Die Legenden von Andor - Das Lied des Königs - Stefanie Schmitt - E-Book

Die Legenden von Andor - Das Lied des Königs E-Book

Stefanie Schmitt

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Beschreibung

Schreckliche Dinge passieren im Lande Andor. Unbarmherzig und grausam greifen die Gors die Bewohner des Wachsamen Waldes an und plündern das Archiv am Baum der Lieder. Auch Cavern, das Reich der Zwerge, wird von einer dunklen Macht heimgesucht. Ganz allein macht sich die Bogenschützin Chada auf den Weg, um König Brandur um Hilfe zu bitten. Wer oder was steckt hinter all diesen Angriffen? Wird Chada die Rietburg je erreichen? Und was bedeuten die geheimnisvollen Zeilen der längst vergessenen Legende? Für Chada und ihre Gefährten beginnt ein verzweifelter Kampf gegen die bösen Mächte, die den Frieden von Andor bedrohen.

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KOSMOS

Illustrationen und Umschlaggestaltung: Michael Menzel

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©2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-14866-2

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Dieses Buch ist meinen Eltern Maria und Friedhelm gewidmet, die mich immer unterstützt haben.

In den Tiefen des Grauen Gebirges, dort, wo niemals ein Lichtstrahl hingelangt, öffnete sich ein glutrotes Auge.

»Zeit hat dein Volk, doch Ruhe mitnichten,

denn wenn du stirbst, werde ich sie richten!«

PROLOG

Die Kammer war kreisrund und hatte nur ein einziges Fenster. Staub flirrte in der Luft. Als Melkart eintrat, fiel ein goldener Lichtstrahl auf Pergamente und Bücher, die sich in den Regalen an den Wänden stapelten. Hier, hoch oben im Baum der Lieder, lagen sie: die Legenden von Andor – unzählige Lieder, Chroniken und Berichte, die er, der Oberste Priester, zu ordnen und zu bewahren hatte.

Doch dieser Raum, den er soeben betrat, das Schwarze Archiv, barg die anderen Schriften. Jene, die sorgsam gehütet werden mussten und die nur für seine Augen bestimmt waren. Zu groß war die Macht, die von ihnen ausging. Und die Gefahr. War es das, was er heute noch stärker als sonst spürte? Wäre es nicht sogar besser, wenn manche dieser Schriften ganz in Vergessenheit gerieten? Für immer? Seine schmale Hand zitterte und brachte die Öllampe, die er trug, zum Flackern.

Er stellte die Lampe auf das Schreibpult vor dem Fenster. Fast wie von selbst griff seine Hand nach einer der jüngeren Rollen im Regal, die in seiner eigenen, zierlichen Handschrift beschrieben war. Eine merkwürdige Erregung überkam ihn, als er das knisternde Pergament entrollte.

In diesem Moment fiel ein Schatten auf die Kammer. Melkart zuckte zusammen, und als er aufblickte, sah er die Umrisse einer Gestalt vor dem Fenster. Im nächsten Moment war sie auch schon verschwunden. Doch er hatte keinen Zweifel, wer zu so später Stunde noch im Baum der Lieder herumkletterte.

Erst jetzt bemerkte er, dass er der Öllampe zu nahe gekommen war. Eine kleine Flamme leckte an einer Ecke der Rolle und fraß sich ins Pergament. Da er nichts anderes fand, nahm er hastig sein bodenlanges weißes Gewand zu Hilfe, um sie zu ersticken. Seufzend blies Melkart die Lampe aus, vergewisserte sich, dass die Flamme keinen größeren Schaden angerichtet hatte, und verließ ärgerlich und mit schnellen Schritten das Schwarze Archiv.

DER WACHSAME WALD

Als Chada die Baumkrone erreicht hatte, konnte sie sehen, wie die Sonne an diesem Herbstabend langsam hinter dem Horizont verschwand und den Wachsamen Wald in Gold tauchte. Sie trug wie die meisten Bewahrer ein grünes Leinenhemd, darüber einen langen Umhang, und ihr kurzes schwarzes Haar hatte der Wind zerzaust. Ihren Bogen Audax, den sie immer bei sich trug, hatte sie über die Schulter gelegt.

Hier oben im Baum der Lieder war ihr Lieblingsplatz. Von hier aus konnte sie im Süden die Gipfel des Grauen Gebirges sehen, an dessen Fuß das Reich der Schildzwerge lag. Im Westen ließ sich der Fluss Narne erkennen, die Lebensader von Andor. Dahinter begann das Rietland, in dem die Burg von König Brandur stand.

»Chada, was machst du denn noch da oben? Du solltest längst an deinem Pult sitzen!«

Auf Chadas fein geschnittenem Gesicht mit den dunklen grünen Augen zeigte sich Unwillen und die friedvolle Stimmung verflog, als sie Melkarts Stimme hörte. Der Oberste Priester der Bewahrer hatte ihr die Aufgabe zugeteilt, einen Bericht über die letzten Erntetage im Wachsamen Wald zu schreiben. Eine langweilige und, wie Chada fand, völlig unnütze Aufgabe. Es war nicht das erste Mal, dass er sie ermahnte, sie zu Ende zu bringen.

»Ich weiß, dass du mich gehört hast, Chada!« Melkart klang ungehalten.

Chada fiel es schwer, ihrer Aufgabe als Bewahrerin nachzukommen und Berichte niederzuschreiben, und schon der Gedanke daran machte sie ungeduldig. Viel lieber wollte sie durch den Wachsamen Wald streifen oder – und das wäre wirklich das Beste! – das Land Andor erkunden. Doch das war unmöglich, denn die Bewahrer durften die Grenzen ihres Waldes nicht überschreiten. Gab es bedeutende Geschehnisse im Land, kamen die Menschen hierher und berichteten davon. Die Aufgabe der Bewahrer war es, sie in das Archiv, den Baum der Lieder, aufzunehmen, um sie so vor dem Vergessen zu schützen.

Chada erhob sich und kletterte geschickt auf allen vieren den dicken Ast entlang, auf dem sie gesessen hatte. Zwar hatte sie eine diebische Freude daran, Melkart zur Weißglut zu bringen, doch durfte sie auch nicht zu weit gehen. Melkart war, ganz abgesehen davon, dass er der höchste Würdenträger der Bewahrer war, auch das, was einem Vater für Chada am nächsten kam. Aber vor allem hatte er wenig Verständnis, wenn man seinen Anweisungen nicht folgte. Als sie den mächtigen Stamm erreichte, lief sie so schnell wie möglich die hölzerne Treppe zur Schreibstube des Obersten Priesters hinunter.

Melkart empfing sie mit einem missbilligenden Blick. Sein braunes Haar lag offen über den Schultern, feine Linien durchzogen sein schmales Gesicht und verliehen ihm etwas Ehrwürdiges. Ordnung und Gewissenhaftigkeit waren seine obersten Prinzipien. Umso erstaunter war Chada über den schwarzen Rußfleck auf seinem ansonsten makellosen Gewand. Doch Melkart beachtete ihren fragenden Blick nicht.

»So geht das nicht weiter, Chada. Du musst lernen, deine Aufgaben zu erfüllen. Zeit ist ein kostbares Geschenk und wir sollten sie nicht mit Tagträumen vergeuden!« Sie wollte etwas erwidern, doch Melkart ließ sie nicht zu Wort kommen. »Du wirst diesen Bericht jetzt zu Ende bringen! Andernfalls werde ich mir überlegen, ob du an der nächsten Jagd teilnehmen darfst.«

»Was?! Aber ich übe seit Wochen dafür!« Die Jagd im Wald war für die Bewahrer ein besonderes Ereignis. Die Bogenschützen stellten ihr Können unter Beweis und am Ende des Tages wurde der Beste von ihnen vom Obersten Priester geehrt. Nicht daran teilnehmen zu dürfen, war für Chada die härteste Strafe, die sie sich vorstellen konnte.

»Dann solltest du vielleicht deine Aufgaben genauso gewissenhaft erfüllen wie dein Bogenschießen! Du wirst so lange hierbleiben, bis der Bericht fertig ist.«

Ergeben setzte sich Chada an den Tisch. Während sie überlegte, wie sie anfangen sollte, glitt ihr Blick über die Regale in dem halbrunden Raum, die bis oben hin mit Pergamenten gefüllt waren. Immer wieder wunderte sie sich, wie Melkart es schaffte, den Überblick zu behalten. Nie musste er nach etwas suchen, denn allem hatte er eine Nummer oder einen Buchstaben gegeben. Diese Ordnung erschien Chada fast schon unheimlich, sie selbst suchte eigentlich ständig irgendetwas.

Melkart hatte sich ebenfalls an sein Pult gesetzt und zu arbeiten begonnen. Chada tauchte die Feder ins Tintenfass und fing an:

Wir schreiben das Jahr 59 nach andorischer Zeit. Ein langer Sommer liegt hinter uns. Die Alten sagen, es sei der heißeste, den es jemals gegeben habe, aber ich glaube, das sagen sie fast jedes Jahr …

Selbst im Wald war die Hitze an manchen Tagen kaum zu ertragen gewesen, erinnerte sich Chada. Doch es gab Waldpilze und Apfelnüsse im Überfluss und alle hatten sich über die reiche Ernte gefreut. Und wenn dann später im Jahr die fahrenden Händler mit ihren Waren kommen würden, hätten die Waldbewohner sicher noch genug zum Tauschen übrig.

Ein Stoß gegen ihren Ellbogen ließ Chada zusammenzucken. »Du musst es nicht nur denken, sondern auch zu Pergament bringen.« Melkart sah sie tadelnd an. »Unsere Aufgabe ist es, die Geschehnisse im Land festzuhalten. Diese Verantwortung trägst auch du! Aber wie ich sehe –«

Weiter kam er nicht, denn Chada war aufgesprungen und zum Fenster geeilt. »Hast du diesen Schrei gehört, Melkart?«

Der Oberste Priester sah Chada irritiert an und für einen Augenblick lauschten beide angestrengt, dann polterte er los: »Jetzt ist es aber genug! Meine Geduld ist am Ende! Die nächste Jagd ist für dich gestrichen. Du wirst sofort hinausgehen und die Löschfässer kontrollieren. Vielleicht kommt dir ja dabei die Einsicht, wie wichtig unsere Berichte und Legenden sind!«

Chada wusste zwar, dass die Löschfässer noch gut gefüllt waren, aber ihr war klar, dass jedes Widerwort alles nur noch schlimmer machen würde. Wütend verließ sie das Archiv. Sie war sich ganz sicher, etwas gehört zu haben. Seltsam hatte der Schrei geklungen, nicht wie der eines Menschen. Sie eilte die Treppe hinunter, die spiralförmig in den gigantischen Stamm gehauen war. Am Ende der Treppe verließ Chada den Stamm durch eine große Pforte. Sie blieb stehen und lauschte, doch es war nichts zu hören.

Sie blickte nach oben auf die schweren Löschfässer, die mit Tauen an den Ästen befestigt waren, und seufzte tief. Die Fässer mussten immer gefüllt sein, damit die Bewahrer bei einem Brand schnellstmöglich eingreifen konnten.

Der Baum der Lieder stand auf einer Lichtung und war umgeben von großen Mammutbäumen. Jetzt am Abend lag der Platz verlassen und still da. Chada lief den schmalen Weg entlang, der zum Brunnen führte, und wollte gerade den ersten Eimer mit Wasser füllen, als sie plötzlich ein Jaulen hörte. Sie stellte den Eimer ab und lauschte.

Das Geräusch kam aus dem Wald. Chada schlich leise durch das Gehölz. Immer wieder blieb sie stehen und horchte. Da! Das Jaulen kam aus einer Tanne, deren dichte Zweige bis auf den Boden reichten. Leise näherte sie sich, schob vorsichtig einen großen Ast zur Seite – und blickte in die leuchtend grünen Augen eines großen grauen Wolfs. Chada hielt erschrocken inne. Auch der Wolf starrte sie unverwandt an. Und dann, ehe sie sich versah, schnappte er zu, grub seine bleichen Zähne in ihren Umhang und zerrte sie unter die Tanne. Chada wimmerte, doch der Wolf hatte sie schon wieder losgelassen. Er stand über ihr und seine Schnauze berührte beinahe ihre Nase. Chada roch Blut und Fleisch in seinem Atem. Mit rasendem Herzen blieb sie liegen. Unfähig, klar zu denken oder sich zu bewegen. Alles, was sie sah, waren diese zwei smaragdgrünen Augen. Und plötzlich erkannte Chada, dass sie schon einmal in diese Augen geblickt hatte. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, schleckte ihr der Wolf mit seiner rauen Zunge über das Gesicht. Chada blinzelte ungläubig.

In diesem Moment hörte sie Schritte. Chada erstarrte. Zu dieser späten Stunde ging kein Bewahrer mehr in den Wald! Der merkwürdige Schrei kam ihr wieder in den Sinn und erst jetzt wurde ihr bewusst, wie weit sie sich von der Lichtung am Baum der Lieder entfernt hatte. Sie machte sich klein und rutschte näher an den Wolf heran, dabei bemerkte sie eine tiefe Wunde an seinem Hinterlauf. Die Schritte kamen näher und ein Schnauben war zu hören.

Als Chada durch die Äste spähte, konnte sie zuerst kaum etwas erkennen, aber plötzlich tauchte nur wenige Schritte vor ihr eine Gestalt auf, gewaltig und Furcht einflößend. Die Kreatur war größer als ein Mensch, der Kopf hatte etwas Raubtierhaftes und ihr stachelbewehrter Schwanz peitschte über den Waldboden. Ein ekelerregender Gestank nach Blut und faulem Fleisch ging von ihr aus. Chada hatte solch ein Wesen noch nie gesehen, aber aus den Büchern im Baum der Lieder wusste sie, dass dies ein Skral sein musste. Eine Dunkle Kreatur, ungeheuer stark, die Siedlungen überfiel und Menschen fraß. Doch wie war das möglich? Wie konnte ein Skral den Wachsamen Wald betreten, ohne von den Wächtern am Waldrand entdeckt zu werden? Die Kreatur hob den Kopf und jäh gellte ein Schrei durch die Nacht.

Das war es also, was sie gehört hatte! Einen Augenblick später antwortete aus der Ferne ein ähnlicher Schrei. Dann war es still. Chada drückte sich tiefer in die Zweige. Der Wolf neben ihr hatte die Ohren aufgestellt und lauschte angespannt. Nach einem schier endlosen bangen Moment setzte sich die Gestalt wieder in Bewegung. Immer noch starr vor Schreck blieb Chada sitzen.

Als sie sich endlich wieder rühren konnte, war es bereits stockdunkel. Chada wollte nur eins, und zwar so schnell wie möglich zurück zur Lichtung. »Komm!«, flüsterte sie dem Wolf zu. Vorsichtig rappelte sie sich auf, doch der Wolf hatte sich zusammengerollt und begann, sein verletztes Bein zu lecken. Unschlüssig blieb Chada stehen, dann kniete sie sich neben ihn.

»Du bist brav und wirst mich nicht beißen, oder?« Sanft legte sie ihm eine Hand auf den Kopf. Der Wolf blieb ruhig und so kraulte sie ihn am Hals. »Ich habe dich schon einmal gesehen, da bin ich mir fast sicher«, sagte Chada leise und betrachtete grübelnd das Tier. Da richtete der Wolf seine grünen Augen auf sie und auf einmal erinnerte sie sich.

Es war im letzten Frühjahr auf der Jagd gewesen. Ein großer Wolf hatte in einiger Entfernung zwischen den Bäumen gestanden und die Bogenschützen beobachtet. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, denn Wölfe kamen häufig in den Wachsamen Wald. Jetzt aber ging ihr auf, dass er damals nicht die anderen Bogenschützen, sondern sie angesehen hatte.

»Dann kennen wir uns ja bereits«, flüsterte sie dem Wolf zu. »Ich finde, wenn du noch eine Weile bei mir bleibst, dann brauchst du auch einen Namen.« Sie kraulte ihm die Ohren. »Wie wäre es mit Lonas? Das heißt ›der Gezähmte‹. Was hältst du davon?« Der Wolf wedelte leicht mit dem Schwanz. »Gut, dann ist es abgemacht«, sagte Chada und schob die Zweige der Tanne zur Seite.

Im spärlichen Mondlicht war niemand zu sehen. »Komm«, flüsterte sie, »wir haben Heiler im Dorf. Die werden sich um deine Verletzung kümmern. Außerdem müssen wir so schnell wie möglich Melkart von dem Skral berichten.« Schwerfällig kam der Wolf auf die Beine und folgte ihr. Hier und da war ein Rascheln zu hören, aber sie begegneten weder Wächter noch Kreatur auf ihrem Weg zur Lichtung. Als Chada den orangenen Schein der Feuerstellen sah, atmete sie erleichtert auf.

»Wir sind gleich da, Lonas«, sagte sie, als plötzlich ein Schrei durch die Dunkelheit hallte, ganz ähnlich dem, den sie im Wald gehört hatte. Alarmiert blickte Chada sich um. Am Baum der Lieder waren die Wachen in Bewegung und schlichen vorsichtig auf die Lichtung.

In diesem Moment brachen die Dunklen Kreaturen durch das Unterholz. Von allen Seiten kamen sie auf die Lichtung gestürmt: Skrale, mit Schwertern und Schilden bewehrt, die kraftstrotzenden Körper mit Rüstungen bedeckt, und die kleineren, aber nicht weniger gefährlichen Gors, deren Hände in zwei unterarmlangen, scharfen Hornklauen endeten.

Die wenigen Bewahrer auf der Lichtung formierten sich Rücken an Rücken. Chada sprang über einen kleinen Fels am Saum der Lichtung, zog ihren Bogen hervor und legte den ersten Pfeil auf die Sehne. Auf der Jagd hatte sie gelernt, ein Tier mit nur einem einzigen Schuss zu erlegen, damit es nicht unnötige Qualen litt. Diese Fähigkeit kam ihr jetzt zugute, denn der erste Gor, den sie ins Visier nahm, war nur einen Augenblick später tot.

Doch es waren zu viele! Schon stürmten zwei weitere Gors auf sie zu. Kurz überlegte sie, welchen der beiden sie töten sollte, ehe der andere wiederum sie umbrächte. Doch Lonas nahm ihr die Entscheidung ab. Trotz seiner Verletzung sprang er einem der beiden Gors an die Kehle und riss ihn zu Boden. Chadas Pfeil schnellte von der Sehne und durchbohrte die schuppenbedeckte Brust des zweiten Gors, der augenblicklich zu Boden sank.

Lonas jaulte auf, als er wieder auf die Beine kam, und Chada kauerte sich zu ihm. Um sie herum tauchten mehr und mehr Kreaturen auf. Chada suchte mit dem Wolf hinter dem Felsen Deckung. Die Alarmglocke ertönte, bald würde Verstärkung aus dem Dorf kommen. Die gepanzerten Skrale setzten ihren Weg unbeirrt fort. Bald würden sie den Baum erreicht haben. Was um alles in der Welt wollten sie dort? Dort gab es nichts! Kein Vieh, keine Vorräte! Nur alte Pergamente und staubige Bücher.

Ein mächtiger Skral stand etwas abseits. Er überragte die anderen um zwei Haupteslängen und brüllte Befehle in einer Sprache, die Chada nicht verstand. Wo blieben nur die anderen Bewahrer? Die Skrale drangen immer weiter vor und hatten bereits das Portal am Baum erreicht. Verzweifelt suchte Chada die Lichtung nach Verstärkung ab.

Da blieb ihr Blick an einem der Löschfässer hängen. Ein verirrter Pfeil steckte darin und ein dünner Wasserstrahl rann herab. Ein weiteres großes Eichenfass hing an einem Ast genau über dem Portal. Chada spannte Audax und zielte. Der Pfeil zischte durch die Luft. Für einen Moment dachte sie, dass er sein Ziel verfehlt hätte, aber dann sah sie, dass einige Stränge des Taus zerfetzt herunterbaumelten. Sie zog einen weiteren Pfeil hervor und ließ ihn von der Sehne schnellen. Fast im selben Augenblick sah sie, wie das Seil riss und das Löschfass vor den Eingang zum Archiv krachte. Holz barst und Wasser ergoss sich nach allen Seiten. Diejenigen Skrale, die nicht von dem riesigen Fass erschlagen wurden, riss der Schwall von den Füßen. Von überallher erschollen jetzt die Hörner der Bewahrer und immer mehr Bogenschützen strömten auf die Lichtung.

Ein markerschütternder Schrei des großen Skrals durchdrang den Lärm. Als die Bestien das Signal zum Rückzug vernahmen, wandten sie sich vom Baum ab und flohen.

Eine Welle der Erschöpfung durchfuhr Chada. Audax glitt ihr aus der Hand. Sie ließ sich ins Gras sinken und starrte auf die Verwüstung um sie herum, auf die vielen Verwundeten und Toten. Dorfbewohner und Bewahrer, die sie von klein auf gekannt hatte. Es löste sich keine einzige Träne aus ihren Augen. Stattdessen empfand sie lodernden Hass auf die Kreaturen, die so feige im Schutz der Nacht angegriffen hatten. Erst als sie Lonas’ Atem neben sich spürte, kam ihr der Wolf wieder in den Sinn. Sie umarmte ihn und vergrub ihr Gesicht in seinem grauen Fell.

DER AUFBRUCH

Das Laub raschelte unter Chadas Füßen, als sie zwischen den hohen Bäumen des Wachsamen Waldes durch die kühle Herbstnacht schritt, mit Lonas dicht an ihrer Seite. Sie trug ihren Bogen Audax über der Schulter, das Bündel mit Proviant auf ihrem Rücken. Hatte sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen? Sie wusste, dass das, was sie tat, für eine Bewahrerin ungeheuerlich war. Und doch fühlte es sich richtig an. Denn seit letzter Nacht hatte sich alles verändert.

Alles hatte mit der großen Versammlung begonnen. Vier Tage nach dem nächtlichen Angriff der Kreaturen am Baum der Lieder hatte Melkart nicht nur die Dorfbewohner, sondern auch einen Großteil der Wachen auf dem Dorfplatz versammelt. Fahl und kalt schien das Licht an diesem Abend durch die hohen, schlanken Bäume und ein ungekannter Schrecken lag über dem von Lehmhütten gesäumten Platz.

Nachdem alle eingetroffen waren, hatte Melkart das Wort ergriffen: »Es sind schwere Zeiten für die Bewahrer angebrochen. Wir werden von Kreaturen attackiert, die furchtbarer nicht sein könnten. Viele Bewahrer sind bei dem Versuch, das Archiv zu schützen, ums Leben gekommen. Die meisten von euch haben Freunde oder Verwandte in dieser schrecklichen Nacht verloren und uns alle plagt die Angst vor weiteren Überfällen.« Als wolle er die bitteren Erinnerungen bannen, hob er beschwichtigend die Arme. »Und doch – haben wir nicht auch schon früher Angriffe erlebt und ihnen Widerstand geleistet? Seit hunderten von Jahren haben wir unseren Wald und unser aller Leben erfolgreich verteidigt!«

Die Bewahrer lauschten Melkarts Rede. Manche flüsterten miteinander, andere schwiegen bedrückt. Chada hatte einen Platz unweit einer der vielen kleineren Feuerstellen gefunden. Sie beobachtete Melkart genau. Während einige Bewahrer nach dem Angriff Chada für ihren Einfall mit dem Löschfass gedankt und ihr Geschick mit dem Bogen gelobt hatten, hatte Melkart bisher ihr gegenüber kein Wort verloren. Es hieß, er habe viel Zeit in seiner Kammer und im Schwarzen Archiv verbracht, wo jene Schriften, die nicht allen zugänglich waren, unter Verschluss gehalten wurden.

Die Heilung der Verletzten und die Bestattung der Gefallenen hatte Melkart anderen Priestern überlassen. Das war ungewöhnlich und Chada vermutete, dass ihn etwas beschäftigte. »Ich veranlasse hiermit«, fuhr Melkart fort, »die Arbeit im Archiv auszusetzen. Die Archivare werden die Wachen am Waldrand verstärken. Die Alarmhörner werden aus allen vier Himmelsrichtungen zu jeder Viertelstunde geblasen. Sollte auch nur eines ausbleiben, sind wir alarmiert und können den Dunklen Kreaturen im Kampf begegnen und sie in die Flucht schlagen, wie wir es seit hunderten von Jahren tun und auch weiterhin tun werden.«

Da meldete sich plötzlich Larissa, die Heilerin, zu Wort. »Hoher Priester, ich glaube, ich spreche für alle hier, wenn ich sage: Selbstverständlich wollen wir helfen, den Baum der Lieder und sein Archiv zu schützen. Aber was, frage ich dich, sollen die Wachen gegen gepanzerte Skrale ausrichten?« Seit dem Angriff wirkte Larissa um Jahre gealtert. Im Feuerschein sah ihr Gesicht grau und eingefallen aus und die Kleidung zeigte hier und da Blutflecken. »Gewarnt zu sein, dass die Kreaturen kommen, ist das eine, aber sie aufzuhalten, ist etwas anderes! Wir haben keine Rüstungen!«, fuhr sie fort. »Melkart, ich habe in den letzten Tagen mehr Wunden und mehr Blut gesehen als in meinem ganzen Leben zuvor. Wohin soll das führen? Unsere Chancen stehen schlecht gegen Kreaturen, die bis an die Zähne bewaffnet sind!«

»Und woher haben sie überhaupt ihre Waffen?«, warf einer der Dorfbewohner ein. »Nie zuvor hat man gesehen, dass Skrale Waffen führen oder Schilde tragen. Sie sind, soweit man weiß, nicht einmal in der Lage, Eisen zu schmieden!« Zustimmendes Gemurmel war zu hören.

Chada aber hatte sich gefragt, warum niemand die entscheidende Frage stellte: Warum griffen die Kreaturen überhaupt den Baum der Lieder an? Was wollten sie dort erbeuten? Was genau führten sie im Schilde?

»Meine Nachforschungen haben ergeben«, ergriff Melkart erneut das Wort, »dass die Waffen der Skrale eindeutig von Zwergenhand gefertigt wurden.« Abermals wurde ein Tuscheln und Raunen in den Reihen der Bewahrer laut. »Wir haben die Zusammenhänge noch nicht ergründen können, doch es ist durchaus möglich, dass die Schildzwerge aus Cavern die Kreaturen bewaffnet und gegen uns ausgesandt haben. Fürst Hallgard ist ein finsterer Despot und nie ein Freund der Menschen gewesen. Darum müssen wir die Grenzen unseres Waldes sichern, und ich bin überzeugt, dass dies zu gegebener Zeit zum Erfolg führen wird …«

Wieder gelang es Melkart, es so aussehen zu lassen, als käme es allein auf bessere Schutzmaßnahmen an. Chada konnte es nicht fassen. Warum verharmloste er die Lebensgefahr, in der sie alle schwebten, und tat so, als sei dies eine der üblichen Bedrohungen, deren sie schon häufig Herr geworden waren? War es denn nicht offensichtlich, was die Bewahrer jetzt zu tun hatten?

Und dann platzte es aus ihr heraus: »Melkart! Wir können doch nicht hier sitzen und uns wie die Schafe immer wieder überfallen lassen. Wir brauchen Hilfe. Andor hat einen König, Andor hat Krieger. Wir müssen den König um Hilfe bitten. Wir müssen zur Rietburg!«

Alle waren verstummt. Es war schon unüblich, dass die jungen Bewahrer an Zusammenkünften wie diesen teilnahmen, doch wenn, so hielten sie sich zurück und ergriffen vor allem niemals das Wort. Chada war im ganzen Dorf wohlbekannt als die Waise, die unter Melkarts Fittichen groß geworden war. Ihr Eigensinn war ebenfalls kein Geheimnis. Aber nun schien sie eindeutig zu weit gegangen zu sein. Chada fühlte die missbilligenden Blicke der Bewahrer auf sich, trotzdem fuhr sie mit fester Stimme fort: »Seht ihr denn nicht das Offensichtliche? Sie werden uns, einen nach dem anderen, umbringen. Deshalb müssen wir den Wachsamen Wald verlassen und den König …« Als sie Melkarts Blick begegnete, fühlte sie seinen glühenden Zorn und brach ab.

»Den Wachsamen Wald verlassen, Chada?«, presste er hervor und es war unübersehbar, dass es ihn alle Mühe kostete, seine Wut im Zaum zu halten. »Unsere alten Bücher und Pergamente sind voll von Bedrohungen. Und von den Taten, mit denen wir sie abgewehrt haben! Gäbest du nur ein Mal dem Gehorsam den Vorzug vor dem Eigensinn und würdest ebenjene alten Bücher lesen, so wüsstest du das.« Melkart hielt einen Moment inne und alle Blicke richteten sich auf Chada. »Aber du weißt nichts! Und nun geh. Verlasse diese Versammlung auf der Stelle und geh!«

In Chada kochte es, und als sie den Dorfplatz verließ, wusste sie bereits, dass sie dieses eine Mal gehorchen würde: ›Geh!‹, hatte Melkart ihr befohlen. Gut, sie würde gehen – nur eben sehr viel weiter, als er es verlangt hatte.

Noch in derselben Nacht hatte sie ihr Bündel mit etwas Brot und Äpfeln gepackt. Den Trinkschlauch hatte sie am Brunnen aufgefüllt, aber das Wichtigste war, das silberne Amulett mitzunehmen. Es hatte die Form einer Raute und war über und über mit einem ungewöhnlichen Ornament verziert. Das Amulett war das einzige Erinnerungsstück, das sie von ihrer Mutter besaß, die kurz nach ihrer Geburt gestorben war. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Vor einigen Jahren hatte Melkart ihr das Schmuckstück gegeben und seither hütete sie es wie ihren Augapfel.

Als alles gepackt war, schlich sie leise mit Lonas durch das Dorf. Vor Melkarts Hütte machte sie halt und legte eine Nachricht vor seiner Tür ab. Er sollte möglichst bald wissen, was sie vorhatte, und sich, wenn es nach ihr ginge, schwarzärgern. Sie lächelte grimmig und verließ kurz darauf das Dorf.

Seither waren einige Stunden vergangen. Chada war froh, Lonas an ihrer Seite zu haben. Seine Verletzung heilte schnell, er humpelte zwar noch ein wenig, konnte aber erstaunlich gut mithalten. Ihre Unternehmung war ungeheuerlich, aber sie spürte auch eine tiefe Freude darüber, endlich fortzugehen und etwas von der Welt zu sehen. Die Baumstämme um sie herum kamen ihr plötzlich wie die Stäbe eines Käfigs vor, dessen Tür sich endlich geöffnet hatte. Das Wichtigste aber war, dass sie noch immer zu ihrem Entschluss stand. Sie handelte aus reinem Gewissen, denn sie hatte wirklich Angst um die Bewahrer, ihre Freunde und das ganze Dorf, und sie glaubte daran, dass nur Brandur, der König von Andor, ihnen helfen konnte. Wenn die Geschichten über ihn stimmten, würde er sie nicht im Stich lassen.

Um sich ein wenig zu beruhigen, sagte sie zu Lonas: »Wir müssen uns westlich halten, dann kommt die Taubrücke. Die Wachen dort werden uns vielleicht nicht vorbeilassen wollen, doch da lassen wir uns etwas einfallen.« Sie streichelte dem Wolf über den Kopf. »Wie es auf der anderen Seite des Flusses weitergeht, weiß ich leider nicht, aber die Burg des Königs werden wir schon finden, mein Grauer.«

Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch die Zweige, als die Bogenschützin und der Wolf endlich die Taubrücke erreichten. Vorsichtig näherten sie sich und verbargen sich dann hinter einem wuchtigen Baumstamm. Irritiert stellte Chada fest, dass an der Brücke keine Wachen standen. Das war ungewöhnlich, denn auch schon vor den Angriffen der letzten Zeit waren die Taubrücke im Westen und die Bogenbrücke am südlichen Waldrand Tag und Nacht mit Wachen besetzt gewesen. Vielleicht waren sie aber auch nur eingenickt und schliefen nicht weit von hier unter einem Baum. Chada konnte nichts erkennen, und als Lonas neben ihr immer unruhiger wurde, entschloss sie sich, es einfach zu riskieren. Sie gab sich einen Ruck, sah sich noch einmal um und betrat mit klopfendem Herzen die schwankende Brücke.

Zum ersten Mal in ihrem Leben verließ sie den Wachsamen Wald. Sie blickte auf die Narne, die reißend unter ihr hinwegströmte. Hunderte Male hatte sie den Fluss vom höchsten Ast im Baum der Lieder aus gesehen, als silbernes Band in der Ferne. Jetzt endlich überquerte sie ihn.

NOCH IMMER EIN KRIEGER

Als Thorn dem Floß einen Stoß gab, überkam ihn tiefe Traurigkeit. Vor zwei Tagen war seine Mutter gestorben, und heute hatte er sie, wie es bei den Andori üblich war, auf ein Floß gebunden, um sie die Narne hinunterzuschicken, in der Hoffnung, sie werde das offene Meer erreichen. Dort, so glaubten die Andori, würde das ewige Glück auf sie warten. Jetzt stand er in der Morgendämmerung am Ufer und sah zu, wie die Strömung das Floß ergriff. Groß und breitschultrig stand er da, das blonde Haar vom Wind zerzaust, und seine blauen Augen sahen traurig dem Floß hinterher, das seine Mutter forttrug. Sie war seine letzte Verwandte gewesen.

Wie sollte es jetzt weitergehen? Er war fünfundzwanzig Jahre alt und musste eine Entscheidung treffen, jetzt, da seine Mutter tot war. Im Dorf hielt ihn nun nichts mehr. Schon als Kind hatte er gewusst, dass er sein Leben nicht als Bauer verbringen wollte.

Thorn dachte an den Tag, als Harthalt, der Schwertmeister der Rietburg, in sein Leben getreten war. Damals hatte sich für Thorn alles geändert. Er war zwölf Jahre alt gewesen und hatte auf dem Acker mit einem langen Holzstock auf die stehen gebliebenen Halme eingehauen, auch wenn sein Vater das überhaupt nicht mochte. Aber Thorn träumte davon, eines Tages ein Krieger des Königs zu werden, und wenn er sich unbeobachtet fühlte, nahm er seinen Stock und kämpfte gegen unsichtbare Gegner. Harthalt hatte ihn dabei beobachtet. Er war zu seinen Eltern gegangen und hatte sie darum gebeten, den Jungen an der Rietburg von König Brandur als Schwertkämpfer ausbilden zu dürfen. Schweren Herzens stimmten sie zu und so hatte Thorn kurz darauf das Dorf und sein Zuhause verlassen.

Er erinnerte sich genau, wie er zum ersten Mal die Burg betreten hatte, die große Feste, die König Brandur zum Schutze seiner Untertanen eigenhändig erbaut hatte, und es kam ihm vor, als sei das der glücklichste Tag in seinem Leben gewesen. Harthalt brachte ihm die Grundlagen des Schwertkampfes bei und Thorn lernte schnell. Auch die Männer des Königs schätzten die Begabung des Jungen und nahmen ihn gern in ihre Mitte auf. Es waren glückliche Jahre auf der Rietburg, doch die Erinnerung an den letzten Tag dort war schmerzlich. Obwohl seitdem einige Jahre ins Land gegangen waren, fühlte es sich an, als wäre es erst gestern gewesen …

Alles hatte in der Waffenkammer der Rietburg begonnen. »Hör zu, Thorn«, hatte Harthalt zu ihm gesagt, »Prinz Thorald wünscht die Waffenübungen nur mit dir und keinem anderen zu machen, und es gibt keinen Grund, dies abzulehnen.« Als Thorn nicht antwortete, fügte Harthalt freundlich, aber bestimmt hinzu: »Er ist der Sohn des Königs. Du hast keine Wahl.«

Thorn fuhr mit dem Finger langsam über die Schneide seines Schwertes und sagte schließlich seufzend: »Ich weiß es ja.« Er mochte Thorald nicht sonderlich, und die Waffen mit ihm zu kreuzen, behagte ihm ganz und gar nicht.

»Tja, mein Freund«, sagte Harthalt, »so hat jeder sein Bündel zu tragen, und dies ist nun einmal deins. Er hat das Recht, sich seinen Gegner auszusuchen. Es sollte eine Ehre für dich sein, vom Thronfolger auserwählt zu werden.« Harthalt hatte Thorn belustigt angegrinst, ihm auf den Rücken geklopft und gemeinsam hatten sie die Waffenkammer in Richtung Übungsplatz verlassen.

Dort waren sie schon vom Prinzen und einigen anderen Kriegern des Königs erwartet worden. Thorald hatte wie üblich einen feinen Zwirn an, der zwar gut aussah, aber kaum für den Kampf geeignet war. Der Prinz war ebenso groß wie Thorn, hatte im Gegensatz zu diesem jedoch eher schmale Schultern. Das braune Haar trug er zu einem Zopf geflochten und seine hellblauen Augen hatten stets etwas Fragendes.

Nun standen sich die Männer gegenüber, die Stiefel tief in den Schlamm versenkt. Harthalt stellte sich breitbeinig vor die Gruppe und verschränkte die Arme. »So, ihr beiden, und jetzt zeigt ihr mir, wie man gegen einen Gor kämpft. Stellt euch einfach vor, der andere wäre eine dieser hinterhältigen Bestien.« Die Freude auf den bevorstehenden Kampf war Harthalt anzusehen.

Thorn und der Prinz nahmen ebenfalls ihre Positionen ein. »Na, was ist? Angst?«, fragte Prinz Thorald angriffslustig. »Brauchst du nicht zu haben. Ich werd dir schon nicht wehtun.«

»Wenn das nur meine einzige Sorge wäre …« Thorn eröffnete den Kampf mit mehreren langsamen Hieben. Eine Weile parierte der Prinz, doch plötzlich drehte er sich übermütig zur Seite, sodass ihn Thorns Klinge am rechten Arm traf und einen hässlichen Schnitt hinterließ. Prinz Thorald heulte auf, starrte verwundert auf seinen Arm und sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht in den Schlamm. Harthalt war sofort zur Stelle.

Thorn sah erschrocken auf die Wunde des Prinzen, aber gleichzeitig packte ihn die Wut über so viel Ungeschick. Als er die Blicke der anderen Kämpfer spürte, steckte er zornig sein Schwert in die Scheide und verließ mit schnellen Schritten den Übungsplatz. ›Dieser Idiot‹, dachte Thorn. ›Der König wird mich aufhängen lassen, wenn das so weitergeht.‹

Er lief in seine Kammer, warf das Schwert zur Seite und grübelte den ganzen Nachmittag darüber, was er nun tun sollte, bis Harthalt am Abend an seine Tür klopfte. Sein Gesicht war voller Mitgefühl und Thorn befürchtete schon, dass es den Prinzen schlimmer getroffen hatte als gedacht.

Aber dann sagte der Schwertmeister: »Soeben ist ein Brief für dich eingetroffen. Fälschlicherweise hat der Falkner die Nachricht geöffnet, weil er glaubte, sie sei für jemand anderen. Hier.« Thorn erinnerte sich noch, wie Harthalt gezögert hatte, als er ihm den Brief gab: »Dein Vater ist tot. Er starb an einem seltenen Fieber und deine Mutter bittet dich, nach Hause zu kommen.«

Daraufhin hatte Thorn ohne Abschied die Rietburg verlassen und war in sein Dorf zurückgekehrt, um seine Pflicht zu erfüllen. Er stand seiner Mutter bei und übernahm die Feldarbeit. In der ersten Zeit, so erinnerte sich Thorn, war ihm nicht klar gewesen, was er aufgegeben hatte. Aber mit den Jahren kam die Einsicht. Der Schwertkampf war immer noch seine Leidenschaft, er vermisste seine Waffenbrüder und besonders den Schwertmeister Harthalt. Aber ob er nach all den Jahren auf die Burg zurückkehren konnte? Würde der König ihn wieder aufnehmen? Oder war er damals in Ungnade gefallen?

In diesem Moment, in der Morgendämmerung am Ufer der Narne, wurde es ihm klar: Er musste es herausfinden und darauf ankommen lassen.

Als die Entscheidung gefallen war, gab es keinen Grund mehr zu zögern. Er ging zurück ins Dorf, schnürte sein Bündel und verabschiedete sich von den Nachbarn. Dann umarmte er seinen Freund Betram und dessen Familie. Mit einer Träne im Auge gab ihm die kleine Jutte zum Abschied einen Kuss. Als er aufbrach, wurde es gerade hell.

Leichter Nebel lag zwischen den Bäumen. Thorn trug die dunkelblaue Kampfkleidung, die er damals von König Brandur bekommen hatte. Er war zwar älter geworden, aber seine Statur hatte sich kaum verändert. Das Schwert an seiner Seite war ein Geschenk von Harthalt und für Thorn das Symbol seiner Bestimmung. Auf dem Rücken trug er sein Bündel mit Proviant. Auch die andorische Flöte durfte nicht fehlen, ein etwa zwei Handbreit langes Holzröhrchen mit fünf Löchern auf der Vorderseite und einem auf der Rückseite. Ihr Klang war einzigartig. Die Rietländer waren ein fröhliches Volk: Sie liebten es, zu singen und zur Melodie des Instrumentes zu tanzen.

Es war nicht schwer, den Trampelpfad zu finden, der zur Taverne »Zum Trunkenen Troll« führte. Denn obwohl die Taverne ein gutes Stück entfernt lag, besuchten die Männer des Dorfes sie recht häufig. Sie war ein beliebter Ort, um Neuigkeiten auszutauschen und den herb-süßen Met zu trinken. Thorn kannte die Wirtin Gilda, eine unerschrockene, freundliche Person mit einer sehr schönen Singstimme. Jetzt, so früh am Morgen, war die Taverne allerdings noch geschlossen und so setzte er seinen Marsch fort, immer tiefer ins Rietland hinein.

Als Thorn kurz darauf eine Anhöhe erreichte, fühlte er sich auf unerklärliche Weise erleichtert. Er hatte einen guten Teil des Weges hinter sich gebracht. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und er fand einen Felsen, der zur Rast einlud. Er legte seinen Schwertgurt und sein Bündel ab, aß etwas Pökelfleisch und trank Wasser aus dem Lederschlauch. Er gönnte sich noch einige Minuten der Ruhe und genoss die Wärme der Sonnenstrahlen. Dann erhob er sich und ließ seinen Blick über das golden wogende Rietgras nach Norden wandern. Da war sie, die Rietburg. Wie gut es tun würde, seine alten Kameraden wiederzusehen!

Plötzlich schreckte ihn ein seltsames Geräusch auf. Es war eine Art Scharren, das aus dem hohen Gras direkt hinter ihm kam. Als Thorn sich umdrehte, tauchte wie aus dem Nichts ein Gor auf. Zischend schwang die Bestie die riesigen Hornklauen. Doch niemals, das wusste Thorn, kamen diese unsäglichen Kreaturen allein. Harthalt hatte ihm eingebläut: ›Wenn der erste Gor in Sichtweite ist, steht der zweite schon hinter dir.‹ Thorn zog den Kopf ein und drehte sich blitzschnell zur Seite. Tatsächlich hatte sich ein zweiter Gor hinter seinem Rücken verborgen und seine Klaue verfehlte nur knapp Thorns Kopf. Nun standen die beiden Kreaturen Thorn gegenüber. Instinktiv griff er nach seinem Schwert – und bemerkte erschrocken, dass es noch am Felsen lag. Mit einem höhnischen Grinsen folgten die Gors seinem Blick. Ein unbewaffneter Mensch war ihnen am liebsten. Schon sprang einer der beiden auf Thorn zu.

Mit den Reflexen eines Kriegers packte er den Gor bei der Hornklaue und schleuderte ihn über die Schulter. Doch Thorn hatte die Wucht der Bewegung unterschätzt. Er strauchelte und fiel ins Gras.

Da brüllte der zweite Gor los. Er hatte erkannt, dass dieser Gegner nicht leicht zu besiegen war. Am Boden liegend ertastete Thorn einen faustgroßen Stein und griff danach. Es war Thorns Glück, dass die Angreifer im hüfthohen Rietgras nicht sehen konnten, was er vorhatte. Noch ehe sich der erste Gor aufgerappelt hatte und der zweite ihn erreichte, richtete Thorn sich auf und schleuderte der Kreatur den Stein entgegen. Blitzschnell nutzte er die Ablenkung und rannte auf den Felsen zu. Doch der Gor ließ sich nicht