Die Legenden Lýsistratas - Tanja Steinborn - E-Book

Die Legenden Lýsistratas E-Book

Tanja Steinborn

4,9

Beschreibung

Meyla ist fassungslos, als der Kronprinz des Landes sie beschuldigt, seine Verlobte vergiftet zu haben. Gemeinsam mit einem Bauern, der davon träumt, ein Ritter zu sein, und einer handvoll weiterer Gefährten begibt sie sich auf eine abenteuerliche Reise durch die mystische Landschaft Lýsistratas. Ziel ist es, die sagenumwobene Blaue Blume zu finden, das einzige, was die zukünftige Prinzessin noch retten kann. Dabei begegnet Meyla nicht nur allerlei Geschöpfen aus ihrem Lieblings-Legendenbuch, sondern auch loyalen Freunden und der einzig wahren Liebe.

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Für meinen Papa, den tollsten Menschen, den ich kenne – in dieser und in allen anderen Welten.

Für Nicole, die mit mir gemeinsam nach der Blauen Blume sucht. Eines schönen Tages werden auch wir sie gefunden haben.

Für meine RingConnies, die die Magie unwiderruflich in mein Leben gebracht haben

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Die Lady aus dem fernen Osten

Der Bauer mit dem blauen Blut

Der Geschmack von Pfirsichen

Der Lackel und die Schickse

Grüner Drache in Aspik

Schreie von niemandem

Die Legende der Blauen Blume

Der Weg nach Seòras

Ercinee-Lichter

Ihr Name war Adda

Der Mann in der Rüstung

Sonnentanz

Welt aus den Fugen

Abseits der vertrauten Pfade

Aus Wahrheit wird Legende

Das dunkle Herz des Elftings

Der letzte gute Tag

Álfkona

Beschädigtes Gut

Weitere Instruktionen

Lang lebe die Königin

Der Tanz der Weißen Frau

Aus Legende wird Wahrheit

Ich träumte, ich sei alt

Das Lied von der Fischerfrau

Blut auf Stein

Das Licht wählen

Die Lebenden und die Toten

Meyla auf dem Dach der Welt

Epilog

Landkarte

Bedeutung und Aussprache der Namen

Über Schottland und das Gälische

Danksagung

Prolog

Zu einer anderen Zeit

Das Läuten der Glocken besiegelte das Ende ihrer Liebe. Seit Wochen hatte sie diesen Tag gefürchtet und gleichzeitig herbeigesehnt, hoffend, dass ihr Liebster sich am Ende für sie entscheiden würde. Aber das hatte er nicht.

Ihre Kehle brannte, Tränen bahnten sich den Weg in die Freiheit und alles in ihr wollte schreien. Ihren Schmerz, ihre Wut - sie wollte all dies hinauslassen und dennoch blieb sie stumm. Sie zog sich die Kapuze ihres Umhanges über ihren Kopf, so tief wie möglich in ihr Gesicht und suchte das Weite. Musste fort aus dieser Stadt, konnte keine Sekunde länger verweilen. Denn man kannte sie hier; die mitleidigen und wissenden Blicke der Bevölkerung konnte sie nicht auch noch ertragen.

Sie überlegte, ob sie es riskieren konnte ein Pferd zu stehlen, doch was, wenn man sie fasste? Das würde bedeuten, man würde sie vor den König führen. Nein, das konnte sie nicht wagen, sie musste sich zu Fuß durchschlagen.

Also rannte sie los, immer darauf bedacht, die Hauptstraßen und jeglichen Menschenauflauf zu meiden. Sehr bald konnte sie die Stadt hinter sich lassen; lediglich der Wind, der in einer ungünstigen Richtung stand, wehte ihr gelegentlich Lachen und Musikfetzen des fröhlichen Gelages um die Ohren, mit dem die Stadtbewohner den Verlust ihres Glückes feierten.

Sie erklomm den Hekla Hügel, der Aufstieg fiel ihr heute schwer, obwohl sie eigentlich robust war. Endlich oben angekommen, musste sie sich einen Moment niedersetzen und ausruhen, während sie überlegte, wohin sie gehen sollte. Nach Hause, konnte sie schon lange nicht mehr. Hier war ihr Zuhause gewesen. Nun erkannte sie verbittert, welch fatalen Fehler sie begangen hatte, als sie wider besseres Wissen alles für einen Mann aufgegeben hatte.

Nach einer Weile hatte sie keine Tränen mehr, die Wut war verraucht, zurück blieb nur Leere. Ein verschwommener Plan hatte in ihrem Kopf Gestalt angenommen, als sie sich aufrappelte. Sie würde sich nach Norden zum großen Meer durchschlagen, vielleicht konnte sie auf einem Schiff aufgenommen werden und irgendwo in einem fernen Land, wo niemand sie und ihre Geschichte kannte, ein neues Leben beginnen. Der schnellste Weg dorthin war durch den Schwarzen Wald, aber sie zögerte einen winzigen Augenblick, als sie sich dessen ersten Zipfeln näherte. In der Stadt wurden sich seit langem Geschichten über diesen Wald erzählt, eine schauriger als die andere. Einige berichteten von einem mächtigen Dämon, der von einer Höhle mitten im Herz des Waldes beherbergt wurde; andere erzählten von einer bösen Hexe, die die Bäume befehligte und Tiere verzauberte. Sie hatte diese Geschichten als Ammenmärchen alter Waschweiber abgetan und Furcht lag eigentlich nicht in ihrem Naturell. Aber als sie nun in den Wald hineinblickte und nichts als Nebel und Dunkelheit sah; als sich die schwarzen Äste der nahen Bäume wie gierige, knorrige Finger nach ihr streckten und eine unheilvolle Stille davon zeugte, dass der Wind wie abgedreht war, durchfuhr sie ein kalter Schauer. Jedoch eine Umkehr erschien ihr unmöglich, also schnürte sie ihren Umhang fester und ließ sich von der Finsternis des Waldes verschlucken.

Die ersten Stunden, die sie unbeholfen daher strauchelte, ging alles gut. Zwar wunderte sie sich, dass ihr kein einziges Tier, nicht mal der kleinste Vogel, begegnete, doch in ihrem Gemütszustand kamen ihr die Düsternis und die Einsamkeit gelegen. Eine gewisse Unruhe und eine Gänsehaut konnte sie nicht ganz ablegen, aber nach einer Weile gewöhnte sie sich daran und wurde etwas entspannter.

Als sie etwa die Hälfte des Waldes hinter sich gelassen hatte, geschah es: die Stille, wurde noch stiller; die Dunkelheit noch schwärzer. Eine kleine klare Quelle, an der sie eben noch ihren Durst gestillt hatte, gefror innerhalb von Sekunden zu Eis.

Etwas abgrundtief Böses bahnte sich den Weg zu ihr, kam immer näher, schien mit unsichtbaren Armen nach ihr zu tasten. Sie begann zu rennen, wobei sie über Wurzeln und Unebenheiten stolperte. Plötzlich war ihr Kummer so unwichtig, ihr Leid so gering, wo das einzig tatsächlich Wichtige auf dem Spiel stand, was es in dieser und in allen anderen Welten gab: das Leben selbst.

Es gab kein Entkommen, natürlich nicht. Welch‘ grausamer Streich des Schicksals, dass es sie hierher geführt hatte. Sie fiel hin, versuchte auf allen Vieren weiter zu kriechen, verzweifelt darauf bedacht, sich bis zum bitteren Ende zu wehren.

Schließlich war es vor ihr, das absolute Böse, in kleinerer Gestalt, als sie erwartet hatte, das Gesicht verborgen unter einem schwarzen Kapuzenumhang. Es begann mit lieblicher, heller Stimme zu reden.

„Seht Euch an, mein hübsches Kind, was die Liebe aus Euch gemacht hat. Kriecht auf allen Vieren wie minderes Getier.“

„Lasst mich in Frieden!“, schrie sie mit brüchiger Stimme.

„Frieden?! Kann es je wieder Frieden geben, nachdem was Euch widerfahren ist?“

Sie schluckte. Woher wusste diese Kreatur Bescheid?

„Wer seid Ihr und was wisst Ihr über mich?“

„Mein liebes Kind, ich weiß mehr als Ihr möchtet und weniger als Ihr fürchtet. Ich habe viele Namen, doch den einen, den man mir bei meiner Geburt schenkte, werde ich Euch nicht verraten. Noch nicht. Wenn es Euch nach einem Namen für mich dürstet, nennt mich Herrin der verlorenen Herzen.“ Das Böse lachte. „Und ja ich weiß, das klingt leicht übertrieben.“

„Was wollt Ihr von mir?“

„Meine Liebe, ist das nicht offensichtlich? Euch! Oder vielmehr Euer armes, verlorenes Herz. Ich möchte Euch das Zuhause schenken, was Euer Liebster Euch nicht geben wollte.“

„Woher wisst Ihr davon?“

„Euer Herz weint so laut, dass ich es durch den ganzen Wald hören konnte. Was hat er Euch angetan? Euch sitzen gelassen? Gar ein anderes Weib vorgezogen?“

Sie schwieg.

„Ach kommt schon, erzählt es mir. Erleichtert Eure Seele.“ Das Böse streckte ihr eine schneeweiße Hand entgegen. „Aber steht erst mal auf, Ihr sollt nicht wie ein Hund zu meinen Füßen liegen.“

Sie erhob sich, berührte die Hand aber nicht. „Er …“

„Ja?“

„Es gab keine andere Frau. Er hat mir bis zum Schluss gesagt, dass er mich liebt und ich glaube ihm. Immer noch.“

„Warum seid Ihr dann alleine in diesem Wald, mit Tränenspuren in Eurem hübschen Gesicht und nicht bei ihm?“

„Weil … ihm Loyalität wichtiger war. Er ist nun ein Ritter der Königsgarde. Seine Schwertleite hat heute stattgefunden.“

Das Böse zischelte, ein spöttischer Unterton legte sich in seine Stimme.

„Das ist ja noch schlimmer als ein anderes Weib! Er zieht Enthaltsamkeit und Krieg Euch vor!“

Sie spürte wie der Schmerz zurückkam und konnte kaum gegen die Tränen ankämpfen.

„Ja. Er hat sein Leben lang davon geträumt, Ruhmestaten in der Leibgarde zu vollbringen, ist seit Ewigkeiten eng mit dem Kronprinzen befreundet. Als wir uns kennenlernten, geriet sein Entschluss ins Wanken. Ich habe gehofft … unsere Liebe wäre stärker als seine Loyalität, ich stünde ihm näher als der Prinz. Bis heute. Ich habe alles für ihn aufgegeben, habe mich ihm ganz und gar geschenkt, doch letztendlich waren seine Gefühle für mich nicht ausreichend.“

„Armes Ding. Was wollt Ihr jetzt tun?“

Sie schluchzte. „Ich weiß es nicht. Mir bleibt nur, von hier zu verschwinden. Vielleicht kann ich woanders neu anfangen.“

„Ja, das könntet Ihr versuchen. Vielleicht wäre das Glück nach all dem Elend auf Eurer Seite und Ihr könntet tatsächlich neu beginnen. Aber wisst Ihr, mit dem Glück ist es so eine Sache. Es interessiert sich nicht für einfache Wesen wie uns. Glück ist etwas für die Reichen, die Adligen und die Schönen. Vielleicht eilt Euch Euer Ruf als gefallenes Mädchen bis über die Landesgrenzen hinweg voraus. Vielleicht ist Euer Leben verwirkt.“

Sie blickte auf und spürte eine trotzige Regung. „Aber was habe ich für eine andere Wahl? Soll ich mir das Leben nehmen? Würde Euch das gefallen?“

Wieder lachte das Böse. „Oh Liebes, wo denkt Ihr hin! Das wäre solch eine Verschwendung. Habt Ihr mir eben nicht zugehört? Ich biete Euch ein neues Heim. Oder zumindest so etwas in der Art.“

„Ein Heim?“

„Schließt Euch mir und meinem Orden an. Darin sind lauter solch edle Jungfern wie ihr, deren Herzen gebrochen wurden.“

„Ich bin schon lange keine Jungfrau mehr.“

Das Böse überschlug sich geradezu vor Lachen. „Nun, das bin ich auch nicht. Tatsache ist, keine meiner Damen ist eine Jungfer im wörtlichen Sinne. Es sind junge, starke Frauen, die dank meiner Hilfe herausgefunden haben, dass es etwas viel Erstrebenswerteres gibt als die Liebe.“

„Und was wäre das?“

„Macht, mein liebes Kind, Macht. Wenn Ihr Euch uns anschließt, werdet Ihr den Rausch von Gewalt kosten, das Ansehen von Autorität genießen und Euch an dem süßen Geschmack der Vergeltung laben.“

Sie zögerte. Tatsächlich klangen diese Worte verlockend und sie sehnte sich danach, ihre Pein endlich hinter sich zu lassen. Aber sie traute dem dunklen Wesen nicht.

„Was ist der Preis?“

„Ihr werdet nur in unseren Gemächern hausen und keine anderen Menschen außer den Ordensschwestern sehen, es sei denn ich erlaube es Euch. Ihr werdet eine harte und entbehrungsreiche Erziehung unter mir erdulden müssen, doch am Ende wartet eine große Belohnung.“

„Die da wäre?“

„Magie“, flüsterte das Wesen verführerisch, „dunkelste, mächtigste, erhabene Magie. Damit werden Euch alle Tore der Welt offen stehen. Ob Ihr dann immer noch woanders neu anfangen oder Euch an Eurem Geliebten rächen möchtet: kein Weg ist für Euch dann unbegehbar.“

Sie zögerte nach wie vor, als das Böse seine Kapuze abnahm und sein wahres Gesicht zeigte. Und sie war verblüfft und sich plötzlich ihrer Sache ganz sicher, denn sie hatte dieses Gesicht schon einmal in ihrem Leben gesehen.

Erneut wurde ihr eine weiße Hand entgegen gestreckt. „Seid Ihr dabei?“

„Ich bin dabei!“

Sie legte ihre Hand in die des Bösen und plötzlich war alle Trauer aus ihrem Herzen verschwunden, denn dort war nur noch Platz für Dunkelheit.

1

Die Lady aus dem fernen Osten

Heute

Alastríona

Schon seit Wochen war die Burg Uallach mit eifrigem Treiben erfüllt. Der kleinste Ziegelstein sollte poliert, jedes Pferd gestriegelt, jede winzige Fensterluke blank geputzt sein für den großen Tag.

Bunte Blumenranken zierten den Burghof, die Musikanten und Gaukler probten ein letztes Mal ihre Kunststücke, die sie heute Abend zu Ehren der Gäste aus dem Osten darbieten würden.

Meyla Vending stand in ihrem kleinen Kämmerchen und beobachtete dies alles aus dem Fenster. Je fröhlicher und ausgelassener die Stimmung auf der Burg geworden war, desto mürrischer wurde ihr eigenes Gemüt. Für sie war die Ankunft der Familie Freisting, Herzöge der Stadt Dálach, dem Tor des Ostens, alles andere als ein Grund zur Freude.

Seufzend ging sie vom Fenster weg und betrachtete trübsinnig das kleine Räumchen, das seit fast fünf Jahren ihr Zuhause war. Es war karg eingerichtet, mit einem schmalen Holzbett, einem Stuhl, einem kleinen Tisch mit einem Waschkrug darauf und einer großen Truhe für ihre wenigen persönlichen Habseligkeiten. An der Wand, die ihrem Bett gegenüber lag, gab es einen gut gefüllten Bücherschrank, ein Geschenk von Kronprinz Breandan. Jedes Mal, wenn er sie in all den Jahren in ihrem winzigen Gemach besucht hatte, war der Bücherbestand gewachsen. Der Prinz wusste eben, womit er ihr eine Freude machen konnte, denn niemand kannte Meyla so gut wie er.

Sie ging zum Schrank und betrachtete liebevoll die vielen bunten Buchrücken, von denen jeder eine andere Geschichte verbarg. Dieser Gedanke stimmte sie traurig, denn Meyla befürchtete, dass ihre eigene Geschichte an diesem Hof mit dem heutigen Tage enden würde.

Sie erinnerte sich zurück an ihre erste Zeit auf der Burg, eine junge wilde Frau von zweiundzwanzig Jahren, mit ungepflegtem, unbändigen Haar, zerschlissener Männerkleidung und einem trotzigen Ausdruck in den Augen. Welch Glück, dass Breandan seinen Großvater, den damaligen König, hatte überreden können, dass sie bleiben durfte. Das Königshaus hasste unbeglichene Schulden und die Schuld, in der die Fürstenfamilie Catharnach bei Meyla stand, war unermesslich: sie hatte Breandan das Leben gerettet, nachdem er betrunken in den Leith gefallen war.

Also hatte sie bleiben dürfen und da sie auf Grund ihrer gehobenen Herkunft (von welcher der König bis heute nichts ahnte) dem Lesen und Schreiben mächtig war, wurde ihr erlaubt in der königlichen Bibliothek zu arbeiten.

Die Jahre waren ins Land gezogen, Meyla und der Prinz hatten sich angefreundet, sodass sie ihm irgendwann sogar ihre wahre Herkunft verraten hatte. Breandans Vater Eanruig war diese Freundschaft immer ein Dorn im Auge gewesen, doch solange er nicht selbst auf dem Thron gesessen hatte, war seine Macht beschränkt. Vor einem knappen Jahr jedoch war der König verstorben und Eanruig zum neuen Herrscher von Lýsistrata gekrönt worden. Für seine erste Amtshandlung hatte er sich die Zukunft seines ältesten Sohnes vorgenommen.

Meyla schreckte aus ihren trüben Gedanken hoch, als es an der Tür klopfte. Sie glaubte zu wissen, wer sie besuchte.

„Herein.“

„Mylady, darf ich eintreten?“, fragte der Kronprinz schüchtern.

Meyla lächelte schwach. „Ich sagte doch herein.“

Breandan kam in ihr Zimmer, schloss leise die Tür hinter sich und betrachtete ihren Bücherschrank. „Heute habe ich leider nichts mitgebracht. Die letzten Tage war ich zu beschäftigt.“

„Das denke ich mir. Wann trifft der hohe Besuch ein?“

„Am Nachmittag.“

„Wie schön.“

Meyla setzte sich auf ihr Bett und wartete. Sie war sich nicht ganz sicher, was genau der Prinz ihr sagen wollte.

„Mylady … Meyla … ich möchte, dass du heute in meinem Hofstaat dabei bist, wenn die Freistings hier ankommen.“

„Wieso, Breandan? Wieso quälst du mich so?“

Er ging vor ihr in die Hocke und nahm vorsichtig ihre Hand. „Du weißt, dass ich sie nicht heiraten will. Diese Frau, sie ist fast noch ein Mädchen und bedeutet mir gar nichts!“

„Du kennst sie doch gar nicht, vielleicht lernst du sie lieben.“

„Aber dich kenne ich. Du bist in meinem Herzen, seit dem Tag, an dem du mich aus dem Fluss gefischt hast. Das weißt du, oder?“

Traurig betrachte sie ihn; die kurzen rotblonden Haare, den Stoppelbart, der sie beim Küssen gekitzelt hatte. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, dass ihr Herz vor Verzweiflung zerspringen müsste und ihre Kehle brannte. Aber sie hatte seit dem Tod ihrer Mutter vor sieben Jahren nicht geweint und auch jetzt schluckte sie ihren Kummer hinunter.

„Das ändert aber nichts. Du bist jetzt verlobt.“

„Ich kann dagegen nichts tun. Und mein Vater hat ja nicht Unrecht, die Verbindung mit den Freistings sichert uns den Osten. Davon abgesehen … ich bin über dreißig Jahre alt. Es wird Zeit, dass ich eine Familie gründe.“

„Na dann: herzlichen Glückwunsch“, bemerkte Meyla spöttisch.

„Jetzt sei nicht so. Meyla … ein Wort von dir … nur ein Wort …“, er flüsterte jetzt, gleichwohl konnte sie seine Verzweiflung deutlich heraushören. „Wir können meinem Vater sagen, wer du wirklich bist und schon wärst du die Braut.“

Sie seufzte. „Ein Leben als König und Königin von Lýsistrata. Siehst du mich wirklich so? Für immer an diese Burg gefesselt?“

„Ich dachte, du wünschst dir genauso eine gemeinsame Zukunft wie ich.“

„Das tue ich. Aber nicht auf diese Weise.“

Für einen winzigen Augenblick gestatte sie sich, von einer Zukunft an Breandans Seite nach ihren Vorstellungen zu träumen. Nicht als Prinzessin, daran hatte sie keinerlei Interesse, sondern auf Schiffen, auf Pferden und zu Fuß; Abenteuern entgegen, beim Entdecken neuer Inseln, Erkunden ferner Länder und Freundschaft schließen mit unbekannten Völkern.

„Lauf mit mir davon“, sagte sie schließlich, „lass den goldenen Käfig hinter dir.“

Der Prinz schnaufte. „Und dann? Sollen wir von dem leben, was wir im Wald erlegen und im Freien schlafen?“

„Wir hätten die Sterne über uns. Wir bräuchten nach niemandem zu fragen, auf keinen Menschen Rücksicht nehmen und hätten einander.“

„Du weißt, dass das nichts für mich ist. Ich mag mit vielem, was mein Vater macht, nicht einverstanden sein, aber ich schätze mein Leben hier mit all seinen Annehmlichkeiten.“

Das Bild vor ihrem Auge verblasste, sie war nun alleine auf den Schiffen oder hoch zu Ross. Dies war ihr Traum von einem aufregendem Leben; Breandan dagegen war kein Abenteurer, er war ein Prinz, der Kronprinz noch dazu und er würde irgendwann hoffentlich ein besserer König sein als sein Vater.

„Ja, das weiß ich“, antwortete sie, diesmal ebenfalls flüsternd. „Wir beide sind eben nicht füreinander bestimmt.“

Der Prinz wurde zusehends verzweifelter. „Ich kann aber nicht zulassen, dass du ganz aus meinem Leben verschwindest. Wenn du nicht die Prinzessin an meiner Seite sein willst … dann sei wenigstens meine Mätresse.“

„Was?!“

„So können wir trotz allem zusammen sein! Allzu ungewöhnlich ist das nicht …“

„Du denkst allen Ernstes, dass ich mich dafür hergebe? Auf dich zu warten und jede Nacht darauf zu hoffen, dass deine Frau keine Lust hat und du dich mit mir tröstest?!“

„Meyla bitte, so wäre das ganz gewiss nicht. Ich würde dafür sorgen, dass du ein gutes Leben hier bei Hofe hast.“ Er beugte sich vor und versuchte sie zu küssen.

Sie stieß ihn so heftig von sich, dass er stolperte und auf dem Hintern landete.

„Ich kann nicht fassen, was hier gerade passiert. Als wäre dieser Tag nicht schrecklich genug! Erst ist dir ein Leben voller Behaglichkeit wichtiger als ich und jetzt bietest du mir großherzig an, deine Mätresse zu werden. Als wenn ich das nötig hätte und mein Leben nicht auch ohne dich leben könnte! Ich kann grade zum ersten Mal in all den Jahren, die wir uns kennen, sehen, dass du tatsächlich der Sohn deines Vaters bist!“

Das traf ihn. Er lachte entmutigt in sich hinein, erhob sich langsam und ging mit schweren Schritten zur Tür.

„Vielleicht hast du … vielleicht habt Ihr Recht, Mylady. Gewiss mögen Euch meine Wünsche selbstsüchtig erscheinen und das sind sie in gewisser Weise auch. Aber denkt nicht allzu schlecht von mir. Es war nicht Grausamkeit, die aus mir gesprochen hat, sondern Kummer. Ich kann mir nicht vorstellen mein Bett, geschweige denn mein Leben, mit einer Fremden zu teilen. Vergebt mir, Lady Vending.“

Meylas Herz brach bei der förmlichen Ansprache. „Ich vergebe Euch, Prinz Breandan.“

Er verließ ihre Kammer und sie wusste, dass er diese Tür zum letzten Mal geschlossen hatte.

Nach Breandans Abgang hatte sie fest vor, sich bei der Ankunft der Freistings in der Bibliothek zu verkriechen und erst am nächsten Tag, wenn das festliche Willkommensbankett vorüber war, wieder aufzutauchen.

Letztendlich aber hatte die Neugier gesiegt und nun stand sie mit im Hof, in der hintersten Reihe zwischen den Kammerjunkern und Zofen. Sie fröstelte und wünschte sich, dass der Frühling endlich kommen möge. Sehnsüchtig hatte sie in den letzten Wochen bei ihren Spaziergängen durch Alastríona immer wieder ihren Kopf gen Himmel gehoben und Ausschau nach den Kranichen gehalten, aber sie ließen dieses Jahr auf sich warten und das Wetter blieb nass und kalt.

Auch heute war der Himmel grau, der zukünftigen Prinzessin würde sich die Stadt bei ihrer Ankunft nicht von der besten Seite zeigen. Schließlich verstummte das Gemurmel, die Menschen nahmen eine angespannte Haltung ein, denn die Königsfamilie hatte soeben den Hof betreten und sammelte sich unter dem weißen Musikpavillon in seiner Mitte.

Breandan trug seinen besten Anzug aus rot-goldenem Brokatstoff, der erstklassig zu der Farbe seiner Haare passte, sein Gesichtsausdruck war anmutig und stolz. Obwohl sein jüngerer Bruder, Prinz Adair, und sein Vater, König Eanruig, ihn beide um einen ganzen Kopf überragten, hatte er eine genauso würdevolle und erhabene Ausstrahlung. Königin Aignéis stand mit blassem Gesicht hinter den Männern, untergehakt bei Adairs Gemahlin Catrìona.

Sehr bald würde noch eine Frau in dieser Reihe stehen. Obwohl dieser Gedanke Meyla schmerzte, hatte ihr das Treffen mit Breandan am Vormittag die Augen geöffnet und sie konnte schweren Herzens akzeptieren, dass es für sie beide ohnehin niemals eine gemeinsame Zukunft gegeben hatte.

Plötzlich bewegte der König ruckartig seinen Kopf in Meylas Richtung und ihr war, als würde er ihr finster zulächeln. Das kann nicht sein, dachte sie in einem Anflug von Panik, ich stehe im Schatten in der hintersten Reihe zwischen all diesen Menschen. Er kann nicht wissen, dass ich hier bin. Ungeachtet dieser vernünftigen Gedanken begann ihr Herz zu rasen und ihr Nacken zu kribbeln. König Eanruig hatte seit jeher ein ungutes und bedrohliches Gefühl in ihr ausgelöst und sie war ihm wo sie konnte aus dem Weg gegangen. Die Geschichten, die sich die Bediensteten in der Burg hinter vorgehaltener Hand erzählten, waren grausam und kaum zu glauben. In all ihren Jahren auf Uallach hatte sie in den Trakt, in dem die königliche Familie schlief, noch nie einen Fuß gesetzt.

Meyla schloss für eine Sekunde die Augen und atmete tief durch; als sie erneut zum Pavillon blickte, unterhielt sich der König so fröhlich lachend mit seinen Söhnen, dass sie sich fragte, ob sie sich das eben nur eingebildet hatte.

Die königliche Leibgarde bezog schließlich Posten vor dem Pavillon, Meyla spürte wie einige der Zofen bei diesem Anblick aufgeregt tuschelten. In der Tat waren die Soldaten in diesem ganz besonderen Heer nicht bloß außergewöhnlich stark, sondern viele von ihnen auch außerordentlich ansehnlich. Doch Meyla hatte für das Geschnatter der Damen am Hofe lediglich ein müdes Lächeln übrig, schließlich wusste jeder, dass diese Ritter unerreichbar waren.

Nun ja, es hätte schlimmer kommen können, dachte sie bitter, wenn ich mich in einen Soldaten der königlichen Leibgarde verliebt hätte.

Denn den Rittern der Königsgarde war es verboten zu heiraten, ihr Leben war voll und ganz dem Schutz der Königsfamilie verschrieben.

Sie hatten gerade vollständig Stellung bezogen, als aufgeregtes Hufklappern endlich die Ankunft der vornehmen Gäste verkündete.

Das Haus Freisting war das kleinste und am wenigsten wohlhabende der vier Fürstentümer Lýsistratas, obwohl sie über das größte Landstück herrschten. Deswegen war Meyla überrascht von dem Prunk der vier großen goldenen Kutschen, alle gezogen von strammen, tiefschwarzen Rössern.

Der Anblick der Diener und des Hofstaates, die nun zuerst die vorderen Kutschen verließen, entsprach eher Meylas Erwartungen: alle waren schlicht und einfach in tristen Farben gekleidet. Ganz anders als die Bediensteten von Uallach, wo selbst der niederste Stallknecht noch ein ordentliches, warmes Gewand trug. Die Tür der vorletzten Kutsche wurde geöffnet und einem alten, weißhaarigen Mann hinaus geholfen: Herzog Conrígh, dem Wächter des Ostens und Großvater der zukünftigen Prinzessin. Er humpelte mit seinem Gehstock Richtung Pavillon, wo er sich leicht vor der Königsfamilie verneigte. Dann nickte er Breandan zu, der sofort vom Pavillon hinunterkam und sich mit Herzog Conrígh in Richtung der letzten Kutsche bewegte.

Meyla hielt den Atem an, als sich die Kutschentür öffnete und Breandan galant seine Hand ausstreckte.

So sah sie schließlich zum ersten Mal jene junge Frau, die den Mann heiraten würde, den sie begehrte:

Lady Nansaidh war klein und zierlich, in ein hellgraues Spitzenkleid gehüllt. Lange, aschblonde, feenhafte Locken waren leicht zurückgebunden und gaben die Sicht auf ein zartes, hübsches Gesicht frei. Sie hatte besorgt drein blickende Kulleraugen und einen Schmollmund, der sich nun zu einem scheuen Lächeln verzog.

Unsicher ergriff Nansaidh Breandans Hand und stieg elegant aus der Kutsche.

Meyla brach plötzlich der Schweiß aus, sie hatte das Gefühl zu ersticken. Schnell drückte sie sich an den Menschen vorbei, die gerade eh nur Augen für das schöne Mädchen aus dem Osten hatten, rannte durch das kleine Tor in die verwaisten Burggärten; doch sie verweilte nicht, sondern rannte weiter, vorbei an der Schmiede bis zu den Ställen, von wo ein weiteres Tor hinaus in die Stadt führte. Die Wachen kannten sie und hoben bei ihrem gehetzten Anblick fragend die Augenbrauen, ließen sie aber wortlos passieren.

Erst als sie die kleine Zugbrücke überquert hatte und unterwegs Richtung Stadtkern war, hatte sie langsam das Gefühl, normal atmen zu können.

Wie dumm sie gewesen war, wie hochmütig! Sie hatte immer geglaubt, dass dieses junge Mädchen keine Gefahr für sie war. Ein lästiges Übel zwar, was ihrem eigenen Glück im Wege stand, dennoch hatte sie Nansaidh nie als wirkliche Nebenbuhlerin um Breandans Herz betrachtet. Meyla war sich seiner Gefühle recht sicher, allerdings hatte der kurze Anblick der baldigen Braut gereicht, um diese Sicherheit zum Einsturz zu bringen.

Breandan war immer schon gemächlich, fast ein wenig verstaubt gewesen, sodass es eigentlich ohnehin an ein Wunder grenzte, dass er sich überhaupt für die raue und stürmische Meyla erwärmt hatte. Aber dieser zurückhaltenden, bescheidenen Unschuld mit dem Feengesicht, die er umgarnen und betören konnte, würde er früher oder später mit Haut und Haaren verfallen.

Meyla hätte am liebsten laut geschrien, doch die Geräusche aus einer nahen Schankstube bewahrten sie davor.

Genau das brauch ich jetzt, dachte sie, einen Humpen Bier oder vielleicht sogar einen Becher guten Wein, der meinen Kummer wenigstens für ein paar Stunden betäubt. Sie vergewisserte sich, dass sie ein paar Taler dabei hatte und betrat das Wirtshaus.

Die Zeit verflog, die Dämmerung war nicht mehr fern. Meyla fühlte sich angenehm müde, ihr Kopf war wie leer gefegt, aber dies kam ihr schließlich gelegen und war genauso beabsichtigt. Sie war bekannt in der Stadt und besonders bei den Stammgästen der Schankstuben auf Grund ihrer - manchmal durchaus schlüpfrigen - Zoten beliebt. Deswegen waren ihre paar Taler gar nicht nötig gewesen, die Männer hatten ihr ein Bier nach dem anderen spendiert.

In dem Moment, als sie beschloss, dass es nun an der Zeit war zur Burg zurückzukehren, ging die Tür des Wirtshauses auf und eine dicke Städterin kam aufgeregt hineingestürmt.

„Schnell nach draußen, eilt euch. Die Kraniche kommen!“

„Was?“, fragte Meyla überrascht. Jedes Jahr freute sie sich auf den Flug der stolzen Vögel über die Stadt, die auf dem Weg in den Norden waren - Meylas Zuhause. Für die Menschen des Westens war der Flug der Kraniche das Zeichen dafür, dass der Winter vorbei war, für Meyla waren sie ein Stück Heimat. Dass sie ausgerechnet heute über Alastríona flogen, erschien ihr wie ein Omen.

Sie erhob sich und folgte den freudig erregten Wirtshaus-Besuchern nach draußen auf die Straße, wobei sie feststellte, dass sie kaum noch grade gehen konnte.

Von überall her kamen die Menschen freudestrahlend gelaufen, hielten sich an den Händen, lachten und tanzten, einige sangen sogar.

Meyla hob den Kopf und erblickte von weitem die prachtvollen Tiere, wie sie elegant ihre Flügel schlugen und eins wurden mit dem inzwischen wolkenfreien und vom Abendrot verfärbten Himmel.

Es war wie Magie und gerade als ein befreites Lachen in ihr aufsteigen wollte, prallte sie unsanft mit einem großen, braunhaarigen Fremden zusammen. Schon ohne die Wirkung des Bieres wäre dies ein heftiger Stoß gewesen, doch so verlor Meyla gänzlich die Kontrolle über ihr Gleichgewicht, fiel zu Boden, stieß sich den Kopf unsanft an einem Regenfass … und glitt unverzüglich hinüber in das schwarze Reich der Bewusstlosigkeit.

2

Der Bauer mit dem blauen Blut

Seòras

Ein paar Stunden zuvor saß Balfour Dunham in der Stube seines Bauernhofs und blickte aus dem Fenster hinaus in die Morgendämmerung.

In der Hand hielt er einen noch dampfenden Becher Tee, um seine Schultern lag ein Schaffell und wärmte ihn; Thor, der schwarze Hofhund, lag lautstark schnarchend zu seinen Füßen. Balfour liebte diese einsamen, ruhigen Minuten kurz vor Sonnenaufgang sehr, eine Zeit, die nur ihm alleine gehörte. Sobald der gelbe Feuerball aufgegangen war und die Nacht endgültig verscheucht hatte, würde sich die Stube mit Leben füllen: seine Geschwister, sein Schwager, sein Freund Gleann, manchmal auch seine Nichten und sein Neffe - sie alle würden sich für einen arbeitsreichen Tag stärken und dabei ausgiebig schwatzen. Vor allem das Mundwerk seiner Schwester Àlainn stand niemals still, was ihn grade in diesen frühen Morgenstunden schon oft zur Weißglut gebracht hatte.

Aber jetzt wurde er wehmütig beim Gedanken daran, denn vielleicht würde er heute zum letzten Mal für lange Zeit mit seiner Familie frühstücken.

Die alte Holztreppe im Flur knarzte, wenige Sekunden später erschien Àlainn in der Stube, noch in ihrem Nachtrock, die langen Haare offen und ungekämmt, mit dunklen Ringen unter ihren Augen. Doch sie lächelte, was ihre Grübchen zur Geltung brachte, und ihr Blick war bestimmend wie immer.

„Wusste ich doch, dass du hier bist.“

„Wieso auch nicht? Ich sitze jeden Morgen hier.“

„Na ja, ich dachte du würdest an deinem letzten Tag im eigenen Bett vielleicht etwas länger schlafen wollen.“

„Ich kann mich nicht erinnern, jemals lange geschlafen zu haben.“

„Nein, da hast du Recht.“

Sie nahm ihm ungefragt seinen Tee aus der Hand, trank einen Schluck und setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Nachdenklich betrachtete sie ihn. „Bist du aufgeregt, großer Bruder?“

Balfour lauschte einen Moment in sich hinein. „Komischerweise gar nicht. Eher etwas gefühlsselig.“

„Wieso das? Du hast jahrelang auf diesen Tag gewartet.“

„Ja und nicht mehr wirklich daran geglaubt, dass es nur die entfernte Möglichkeit gibt. Jetzt, wo es tatsächlich so weit ist, frage ich mich, ob es wirklich die richtige Entscheidung ist.“

„Balfour. Sieh mich an.“

Er blickte in Àlainns Augen, die von derselben Farbe waren wie seine eigenen. Doch nun waren sie gerötet, was ihm verriet, dass seine Schwester des Nachts um ihn geweint hatte.

„Es bricht mir das Herz, dass du gehst. Die Kinder können sich ein Leben ohne ihren Onkel nicht vorstellen. Cailean hat Angst davor, wenn du fort bist in deine Fußstapfen treten zu müssen. Und dennoch ist es die richtige Entscheidung. Du hast davon geträumt, ein Ritter der königlichen Leibgarde zu werden, seit du ein kleiner Junge warst. Die Bewohner von Seòras haben dich mitleidig belächelt, als du mit deinem Holzschwert durch die Gegend gesprungen bist, weil sich dieser Traum doch für den Sohn eines Bauern nie erfüllen würde. Tja und du weißt genau, was die Menschen heute über dich sagen.“

Balfour lächelte. „Ja.“

„Heute sagen sie ‚Balfour Dunham, dessen Blut so blau ist wie seine Augen‘. Diesen Ruf hast du dir hart erarbeitet. Du hast seit Vater fort ist nur geschuftet, hast dich für uns aufgeopfert und diesen Hof am Leben gehalten, sechzehn Jahre lang. Jetzt bist du mal an der Reihe.“

Er seufzte. „Dennoch fühlt es sich an, als würde ich euch im Stich lassen.“

Àlainn lächelte und legte ihre Hand auf seine. „Das ist Unsinn. Wir haben unser Leben gut im Griff. Eik und ich werden diesen Hof am Laufen halten. Oder zweifelst du etwa an mir?“

„Nein, ganz gewiss nicht. Du könntest eine ganze Burg befehligen und hättest alle im Griff, Schwesterchen.“

„Und Cailean wird auch noch seinen Platz in dieser Welt finden. Sorge dich nicht. Du wirst uns stolz machen als der erste Bauer Lýsistratas, der zum Ritter geschlagen wird.“

Balfour nahm ihre Hand und küsste sie, als vom oberen Stockwerk ein leiser Ruf ertönte.

„Mami, Mami … wo bist du?“

Àlainn drückte noch einmal seine Hand, bevor sie sich erhob und nach oben zu ihrer ältesten Tochter ging. Balfour stand ebenfalls auf, um ein letztes Mal das Frühstück für seine Familie zuzubereiten, bevor er bald hoffentlich ein neues Leben beginnen würde.

Zwei Stunden später fütterte Balfour die Schafe und Ziegen, als sein Schwager Eik zu ihm kam, um ihm Gesellschaft zu leisten.

„Lass mich das doch machen. Damit musst du dich an deinem letzten Tag auf dem Hof wirklich nicht plagen.“

„Das macht mir nichts. Ist ja vermutlich ohnehin das letzte Mal für lange Zeit.“

„Du wirst sicher nicht in letzter Minute rührselig werden?“

„Nun ja. Nicht rührselig. Aber besorgt.“

Eik nahm ihm den Futterbeutel ab, griff beherzt hinein und warf eine handvoll in den nächsten Trog. „Weißt du, ich habe stets zu dir aufgeschaut, schon als wir noch Knaben waren. Du warst so mutig, so stark und dabei irgendwie edel. Ich war stolz darauf, dein Freund zu sein und mit dir gemeinsam durch die Wälder zu streifen und Ritter zu spielen. Aber für mich war es eben genau das: ein Spiel. Für dich war es mehr, bereits damals. Meine Eltern haben immer gesagt 'Wenn es jemand aus Seòras hinausschafft und sein Bauernblut hinter sich lässt, dann der Dunham-Junge'.“

„Dennoch bin ich noch hier.“

„Das Schicksal hat es eben nicht gut mit deiner Familie gemeint. Nach dem Verschwinden eures Vaters … war alles anders. Aber du hast dich deiner Verantwortung gestellt und bist nicht einfach deinen Träumen hinterhergelaufen. Du hast deine Geschwister durchgebracht. Ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte, ob ich nicht irgendwann zusammengebrochen wäre.“

„Ich bitte dich! Du bist einer der verlässlichsten Menschen, die ich kenne.“

„Ja, weil ich eine starke Frau an meiner Seite und liebende Eltern und Geschwister hinter mir habe. Ihr musstet alleine zurechtkommen.“

Balfour betrachtete Eik, der nun liebevoll ein kleines fressendes Lämmchen streichelte. Nein, um Àlainn brauchte er sich wirklich keine Sorgen machen, die von diesem sanften und gütigen Mann seit Jahren auf Händen getragen wurde. Und ob Cailean seinen Weg besser finden würde, wenn Balfour weiterhin auf dem Hofe bliebe, war ohnehin fraglich.

Brüderliche Zuneigung für seinen Schwager, den er sein Leben lang gekannt und geschätzt hatte, durchflutete Balfour und er umarmte ihn kurz. Dieser klopfte ihm gerührt auf die Schulter.

„Keine Sorge, Großer. Wir passen auf deinen Hof auf.“

„Dass du immer noch 'Großer' zu mir sagst, obwohl du mich seit über einem Jahrzehnt einen ganzen Kopf überragst.“

„Manche Gewohnheiten sind schwer abzuschütteln.“

„ Das stimmt. Übrigens ist es ab jetzt eigentlich dein Hof. Du bist von nun an der älteste Mann im Haus.“

Eik schmunzelte. „Das mag auf dem Papier vielleicht stimmen, aber wir wissen gewiss beide, wer der eigentliche Herr im Hause ist.“

„Àlainn“, sagten beide gleichzeitig und begannen laut zu lachen.

Balfour verließ den Stall und ging hinaus auf den Hof, wo Gleann gerade ihr Pferd sattelte. Sein treuester Freund und Bewunderer würde ihn selbstverständlich nach Alastríona begleiten. Als Gleann ihn erblickte, begann sein ganzes Gesicht zu strahlen, wie es einfach seine Art war.

„Seht ihn euch an, den zukünftigen Ritter der Königsgarde!“

„Abwarten. Noch bin ich nicht aufgenommen. Ich habe lediglich einen Bittgesuch beim Kronprinzen gewährt bekommen.“

„Ach, nur eine Frage der Zeit.“

„Lass uns den Tag nicht vor dem Abend loben. Bei der Zeremonie meiner Schwertleite dürft ihr mich alle beglückwünschen kommen, falls sie denn jemals stattfindet.“

„Balfour Dunham, du hast seit jeher erreicht, was du wolltest. Du wirst auch dies bewältigen.“

Gleann liebte und vergötterte alle Dunhams bedingungslos. Seit er als Kind in einer stürmischen Nacht an die Tür des Bauernhofes geklopft hatte, war er fester Bestandteil der Familie. Er war halb verhungert gewesen, durchgefroren, nur in Lumpen gehüllt. Niemand wusste genau, wo er herkam oder was mit seinen Eltern geschehen war. Balfours Vater Niall hatte wenige Wochen zuvor seine Frau verloren und niemand hätte es ihm übel genommen, wenn er das fremde Kind zum Waisenhaus nach Alastríona gebracht hätte. Doch der kleine dünne Junge mit den traurigen Augen hatte sein Herz gerührt und so hatte er ein weiteres Maul, das gestopft werden musste, aufgenommen und Gleann ein Zuhause gefunden.

Balfour war mehr als froh darüber, dass er ihn zur Burg des Königs begleitete.

„Bereit?“, fragte Gleann.

„Nicht wirklich. Aber wir reiten dennoch los, dann sind wir am Nachmittag in der Stadt.“

Balfour nahm seinen Leinenbeutel mit seinem wenigen Gepäck, den er nach dem Frühstück neben der Tür abgestellt hatte und befestigte ihn am Sattel des Pferdes.

In diesem Moment ging die Haustür auf und seine gesamte Familie trat hinaus ins Freie:

Àlainn, mit ihrem dreijährigen Sohn Dànaidh auf dem Arm; ihre beiden Töchter Stella und Peigi; sogar sein jüngerer Bruder Cailean.

„Falls du gedacht hast, wir ersparen dir einen schwülstigen Abschied um dein schlechtes Gewissen zu entlasten, dann hast du dich aber ganz schön getäuscht“, grinste Àlainn.

Balfour hörte Eik, der grade aus dem Stall kam, leise kichern.

„Natürlich nicht. Ich weiß schließlich, wie sehr du dich über jede Gelegenheit freust, mir das Herz noch schwerer zu machen.“

Die kleine Peigi begann zu weinen; Stella, das älteste von Àlainns Kindern, die zeitlebens besonders stark an Balfour gehangen hatte, rannte auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch.

„Oh Onkel Balfour, wir werden dich so vermissen.“

Balfour ging in die Hocke und sah ihr fest in die Augen. „Ihr werdet mir auch furchtbar fehlen und du ganz besonders, Stromer.“

„Wenn du das nächste Mal bei uns bist, hast du dann ein Schwert?“

„Das will ich stark hoffen.“

Er umarmte Stella, anschließend Peigi und auch Dànaidh ließ sich einen Schmatzer auf die Wange drücken.

Caileans Gesicht war verschlossen, aber als Balfour ihm die Hand entgegen streckte, ergriff er sie.

„Pass gut auf sie alle auf, Cailean, auch auf dich selbst. Denk an alles, was wir besprochen haben.“ Cailean öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch dann besann er sich, drehte sich abrupt um und verschwand im Haus.

Eik verabschiedete sich herzlich, bevor er die Kinder nahm und Cailean ins Haus folgte, sodass Balfour einen letzten Moment mit Àlainn alleine hatte. Er zog sie an sich, atmete den vertrauten Duft ihrer Haare nach Äpfeln und frischem Heu ein und wünschte sich kurz, sie würde mit ihm gehen, um die Welt zu entdecken, wie sie es sich als Kinder immer ausgemalt hatten.

Nach einer Weile machte sie sich von ihm los und lächelte ihn an, obwohl in ihren Augen Tränen standen. „Das ist jetzt also der Abschied.“

„Sieht ganz danach aus.“

Sie zupfte ein kleines Blatt aus seinem Haar. „Meine Güte, ich hoffe sie waschen dich und scheren dir deine Mähne, bevor sie dich in eine Rüstung stecken.“

„Deine Scherze waren schon mal besser, weißt du.“

„Es ist schwierig, unterhaltsam und heiter zu sein, wenn einem das Herz bricht.“

„Ich sag ja, du nutzt jede Gelegenheit, es mir schwerer zu machen.“

„Das ist schließlich meine Pflicht als kleine Schwester.“

„Mag sein.“

Er küsste sie auf die Wange. „Lebewohl, Àlainn. Wenn irgendetwas ist, schicke eine Brieftaube nach mir und ich werde in wenigen Stunden hier sein.“

„Lebewohl, Bruderherz. Mögen die Götter dich leiten.“

„Und was ist mit Glück? Wünschst du mir das nicht? Ich werde es brauchen.“

„Nein, Balfour. Du brauchst nur dich selbst, dann wird sich schon alles fügen. Auf Wiedersehen zur Schwertleite!“

Balfour drückte sie ein letztes Mal, dann drehte er sich um und ging eilig zu Gleann und ihrem Pferd. So verließen sie den Dunham - Hof in Richtung eines neuen Lebens, ohne dass Balfour einen Blick zurück warf.

Zu Fuß war es eine mehrstündige Reise von Seòras nach Alastríona, von der Balfour jede Minute genoss. Gleann verwickelte ihn nicht in Gespräche, sondern ließ ihn in Ruhe seinen Gedanken nachhängen, sodass ein angenehmes Schweigen sie auf ihrem Weg begleitete.

Balfour labte sich an den Schönheiten, welche die Natur ihnen auf ihrer Reise bot: das melodische Rauschen des Windes in den Bäumen, der verlockende Duft nach vom Tauwasser feuchtem Gras, das freundliche Plätschern von Bächen; kühle, aber nicht unangenehme Winterluft, die ihm in die Wangen biss. Der Westen Lýsistratas war reich an grünen Wiesen und dichten Wäldern, die eine Heimat für die verschiedensten Tiere boten, an Teichen und erfrischenden Quellen. Balfour kannte diese Gegend in - und auswendig, doch gerade weil er das Gefühl hatte, hier zu Hause zu sein und dauerhaft zurückkehren zu können, wollte er mehr von der Welt sehen. Nun, wo der Abschied von seiner Familie, der ihm seit Wochen schwer im Magen gelegen hatte, vorüber war und eine hoffnungsvolle Zukunft lockte, ergriffen Leichtigkeit und Frohmut von ihm Besitz.

Übermütig stimmte er ein altes Volkslied an, was er früher, besonders als er noch Kind war, oft und gerne gesungen hatte.

„Der Wind in den Bäumen, die Sterne so klar,

erzählen Dir flüsternd, von dem, was mal war,

vom Bauernkind das in die Welt hinaus zog

und den König um den Throne betrog.“

Als er zum Refrain kam, stimmte Gleann mit ein:

„ Bauernkind, Bauernkind, mutig und stark,

ging seinen eigenen Weg,

war sein Antlitz auch ärmlich und karg,

das Herz war tapfer und beseelt.

Hinfort von dem Hof, zu Fuß und zu Pferd,

zog es das Volke in seinen Bann,

vor den Toren der Stadt griff es zum Schwert,

und verteidigte den kleinen Mann.

Bauernkind, Bauernkind, wurde ein Held,

und seine Gefolgschaft blieb treu,

sie sahen wie das Reiche des Königs zerfällt,

so wurden sie sorglos und frei.

Als der Thron dann leer, weil der König war tot,

viel die Entscheidung nicht schwer,

bevor uns ein neuer Tyranne droht,

muss das Bauernkind her.

Bauernkind, Bauernkind, die Krone ist dein,

trag sie mit Bescheidenheit,

magst du auch noch ein Volksheld sein,

so droht Dir doch Häme und Neid.

So zog das Bauernkind frohsinnig ein,

in Hallen aus Marmor und Stein

und dachte verwundert im neuen Heim,

ich war geboren um König zu sein.

Bauernkind, Bauernkind, vergesse nur nie,

trotz all Deinem Wagemut,

all Deiner Klugheit und Deinem Genie,

bist Du dennoch von Bauernblut.“

Als sie das Lied beendet hatten, pfiffen und summten sie noch eine Weile jeder vor sich hin, bis schließlich am fernen Horizont die stolzen Stadtmauern Alastríonas aufragten.

„Nun wird es ernst“, sagte Gleann.

„Ja“, antwortete Balfour, „schauen wir mal, ob Alastríona, Hauptstadt Lýsistratas und Tor des Westens, einen Platz für ein wagemutiges Bauernkind hat.“

Die vier Hauptstädte Lýsistratas waren Kóróna im Norden, Dálach im Osten, Cùllodain im Süden und Alastríona im Westen. Jede dieser Städte war von einer meterhohen, streng bewachten Stadtmauer geschützt; im jeweiligen Zentrum stand eine Burg, in der die Fürsten der einzelnen Reiche hausten und regierten. Diese Fürsten waren genauso unterschiedlich wie die Gebiete, über die sie die Macht hatten: der Osten galt als altmodisch, sanft und zurückhaltend; der Süden war fortschrittlich und feurig; der Norden zurückgezogen, ohne viel Interesse an den Belangen der anderen Länder; der Westen wohlhabend und manchmal überheblich.

Alastríona hatte natürlich einen besonderen Stand, denn sie war nicht nur die Hauptstadt des Westens, sondern die Hauptstadt des gesamten Landes, da in ihr die Königsfamilie Catharnach von ihrer prunkvollen Burg Uallach aus über ganz Lýsistrata herrschte. Neben der Burg war das größte Treiben auf dem gewaltigen Marktplatz, auf dem sich Händler aus aller Welt tummelten und welcher sich über die ganze Hauptstraße erstreckte. In kleineren Seitengassen waren die Handwerkerzünfte untergebracht, in der Nähe der Burg fand man viele urige Gasthöfe und Schänken, ja es gab sogar einen kleinen Hafen. Das Leben in der Stadt war laut und hektisch, allerdings auf Grund der vielen fremden Besucher und Gäste von außerhalb, sowie einiger protziger Feiern des Königshauses, auch bunt und niemals langweilig. Es war eine wohlhabende Stadt mit sehr wenig Armut; Krüppel und Bettler waren rar gesät. Auch Krankheiten und Epidemien gab es selten, was der hohen Anzahl an Gelehrten, Alchemisten und Medici zu verdanken waren, die Alastríona dank der einzigen Universität des Landes beheimatete.

Obwohl Balfour bereits oft in Alastríona gewesen war, um auf dem Markt einzukaufen oder mit den eigenen Hoferzeugnissen zu handeln, erfüllten ihn der Lärm und der Gestank der Stadt im ersten Moment immer wieder mit Bestürzen.

Nachdem sie das große Haupttor problemlos passiert hatten, wurden Balfour, Gleann und das Pferd quasi wie von selbst von den Menschenmengen durch die Gassen geschoben.

Zwar war hier stets viel los, insbesondere auf dem Marktplatz, doch dieser Betrieb wunderte Balfour dennoch.

„Verzeiht“, sprach er einen vorüber eilenden Handwerker an, „aber wohin sind denn all diese Menschen unterwegs?“

„Na, wisst Ihr das etwa nicht? Kommt wohl von außerhalb, was?“

„Ja.“

„Ihr habt Euch einen schlechten Tag für Besuch ausgesucht, Bürschchen. Heute ist immerhin die Verlobte des Prinzen, Nansaidh Freisting aus dem Osten, eingetroffen. Und nun geht endlich zur Seite und lasst mich vorbei.“

Balfour führte Gleann und das Pferd in eine nahe gelegene Seitenstraße, wo es ein bisschen ruhiger war.

„Heute kommt die Lady aus Dálach?“ Balfour runzelte die Stirn. Natürlich wusste er von der bevorstehenden Heirat, in Seòras' Schänke hatte es wochenlang keinen anderen Gesprächsstoff gegeben. Doch dass Nansaidh Freisting heute in Alastríona eintreffen würde, war entweder ihm oder den Tratschtanten aus seinem Dorf entgangen.

„Das kann fürwahr kein Zufall sein“, meinte Gleann, „dass dich der Prinz einen Tag, nachdem seine Verlobte eintrifft, in die Stadt beordert. Vielleicht sollst du das Ost-Mädchen bewachen?“

„Tss“, schnaubte Balfour, „dafür braucht Prinz Breandan mit Sicherheit keinen Bauern. Außerdem hat Lady Freisting bestimmt ihren eigenen Hofstaat dabei.“

„Vermutlich. Trotzdem, seltsam ist es schon, dass musst du zugeben.“

„Ach, ich weiß nicht … ich darf mir selbst nicht so viel Bedeutung zumessen. Breandans Brieftaube kam schon vor Wochen, wahrscheinlich hat er sein Treffen mit dem Bauern einfach vergessen.“

„Aber, aber, jetzt sieh mal nicht so schwarz. Warten wir es einfach ab.“

„Ja, zuerst müssen wir mal aus diesem Gewühl hier raus, zumal es bald dunkel wird. Ich kenne da einen netten Gasthof, ganz in der Nähe der Burg. Hoffen wir mal, dass die trotz des Menschenauflaufs ein Plätzchen für uns haben, sonst müssen wir die Zeit bis zur Audienz morgen nämlich im Freien verbringen.“

Für den Weg, der sonst in einer guten halben Stunde zu schaffen war, brauchten sie fast dreimal so lang, sodass es bereits dämmerte, als sie den Gasthof erreichten. Balfour und Gleann schulterten ihr Gepäck während der Stallknecht das Pferd versorgte. Gerade als sie ihr Glück in der Schankstube versuchen wollten, ging ein Aufschrei durch die Menschen auf der Straße.

„Die Kraniche kommen, ich kann die Kraniche sehen!“

Sämtliche Köpfe reckten sich zum Himmel, die Menschen begannen zu lachen und sich an den Händen zu fassen, egal ob fremd oder Freund.

Balfour schaute ebenfalls nach oben und als er den wunderbaren, tanzähnlichen Flug der glanzvollen Vögel sah, fühlte er sich zuversichtlich und beschwingt. Auch zu Hause in Seòras warteten die Menschen jahraus, jahrein sehnsüchtig auf den Flug der Kraniche, als Zeichen für das Ende des Winters. Was dies betraf, waren sie nicht viel anders als die Städter und dieser Gedanke tröstete ihn.

Sein Blick war nach oben gewandt, weswegen er nicht mehr auf das Geschehen um sich herum achtete. Unbedingt wollte er seine Begeisterung mit Gleann teilen, sodass er sich schwungvoll nach ihm umdrehte … und dabei recht grob mit einer jungen Frau zusammen stieß. Diese schien ziemlich wacklig auf den Beinen zu sein, denn sie strauchelte, versuchte sich abzufangen, fiel jedoch zu Boden und stieß sich dabei den Kopf an einem Regenfass.

Tatsächlich beachtete niemand der feiernden Menschen sie großartig, nur Gleann war sofort an Balfours Seite, als er sich vorsichtig zu der bewusstlosen Frau hinunterbeugte.

Behutsam tätschelte er ihr die Wange, wobei er einen sehr aufdringlichen Geruch nach Hopfen und Malz wahrnahm.

Prüfend tastete er ihren Hinterkopf nach einer Wunde ab, doch da war nichts, alles was ihr von dem Sturz bleiben würde, wäre eine Beule.

Er betrachtete einen Moment ihr zotteliges braunes Haar, was ihr offen und verknotet bis weit über die Schultern wallte. Wieder stieg ihm der scharfe Biergeruch in die Nase, der offensichtlich nicht aus dem Wirtshaus, sondern von ihr kam.

„Also ich glaube, das hier war wirklich nicht meine Schuld. Die ist voll wie ein Fass.“

Ihr blasses Gesicht, ausgestattet mit einer Stupsnase und leuchtenden Sommersprossen, wäre recht gewöhnlich gewesen, gäbe es da nicht die bildschönen nachtblauen Augen, die sich gerade öffneten und ihn böse anblitzten.

„Lackel!“, sagte sie schnippisch und verpasste ihm eine saftige Ohrfeige.

3

Der Geschmack von Pfirsichen

Burg Uallach

Nansaidh Freisting saß an der großen gedeckten Tafel im Rittersaal der königlichen Burg. Das Mahl war dem festlichen Anlass entsprechend üppig: knusprig gebratener Fasan mit Wacholderbeeren, frisch gebackenes Roggenbrot, indem sogar Nüsse waren, würziger Ziegenkäse, getrocknete Datteln, obendrein das selbst in Adelskreisen selten servierte Seelachsfilet, dazu Wein mit edlen Gewürzen. Die Catharnachs verstanden es, ihrer zukünftigen Schwiegertochter und deren Gefolgschaft einen würdigen Empfang zu bereiten.

Obwohl das Essen mit verführerischem Duft lockte und allen übrigen Gästen zu munden schien, bekam Nansaidh keinen Bissen hinunter.

Sie saß zwischen ihrem Großvater und ihrem zukünftigen Gatten, Prinz Breandan, und versuchte sich so klein wie nur möglich zu machen. Ihr Großvater schien sich bestens zu unterhalten, aber für ihn war es ja auch leicht, denn er würde bereits Morgen wieder nach Hause reisen und erst in ein paar Wochen zur Vermählung wieder zurückkommen. Für ihn war das ganze ein aufregender Ausflug in Lýsistratas Hauptstadt, eine willkommene Abwechslung von seinem täglichen Einerlei.

Sie selbst dagegen würde für immer in Alastríona festsitzen, verkauft wie Vieh, von ihrer eigenen Familie.

Als kleines Mädchen hatte sie tatsächlich davon geträumt, einmal einen Prinzen zu heiraten und Königin zu werden. Gleichwohl hatte sie in ihrer Fantasie die Universität der Stadt besucht und dort zufällige Bekanntschaft mit dem königlichen Spross gemacht, der sofort hingerissen war von ihrer Klugheit und Schönheit, sodass er gar nicht anders konnte, als sich unsterblich in sie zu verlieben. Die Wahrheit sah leider ganz anders aus. Vor ein paar Monaten hatte ihr Großvater sie zu sich in sein Regenschaftszimmer gerufen und ihr eröffnet, dass er eine Brieftaube von König Eanruig bekommen hätte. Dieser suche nach einer passenden Gemahlin für seinen ältesten Sohn und denke, dass die richtige Frau in den Reihen der Freistings zu finden war. Rückblickend fand Nansaidh sehr dümmlich, dass sie sich im ersten Moment über diese Nachricht gefreut und sich gefragt hatte, welche ihrer Cousinen denn wohl die Glückliche war. Erst im Laufe des Gesprächs war ihr klar geworden, dass ihr Großvater sie auserwählt hatte. Herzog Conrígh hatte davon geschwafelt, was eine Ehre ihr zuteilwerden würde, doch Nansaidh war förmlich erstarrt. Erst als sie wieder in den Gemächern ihrer Eltern war, begriff sie, was mit ihr geschah. Ihr inständigstes Bitten, unter Tränen und Gezeter hundertmal vorgetragen, konnte ihre Eltern nicht erweichen und das Bündnis wurde besiegelt.

Als Auswege wären Nansaidh nur der Freitod oder Flucht in die Wildnis geblieben, doch da sie eigentlich das Leben liebte und in all ihren zweiundzwanzig Jahren noch nie aus den schützenden Mauern Dálachs hinausgekommen war, kam beides nicht in Frage.

Also saß sie hier, von einem goldenen Käfig in den nächsten verlegt, neben einem Mann, den sie nicht kannte, geschweige denn liebte, mit dem sie aber bald das Bett teilen sollte.

Verstohlen musterte sie Breandan aus den Augenwinkeln; begehrenswert war er durchaus und auch sein Lächeln, als er ihr aus der Kutsche geholfen hatte, war gewinnend und freundlich gewesen. Seitdem hatte er allerdings kein einziges Wort mit ihr gewechselt oder sie auch nur angesehen, stur unterhielt er sich die ganze Zeit mit seinem Vater zu seiner Linken.

Nansaidh überlegte gerade, ob sie sich doch einen Schluck von dem Wein genehmigen sollte, den sie bisher, da sie kaum Alkohol gewohnt war, verschmäht hatte, als der König sich erhob und zu einer Rede ansetzte:

„Verehrte Gäste, insbesondere natürlich unsere Freunde aus dem Osten, wir hoffen sehr, dass wir mit den dargebotenen Gaumenfreuden allgemeinen Zuspruch finden konnten. Mir persönlich hat es vorzüglich geschmeckt – wäre ich nicht schon verheiratet, würde ich glatt unserer Köchin einen Antrag machen.“ Die Menschen lachten höflich über des Königs Scherz, während die Königin mit versteinerter Miene nach ihrem Weinbecher griff.

„Damit das leibliche Wohl uns nun nicht allzu schläfrig macht, laden wir zu munterem Gesang und Tanz in den Ballsaal ein, wo wir den Abend in vergnüglichem Rahmen ausklingen lassen wollen. Aber vorher möchte ich ein Hoch aussprechen: auf meinen ältesten Sohn Prinz Breandan, sowie seine reizende Verlobte, die liebliche Nansaidh Freisting. Auf die Gesundheit und zum Wohl!“

Alle erhoben sich vom Tisch, reckten ihre Weinkelche empor und erwiderten „Auf die Gesundheit!“. Nansaidh war ebenfalls aufgestanden und hatte sich ein halbherziges Lächeln abgerungen, ihren Wein aber rührte sie immer noch nicht an.

Die ganze Festgesellschaft setzte sich schließlich in Bewegung, um in den Ballsaal nach nebenan zu gehen. Nansaidh überlegte ernsthaft, ob dies ein guter Moment war, zu fliehen. Mit Sicherheit würde man nun von ihr verlangen, mit Breandan den Eröffnungswalzer zu tanzen. Eigentlich liebte sie Tanz und Musik jeglicher Art, doch ihr graute davor ihren Verlobten anzufassen, noch dazu vor all den vielen neugierigen Augenpaaren.

Tatsächlich ging dieser Kelch an ihr vorüber, denn Breandan bestritt den Eröffnungstanz mit Königin Aignéis. Nansaidh beobachtete ihn dabei ganz genau und stellte erfreut fest, dass er sich äußerst elegant bewegen konnte und außerdem warmherzige Blicke für seine Mutter übrig hatte. Sie war so versunken in diesen Anblick, dass sie gar nicht bemerkte, wie der König sich neben sie stellte. Nun hielt er ihr ihren Weinkelch hin, den er wohl von der Tafel mitgebracht hatte.

„Mylady, ich hoffe es gefällt Euch an meinem Hofe.“

Nansaidh knickste, nahm den Kelch und antwortete mit leicht zitternder Stimme: „ Wir sind hier sehr freundlich empfangen worden, Euer Majestät.“

„Ich habe nicht gefragt, wie Ihr empfangen worden seid, sondern ob es Euch gefällt.“ Eanruig schaute lächelnd auf die Tanzfläche, dahingegen war seine Stimme kühl und schneidend.

„Verzeiht. Viel habe ich ja noch nicht von der Burg gesehen, aber sie erscheint mir recht prächtig. Und das Essen war wirklich äußerst delikat.“

„Wie wollt Ihr das beurteilen, wo Ihr noch nicht mal ein Stück Brot gekostet habt?“

Nansaidh spürte, wir ihr heiß wurde. Hatte der König sie etwa die ganze Zeit beobachtet?

„Ihr habt eben noch nicht mal am Wein genippt, obwohl ich auf Eure Gesundheit getrunken hab, Lady Nansaidh“, fuhr Eanruig unbeirrt fort.

„Vergebt mir“, stammelte sie verzweifelt. „Ich wollte Euch damit nicht beleidigen. Ich bin nur so … furchtbar aufgeregt. Es ist alles noch neu und ich weiß gar nicht, wie mir geschieht.“

„Das gibt Euch dennoch nicht das Recht, Eure guten Manieren zu vergessen. Was soll mein Sohn von Euch denken?“

Das ist mir gleichgültig, dachte Nansaidh für sich. Wenn es mich vor dieser schrecklichen Hochzeit bewahren würde, dann würde ich noch viel mehr Manieren vergessen. Aber wie stünde meine Familie dann da? Und was würde Großvater mit mir machen? Also fügte sie sich ergeben ihrem Schicksal.

„Vergebt mir“, wiederholte sie. „Ich werde es wieder gut machen!“

„Das hoffe ich doch! Trinkt!“, sagte Eanruig scharf und durchbohrte sie mit seinen grauen Augen.

Nansaidh setze den Kelch an und nippte zuerst vorsichtig, dann beherzter an dem würzigen Wein. Erstaunt stellte sie fest, wie das liebliche Aroma ihre Zunge und ihren Rachen entspannte und sich eine wohlige Wärme in ihrem Körper ausbreitete.

„So ist es Recht, Mylady. Und nun tut wenigstens so, als würdet Ihr Euch vergnügen.“ Eanruig grinste, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Er nickte ihr nochmal kurz zu und ging dann federnden Schrittes auf die Tanzfläche, um seinen Sohn beim Tanz abzulösen.

Nansaidh atmete schnaufend aus, ein beklemmendes Gefühl beschlich sie. Schnell trank sie erneut einen Schluck Wein und setzte anschließend ihr süßestes, falschestes Lächeln auf.

Ein paar Stunden später wurde sie erlöst und gemeinsam mit ihrer Kammerjungfer in ihre Räumlichkeiten geleitet. Breandan hatte ihr mit einem galanten Handkuss gute Nacht gewünscht, mehr Kontakt hatte es zwischen ihnen beiden nicht gegeben. Der Raum, der in den nächsten Wochen bis zur Vermählung ihr Zuhause sein würde, war klein, dabei jedoch durchaus gemütlich. Ein großes, hölzernes Himmelbett stand in seiner Mitte, bedeckt mit kuscheligem Schaffell, was darauf wartete, sie zu wärmen. Die Läden des Fensters waren geschlossen, davor stand eine Kiste mit frischem Stroh auf dem Boden, dass sie in die Rillen stopfen konnte, falls die Winterluft ins Zimmer hineingelangen würde. Doch dies würde bestimmt nicht nötig sein, da im Kamin ein heimeliges Feuer vor sich hin prasselte und eine angenehme Wärme verbreite; genau wie die vielen Talgkerzen, die ein Diener der Catharnachs angezündet haben musste.

Nansaidh lächelte, zum ersten Mal seit ihrer Ankunft fühlte sie sich wohl. Wenigstens in diesem behaglichen Raum würde sie es aushalten können. Der Diener, der sie zu ihrem Zimmer geleitet hatte, verneigte sich und ließ sie mit ihrer Kammerdame Fiona allein. Nansaidh ging raschen Schrittes hinüber zu dem schmalen Tisch, auf dem ein hübscher, großer Spiegel stand, setzte sich auf den Stuhl davor und betrachte ihre vom Wein geröteten Wangen. In diesem Moment hätte sie tatsächlich gerne einen weiteren Kelch von dem edlen Gebräu getrunken, sie war sich sicher, dass sie dann wunderbar würde schlafen können.

Fiona kam zu ihr herüber, löste die Perlmuttkämme, die Nansaidhs Lockenpracht im Zaum gehalten hatten und begann ihr liebevoll das Haar zu bürsten.

„Den ersten Abend habe ich geschafft, meine liebe Fiona. Nun liegen ein paar wenige köstliche Stunden vor mir, die ich ganz für mich alleine habe.“

„Ihr habt Euch gut geschlagen, Mylady, soweit ich das aus der Ferne beurteilen konnte.“

Nansaidhs Lächeln verblasste. „Oh ja, sehr gut geschlagen. Den König habe ich bereits am ersten Abend verärgert.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Es stimmt dennoch.“

„Was es auch war, es kann nicht so schlimm gewesen sein, dass Ihr es nicht bereinigen könnt. Da bin ich vollkommen sicher.“

Nansaidh drehte sich um und schaute Fiona, die ihr all die Jahre treu gedient hatte, in die Augen und ließ sich zu etwas hinreißen, was sich eigentlich ganz und gar nicht schickte: sie sprang auf und umarmte ihre Kammerjungfer.

„Ach meine Fiona, treue Freundin. Ich bin froh, dass Ihr mich hier an diesen Ort begleitet habt und Ihr mir erhalten bleibt. So fühle ich mich wenigstens nicht vollauf alleine.“

Fiona war überrascht, aber erwiderte die Umarmung. Nach einer kleinen Ewigkeit, ließ Nansaidh ihre Dienerin schweren Herzens los und ließ sich von ihr aus ihrem Mieder helfen.

Gerade als sie die Schleifen ihres Nachtkleides zugebunden hatten, klopfte es zögernd an der Tür.

Nansaidh runzelte die Stirn und fragte: „Wer ist da?“

„Prinz Breandan.“

Ihr rutsche das Herz in die Kniekehle, auch Fiona riss erschrocken die Augen auf.

„Ich weiß, es ist spät und wenn Ihr mich nicht mehr empfangen möchtet, verstehe ich das. Dennoch würde ich gerne kurz mit Euch reden.“

Geht, hätte sie am liebsten geschrien, geht und lasst mich in Frieden! Aber dies war ihr zukünftiger Ehemann und sie würde lernen müssen, ihn zufrieden zu stellen.

„Schon gut, einen Moment nur.“ Panisch packte sie Fiona an der Hand. „Ich kann ihm doch so nicht entgegen treten!“, flüsterte sie. „Allerdings brauchen wir ewig, um mich zurück in das Mieder zu schnüren.“

„Wartet, ich suche Euren Morgenrock.“ Fiona ging hinüber zu der Truhe, in der Nansaidhs Habseligkeiten untergebracht waren und wühlte ein wenig herum. „Hier, werft ihn Euch über, das muss genügen. Er ist schließlich Euer Verlobter.“

Dankbar griff Nansaidh nach dem Morgenrock, dann setzte sie sich auf ihr Bett, atmete noch einmal tief durch, nickte Fiona knapp zu und wartete, dass diese die Tür öffnete.

Vorsichtig, fast schüchtern, betrat Breandan den Raum. „Oh, Ihr wart schon bettfertig. Ich … ich kann wirklich wieder gehen.“

„Nein! Nein, bleibt ruhig. Wir hatten heute kaum Gelegenheit, uns bekannt zu machen.“ Sie zeigte auf den Stuhl. „Nehmt doch Platz, bitte.“

Bevor er sich setzte, wandte sich Breandan an Fiona. „Euer Dienst wird heute Abend nicht mehr benötigt, vielen Dank. Bitte lasst uns allein.“

Fiona blickte Nansaidh bestürzt an, verließ dann aber sofort das Zimmer- einem Befehl des Prinzen durfte sie sich nicht widersetzen.

Nansaidh fühlte sich elend. Sie war noch nie mit einem Mann alleine in einem Raum gewesen, außer natürlich mit ihrem Vater oder Großvater. Der Osten hatte strenge Moralvorstellungen, die es jungen, unverheirateten Frauen untersagten, sich ohne weitere Gesellschaft in der Nähe eines Mannes aufzuhalten. Dass der Westen andere, ungehemmtere Sitten hatte, war ihr bekannt, jedoch hatte sie nicht bereits am ersten Abend damit gerechnet. Mit ihren offenen Haaren, ohne Mieder und in ihrem Nachtkleid, fühlte sie sich wie Freiwild. Würde Breandan sie anfassen, küssen oder sogar versuchen, vorzeitig die Ehe zu vollziehen? Unter Verlobten wäre dies noch nicht mal unüblich, doch Nansaidh fühlte sich dazu einfach nicht bereit. Wie würde er reagieren, wenn sie sich ihm verweigerte? So verzweifelt wie in diesem Moment, hatte sie sich noch nie gefühlt, weswegen ihr Körper unkontrolliert zu zittern begann. Breandan entging dies nicht.

„Mylady, friert Ihr? Soll ich ein wenig Stroh in das Fenster stopfen? Oder Euch noch ein Schaffell bringen lassen?“

„Nein, das ist äußerst aufmerksam von Euch. Aber mir ist nicht kalt.“

„Was ist es dann? Geht es Euch nicht gut?“

Nun konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und begann laut zu schluchzen. „Breandan, mein Prinz … was erwartet Ihr heute von mir?“

Breandan schien ehrlich erschrocken, als ihm klar wurde, warum sie dermaßen aufgelöst war.