Zeit lang hing Mike willenlos und gebrochen an den Fäden seines absonderlichen Gegenspielers und wartete voller Sehnsucht darauf, dass sich endlich die richtige Schnur um seinen Hals legen und ihn mit Olivia und Susan wieder vereinen würde.

Doch dieser Wunsch war zu banal für den grinsenden Dämon, als welchen Mike das Schicksal seines Lebens mittlerweile betrachtete. Er beschloss, in einem eigensinnigen Aufbäumen seiner Selbstachtung, sich nicht auf das niedere Spiel jenes unsichtbaren und pervertierten Wesens einzulassen.

Mit Gedanken erfüllt, die nicht seinem eigenen Verstand zu entstammen schienen, beschloss Mike, all den Erinnerungen an seine lebendige Zeit den Rücken zu kehren. Denn so viel Alkohol er auch zu trinken vermochte um seine Sinne zu betäuben, so musste er sich eingestehen, dass die Geister seiner Frau und Tochter noch immer durch die Hektik einer grellen Stadt wandelten, die er einmal als Heimat bezeichnet hatte.

Alles, was er in seinem sterbenden Dasein noch tun konnte, war, diesem dunklen Sumpf, in dessen Tiefen sein Leben allmählich versank, den Rücken zu kehren.

Und er hoffte inständig, dass er die lieblichen Geisterwesen seiner Liebsten in den modernen Häuserschluchten Londons zurücklassen konnte.

 

 

So erreichte Mike Osmond am Nachmittag eines verregneten Tages einen kleinen Ort am Rande der Welt; abgeschnitten von jeglicher Zivilisation und scheinbar vergessen von der Zeit.

Bislang war Mike der naiven Auffassung gewesen, dass in der Hektik moderner Zeiten und karriereorientierter Menschen ein Städtchen wie Arc´s Hill unmöglich existieren konnte. Doch als er die schmale Straße durch den Wald westlich von Durham befuhr und die Schatten der Bäume nach einigen Meilen ungewöhnlicher Stille den Blick auf jenen fremdartigen und nicht vorstellbaren Ort freigaben, wurde Mikes taumelnder Verstand eines Besseren belehrt. Er schien die Zeit, wie er sie bisher gekannt und definiert hatte, hinter sich zurückgelassen zu haben.

Arc´s Hill lag etwa fünf Meilen westlich von Durham, einer kleinen, beschaulichen Stadt mit hellen Straßen und gepflegten Häusern. Als Mike Arc´s Hill an diesem Herbsttag erblickte, erschien es ihm, als habe er mit Durham die letzte Bastion von Zivilisation und Gesittung verlassen und sei in ein vergessenes Zeitalter eingetaucht.

Eingebettet in den gigantischen, dunklen Schoß schroffer Gebirgsfelsen, die sich steil und unwirtlich in einen beinahe schwarzen Himmel erstreckten, kauerte der Ort wie ein kränklicher Fötus in den Schatten des dunklen Gesteins. Eine Straße aus schmutzigem Kopfsteinpflaster schlängelte sich, leblosem Gewürm gleich, den Hügel hinab, hinein in die Schatten elender Häuserschluchten. Niedrige, windschiefe und dem Zerfall dargebotene Bauten schmiegten sich in letzter verzweifelter Zuneigung aneinander und harrten der Zeit des Vergessens. Über den mit Moos bewachsenen Schindeln der Dächer stach der schwarze Finger eines Kirchturms in den düsteren Leib tiefhängender Wolken, als versuchte Arc´s Hill sich mit Gottes Hilfe gegen den unwiderruflichen Niedergang aufzulehnen.

Das Städtchen glich dem bizarren Gemälde eines entarteten Künstlers. Als wäre der Teufel selbst aus der Hölle gestiegen, um die Erde mit Trostlosigkeit zu strafen.

Was Mike vom Rand des Waldes aus erblickte, wirkte leblos und verlassen.

Nichts rührte sich.

Ein erdrückendes Schweigen hing tief in den Gassen von Arc´s Hill. Mike hatte das Gefühl, sein Blick würde über ein steinernes, verrottetes Grab schweifen, das sich mit letzter Kraft dagegen wehrte, in die harte, ungeweihte Erde gezogen zu werden.

Der Anblick der tristen Häuser und schwarzen Bänder enger und verborgener Gassen ließ ihn erschaudern. Alles wirkte verlassen und tot, bar jeglichen Lebens. Selbst die Luft schien still und verkommen über den von Regen glänzenden Dächern zu verharren.

Doch genau das war es, was Mike zu finden erhofft hatte. Denn in einem Ort, von allen Zeiten vergessen, an dem die Erinnerung aller jenseits des Waldes lebenden verblasst, würden die scharfen, nadelfeinen Zähne des Schmerzes sich vielleicht nicht mehr so tief in seiner geschundenen Seele verbeißen. Am Ende der Welt hoffte er vergessen zu können, was ihm die alte Welt, die er einst liebte und pflegte, auf so niederträchtige Weise genommen hatte.

Der Mensch geht merkwürdige Wege, um zu vergessen, dachte Mike, während er diesen als wagemutig zu bezeichnenden Schritt heraus aus der zivilisierten, modernen und lärmenden Welt, hinein in den schweigsamen, fast reglos zu nennenden Landstrich unternahm. Dabei keimte ein Gefühl in ihm, das eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Furcht vor dem Namenlosen darbot. Welche Empfindung in ihm überwog, darüber wagte er in diesen ersten Minuten nicht nachzudenken.

Vielleicht wollte sich Mike an jenem kalten Herbsttag, als er Arc´s Hill erreichte, nicht eingestehen, dass etwas Bedrohliches von diesem Ort ausging. Er versuchte zu vermeiden, dass seine Illusion von Vergessen und Neubeginn durch infantile Gedankengänge zerstört wurde.

Doch ahnte er damals schon in den Tiefen seines Bewusstseins, weit unterhalb der Oberfläche seines Denkens, dass dort etwas war. Es lauerte über den flachen Häusern mit ihren dunklen Dächern und steinernen Kaminen, die düster in das schwindende Grau des Tages ragten. ein giftiger Dunst, der den Ort wie eine unsichtbare Beklemmung am Atmen hinderte.

Dank seiner beruflichen Position im Büro einer angesehenen Versicherung, die Mike in seinem alten Leben innehatte, war es ihm möglich gewesen, zumindest einen geringen Standard seines lieb gewonnenen Lebensstils beizubehalten.

So hatte er mit dem letzten Geld eines Daseins, das er zu vergessen suchte, ein altes, leerstehendes Haus erstanden, das etwas abseits der Wege an den felsigen Ausläufern der nahen Berge erbaut worden war; vom übrigen Ort getrennt durch einen schmalen, steinigen Fußpfad, der unter einem Spalier riesiger Trauerweiden mit vernarbten, knorrigen schwarzen Stämmen hindurchführte.

Das Haus, ein imposantes Gebäude aus dunkelroten Klinkersteinen und mit Holz verkleideten Anbauten, gefiel Mike beim ersten Anblick. Trotz der verfallenen und lange verlassenen Atmosphäre, die sich hinter den schwarzen Fenstern wie eine lauernde Bestie zu verstecken schien, hatte er das Gefühl, in dem alten Gemäuer ein neues Zuhause gefunden zu haben. Einige Holzlatten der Erker waren zerbrochen oder von grauem Moder befallen, und viele der dunklen Schindeln des hohen Daches fehlten oder lagen zersplittert im mit Unkraut und abgestorbenen Buschwerk überwucherten Garten.

Doch Mike schätzte die abgeschiedene Lage von den restlichen altertümlichen Häusern Arc´s Hills. Das Gefühl, durch den in tiefen Schatten liegenden Feldweg von der übrigen Welt und dem mit ihr verbundenen Schmerz getrennt zu sein, erzeugte in ihm eine Euphorie, die jene andere Empfindung, die ihn unbewusst vor dem stillen und einsamen Haus schaudern ließ, in der Tiefe seines Unterbewusstseins in dessen finstere Grube zurückdrängte.

Der Makler, der es ihm verkauft hatte und der nur widerwillig aus Durham in diesen seltsamen Ort gekommen war, erzählte Mike, dass das Gebäude in den letzten zwei Jahrzehnten leergestanden hatte. In der schäbigen Taverne des Ortes, so erwähnte der Mann nicht ohne einem nervösen Flackern in den Augen, erzählte man sich die skurrilsten Geschichten, die sich in ihrer Düsternis um das Verschwinden des letzten Besitzers des Anwesens rankten.

Jener Makler aus Durham, der Mike als Mr. Delwright im Gedächtnis haften geblieben war, fügte mit unsicherem Lächeln hinzu, dass man an jedem Ort der Welt, der Arc´s Hill auch nur im Entferntesten ähnelte, derartige schauerliche Mythen anzutreffen vermochte, und man den Worten jener einfältigen Menschen nicht allzu viel an Beachtung schenken durfte.

Mr. Delwright war Mike sehr angespannt vorgekommen, als er über die alten Geschichten plauderte, die man in der Taverne am späten Abend und nach einigen Bieren zu hören bekam. Unablässig hatte der Makler seinen Ehering am Finger gedreht und sich in dem herrschaftlichen Anwesen umgesehen, als rechnete er jederzeit damit, einen Geist zu erblicken.

Doch Mike schätzte den Mann für seine Ehrlichkeit, denn wer hielt sich schon an Anstandsregeln, wenn es galt, ein altes, dem Zerfall preisgegebenes und von düsteren Mären umgebenes Haus an den Mann zu bringen?

Jene von Delwright erwähnten makabren Ammenmärchen taten Mikes Eifer keinen Abbruch. Wer einmal in die Hölle geblickt hat, lässt sich von ländlichem Aberglauben nicht in die Flucht schlagen.

Und so begann er bereits an seinem ersten Tag in dem modrigen Anwesen die staubigen Zimmer zu lüften und den erstickenden Gestank von Jahrzehnten zu vertreiben.

Viele der antiquierten Möbel waren noch brauchbar und genügten seinen Zwecken. Jenes Mobiliar, das sich bereits im Zerfall befand oder von Menschenhand zertrümmert worden war – vieles davon im Zorn, wie Mike zu erkennen glaubte – ersetzte er durch einige wenige schlichte Möbelstücke, die er aus London nach Arc´s Hill bringen ließ.

Sein letztes Zugeständnis an sein altes Leben.

Die trüben Tage verbrachte er damit, die knarrenden Holzböden zu wischen und von einer harten, nach Fäulnis stinkenden Schicht aus Dreck und Staub zu befreien. Ebenso säuberte er die veralteten, jedoch noch gebrauchsfertigen sanitären Anlagen des Anwesens, die dem modernen Standard lange schon nicht mehr entsprachen. Unter einem uralten, schützenden Mantel aus Zerfall und vor Jahren verendetem mikroskopisch kleinem Getier blieben sie lange und hartnäckig Mikes Blicken verborgen.

Der Gestank, der sich in den hohen, kalten Räumen eingenistet hatte und von uralten, unaussprechlichen Zeiten zeugte, war überwältigend und erinnerte Mike an den süßen, aufdringlichen Geruch alter Gräber an heißen Sommertagen.

Er fragte sich, welch grauenvolle Geschichten sich stumm im abgestandenen Atem des Hauses hielten und darauf lauerten, den ersten, unbedarften Zuhörer mit ihren albtraumhaften Visionen um den Verstand zu bringen.

Was mochte sich in diesem uralten, dem Verfall dargebotenen Haus zugetragen haben, dass sich, wie Mike Delwrights Schilderungen entnommen hatte, kein Käufer in den letzten beiden Jahrzehnten gefunden hatte?

Eine stumme, düstere Bedrohung schien wie ein stinkendes Tuch die Wände und Decken des Anwesens zu verhüllen.

Muteten die Tage schon befremdlich und seltsam an – obgleich die letzten hellen Sonnenstrahlen durch die kleinen geöffneten Fenster fielen und ein leichenfahles Muster auf zerschlissene Teppiche und graue Holzböden warfen – so empfingen ihn die Nächte umso schrecklicher.

Zu diesen unwirtlichen Zeiten hielt sich Mike zumeist in den Kellerräumen des Hauses auf. Eine unnatürliche, schockierende Kälte staute sich in den niedrigen Verschlägen und Kammern, die sich labyrinthartig wie eine finstere Grube unter dem Anwesen ausbreiteten. Mike erklärte sich die eisige Luft damit, dass sich die Kellerräume, die er durch eine steile, hölzerne Stiege mit knarzenden Holztritten erreichte, tief unter der Erde befanden und die kleinen Räume die Kälte nicht mehr freigaben. Zudem kündigte sich in den Nächten der nahende Winter aus den Bergen an.

Er war sich dessen bewusst, dass diese Gedanken nur einem Scheindenken entsprachen, um sich die neue Euphorie, die ihn in Arc´s Hill gepackt hatte und ihm ein neues Leben versprach, nicht nehmen zu lassen. Er wusste, der Grad zwischen Niedergang durch unsägliche, habgierige Trauer und dem schlichten Triumph, endlich den entscheidenden Schritt heraus aus der Depression getan zu haben, war ein schmaler.

So arbeitete er in den Nächten in den ausgekühlten, beengten Kellerräumen und Verschlägen, die durch simple Türen aus morschen Holzlatten miteinander verbunden waren. Er trug eine wollene Jacke und eine altmodische Mütze, die seine Ohren jedoch nur teilweise zu wärmen vermochte. In vielen der niedrigen Kammern konnte Mike nicht einmal aufrecht stehen. Die Decke bestand aus losem Gestein und vernarbtem Staub, übersät mit dickem, schwarzem Spinngewebe.

Keuchend und mit Schmerzen in Hüfte und Beinen mangels des aufrechten Ganges arbeitete er sich des Nachts von Raum zu Raum. Dabei stieß er auf Unmengen von alten, vermoderten Holzplanken, die unter seiner Berührung zu Staub zerfielen. Er fand altertümliches, mit Schimmel und Spinnweben überzogenes Mobiliar, das dem Griff seiner Hände nicht mehr standhielt.

Dazu zertrat er Hunderte von Käfern, Spinnen und anderem Gewürm, das ihm fremdartig anmutete und dessen schweigendes Dasein in absoluter Finsternis er nach Jahrzehnten aufgeschreckt hatte.

In einem der tiefliegenden Verschläge stieß Mike auf Berge alter, nach Fäulnis und Vergangenheit riechender Kleider, die nachlässig in verschimmelte Kisten gesteckt worden waren oder einfach auf dem harten Erdreich zu formlosen Haufen aufgetürmt lagen.

Sie schienen ein hohes Alter zu besitzen, denn die Schnitte der Hosen und Röcke, sowie die Tatsache, dass Mike unter den Haufen auch von Moder und Staub verhärtete Fräcke und Gehröcke mit dazugehörigen Zylindern vorfand, zeugten von einer Zeit, die längst schon vergessen und in der das Anwesen noch jung an Jahren gewesen war.

Mike versuchte sich die Menschen vorzustellen, die einst diese Kleider trugen. Doch die bloße Vorstellung, dass selbst die Nachkommen dieser Personen nicht mehr unter den Lebenden weilten, erinnerte ihn auf schreckliche Weise an Susan und Olivia. Er beschloss, bei nächster Gelegenheit die Kisten und Berge mit Kleidern im Garten hinter dem Anwesen den Flammen zu übergeben.

In einem weiteren Raum, dessen felsige Decke sich bedrohlich nach unten neigte und breite, von einer Wand zur nächsten reichende Risse aufwies, fand Mike verrostete, rußgeschwärzte Öfen und wurmstichige Schränke, die einmal einer Küche gedient haben mochten, und die das Alter jeglicher Farbe beraubt hatte.

Seit Jahrzehnten harrten diese Zeugen aus längst vergangenen Tagen unter einer dicken Schicht aus grauem Staub und von der Decke herabrieselnden Steinchen in ewiger Finsternis, denn der gesamte Keller besaß nicht ein Fenster. Das einzige Licht stammte von Öllaternen, die Mike in der Wohnung gefunden hatte, sowie zwei starken Taschenlampen. Eine widernatürliche, belastende Stille hing wie ein unsichtbarer Schleier in den niedrigen Räumen, die einem unheimlichen, lange verrotteten Grabgewölbe glichen. Das Zerbersten von morschem Holz und verhärteten Erdhaufen, das Knacken der flinken, aufgeschreckten Käfer unter Mikes Schuhen, sowie das angestrengte Keuchen seines Atems ob der unbequemen Haltung, in der er des Nachts diese Arbeiten verrichtete, waren die einzigen trostlosen Geräusche, welche das Haus erfüllten.

Inmitten dieser totenähnlichen Stille stieß Mike in der sechsten Nacht seiner Arbeit auf eine alte, eisenbeschlagene Truhe, die lediglich von einem simplen, verrosteten Schloss gesichert wurde. Doch löste sich das Metall schnell unter seinen Händen in einer Wolke aus Rost und Staub auf.

Was Mike im Innern dieser seltsamen Kiste vorfand, ließ ihn den Schrecken der Kälte und das unangetastete Schweigen in den Kellerräumen vergessen. Mit seinem Fund stieg er in dieser Nacht die steile Stiege in die gewärmte Wohnung empor, die ihm plötzlich von einer schweren Atmosphäre belastet erschien. Fast kam es ihm vor, als trüge er mit der Truhe und ihrem unheimlichen Inhalt auch die tiefe Stille und eine lange begrabene Vergangenheit hinauf in die Wohnstube.

In dieser Nacht, in der Mike die alte Truhe entdecke hatte, träumte er zum ersten Mal von der Stadt …

 

 

Ich wandelte durch düsteren, kargen Raum, ohne Richtung, ohne Ende, bewegte mich mechanisch in einem Körper, der nicht der meine sein konnte.

Albtraumgleiche Furcht leitete mich hämisch durch das unwirtliche Dunkel, durch eine gespenstische Leere, wie sie selbst den schrecklichsten, gegenstandslosesten Fantasien uneigen war. Der Körper, der mich trug, so ich in der Lage war, jenen fremden Leib in dieser schauerlichen Welt zu spüren, fühlte sich heiß und pochend an, als würde er von verzehrendem Fieber heimgesucht. Dann wiederum kalt und schweigend, wie der verrottete Leib eines Toten.

Mir kam der schreiende Gedanke, dass dies die untrüglichen Zeichen des Todes bedeuten konnte, der mich des Nachts im Schlaf ereilt hatte. Absolute, namenlose Einsamkeit über einem unendlichen Abgrund tiefster Schwärze. Hier konnte mein Geist auf nichts Lebendiges mehr stoßen. Hier, inmitten von Finsternis und richtungsloser Weite.

Hatte ich endlich Gnade vor dem Richter und Dämon gefunden, der über unser aller Leben urteilt, und befand mich auf dem stillen Weg zu Olivia und meiner kleinen Tochter? Hatte ich endlich genügend Leid in dieser schrecklichen, lauten und dekadenten Welt erfahren, um schließlich auf die lange ersehnte Reise geschickt zu werden?

Der Impuls, widerlich und verführerisch zugleich, erschreckte mich und ließ Raum und Zeit zu einem Nichts aus Sinnen, Gedanken und Ängsten verkommen. Fast schon war ich dazu bereit, mich der monströsen Dunkelheit des Todes hinzugeben und blind auf den Pfaden der Stille zu wandeln.

War es nicht das, was ich mir immer erhofft hatte? Jene Visionen, zu denen mich der Alkohol verleitet und die ich in jenen ruinösen Nächten als die einzige Wahrheit anerkannt hatte?

Schmerz und Leid waren fremd in diesem finsteren Schweben. Einzig der Gedanke an Erlösung und das totale Vergessen all jener Widerwärtigkeiten meines alten Lebens hielten meinen schweigsamen Verstand gefangen.

Wo ich mich befand, war unwichtig. Selbst was womöglich im Dunkeln lauerte, schreckte mich nicht. Nach einem Leben in Pein gab es nichts mehr, das man als entsetzlich erachten konnte.

Einzig der Weg zählte.

Jener stille, schwarze Pfad, auf dem ich wandelte, und der mich durch diese Ebene des Todes leitete.

Ich ließ mich treiben und labte mich am Vergessen.

Dann tauchte Lichtschein wie ein entferntes, schwaches Pulsieren inmitten der Einförmigkeit auf. Das Licht, von welchem die Worte der vom Tode Wiedergekehrten berichteten?

Das Licht der anderen Welt?

Das Funkeln wurde stärker. Ich bewegte mich schneller als erwartet darauf zu.

Die grabesähnliche, lauernde Nacht um mich herum wurde gebannt und in die Höhlen meiner ureigenen Ängste zurückgetrieben.

Und dann, mit Augen, die mir fremd erschienen, und einem Verstand, der mich schwindeln ließ, sah ich sie zum ersten Mal.

Die Stadt in der Dunkelheit.

Ich blickte auf ein glänzendes, reflektierendes Meer heller Dächer und blendender weißer Fassaden herab. Auf ein Flechtwerk imposanter, gerader und leuchtender Straßenzüge.

Alles schwamm in diesem unnatürlichen, verlockenden Schein goldenen Lichtes, der vom Mittelpunkt dieser Stadt auszugehen schien, einem monströsen Tempel, der auf der Spitze eines terrassengleichen Hügels thronte, umgeben von blühenden, farbenfrohen Blumenmeeren und unbekannten, uralten Bäumen, durchzogen von Straßen und Wegen, die sich bis hinunter zu den fürstlichen Bauten und glanzvollen Palästen wanden. Ich sah einen Fluss, der sich schimmernd wie Silber unter Brücken aus weißem Marmor schlängelte und von einem dampfenden Wasserfall über den Terrassen gespeist wurde.

War das der Ort meiner Bestimmung? Der Ort, wo sich die Toten sammeln, um ihrer Erklärung zu harren? Wurde hier über den Menschen gerichtet?

Doch wo waren sie, die Legionen der Geister und unglücklicher Seelen?

Die Stadt lag verlassen und still vor mir, ein Elysium bar jeglicher Präsenz. Ein schweigendes, in Licht ertränktes, einsames Grab inmitten schier endloser Wüsten purer Finsternis.

Nichts rührte sich … nichts regte sich …

Die Stadt hätte ein Traum sein können, die Fantasie verzweifelter Gedanken, die sich nach der endgültigen Erlösung sehnten.

Etwas zog an mir …

Ich wollte nicht fort. Mich verlangte nach dem Eintauchen in dieses unbeschreibliche, wundersame Meer fremder Existenz. Etwas drängte mich, die Straßen zu erkunden, die herrschaftlichen Häuser und den Weg zu ersteigen, hinauf zum majestätischen, gigantischen Tempel und die Kühle und Erhabenheit seiner hohen und verlassenen Hallen zu spüren.

Doch der Schein wurde schwächer. Die Nacht raste in atemberaubender Geschwindigkeit an mir vorbei. Willenlos wurde ich von ihr aufgesogen, eingehüllt und höhnisch lachend begrüßt.

Die kalten Klauen der Furcht und des Verlustes griffen nach mir und entrissen mir jegliche Erinnerung an jenen wundervollen Ausblick auf das Meer aus Licht und engelsgleichem Glanz.

 

Als Mike im Zwielicht eines heraufziehenden, düsteren Morgens erwachte, waren die Bilder jener geheimnisumwitterten Stadt verschwunden. Lediglich das euphorische Gefühl von Ewigkeit brachte ungreifbare Fetzen seines Traumes an den Rand seiner Wahrnehmungskraft zurück.

Doch die Stadt selbst … war verschwunden.

 

 

Am Mittag nach jener denkwürdigen Nacht streifte Mike ruhelos und von seltsamen Gedanken und Empfindungen geplagt durch die hohen Räume des Hauses. Er brachte kaum genügend Energie und Konzentration auf, um sich auf die nötigen Arbeiten in den oberen Zimmern des Anwesens zu kümmern, von denen einige seit ungezählten Jahren scheinbar von keinem menschlichen Wesen mehr betreten worden waren. Vielmehr wurde Mike von einem abstrusen Gefühl gefangengehalten, das seine Gedanken in eine völlig andere, ihm unbekannte Richtung zog.

Er sah verzerrte, nebulöse Bilder von grenzenloser Finsternis und hellem, gespenstischem Schein am Rande seiner Wahrnehmungskraft, ohne sie richtig greifen und verstehen zu können.

Die Empfindungen wirkten düster und abschreckend, aber auf groteske Weise auch verlockend, als versuchte ihn irgendetwas nicht Erkennbares zu verführen.

So setzte er sich am frühen Nachmittag dieses trüben und verregneten Tages in einen altertümlichen Sessel, den er in der ersten Nacht seiner Arbeiten in den Kellerverliesen gefunden und nach oben getragen hatte, und widmete sich dem alten, in schwarzes Leder gebundene Buch, sowie den Fotos, die er in der verstaubten Truhe im letzten Raum des Kellers gefunden hatte.

Vielleicht würde es ihm gelingen, sich mittels ihrer von den merkwürdigen Bildern in seinem Kopf abzulenken und seine überreizten Sinne zu beruhigen.

Er betrachtete die gelbstichigen, an den Rändern zerrissenen Aufnahmen mit der Faszination eines Altertumsforscher, der ein unschätzbares, antikes Gut in Händen hält.

Manche der Aufnahmen waren durch Kälte und Feuchtigkeit kaum noch zu erkennen. Andere wiederum erstaunlich gut erhalten, als seien sie mit besonderer Sorgfalt behandelt worden. Die Ränder waren vergilbt und die Farbe gebleicht, was darauf schließen ließ, dass sie schon mehrere Jahrzehnte alt sein mussten.

Auf den meisten der Fotografien waren zwei kleine Mädchen von etwa zehn Jahren zu erkennen. Sie blickten entweder scheu lächelnd in die Kamera oder aber sie lachten dem Fotografen ausgelassen entgegen, wobei ihre funkelnden, kindlichen Augen Mike schmerzlich an Susan erinnerten.

Auf wenigen der Fotos konnte er eine Frau und einen Mann sehen, wobei er die Frau von den blonden Haaren und dem offenen Lächeln her eindeutig als die Mutter der beiden Mädchen erkannte.

Der Mann, so dachte Mike, musste der Vater sein und derjenige, der die meisten Fotos gemacht hatte, denn ihn fand er lediglich auf zwei unscharfen und verwackelten Aufnahmen wieder.

Sie alle trugen altmodische, mit Rüschen besetzte Kleidung, ähnlich den Wäschebergen, die Mike in den Nächten zuvor in den Kellerräumen aufgefunden hatte.

Er suchte auf den fleckigen Rückseiten der Fotos nach Anhaltspunkten wie Namen oder Daten, doch er fand nur leere Flächen mit schmutzigen, vergessenen Fingerabdrücken.

Als er nach dem Buch griff und die Fotos auf einen kleinen, runden Tisch zu seiner rechten Seite ablegte, überkam ihn das bizarre Gefühl, dass seine unzusammenhängenden Visionen vom Tage mit dem Geschriebenen, das er vorzufinden erhoffte, in Verbindung stehen könnten.

Mit Fingern, von denen er sich nicht eingestehen wollte, dass sie unmerklich zitterten, öffnete Mike den ledernen Einband und strich mit dem Daumen über das trockene, pergamentartige Papier, das alle Zeitalter der Welt zu beinhalten schien. Der Geruch von Schimmel und Alter erfüllte den Raum.

Mike erkannte mit einer morbiden Faszination, dass es sich bei dem Buch um ein altes Tagebuch handelte.

Während der Regen vor den düsteren Fenstern einen leisen, einschläfernden Rhythmus gegen die Scheiben flüsterte, begann er die erste Seite des alten Buches zu lesen.

 

 

05. Februar 1966

Ich beginne dieses Buch zu schreiben, in der Hoffnung, all das Geschehene verstehen zu können. Ich hätte nie gedacht, dass ich soweit getrieben werde, war ich doch bislang ein rational denkender Mensch, der an die unumstößlichen Ergebnisse wissenschaftlicher Fakten geglaubt hatte. Doch all dies, was hier geschieht – was mit mir geschieht – kann mit keiner uns bekannten Wissenschaft erklärt werden.

Ich erhoffe mir durch den puren Akt des Niederschreibens meine Furcht im Zaum halten zu können. Wovor ich mich fürchte, weiß ich im Grunde nicht, denn am Tage sind die Erinnerungen an die Nächte kaum greifbar. Doch konnte ich so viel von den Träumen in meinem Unterbewusstsein festhalten, dass ich mir im Klaren darüber bin, dass es durchaus einen Grund gibt, sich zu fürchten. Einen wahrlich schrecklichen Grund.

Es hat vor einer Woche begonnen. Da träumte ich in einer regnerischen Nacht zum ersten Mal von dieser merkwürdigen Stadt.

Ich möchte hier nicht näher auf die Beschreibung derselben eingehen, da ich mir nicht mehr sicher bin, ob ihr Glanz und ihr überwältigender Schein nicht bloß Blendwerk sind, um von ihrer wahren Erscheinung abzulenken.

Hielt ich den Traum in der ersten Nacht noch für eine völlig normale, wenn auch sehr intensive Illusion, so wurde mir im Laufe der letzten Tage schnell klar, dass es sich hierbei unmöglich um einen schlichten Traum handeln konnte. Selbst ein Albtraum sucht sein Opfer in den meisten Fällen nur einmal heim.

Ich wandle jedoch in jeder Nacht durch die breiten und hellen Alleen dieser seltsamen Stadt und kann nicht verhindern, dass ich eine gewisse Bewunderung für die Architektur und das Wesen dieser Metropole empfinde. Indem ich dies hier niederschreibe, hoffe ich, den Bann zu brechen, den die Nächte mir auferlegt haben. Mit meiner Familie möchte ich nicht darüber sprechen. Sie würden mich für verrückt erklären. Und vielleicht hätten sie sogar Recht.

 

08. Februar 1966

Seit meinem letzten Eintrag war ich in jeder Nacht in dieser seltsamen und doch Ehrfurcht gebietenden Traumstadt. Und mit jedem meiner Besuche wurde das überwältigende Gefühl von Demut größer, angesichts des majestätischen Atems, den diese leblose Stadt erzeugt. Die imposanten Bauten und breiten, geraden, nahezu perfekten Straßen und Plätze ergeben ein erschreckend schönes Kunstwerk, das meine ungeteilte Verehrung, aber auch einen mir bis dahin unbekannten Neid zum Vorschein bringt. Sucht man derartige Formen makelloser Schönheit doch vergebens in unserer schlichten, hochmütigen Welt.

Meine anfängliche Furcht vor dieser namenlosen Stadt scheint mit jedem meiner nächtlichen Besuche und jedem einzelnen Schritt zu schwinden, den mein Fuß auf die weißen, gepflasterten Straßen setzen darf.

Dennoch will ich mir einen letzten Rest von Vernunft und Vorsicht bewahren, denn immer noch weiß ich nicht das Geringste über das Wesen dieser Stadt, ebenso wenig über ihre Schöpfer, sowie Sinn oder Ort ihrer Herkunft. Die Straßen empfangen mich zwar mit hellem, einladendem Glanz, doch sind sie mir immer noch so fremd wie in der ersten Nacht.

Ich scheine das einzige Wesen zu sein, welches das grabesähnliche Schweigen der Häuser und Gärten, Straßen und Plätze, und der Brunnen mit ihren aus Marmor geschliffenen Statuen brechen darf. In all den Stunden – oder waren es Tage, Wochen? – war mir kein einziges anderes Lebewesen begegnet. Selbst die Fenster der herrschaftlichen Häuser scheinen verlassen und blind, obgleich ich mich des erdrückenden Gefühls nicht erwehren kann, bei jedem meiner Schritte beobachtet zu werden. So verlassen und starr sich mir die namenlose Stadt auch präsentiert, so sehr spüre ich verborgenes, schlafendes Leben in ihr, das den Zeiten harrt, in denen es endlich wieder seine Augen öffnen und wandeln darf.

Der Gedanke erschreckt mich. Und doch erregt er meine schier zügellos zu nennende Neugierde, denn welche Wesen mochten sich in einer derart grandiosen Stadt aus reinstem Licht verbergen? Welches Geschöpf vermochte würdig zu sein, über diese Traumstraßen wandeln zu dürfen? Bin ich es überhaupt? Würdig? Oder bin ich ein Eindringling, in eine Welt, die mein Verstand nicht erfassen kann? Wer oder was hat mich hierher gelockt, um mir die seit Ewigkeiten verborgenen Geheimnisse der namenlosen Stadt zu offenbaren?

 

 

An dieser Stelle des mit zitternder Handschrift verfassten Textes beendete Mike das Lesen. Obwohl er das Haus bisher nur selten geheizt hatte, stand kalter Schweiß auf seiner Stirn. Eine merkwürdige Entkräftung hielt ihn mit eisigem Griff gefangen.

Er konnte nicht sagen, ob dies am trüben, trostlosen Tageslicht lag, das düster durch die schmalen Fenster fiel und den Raum nur spärlich zu erhellen vermochte, oder ihn der Traum der Nacht doch mehr erschöpft hatte, als er sich eingestehen wollte.

Vielleicht musste er diese fremdartige Mattigkeit, die ihm fast den klaren Verstand zu rauben drohte, auch jenen Zeilen in dem Tagebuch zuschreiben, so sehr er sich auch dagegen zu wehren versuchte. Trotz jedweden Leugnens erkannte er mit einem eiskalten Schaudern, dass jener unbekannte Verfasser dieser mittlerweile zwanzig Jahre alten Zeilen sich untrüglich auf denselben Traum bezog, welcher Mike in der vergangenen Nacht heimgesucht hatte und an den er sich nur noch bruchstückhaft erinnern konnte.

Noch hegte er die scheinheilige Hoffnung, dass er lediglich der grausigen Täuschung eines intensiven Trugbildes erlegen war. Eine Manifestation, die ihn in ihren Bann geschlagen und offenkundig derart geschwächt hatte, dass sein Verstand tatsächlich versuchte, eine Verbindung zwischen dem alten Text in dem Buch und jenem merkwürdigen Traum zu weben. Doch der Inhalt des abgegriffenen Tagebuches schien dieses Hoffen bereits im Ansatz ersticken zu wollen.

Mike war in seinem bisherigen Leben – jenes, von dem er angenommen hatte, es in dieser Einöde mit Erfolg abgelegt zu haben – ein rational denkender Mensch gewesen.

Er glaubte an die Thesen der Wissenschaft und Ergebnisse, die man mit Zahlen belegen und erklären konnte. Spekulationen oder gar übersinnliche Phänomene waren für ihn stets reine Zeitverschwendung gewesen und gehörten in die Welten von Phantasten und Träumern. Doch irgendetwas in seinem Unterbewusstsein mahnte Mike, sich in dieser Angelegenheit nicht ausschließlich auf seinen Verstand zu verlassen. Eine kleine unangenehme Stimme, deren jämmerliches Aufbegehren er unmöglich ignorieren durfte.

Konnte es denn wirklich sein, dass dieser Mann – der bisher letzte Bewohner dieses abgelegenen Anwesens, sofern Mike den Worten Delwrights Glauben schenken durfte – tatsächlich denselben Traum gehabt hatte, wie er ihm selbst in der letzten Nacht beschert worden war?

Schenkte Mike, entgegen seiner Natur, jener qualvollen Stimme in den Tiefen seines Verstands Gehör, so hatten die Schritte des Mannes dieselben Straßen berührt, die er selbst in seinem Traum aus der Ferne als strahlende Bänder zwischen leuchtenden Häuserzeilen und herrschaftlichen Anwesen erblickt hatte. Die Arbeiten an dem großen Haus schienen Mike zu überanstrengen. Dazu die monotone Abgeschiedenheit des Anwesens von der Stadt. Er hatte in den letzten Tagen und Nächten viel getätigt, sowohl in den verstaubten und verwaisten Wohnräumen, als auch des Nachts in den Verliesen des Kellers. Hinzu fügte sich die psychische Belastung durch den Verlust seiner Familie, die scheinbar immer noch tiefer in ihm steckte und wütete, als er angenommen hatte. Zu dieser Bürde aus Einsamkeit und Schmerz gesellten sich nun noch jene befremdlichen Worte, die er in dem alten Tagebuch gefunden hatte.

Das alles, so befand Mike, war zuviel für seinen geschundenen Seelenfrieden. Was er brauchte war etwas, das seine düsteren, überreizten Gedanken in ihre finsteren Höhlen zurückdrängte und ihm ein anderes Antlitz seiner neuen Heimat preisgab.

So legte er das Buch und die Fotografien auf den kleinen Beistelltisch neben dem antiken Sessel und beschloss zum ersten Mal, seit er Arc´s Hill erreicht hatte, dem Ort einen Besuch abzustatten.

Als er aufbrach, regnete es noch immer. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch, um sich vor dem schneidenden Wind zu schützen, und spannte den Regenschirm auf.

Sofort begann ein dumpfes, rhythmisches Klopfen, das seine Schritte über den schmalen, vom Regen aufgeweichten Fußpfad unter den tropfenden Weiden hindurch bis hinunter in das verschlafene Städtchen lenkte.

Er wusste nicht, wohin er gehen sollte, hatte er es bislang doch versäumt, den Ort genauer zu erkunden. Jedoch hatte er nicht vor, bei dem tristen, kalten Herbstregen länger als zwingend notwendig durch die engen und dunklen Gassen zu spazieren.

Er begegnete nur sehr wenigen Menschen, die trotz des Regens unterwegs waren. Er grüßte alle, doch erhielt er weder eine Antwort noch einen Blick, der ihn als Fremden zeichnete.

Vielmehr traf er auf mürrische, verschlossene Gesichter, die ihre Augen unter breitkrempigen, altmodischen Hüten oder tief gehaltenen Schirmen verbargen und eilends ihrer Wege gingen.

Ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren hingegen, das in einen vom Regen glänzenden Mantel gehüllt war, blieb vor ihm stehen und sah ihn mit ausdruckslosen Augen an.

Mike musterte das Kind, dessen Gesicht bleich und wächsern wirkte, und konnte sich eines eisigen Schauers nicht erwehren, der ihn augenblicklich gefangen hielt.

Das Mädchen neigte den Kopf zu Seite, als betrachtete es etwas, das es nicht verstand. Der Ausdruck ihrer dunklen Augen zeugte von Gleichgültigkeit.

Mike suchte nach den richtigen Worten, um das Kind zu begrüßen, ohne es zu erschrecken. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, ging das Mädchen an ihm vorbei und verschwand mit langsamen Schritten im grauen Dunst des Regens.

Mike sah ihm nach, wie es sich schattengleich von ihm entfernte, fast so, als sei es lediglich ein Gespenst seiner überreizten Phantasie gewesen.

Mit Gedanken, die ihm nun noch verworrener anmuteten, schritt Mike weiter seines Weges durch enge Durchfahrten und finstere Gassen, in deren Pfützen sich der Regen silbern spiegelte. Die verfallenen Häuser zu beiden Seiten der steinernen Pfade erschienen ihm wie sterbende Riesen, die sich in ihrer Resignation gegeneinander lehnten und dem Ende harrten.

Der Gestank von abgestandenem Wasser und Fäulnis hing schwer zwischen alten Backsteinmauern und den hohen Giebeln der verrotteten Häuser.

Außer dem ständigen Prasseln des Regens lag eine fast greifbare Stille über dem Ort.

Er erreichte einen kleinen Platz, in dessen Mitte ein Zierbrunnen aus kupfernen Pfannen und bleiernen Rohren stand.

Um den Brunnen herum waren verschlungene Wege angelegt worden, die von braunem Laub bedeckt und durch niedrig geschnittene Hecken von der Straße getrennt waren. Mike konnte die schwarzen Schatten einiger Bänke erkennen, auf denen sich ebenfalls abgestorbene Blätter und dunkle Zweige häuften.

Gegenüber des Brunnens erblickte er die matte Beleuchtung einer kleinen Taverne. Da der Regen seinen Mantel mittlerweile gut durchnässt hatte und ihm zunehmend kalt wurde, beschloss Mike, auf ein Glas in die Spelunke einzukehren.

Vielleicht schaffte er es dort, in der Gesellschaft anderer Männer, seine trüben und zunehmend furchtsamen Gedanken zu vertreiben. Und wenn nicht dies, so doch zumindest soweit zu bannen, dass ihn diese unerklärliche Müdigkeit wieder aus ihrem eisigen Griff entließ.

Doch als er an die Männer in der Taverne dachte, erschien das Mädchen wieder in seinen Gedanken. Der leere, unheimliche Ausdruck ihrer Augen ließ ihn erneut frösteln.

Mit dem Gefühl, endlich wieder seit Tagen in Gesellschaft anderer Menschen zu gelangen, betrat er das kleine Gasthaus, das sich ihm auf einem alten, an eisernen Ketten im Wind schwankenden Schild über dem Eingang als ›Knights Head‹ offenbarte.

Hegte er noch beim Anblick des windschiefen, alten Backsteinbaus Hoffnung auf menschliche Gesellschaft und vielleicht ein Gespräch, das seine wirren Gedanken zu verdrängen vermochte, so schlug diese Hoffnung beim Betreten des Gasthauses in pure Enttäuschung um. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und das helle Klingeln einer feinen Glocke über dem Türrahmen verstummt war, blickte er sich niedergeschlagen im dämmerigen Licht der Taverne um.

Die Tische, die er nur als schwarze Schatten im diffusen Schein des schwindenden Tages erkannte, waren verwaist. Eine alte Musicbox am anderen Ende des Raumes war stumm und ausgeschaltet. Der Geruch von Zigaretten, abgestandenem Bier und gebratenem Speck hing in der Luft.

Gerade als sich Mike nach seinem flüchtigen Blick durch den Schankraum wieder zum Gehen wenden wollte, hielt ihn die tiefe, müde Stimme eines Mannes zurück, der hinter der Theke aus dunklem Holz stand und lustlos in einer zerknitterten Zeitung las. Mike hatte den Mann bislang nicht bemerkt.

»Kommen Sie ruhig herein, Mister. Auch wenn es Ihnen nicht so erscheint, aber wir haben geöffnet.«

Mike zögerte, erinnerte ihn die Erscheinung des Mannes hinter der Theke doch augenblicklich an jenes seltsame Mädchen aus der Gasse, obwohl er sich den Grund für diesen Vergleich nicht erklären konnte.

Doch dann trat er näher, wohl auch, um nicht wieder in den Regen hinaus zu müssen. Er ließ sich schwer atmend auf einen abgenutzten Hocker an der Theke nieder und bestellte auf den fragenden Blick des Schankwartes hin ein Bier. Sein Mantel hinterließ einen Ring aus Wassertropfen rund um den Barhocker.

Das ›Knights Head‹ war ein düsterer, niedriger Raum mit dunkel gebeizten Dachbalken und unbehandelten Stützpfeilern, die ebenso finster erschienen wie der übrige Raum. Hinter den kleinen Fensterscheiben konnte Mike das verschwommene Muster des Regens erkennen, doch er bezweifelte, dass der Schankraum des Gasthauses selbst bei hellem Sonnenschein viel freundlicher gewirkt hätte. Dennoch waren ihm dieser Ort und die Gesellschaft des grobschlächtigen, schweigsamen Wirtes im Augenblick lieber, als die trübe Stille seines Hauses jenseits der Trauerweiden.

Der Mann hinter der Theke machte einen müden, abwesenden Eindruck. Er war ein kräftiger Bursche mit ernstem Blick und dichtem, schwarzen Haar, das sein herbes Antlitz, einer dunklen Wolke gleich, einrahmte und unter einem albernen, grauen Hut gebändigt wurde, wie man sie in den Städten trug. Eine ebenso verschrobene Feder steckte in einem dünnen Gummiband. Das Gesicht des Mannes wirkte älter als es wohl in Wirklichkeit war.

Als er Mikes indiskreten Blick bemerkte, legte er die Zeitung beiseite, wischte seine Hände an einer fleckigen Schürze ab, die er um die Taille gebunden trug, und baute sich vor seinem Gast auf. Seine beleibten Armen stützten sich dabei wie Holzpfosten auf der wurmstichigen Theke ab.

»Es kommt selten vor, dass sich Fremde nach Arc´s Hill verirren«, begann er ohne zu zaudern, wobei seine dunklen Augen Mike mit einer Mischung aus Neugierde und Argwohn betrachteten.

»Ich bin kein Fremder«, entgegnete Mike mit müder Stimme und erschrak über die tiefe Verwirrung, die seinen Worten inne lag.

Er griff nach seinem Glas und nahm einen langen kühlen Schluck, der seinen Körper augenblicklich zu erfrischen schien.

»Ich habe das alte Herrenhaus auf dem Hügel gekauft.«

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Mike, einen tiefen Schrecken in den Augen seines Gegenübers zu erkennen. Tatsächlich schien das Gesicht des Mannes eine Spur blasser geworden zu sein, was aber infolge des trüben, schwindenden Tageslichtes auch eine Täuschung seiner Sinne gewesen sein konnte.

»Sie meinen das alte Grady-Anwesen?«

Der Mann griff nach einem Tuch und rieb gedankenverloren über die Theke. Dabei schien sein Blick ins Leere zu gehen. Der Hut warf einen finsteren Schatten über seine Augen.

»Ich kenne es.«

Er hielt in seiner Tätigkeit inne.

»Hat lange leer gestanden, das Haus.«

»Ich weiß. Ich kenne die Geschichte des Hauses und habe im Moment eine Menge Arbeit, es wieder so herzurichten, dass man guten Gewissens darin wohnen kann.«

Mike rollte das Glas zwischen seinen Händen und genoss die angenehme Kühle, die sich auf seinen Fingern ausbreitete. Dann stellte er das Bier auf der Theke ab und blickte dem Schankwirt geradewegs in die Augen.

»Grady … ist das der Name des letzten Besitzers?«

Seine Gedanken kehrten zu dem alten Tagebuch zurück, in welchem er am Mittag gelesen hatte. Waren es Gradys Worte, die in den vergilbten, pergamentartigen Seiten geschrieben standen?

Doch der hünenhafte Mann hinter der Theke enttäuschte ihn.

»Nein. Grady hieß der Mann, der das Haus vor fast einhundertfünfzig Jahren auf dem Hügel vor der Stadt erbauen ließ. Reginald Grady. Hier im Ort nennt man es nur das Grady-Anwesen.«

Der Mann sah Mike in die Augen, doch lag die Ahnung einer tiefen Furchtsamkeit im Blick des Schankwirtes. Als er weitersprach, schüttelte er den Kopf, als versuchte er sich selbst von erschreckenden Gedanken zu befreien. Die Feder an seinem Hut wippte leicht und drohte aus dem Gummiband zu fallen.

Plötzlich wirkte der Mann, der auf Mike den Eindruck eines gutmütigen und schwerfälligen Einsiedlers machte, nervös und aufgebracht.

»Ich will Sie nicht beunruhigen, Mister. Aber Sie haben das Haus eines Wahnsinnigen erstanden.« Er blickte sich hektisch in dem stillen Raum um. »Man erzählt, Grady habe sich mit den Mächten der Finsternis eingelassen und ihnen seine Seele verpfändet. Von seltsamen Dingen und Ritualen ist die Rede.«

Mike hatte gerade einen weiteren Schluck getrunken.

Jetzt aber stellte er sein Glas verwundert auf die Theke zurück.

Er konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

»Wollen Sie mir erzählen, dieser Grady sei ein Hexenmeister gewesen?«

Der Mann schüttelte den Kopf, wobei sein Blick den seines Gegenübers zu bannen versuchte.

»Schlimmer, Mister. Viel schlimmer. Man sagt, er habe seine gesamte Familie einem Dämon geopfert, den er in seinem Irrsinn anbetete. Seine Frau und fünf Kinder. Und zu guter Letzt verschwand Grady selbst. Spurlos, ohne dass ihn jemand dabei beobachtet hätte, wie er das Dorf verließ. Lediglich seine Familie fand man noch in dem alten Haus vor.«

Der Mann legte eine theatralische Pause ein.

»Abgeschlachtet in ihren Betten.«

Ein kalter Schauer schien Mikes Körper in Eis verwandeln zu wollen. Es gelang ihm nur schwerlich, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen.

»Aber das Ganze ist fast einhunderfünfzig Jahre her. Das sind sicher nur Ammenmärchen, wie man sie sich wohl in jedem abgeschiedenen Landstrich auf der ganzen Welt erzählt.«

Der Wirt schüttelte bedächtig den Kopf. Sein Blick war noch ernster und finsterer geworden.

»Man erzählt sich die seltsame Geschichte des alten Grady seit Generationen. Die Alten erzählen sie ihren Kindern, wenn sie denken, dass diese alt genug für die schreckliche Sage ihrer Heimat seien. Und diese erzählen sie wiederum ihren Kindern. Nein, Mister …« Er trat einen Schritt zurück und musterte Mike kritisch. Fast empfand es dieser, als begutachtete der Schankwirt einen Aussätzigen. »Das, was dort oben in dem Haus geschah, ist kein Ammenmärchen. Es gab viele Familien, die nach dem Verschwinden von Reginald Grady in das Anwesen zogen. Viele verschwanden nach kurzer Zeit ebenso spurlos, wie der alte Mann damals. Und diejenigen, welche das Glück besaßen, nicht der Teufelei zum Opfer zu fallen, die zweifelsohne in den Zimmern dort oben umhergeht …« Der Mann schlug mit der freien Hand ein Kreuz vor seiner Brust. »… waren dem Wahnsinn verfallen und haben das Haus und Arc´s Hill bei Nacht und Nebel verlassen.«

»Aber in den letzten zwanzig Jahren hat das Haus leer gestanden.«

Mikes Stimme hatte sich in ein heiseres Flüstern verwandelt, was ihm, in Anbetracht der ungeheuerlichen Geschichte, die er gerade gehört hatte, als durchaus angemessen erschien.

»Der Letzte, der dort oben wohnte, war ein Mann namens Charles Ward, der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern das Haus bezogen hatte.«

Der Wirt deutete mit einem Kopfnicken auf das Glas und füllte es dann nach, ohne eine Antwort seines Gastes abzuwarten.

»Und ist er ebenfalls … wahnsinnig geworden?«

Mike überkam das absurde Gefühl, sich in den Fängen eines skurrilen Traumes zu befinden. Die Frage hatte sarkastisch klingen sollen, doch die Stimme, die diese Worte sprach, schien nicht mehr seine eigene zu sein.

Der Schankwirt nickte. »Als man Charles Ward eines Nachts schreiend und mit fiebrigem Wahn in den Augen auf dem Marktplatz des Dorfes aufgegriffen hatte, war man zu der Überzeugung gelangt, dass es für alle das Beste sei, das unheimliche Haus zu meiden und dem Zerfall preiszugeben.«

»Aber was war mit der Familie von Ward? Seiner Frau und seinen beiden Töchtern?«

Der Mann schloss die Augen. Sein Antlitz, ungeschlacht und roh, verzerrte sich zu einer harten Maske, deren Lippen bebten, als er weitersprach.

»Ich war damals dabei, als einige Männer zum Haus hinaufgingen. Denn Ward hatte im Fieberwahn und mit einem hässlichen Lachen, das nie und nimmer aus einer menschlichen Kehle hatte stammen können, erzählt, dass er seine Familie in ihren Betten niedergemetzelt hätte. Wir waren zum Hügel hinaufgegangen, nachdem man Ward in Polizeigewahrsam genommen hatte. Und wir fanden tatsächlich die zerstückelten Körper von Wards Frau und seiner beiden Mädchen. Glauben Sie mir, es war ein schrecklicher Anblick. Besonders die Kinder.«

Der Mann stieß ein tiefes Stöhnen aus. Dann herrschte Schweigen zwischen den beiden. Kaum, dass die Worte des Wirtes verstummt waren, legte sich eine beängstigende und lähmende Stille über den Raum, als hätte sich etwas Finsteres von draußen ins Haus geschlichen. Mike wurde mehr denn je von dem Gefühl beherrscht, sich in einem düsteren Traum zu befinden, ähnlich jenem, der ihn in der Nacht heimgesucht hatte.

Wie konnte in einer Zeit wie dieser, die von Hektik und Karrieredenken geprägt war, eine derartige Geschichte tief in den Gedanken dieser Menschen verwurzelt sein?

Mike fiel es schwer, dem Gehörten Glauben zu schenken. Und doch spürte er, sehr zu seinem Entsetzen, eine plötzliche Furcht in sich aufsteigen, die sich kalt durch seinen Leib fraß und seine Gedanken lähmte.

Die Worte des Wirtes, von deren Wahrheit Mike dennoch nicht überzeugt war, tanzten wie grauenvolle Bilder vor seinen Augen und ließen ihn schaudern. Er fragte sich, wie tief altertümlicher Aberglaube in einem abgelegenen Städtchen wie Arc´s Hill in dessen Bewohnern schlummern mochte. Wie sehr durfte man solchen Worten Glauben schenken?

Ein Blick in die finsteren, nachdenklichen Augen seines Gegenübers, in Verbindung mit dem alten Tagebuch, das Mike im Keller gefunden hatte, versuchte ihn von der immer noch lebendigen Seele dieser seit Generationen überlieferten Sage zu überzeugen. Er spürte, wie sich ein uralter Glaube seinen Weg zur Oberfläche seines Verstandes zu bahnen versuchte.

Doch Mike war aus London in diesen von Gott verlassenen Landstrich gekommen. Einer Stadt, die einmal seine Heimat war und sein ganzes Glück bedeutet hatte. Eine Stadt der Hektik, der grellen Lichter und mit Wissenschaft zu belegender Realität. Daher fiel es ihm trotz der kalten Furcht, die er verspürte, schwer, den Worten des Schankwirtes die gleiche Akzeptanz entgegenzubringen, wie es der Mann mit dem finsteren Blick hinter der Theke augenscheinlich tat.

»Wenn man das Haus der Zeit hatte überlassen wollen …«, sagte Mike schließlich in die Last des Schweigens hinein und drehte sein Glas erneut zwischen den Handflächen. » … warum hat man es dann wieder zum Kauf angeboten?«

Als sich die Blicke der beiden Männer trafen, glaubte Mike in den Augen des Schankwirtes einen Anflug von Hohn aufblitzen zu sehen. Sein Gesicht jedoch blieb ernst.

»Manche Häuser wollen nicht leer stehen«, antwortete der Mann mit unvernehmbarer Stimme.

Dann ließ er Mike alleine und ging zu seiner Zeitung am anderen Ende der Theke zurück. Die Feder wippte leicht, als versuchte sie, Mike zum Abschied zu winken.

 

 

Als er an diesem Abend zurück in das alte Haus kam, das er nun als das Grady-Anwesen kennengelernt hatte, drohte ihn die finstere Stille der hohen und kalten Räume wie ein Mantel zu ersticken. Er saß in dem alten Sessel, in dem er am Mittag das Tagebuch gelesen hatte, und hielt ein Glas mit Whiskey in der Hand, den er sich im ›Knights Head‹ gekauft hatte. Er war sich sicher, dass er den wärmenden Alkohol benötigen würde, nachdem ihn die Worte des Schankwirtes derart aufgewühlt hatten.

Auch wenn er immer noch nicht dazu bereit schien, sich zu seiner inneren Unruhe und den rasenden Gedanken zu bekennen, die ihn heimsuchten, seit er die Taverne verlassen hatte.

Der Whiskey tat seine Wirkung, auch wenn die behagliche Wärme in seinem Körper ihn schmerzlich an London und endlose exzessive Nächte der Trauer und Tränen erinnerte. Mike betrachtete die Flasche auf dem Beistelltisch neben dem Sessel und schätzte sich glücklich, in dieser einsamen und unheimlichen Gegend auf ein derartiges Relikt aus der modernen Welt gestoßen zu sein. Es würden keine Abende und Nächte folgen, wie sie in London fast alltäglich gewesen waren. Dessen war er sich sicher. Doch jetzt, da er alleine in dem großen Herrenhaus saß und sich so schutzlos wie noch nie zuvor fühlte, benötigte er den scheinbaren Freund aus der Flasche, an den er sich in den letzten Monaten so sehr geklammert hatte.

Während sich sein Körper von innen erwärmte und selbst die merkwürdigen Worte des ungeschlachten Mannes aus der Taverne ihren Schrecken einbüßten, ertappte sich Mike immer wieder dabei, wie sein Blick zu dem ledernen Buch wanderte, das im Schein einer alten Öllampe neben der Flasche auf dem Tisch lag.

Das Tagebuch des Charles Ward, wie er nun wusste.

Nach den Worten des Wirtes zu urteilen, war sich Mike sicher, dass es sich bei dem Buch um eben jene Zeilen handelte, die Ward vor zwanzig Jahren niedergeschrieben hatte und die, sollte Mike je den Mut aufbringen, weiterzulesen, den beginnenden Wahnsinn des Mannes dokumentieren würden.

Doch Mike weigerte sich beharrlich, dem inneren Drang nachzugeben, das Buch zu nehmen und tiefer in Wards Abgründe einzutauchen. Stattdessen labte er sich mit geschlossenen Augen an dem scharfen Geschmack des Alkohols auf seiner Zunge und genoss das barbarische Brennen in der Kehle, dem die verführerische Wohltat sinnlicher Vereinigung von Alkohol und Trauer in seinem Körper folgte.

Auf diese – zugegebenermaßen – kindliche Art und Weise versuchte er sich, dem seit Generationen gewachsenen Aberglauben des Ortes zu entziehen.

Auch wollte er den skurrilen Aussagen des Schankwirtes keinen Glauben schenken. Zu grotesk erschienen ihm im Dunstnebel des Alkohols die Worte und Gebärden des Mannes.

Man fand derartige altertümliche Sagen und Mythen in jeder kleineren, entlegenen Stadt auf der ganzen Welt vor, so sagte sich Mike und betrachtete das Glitzern des Whiskeys im Lampenschein. Ihn überkam das Gefühl, auf die stille Oberfläche eines funkelnden Sees in der Abenddämmerung zu blicken.

Redeten die einen von Spukhäusern und unsichtbaren Gespenstern, die an die Fundamente alter, geschichtsträchtiger Häuser gebunden waren und die neuen Besitzer der Häuser in den Wahnsinn zu treiben versuchten, so erzählten die anderen von Zaubergeistern und anderen Dämonen, die man des Nachts auf verwaisten Feldern und an einsamen Wegesrändern beobachten konnte.

Keine dieser fabelhaften Geschichten, welche die schlichten Gemüter der Bewohner derartiger Orte beherrschten, konnte bislang wissenschaftlich oder rational begründet werden.

Nicht einmal einigen, in Mikes Augen verwirrten Suchern nach dem Übersinnlichen, die ihr Leben opferten, um in alten Mären und purem Aberglauben den unauffindbaren Wahrheitskern hervorzubringen, war es bisher gelungen, feststehende Beweise vorzulegen.

Eine derartige Legende besaß ihre Wurzeln seit Generationen in der Erde von Arc´s Hill. Und ein jeder, der auf diesem verfluchten Boden wandelte und sich mit den Einwohnern dieses Landstrichs einließ, wurde zwangsläufig vom boshaften Geist der Vergangenheit infiziert, so wie es bei dem Schankwirt offenkundig geschehen war.

Was Mike akzeptierte und kannte, ohne seinen Verstand in Zweifel ziehen zu müssen, waren die Legenden der Großstadt.

Hektik, Lärm und gleißender, künstlicher Schein. Diese modernen und meist maskierten Schauermärchen hatten ihn in dem unerschütterlichen Glauben erzogen, dass sich alles auf der Welt materiell und methodisch erklären ließe, und dass keineswegs Dinge außerhalb jeglicher menschlichen Vorstellungskraft existierten, die man nur mit Dämonen oder Teufeln zu erklären vermochte.

Benommen von der Wirkung des Alkohols und ermutigt von seinen eigenen leugnenden Gedankengängen, ließ sich Mike vom Rhythmus des Regens an den Fenstern ermüden. Noch ehe er sich dem unausweichlichen Gedanken hingeben konnte, sich doch noch Wards Aufzeichnungen anzunehmen, war er auch schon in jenem alten und gewaltigen Sessel eingeschlafen, in dem vielleicht sogar jener dem Wahnsinn anheimgefallene Charles Ward selbst gesessen hatte.

Kaum dass er den Atem der Ruhe und Entspannung in seinem Innern spürte, als er auch schon zurück zu den Pfaden seines illusorischen Traumes wandelte …

 

 

Ich stand am Ende jenes endlosen, bizarren Korridors aus allumfassender Dunkelheit, der mich schon einmal gefangen und zu dieser strahlenden Stadt, diesem Elysium epochaler Baukunst, geleitet hatte. Diesmal erschien mir das Dunkel nicht fremd und beängstigend. Stattdessen war ich mir sogar sicher, dass mich Etwas in dieser grabähnlichen Nacht willkommen hieß.

Mein Blick glitt voller Ehrfurcht über das Flammen der blitzenden Dächer und Türme, den blendenden Schein heller, surrealer Bauten und ausladender, makelloser Straßenzüge. Meine Augen folgten dem tanzenden Glitzern klaren Wassers, das den sich schlängelnden Flusslauf unter Brücken und Stegen speiste.

Diesmal entließ mich das Dunkel meines Traumes, ohne mich abermals widerwillig in die schreckliche Realität zurückzuziehen, und ich setzte zum ersten Mal einen Fuß auf die weiße, marmorgleiche Straße, die sich demütig zwischen den ausdrucksvollen Gärten zweier prachtvoller Paläste hindurch wand.

Der pure Akt der Berührung erschien mir in diesem Augenblick als Frevel und unwürdig einer jeden menschlichen Seele, angesichts der majestätischen, fast kosmisch zu nennenden Eleganz dieser schweigenden Stadt.

Ich erblickte Blumen, deren Schönheit ich noch nie zuvor in meinem Leben zu Gesicht bekommen hatte; in Palastgärten, die eine eigene, wundersame Welt darstellten, einem gewaltigen, nahezu perfekten Gemälde gleich, in alle nur erdenkliche Farben getaucht. Die Paläste selbst waren monumentale Schlösser, wie sie sich der phantasievollste Geschichtenerzähler nicht ersinnen konnte, und von derart auserwähltem Reiz, dass mir die reine Anwesenheit meines unwürdigen Geistes im Schatten dieser Bauten als höchste Blasphemie erschien. Die Eingänge dieser Prachtbauten waren kolossale, kupferne Pforten, von reich verzierten weißen Säulen gestützt und mit handgeschnitzten Ornamenten verfeinert. Breite, ausladende, blendendweiße Treppengänge führten zu diesen Portalen. Mein unwürdiger, in seiner Fähigkeit begrenzter Verstand vermochte nur einen Hauch der Andeutung zu erahnen, welch prächtige Säle und Hallen sich jenseits der Einlässe verbargen. Scheinbar leer und schweigend, und doch angefüllt mit Leben, das lange Zeiten schon der Stunde des Erwachens harrte und so gegenwärtig erschien, wie die kühle Luft dieser seltsamen und fantastischen Stadt.

Doch waren diese Prachtburgen nicht das Ziel meiner nächtlichen Traumreise.

Ich schritt voran durch eine atemberaubende Stille, von einem Willen gelenkt, der nicht mein eigener schien. Vorbei an Herrenhäusern und prächtigen, uralten Fassaden mit schwerem Gebälk und blendenden Marmorsäulen, an blühenden, edengleichen Gärten, und dem glitzernden Fluss entlang, der sich verlockend und distanziert zugleich flüsternd durch dieses traumerdachte Paradies schlängelte.

Als ich den terrassenförmigen Berg erreichte, blickte ich empor zum gottesgleichen Tempel, der auf dem höchsten Balkon thronte, unnahbar und eigen, und eins erschien mit dem Weiß und Blau eines nahezu perfekten Himmels.

Wie unwürdig ich doch war …

Wie unbedeutend und klein …

Mit den Schritten eines Fremden begann ich den Aufstieg auf einem schmalen Pfad, der sich in Serpentinen um die Anhöhe wand und sich aus den Niederungen der Straßenzüge hinaufzog zum Thron der Stadt.

Dort musste ein Gott leben, dachte ich in demütiger Ehrerbietung. Nur ein Gott war würdig, einen derartigen Thron zu besteigen.

Mein Atem ging schwer, und mein Herz schlug hart in meiner Brust; das einzige Geräusch, das sich seinen Weg in meinen Traum suchte. Und doch verspürte ich nicht den Schmerz der Erschöpfung.

Dann endlich stand ich davor. Der Tempel war ein gewaltiger, von Schönheit und Wohlgestalt, von Licht erfüllter Quell all jener Freuden und Versuchungen, denen man sich nur in den geheimsten Winkeln des Bewusstseins hinzugeben vermochte.

Mächtige, mit seltsamen Hieroglyphen veredelte Säulen und Pfeiler erstreckten sich in schiere Unendlichkeit. Breite, weiße Stufen luden mich ein, sie zu ersteigen und zu einer hellen, eisenbeschlagenen und mit Gold und Kupfer veredelten Pforte zu gelangen, die einen Spalt offen stand und den Blick in ein Halbdunkel aus Unendlichkeit freigab. Demütig trat ich näher, verließ den blendenden Schein eines Tages, der mir so unwirklich erschien wie der Traum, der mich hierher geführt hatte. Ich schritt durch den Spalt der offenen Pforte, die mir so gewaltig wie das Zelt des Himmels anmutete … und fand mich in einer weiten, grenzenlos erscheinenden Halle wieder. Eine eigene, fantastische Welt, deren Beschreibung es dem menschlichen Verstand an Worten mangelte. Ich spürte, wie ich an die Grenzen meines Bewusstseins und Daseins stieß.

Inmitten dieser Halle, die der Himmel selbst hätte sein können, erblickte ich eine Gestalt.

Es war das erste Wesen, das erste Anzeichen von Leben, dem ich in dieser stillen und schlafenden Stadt begegnete. Es stand da, umgeben von gewaltigen Säulen und Fresken und Reliefs, die sich in die Unendlichkeit zu erstrecken schienen und sich in Dunkelheit verloren.

Wir sahen uns an – Sekunden, Ewigkeiten – es existierte keine Zeitspanne in diesem Traum.

Ich spürte die kolossale Macht, die von dieser Gestalt ausging, ich konnte den Willen, den Geist der Kreatur, mit jeder Faser meines Körpers fühlen.