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Die Leiche am Deich E-Book

Joost Jensen

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Beschreibung

In Sünnum ist die Welt noch in Ordnung: Die herzliche Gesine Felber betreibt in dem kleinen Dorf den Kroog, eine urige Kneipe mit kleinem Lädchen. Der Kroog ist das zweite Wohnzimmer der Sünnumer, bei selbstgebrautem Bier wird hier nach Herzenslust geschnackt, gefeixt, gelacht und gefeiert.

Mit der Ruhe und Gemütlichkeit ist es allerdings vorbei, als die Leiche einer Frau am Strand gefunden wird. Die Tote ist die Ehefrau des Großbauern Burmeister, der sich mit seinem Milchbetrieb vor allem bei Umweltaktivisten keine Freunde gemacht hat. Wird Burmeister der Nächste sein? Als Enno, ein guter Freund von Gesine und leidenschaftlicher Naturschützer, ins Visier der Ermittlungen gerät, macht sie sich unerschrocken auf die Suche nach dem wahren Täter ...

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Seitenzahl: 369

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Insel Verlag

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eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4913.

Erste Auflage 2022insel taschenbuch 4913© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2022© Joost Jensen 2022

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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: FinePic®, München: Himmel und Vögel; mauritius images, Mittenwald: Haus (Manfred Ruckszio/Alamy), Landschaft (Helen Hotson/Alamy)

eISBN 978-3-458-77344-3

www.suhrkamp.de

Strandgeflüster

Kerstin Burmeister stand am Strand von Sünnum und sah auf die Nordsee. Die Wellen plätscherten an diesem Abend träge ans Ufer, als sei ihnen am Ende des Tages die Puste ausgegangen. Die Natur hatte beim Sonnenuntergang wieder einen unsichtbaren Pinsel in die Hand genommen und am Himmel mit kräftigen Gelb-, Orange- und Rottönen ein Gemälde von solcher Intensität erschaffen, dass dagegen selbst Meisterwerke bekannter Künstler wie Kinderzeichnungen wirkten. Vereinzelte Schleierwolken ließen die Farben etwas verblassen, als wäre das sich ständig ändernde Bild mit Aquarelltechnik gemalt worden.

Das Rauschen des Meeres, in das sich immer wieder die Schreie der Möwen und die Rufe der Austernfischer mischten, war nicht nur die ewige Symphonie des Nordens, sondern auch die Melodie von Kerstins Leben. Obwohl sie nicht an der Küste aufgewachsen war, gab es für sie keinen schöneren Ort – vor allem nicht nach der ersten Begegnung mit ihm.

Ein lauer Wind strich sanft über ihre Haut und spielte mit den halblangen Haaren, die sie an diesem Abend offen trug. In den ersten Wochen hatte sie sich noch gegen ihre Gefühle gewehrt, aber in seinen Armen spürte Kerstin wieder jene Leichtigkeit des Seins, die sie in ihrer Ehe verloren hatte. Er war …

Kerstin schüttelte den Kopf, als könnte sie die Gedanken an ihn damit aufscheuchen wie einen Vogelschwarm, aber es gelang ihr nicht. Dabei war sie doch eine verheiratete Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen stand und ihre romantischen Träume schon vor langer Zeit in einer Kiste verstaut und unter dem Gerümpel alltäglicher Banalitäten vergraben hatte.

Eine Windbö trug Gelächter und Stimmengewirr vom Kroog zu ihr herüber. Obwohl Kerstin das reetgedeckte Anwesen mit der Schankwirtschaft vom Strand aus nicht sehen konnte, erschien vor ihrem geistigen Auge sofort ein Bild des hufeisenförmig angelegten Gebäudes – die Sonnenblumen vor den weiß gekalkten Wänden wirkten mit ihren gelben Köpfen wie ein pflanzliches Begrüßungskomitee, das jeden Gast persönlich willkommen hieß. Neben dem Eingang stand eine Holzbank, deren ursprünglich dunkelblaue Farbe inzwischen verblasst war.

Im Innenhof wucherten üppig blühende Hortensien, Rosensträucher und Wildblumen in leeren Bierfässern, die die rüstige Friesenbrauerin Gesine Felber als Pflanzentröge nutzte. Dazwischen standen aus alten Schiffsplanken gezimmerte Bänke und Tische, an denen sich die Sünnumer auf ein Bier und einen Klönschnack trafen. Ausrangierte Schiffslaternen sorgten in der Dunkelheit für ein behagliches Licht.

Vielleicht könnten sie sich eines Tages gemeinsam im Kroog sehen lassen.

Bis dahin …

Eine Gestalt, die mit gesenktem Kopf an den Brandungsausläufern entlanglief, erregte ihre Aufmerksamkeit und Kerstin schritt Richtung Deich, sie wollte nicht gesehen werden. Zu ihrer Erleichterung ging die Person, die unter der weiten Jacke und mit über den Kopf gezogener Kapuze nicht zu erkennen war, weiter an der Wasserlinie entlang. Den Blick hielt sie auf den Boden gerichtet, als suche sie etwas. Doch dann blieb sie abrupt stehen, sah auf, genau in ihre Richtung, und eilte mit schnellen Schritten direkt auf sie zu.

Kerstin lief in geduckter Haltung zu ihrem roten VW Beetle zurück, den sie auf dem Parkplatz hinter dem Deich abgestellt hatte. Sie ärgerte sich über sich selbst, denn sie hätte bis zum Treffen im Wagen bleiben sollen – aber dann wäre ihr der prachtvolle Sonnenuntergang entgangen, den sie sich unbedingt hatte ansehen wollen.

Hoffentlich hatte sie mit ihrem Leichtsinn nichts riskiert. Spontanität war ein Luxus, den sie sich in ihrer momentanen Situation keinesfalls leisten konnte.

Kerstin hatte den Deich fast erreicht, als die Gestalt ein paar Meter vor ihr auftauchte.

Kerstin blieb stehen und fluchte innerlich. Wenn sie erkannt wurde, musste sie sich eine gute Ausrede einfallen lassen, denn ihr Mann vermutete sie beim monatlichen Treffen der Landfrauen und nicht am Strand von Sünnum.

Sie gab sich einen Ruck, schließlich musste sie sich so normal wie möglich verhalten: »Oh, Sie haben mich aber erschreckt.«

Die Gestalt, die ihr Gesicht hinter der tief in die Stirn gezogenen Kapuze und einem hochgezogenen Multifunktionstuch versteckte, blieb reglos und schweigend vor ihr stehen.

»Dürfte ich bitte durch?«

Statt der Aufforderung nachzukommen, machte die Gestalt einen Schritt auf Kerstin zu. Jetzt nahm sie verwundert wahr, dass die Hände ihres Gegenübers in dünnen schwarzen Lederhandschuhen steckten. Na, so kalt war es nun wirklich nicht, dachte sie kurz, doch da hob die Gestalt blitzschnell die Hand und Kerstin erkannte nur noch die metallene Klinge eines Messers, die auf sie zuraste. Instinktiv riss sie den Arm schützend vor ihr Gesicht. Als die tödliche Waffe ihren Unterarm aufritzte, stieß sie einen schmerzverzerrten Schrei aus und presste die Hand auf den blutenden Schnitt. Fassungslos sah sie ihr Gegenüber an und spürte, wie ihr Herz in der Brust wild pochte und dumpfe Panik in ihr aufkam.

Was wollte der Unbekannte von ihr?

Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie ihre Angst mit dieser Geste vertreiben, und trat nach ihrem Angreifer. Während ihr Widersacher dadurch einen Moment abgelenkt war, drehte Kerstin sich um und rannte, so schnell es auf sandigem Untergrund möglich war, zurück zum Meer. Die Füße versanken bei jedem Schritt im pudrigen Sand. Keuchend kämpfte sie sich Meter für Meter voran und bald ragte der Leuchtturm von Sünnum in unmittelbarer Nähe vor ihr auf. Kerstin schrie und fuchtelte mit den Armen. Vielleicht bemerkte sie der alte Joris, der im Leuchtturm wohnte.

»Keiner wird dir helfen«, zischte da eine Stimme direkt hinter ihr. Kerstin mobilisierte ihre letzten Kräfte und rannte weiter zum Wasser.

Doch plötzlich drehte sich die Welt und die Nordsee verdrängte den Himmel. Einen Moment lang überlegte Kerstin, warum das Meer nicht auslief wie ein umgekippter Eimer. Dann begriff sie, dass sie gestürzt war und, vom Schwung getragen, über den Strand rollte. Sand und winzige Muschelstückchen drangen trotz der zusammengekniffenen Lippen in ihren Mund und staubten in die Nasenlöcher. Kerstin rappelte sich wieder auf und blickte hinter sich. Entsetzt bemerkte sie, dass ihr Verfolger sie längst eingeholt hatte und ihr nun auf Armeslänge gegenüberstand. Dann machte er einen Satz, packte grob ihren verletzten Arm und zog sie zu sich. Kerstin wollte sich mit aller Kraft losreißen. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Als sie den Kopf hob, erkannte sie ein Ankermotiv auf dem Multifunktionstuch ihres Angreifers. Wie konnte das sein? Sie kannte das Tuch. Sie hatte es ihm geschenkt.

Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz, der wie ein Tsunami über sie hereinbrach. Fassungslos starrte Kerstin auf das Messer, das in ihrer Brust steckte.

»Warum hast du das getan?«

Einige Augenblicke hielt sie sich noch aufrecht, dann fiel sie in sich zusammen wie eine Marionette mit zerschnittenen Fäden. Kräftige Finger griffen unter ihre Achseln und zogen sie in die auflaufende Brandung, wo ihr Körper zu einem Spielball der Wellen wurde.

Tüdelbräu

»Tüdelbüdel, wann kommt mein Bier endlich?« Joris Harms, der ehemalige Kapitän, winkte mit seinem leeren Glas.

»Das dauert noch einen Moment, mein Lieber, schließlich bist du nicht der Einzige mit einer trockenen Kehle.« Gesine Felber reichte dem hageren Postboten, der sich wie andere Sünnumer an der Theke im Kroog drängte, zwei frisch gezapfte Biere und hielt sofort ein weiteres Glas unter die Zapfanlage.

Der kleine Schankraum war erfüllt von Stimmengewirr und Gelächter. Die Wand hinter der Theke, die fast die gesamte Stirnseite einnahm, wurde von einem Regal dominiert, das mit verschiedenen Schnapsflaschen, Gläsern und Strandgut gefüllt war. An den anderen Wänden hingen handgemalte Ölbilder, auf denen sturmgepeitschte Wellen und Segelschiffe zu sehen waren. Die alten Holzrahmen waren verkratzt und an den Ecken abgestoßen. Auf einem Gemälde prangte seit Jahren ein daumengroßer schwarzer Fingerabdruck, den sich niemand erklären konnte.

Aus den Lautsprechern erklang ein Shanty-Chor, der mit getragenen Stimmen das Fernweh eines Matrosen beklagte. Über der Theke hing eine ausrangierte Schiffsglocke aus Messing, an deren Klöppel ein Hanfseil befestigt war und die nur zu besonderen Anlässen geläutet wurde.

»Tüdelbüdel, nun komm schon, mein Rachen fühlt sich an wie Sandpapier«, klagte Joris erneut und schob seine Seemannsmütze in den Nacken. Dabei wurden seine stoppelkurzen weißen Haare sichtbar, die auf der wettergegerbten Haut wie ein Heiligenschein aussahen. Der weiße Vollbart ließ ihn auf den ersten Blick wie einen Weihnachtsmann in Seemannskleidung wirken.

»Dagegen empfehle ich dir ein Halsbonbon. Im Laden müsste ich noch eine Packung haben.«

Die Friesenbrauerin, die von den Einheimischen wegen ihrer Erzählungen, in denen sie Wahrheit mit Seemannsgarn verwebte, liebevoll Tüdelbüdel genannt wurde, zwinkerte ihrem guten alten Freund Joris zu und ließ ihren Blick dann durch den Raum schweifen.

Der Kroog war an diesem Abend wieder brechend voll – das war bei drei Stehtischen im Schankraum allerdings kein Wunder. Die meisten Sünnumer tranken ihr Bier an diesem lauen Sommerabend im Innenhof.

Unter der Gastwirtschaft befand sich ein Keller, der eine kleine Brauanlage beherbergte, die aus einem Zwei-Geräte-Sudwerk bestand. Von dort aus wurde das Bier über einen Durchlaufkühler direkt zum Zapfhahn geleitet. In dem Kellerraum stapelten sich neben den Fässern zudem Kisten mit Bierflaschen, die Gesine eigenhändig abgefüllt hatte.

Auch wenn sie das Tüdelbräu nur für die Sünnumer braute, schaffte sie die damit verbundene Arbeit oft nur mit Hilfe ihrer Tochter Wiebke und der Unterstützung von Joris.

Neben dem Kroog beherbergte Gesines Anwesen auch das einzige Geschäft des Ortes: einen Tante-Emma-Laden in der Größe eines Wohnzimmers, der im Dorf nur Lädchen genannt wurde. Die mit Artikeln des alltäglichen Bedarfs gefüllten Regale reichten bis zur Decke. Auf dem hölzernen Verkaufstresen stand ein Glas, das Bonbons in Form bunter Zuckerfische beinhaltete und auf den ersten Blick wie ein Aquarium aussah. Verkauft wurden die süßen Naschereien in sogenannten Heringsschwärmen, die Gesine in Papiertüten füllte und in meist ungewaschene Kinderhände drückte. Das Geld, das ihr die Kleinen dafür auf den Zahlteller legten, reichte immer – auch wenn es nur wenige Kupfermünzen waren. In einer Kühltheke, die sich hinter den mit frischem Obst und Gemüse gefüllten Kisten versteckte, lagerten Milchprodukte des örtlichen Biobauern. Seine Frau brachte ihr jeden Morgen frischgebackenes Brot und Rosinenbrötchen, die Gesine meist innerhalb weniger Stunden verkaufte.

Da sie während der Öffnungszeiten nicht ständig im Laden sein konnte, bedienten sich die Einheimischen mitunter selbst und schrieben die Einkäufe in eine Kladde, die in ihrer Abwesenheit auf dem Verkaufstresen lag. Bezahlt wurde bei der nächsten Besorgung, spätestens am Ende jeden Monats. Obwohl im Kroog offiziell erst ab neunzehn Uhr Bier ausgeschenkt wurde, ließ die Friesenbrauerin tagsüber niemanden verdursten und verkaufte abends – in dringenden Fällen auch nach Ladenschluss – Halspastillen, Nylonstrümpfe, Tütensuppen oder andere Dinge, deren Erwerb nicht bis zum nächsten Tag warten konnte. Irgendetwas fehlte schließlich immer.

»Nu is daddeldu!«, grummelte Joris, humpelte um die Theke herum und stellte sich neben die Wirtin.

»Was willst du denn hier?« Gesine drehte sich zu ihm um, wobei sie das Glas weiterhin unter die Zapfanlage hielt.

»Einen alten Mann vor dem Verdursten retten!« Er nahm ihr das inzwischen gefüllte Glas aus der Hand und trank in großen Schlucken.

»Mein Tüdelbräu hat dir wohl den Verstand vernebelt!« Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. »Allerdings könnte ich neben meiner Tochter eine weitere Aushilfe in der Gaststätte brauchen. Wenn du also bei mir arbeiten willst …«

»Damit du mich den ganzen Tag rumkommandieren kannst? Du büst woll meschugge«, unterbrach Joris ihren Redefluss und leerte dann sein Glas.

»Ich würde dir lediglich einige Anweisungen erteilen, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst. Tagsüber könntest du mir auch im Lädchen zur Hand gehen. Willst du einer alten Frau wirklich nicht helfen?«

»Alte Frau?« Joris zog die Augenbrauen hoch. »Als ich dich einmal so genannt habe, bist du wie eine Furie auf mich losgegangen und hast mir mit lebenslangem Lokalverbot gedroht.«

»Ich bin auch die Einzige, die sich diese Unverschämtheit herausnehmen darf.« Tüdelbüdel zwinkerte ihm zu. »Wenn du mich nicht unterstützen willst, musst du dich jetzt vom Acker machen.«

»Joris, kannst du nicht zumindest eine Weile zapfen, damit Gesine uns Gesellschaft leisten kann?« Heiko Gebhard deutete auf einen der drei Stehtische, an dem er mit seinem Bruder Sören und dem Tischler stand.

»Ist das okay, mein Seebär? Eine Pause würde mir guttun.« Gesine sah Joris fragend an.

»Hinter der Theke verdurste ich jedenfalls nicht«, grummelte er und übernahm den Zapfhahn.

Die Friesenbrauerin folgte dem Postboten durch die dichtgedrängt stehenden Gäste. Gesine betrachtete Sünnum als eine Art Mikrokosmos, der nach seinen eigenen Regeln funktionierte – als hätte der liebe Gott eine unsichtbare Kuppel über das Dorf gestülpt und es auf diese Weise von der Außenwelt abgeschirmt.

»Wie viele Umdrehungen hat das neue Tüdelbräu eigentlich?« Der beleibte Wattführer Sören, hinter dem sich die meisten Sünnumer problemlos verstecken konnten, leerte sein halbvolles Glas in einem Zug und nahm das frisch gezapfte Bier von seinem Bruder entgegen. Dabei stützte er sich mit dem Ellenbogen auf den Tisch, der sich daraufhin bedrohlich zur Seite neigte.

»Für dich ist das Bier jedenfalls eindeutig zu stark!« Wiebke Felber stellte das leere Glas auf ein Tablett und wandte sich dann an ihre Mutter. »Mama, warum steht Joris hinter der Theke? Ich helfe doch heute aus.«

»Dort kann er sein Bier selbst zapfen.« Die Friesenbrauerin zuckte mit den Schultern, als wäre damit alles gesagt.

»Alter Gnadderkopp!« Wiebke trug das Tablett mit den leeren Gläsern zur Theke und stellte sie dort ab.

»Das kannst du laut sagen«, bestätigte Hinnerk Gravenhorst, trank einen großen Schluck und wandte sich dann an Gesine. »Warum verkaufst du dein Bier nicht in den Supermärkten? Das ist besser als die Plörre der großen Brauereien. Mit dem Tüdelbräu könntest du ein Vermögen verdienen.«

»Was soll ich denn mit dem Geld?«

Der hünenhafte Tischler fuhr sich mit der Hand über seinen mächtigen Bart, den er an diesem Abend zu zwei Zöpfen geflochten hatte. »Damit könntest du mal wieder shoppen gehen und dir ein paar neue Klamotten kaufen. Das macht ihr Frauen doch so gerne. Dann müsstest du nicht ständig in den alten Fummeln rumlaufen.«

»Gefällt dir mein Kleid etwa nicht?« Gesine runzelte die Stirn und schaute an sich runter.

»Das meine ich nicht. Ich dachte nur …« Der Handwerker blickte die Brüder Gebhard hilfesuchend an, aber diese hatten plötzlich nur Augen für ihre Biergläser.

»Himmmisakra Hinnerk, was bist du nur für ein Dampfplauderer!« Josef Bergmüller trat zu ihnen und schlug dem Tischler kumpelhaft auf die breite Schulter. Dann verbeugte er sich vor Gesine und lüftete einen imaginären Hut. »Frau Felber, Sie sehen wie immer ganz bezaubernd aus.«

»Ich danke Ihnen für das Kompliment.« Gesine schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, bevor sie die Hände in die Seite stemmte und den Tischler vorwurfsvoll ansah. »Im Gegensatz zu dir ist Sepp ein wahrer Gentleman. Muss dir ein Bayer etwa noch Manieren beibringen?«

»Sepp ist schon längst kein Bayer mehr. Statt der Zugspitze erklimmt er seit Jahren doch nur noch Wanderdünen«, wandte der Wattführer lachend ein und trank einen großen Schluck.

»Im Gegensatz zu euch weiß ich mich in Gesellschaft einer Dame auch zu benehmen.«

»Tüdelbüdel ist doch keine …«

Heiko Gebhard verstummte, als Gesine mahnend den Zeigefinger hob. »Jungs, wenn ihr im Kroog weiterhin Bier trinken wollt, solltet ihr auf dumme Sprüche besser verzichten.«

»Das war doch nur ein Spaß!« Der Postbote hob beide Hände, als wollte er sich ergeben.

»Besser ist das!« Wiebke, die mit einem neuen Tablett die Runde machte, griff nach dem leeren Glas. »Hast du etwa schon vergessen, was mit dem Rüpel geschehen ist, der meine Mutter eine alte Fregatte genannt hat, weil er ein paar Minuten auf sein Bier warten musste?«

»Nee, wieso, was denn?« Heiko kratzte sich am Kopf.

»Dat kunn jo woll nich angahn. Die Geschichte kennt doch jeder.« Sein Bruder trank einen großen Schluck.

»Echt jetzt?«

»Dein Gedächtnis ist löchriger als ein Sieb.« Die Friesenbrauerin schüttelte empört den Kopf und begann dann mit verschwörerischer Stimme zu erzählen: »Der Kerl war einer von diesen Anzugtypen, denen es nie schnell genug gehen kann. Eines Abends ist der Wichtigtuer mit seinem Luxusschlitten auf der Fahrt nach Norddeich in Sünnum gestrandet, weil ihn sein Navi ins Nirgendwo geführt hat. Da er für die Nacht keine Bleibe hatte, habe ich ihm mein Fremdenzimmer angeboten. Kurz darauf hat er im Kroog rumgestänkert, weil ich mich mit den Gästen unterhalten habe und er auf sein Bier warten musste. Irgendwann wurde er so ungeduldig, dass er mich als alte Fregatte beschimpfte. Ihr kennt mich: Das kann ich natürlich unmöglich auf mir sitzen lassen. Nachts habe ich also den Wagenschlüssel aus seinem Zimmer stibitzt und das Ding in eine wasserdichte Plastikdose verpackt. Und die habe ich an die rote Boje gebunden, die bei Ebbe immer im Watt liegt. Als er am nächsten Morgen fahren wollte, tanzte sein Wagenschlüssel auf den Flutwellen und er musste mit seiner Weiterfahrt bis zur nächsten Ebbe warten. Die Nordsee hat ihn hoffentlich Geduld gelehrt und …«

»Tüdelbüdel, an diese Version kann ich mich nicht erinnern«, unterbrach der Bayer ihre Geschichte. »Hattest du nicht beim letzten Mal erzählt, dass du seinen Flitzer bei Ebbe ins Watt gefahren hast, damit die Flut dem Wagen eine Salzwasserwäsche verpassen konnte?«

»Das ist möglich. Manchmal bin ich wohl etwas tüdelig im Oberstübchen. Muss das Alter sein.« Die Friesenbrauerin grinste verschmitzt.

»Das ist doch nur eines deiner Dönkes.« Heiko hob sein Glas und prostete Gesine zu, die in dem Moment auf einen schlaksigen Mann in der Tür deutete, dessen dunkelblonde Haare ihm über die Schultern bis auf den Rücken fielen.

»Da ist Enno!« Sie winkte ihm zu und er trat an den Tisch. »Warum kommst du erst jetzt?« Die Friesenbrauerin ergriff seinen Arm und zog ihn zu sich.

»Nach der Demonstration in Emden hatte ich noch etwas zu erledigen.«

»Beim nächsten Mal bin ich wieder dabei. Gab es Stress bei der heutigen Veranstaltung?« Gesine musterte den Agraringenieur mit einem mütterlichen Blick. Da Enno seit Kindertagen mit ihren Söhnen befreundet war, betrachtete sie ihn wie ein Familienmitglied.

»Glücklicherweise nicht. Aber lass uns heute Abend über was anderes reden. Ich gehe schnell zur Theke und hole ein Tüdelbräu.«

»Bring mir auch eins mit.«

»Mir auch.«

»Mir auch.«

»Mir auch.«

Enno blickte in die Runde. Die vier Männer grinsten um die Wette.

»Ich könnte auch noch eines vertragen.« Gesine deutete auf ihr leeres Glas.

»Ihr habt doch nicht mehr alle Latten am Zaun.« Enno schüttelte lachend den Kopf und schlurrte zur Theke.

Wenige Minuten später hatte jeder von ihnen ein frischgezapftes Bier in der Hand und sie stießen miteinander an. Enno trank ordentlich ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund. »Gesine, damit hast du dich selbst übertroffen. Das ist das beste Tüdelbräu aller Zeiten. Welchen Hopfen hast du beim Brauen verwendet?«

»Das ist eines meiner vielen Geheimnisse. Wo ist deine Frau eigentlich? Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen.«

»Meret ist in Berlin und kommt erst morgen zurück. Sie wollte dort ein Konzert …«

»Was soll das heißen: Du hast Pause?« Die tiefe Bassstimme von Tammo Friese, dem Krabbenfischer, übertönte das Stimmengewirr. Gesine sah zur Theke, hinter der Joris in aller Seelenruhe auf einem Barhocker sitzend an der Wand lehnte und ein Bier schlürfte.

»Ich mache mich besser an die Arbeit. Lasst mich mal durch!« Die letzten Worte richtete Gesine an die Gäste, die ihr Platz machten und Beifall klatschten, als sie wieder den Zapfhahn übernahm.

»Das Bein? Ich hätte daran denken müssen, dass du nicht lange stehen kannst«, raunte sie Joris zu.

»Geht schon«, nuschelte der ehemalige Kapitän, wobei er die Buchstaben zu einem kaum verständlichen Sprachbrei zerkaute, sodass es wie schehtscho klang. Dann trank er den letzten Schluck seines Bieres aus, hob zum Abschied die rechte Hand und humpelte aus dem Kroog.

Gesine blickte ihm sorgenvoll nach. Obwohl in Sünnum jeder von seinem Unfall wusste, kannte kaum jemand den Grund für sein wirkliches Leiden, wegen dem sich der alte Seebär am liebsten in seinen Leuchtturm zurückzog und stundenlang auf die Nordsee starrte.

Plötzlich wurde die Tür so kraftvoll aufgerissen, dass sie krachend gegen die Wand knallte. Hauke Peters stürmte in die Gaststube.

»Am Strand …« Er stützte die Hände auf den Oberschenkeln ab und rang nach Atem, bevor er weitersprechen konnte. »Polizei. Wo ist Wiebke?« Bei dem Wort Polizei erstarb das Stimmengewirr so abrupt, als hätte jemand den Stecker aus einem Automaten gezogen.

»Ich bin hier. Was ist los?« Wiebke stellte schnell das Tablett mit den leeren Gläsern auf einem der Stehtische ab und ging auf den aufgelösten Tierarzt zu.

»Die Flut hat eine leblose Frau angespült. Sie hat keinen Puls, du musst sofort mitkommen!«

»Hast du schon einen Rettungswagen gerufen?« Wiebke kramte ihr Smartphone aus der Hosentasche.

»Nee. Mein Handy habe ich vor dem Spaziergang nicht eingesteckt, weil ich meine Ruhe haben wollte. Ich konnte doch nicht ahnen, dass ausgerechnet heute so etwas …«

»Okay, ich kümmere mich sofort darum. Mama, kannst du hier übernehmen?«

»Natürlich. Dein Job ist jetzt wichtiger.«

*

Eine Stunde später sammelte Gesine die letzten Gläser ein und stellte sie in die Spülmaschine. Nach der grauenvollen Nachricht war den Leuten die Lust zum Feiern gründlich vergangen und sie hatten den Heimweg angetreten.

Gedankenverloren steckte die Friesenbrauerin das Halstuch, das sie unter einer der Holzbänke im Innenhof gefunden hatte, in ihre Tasche. Wenn sie sich nicht täuschte, musste es Ennos sein, sie würde es ihm bei Gelegenheit zurückgeben.

Gesine ließ den Blick durch die leere Gaststube schweifen. Dabei sah sie sich im Fenster wie in einem Spiegel.

Der ehemals brünette Bob war inzwischen grau geworden und umrahmte ein schmales Gesicht. Zur Feier des Tages hatte sie sich heute die Lippen mit einem dezenten Roséton nachgezogen – mehr Make-up benutzte die Friesenbrauerin seit Jahren nicht mehr. Auch wenn das Leben tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben hatte, strahlten die blauen Augen noch immer eine unbändige Energie aus.

Gesine löschte das Licht und setzte sich auf die Bank vor dem Kroog. Da sie ohnehin nicht schlafen konnte, würde sie dort auf die Rückkehr von Wiebke warten, die nach dem Auszug ihrer erwachsenen Söhne noch bei ihr im Haus wohnte. Was immer in dieser Nacht auch geschehen war – die Friesenbrauerin würde für das Dorf, das irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein schien, kämpfen. Das war sie nicht nur ihrer Vergangenheit, sondern auch den hier lebenden Menschen schuldig.

Polizeiarbeit

Wiebke Felber kniete am Strand neben dem leblosen Körper. Da die Nordsee das Blut größtenteils abgewaschen hatte, wies die Bluse in Brusthöhe nur noch einen blassroten Fleck auf. Ob die dort erkennbare Einstichwunde den Tod herbeigeführt hatte oder ob Kerstin Burmeister ertrunken war, würde die Rechtsmedizin klären müssen.

»Wer macht so was?« Hauke Peters, der die Polizistin zur Leiche geführt hatte, schüttelte fassungslos den Kopf.

»Das werden wir hoffentlich bald wissen.« Sie stand auf und ging auf die Sünnumer zu, die vor dem Absperrband standen, mit dem sie den Tatort gesichert hatte.

»Geht nach Hause, hier gibt es nichts zu sehen.«

»Ist es … jemand … von uns?« Der Postbote deutete mit einem Kopfnicken auf die Leiche.

»Nein, Heiko!« Wiebke schüttelte den Kopf. »Geht schlafen und lasst mich meine Arbeit machen, okay?«

Murrend zogen die Dorfbewohner ab. Die meisten von ihnen kehrten in kleinen Gruppen nach Hause zurück, wobei sie lebhaft über die angespülte Leiche diskutierten und Vermutungen zur Todesursache und den Täter anstellten.

»Hauke, bevor du gehst, muss ich deine Aussage noch aufnehmen. Zudem … da kommt der Rettungswagen.«

Die Polizistin deutete auf einen blauen Lichtkegel, der die Dunkelheit zerschnitt und schnell näher kam. Wenige Augenblicke später rannten zwei Sanitäter zum Strand und kümmerten sich um die leblos im Sand liegende Frau. Aber diese konnten ihr ebenso wenig helfen wie der kurz danach eintreffende Notarzt.

»Warum hat das so lange gedauert?« Ungeduldig empfing die Beamtin ihre Kollegen, die zehn Minuten nach dem Mediziner eintrafen.

»Unser Schönling musste sich noch stylen.«

Steffen Gesner, Leiter des Polizeikommissariats Norden, deutete auf seinen jungen Kollegen Patrick Meiners, der seiner muskulösen Figur nach mehr Zeit in einem Fitnessstudio als in der Dienststelle zu verbringen schien. Seine modische Undercut-Frisur mit ausrasierten Seiten und längerem Deckhaar saß wie immer perfekt – im Gegensatz zu Gesner, dessen Haare vollkommen zerzaust waren.

Patrick schien im ersten Moment gegen die Bemerkung protestieren zu wollen, schwieg dann aber.

»Kannst du mich auf den neuesten Stand bringen?« Der Kommissar strich sich mit der Hand über die Bartstoppeln.

»Die Tote heißt Kerstin Burmeister. Anscheinend wurde sie von der Flut an den Strand gespült. Hauke Peters hat die Leiche gefunden und mich direkt benachrichtigt.«

»Hattest du heute nicht deinen freien Tag?«

»Doch, aber ich wohne schließlich in Sünnum.« Wiebke deutete zu den Dünen, hinter denen ihr Dorf lag. In den nächsten Tagen würde der Tod von Kerstin Burmeister sicherlich für reichlich Gesprächsstoff im Kroog sorgen.

»Das Kaff ist so winzig, dass es nicht einmal bei Google Maps auftaucht«, lästerte Patrick und strich sich eine längere Haarsträhne aus der Stirn, dessen Farbe am ehesten mit Straßenköterbraun beschrieben werden konnte.

»Das hat nichts mit seiner Größe zu tun, sondern einem Fehler bei der Datenerhebung.« Wiebke reckte das Kinn vor. »Sünnum ist …«

»… ein Geisterdorf«, unterbrach sie der junge Mann und grinste hämisch.

»Statt dumme Sprüche zu klopfen, solltest du dich besser nützlich machen und seine Aussage aufnehmen.« Gesner deutete auf den Tierarzt, der einige Meter neben der Leiche im Sand saß und gedankenverloren auf die Nordsee sah.

»Das kann Wiebke doch machen. Ich würde mir gerne einen ersten Eindruck von der Leiche verschaffen. Wie Sie wissen, findet man wichtige Hinweise direkt …«

»Wenn du deinen Job nicht sofort erledigst, lasse ich dich in den nächsten Wochen das Kellerarchiv neu sortieren. Hast du das verstanden?«, wies ihn sein Vorgesetzter zurecht.

Der Polizeimeister senkte den Blick und schlurfte zum Tierarzt.

»Ich verstehe nicht, wie solche Vollpfosten den Eignungstest bestehen. Der Kerl könnte nicht einmal einen Mörder überführen, wenn dieser die Tatwaffe noch in der Hand hält und sich seinen Namen auf die Stirn tätowiert hat.« Kommissar Gesner sah seinem Mitarbeiter nach und wandte sich dann an Wiebke. »Dir ist hoffentlich klar, dass wir diesen Fall mit dem nötigen Fingerspitzengefühl behandeln müssen. Burmeister wird uns beim kleinsten Ermittlungsfehler die Hölle heißmachen. Zu allem Überfluss darf ich ihm noch die Todesnachricht überbringen. Begleitest du mich?«

»Selbstverständlich. Was machen wir in der Zeit mit Patrick?«

»Nach der Zeugenaussage wird er den Tatort bis zum Eintreffen der Kollegen von der Spurensicherung im Auge behalten. Der Streifenwagen steht gleich da vorne.« Gesner deutete Richtung Straße.

»Wie kommt unser Schönling denn zurück zur Polizeistation, wenn wir mit dem Wagen unterwegs sind?«

»Entweder wartet er auf unsere Rückkehr, oder er geht zu Fuß. Den Weg wird er auch ohne Internetnavigation finden, so viele Straßen gibt es hier schließlich nicht.«

»Jetzt tut er mir fast schon ein wenig leid.« Wiebke sah zu dem jungen Mann, der gerade mit dem Tierarzt sprach.

Der Kommissar zuckte mit den Achseln. »Mach dir keinen Kopf. Wenn wir Glück haben, reicht er danach einen Versetzungsantrag ein.«

Todesnachricht

Uwe Burmeister legte das Mobiltelefon auf den mit Papieren überladenen Schreibtisch und fuhr sich mit der Hand durch das schütter werdende Haar. Wahrscheinlich würden bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr nur noch wenige Büschel auf seinem Kopf um ihr Überleben kämpfen, wie Sträucher in einer kargen Wüstenlandschaft.

Sein Vater hatte schon als junger Mann einen Hut getragen, um seinen spärlichen Haarwuchs darunter zu verbergen. Glücklicherweise hatte er ihm nur einen kahlen Schädel und nicht seinen mangelnden Ehrgeiz vererbt. Bis zu seinem Herzinfarkt war sein Vater mit den achtundvierzig Milchkühen kaum über die Runden gekommen.

Burmeister hatte ihm schon während seiner Ausbildung auf dem elterlichen Hof zu einer Vergrößerung des Viehbestandes geraten, aber davon hatte sein alter Herr nichts wissen wollen. Landwirtschaft war für ihn eher eine Passion als ein Geschäft gewesen.

Die Jahre, in denen er bei strömendem Regen und sengender Sonne auf seinem Melkschemel gehockt und die muhenden Viecher von Hand gemolken hatte, würde Burmeister nie vergessen. Diese Form der Landwirtschaft war heutzutage nur noch etwas für Ewiggestrige und Umweltterroristen.

Die Zukunft gehörte den Milchfabriken, die neben einem gigantischen Stall auch über eine eigene Molkerei verfügten. In wenigen Wochen würde er mit dem Bau seines neuen Projektes beginnen. Für den Transport des weißen Goldes hatte sich der Landwirt bereits Finanzierungen für sieben Sattelschlepper gesichert, die seine Milchprodukte direkt in die Läden bringen und dort in bare Münze umwandeln würden.

In den letzten beiden Jahren hatte er mit Bankkrediten bereits alle für sein Vorhaben benötigten Grundstücke über Strohmänner und Scheinfirmen aufkaufen lassen. Die Baugenehmigung war nur noch reine Formsache – schließlich wusch eine Hand die andere.

Burmeister hatte schon früh begriffen, dass der Kontakt zu den richtigen Menschen wertvoller war als Gold. Inzwischen war der Milchbauer auf regionaler Ebene so gut vernetzt, dass er zu allen gesellschaftlichen Ereignissen eingeladen wurde und wichtige Informationen vor der offiziellen Veröffentlichung erhielt. Beim letztjährigen Treffen des Bauernverbandes hatte er lange mit dem Landwirtschaftsminister gesprochen. Vielleicht sollte Burmeister eines Tages über einen Wechsel in die Politik nachdenken. Ein Mann mit seinen Beziehungen konnte es dort sicherlich weit bringen.

Zunächst einmal musste er sich aber um das letzte Grundstück kümmern, das er zur Verwirklichung der Milchfabrik noch benötigte. Da er ohne das fehlende Land keine direkte Zuwegung zur nächsten Bundesstraße hatte und das Projekt deshalb platzen würde, musste er den Kaufvertrag so schnell wie möglich abschließen.

Nach Unterzeichnung des Dokuments würden die Mauern seines Bauvorhabens direkt an Sünnum grenzen. Enno Prester würde seine Gefolgschaft von Mien Freesland dann sicherlich zu Demonstrationen aufrufen, aber mit Pappschildern und Sprechchören konnte der selbsternannte Revolutionär die Milchfabrik keinesfalls verhindern.

Burmeister konzentrierte sich wieder auf das vor ihm liegende Dokument: das Kaufangebot für das fehlende Grundstück. Er hatte es bereits einmal nachgebessert, und nun erhöhte er sein Angebot auf eine astronomische Summe, mit der er seinen Kreditrahmen bis zum letzten Cent ausreizte. Wenn der sture Hund jetzt nicht verkaufte, würde er zu anderen Mitteln greifen müssen. Da Burmeister die Schulden, die er für die Finanzierung der Milchfabrik bereits aufgenommen hatte, ohne deren Bau niemals zurückzahlen konnte, musste er sein Vorhaben gegen alle Widerstände durchsetzen.

Er druckte das Schreiben aus und steckte es in einen Briefumschlag. Dann fuhr Burmeister den Computer herunter und stand auf. Er wollte sein Büro, das in einem Anbau des Haupthauses untergebracht war, gerade verlassen, als er die Türklingel hörte.

Der Milchbauer durchquerte den Flur und öffnete die Haustür. Zu seiner Verwunderung standen zwei Polizisten vor dem Eingang. Neben einem großgewachsenen Mann, der in seiner Uniform wie ein lebender Kleiderständer wirkte, stand die Tochter der Friesenbrauerin.

»Moin. Mein Name ist Steffen Gesner. Das ist meine Kollegin …

»Sparen Sie sich die Formalitäten. Worum geht es?«, fragte er kurz angebunden.

»Wir müssen über Ihre Frau reden. Können wir kurz reinkommen?«

»Ist meine Alte wieder zu schnell gefahren?« Burmeister lachte bellend.

Die Ordnungshüter wechselten einen kurzen Blick. Ihr Schweigen legte sich wie eine unsichtbare Schlinge um seinen Hals und raubte ihm die Luft zum Atmen.

»Hatte Kerstin einen Unfall? Ist ihr etwas passiert?«

»Herr Burmeister, es tut uns leid, Ihre Frau ist … tot.« Gesner nahm die Dienstmütze vom Kopf und knetete sie zwischen seinen Fingern.

»Das muss ein Irrtum sein.« Der Landwirt stützte sich am Türrahmen ab.

»Leider nein.« Der Hagere bearbeitete seine Mütze weiterhin.

»Was ist passiert?«

»Sie wurde ermordet.« Die Polizistin wich Burmeisters Blick nicht aus.

»Ermordet?« Er sah die Beamten mit dem ungläubigen Blick eines Schülers an, der einen einfachen Zusammenhang nicht begreift. Dann brüllte er urplötzlich los: »Welches Schwein hat Kerstin auf dem Gewissen?«

»Wir stehen am Anfang unserer Ermittlungen.« Gesner setzte seine ramponierte Mütze wieder auf den Kopf.

»Mit anderen Worten: Sie haben keine Ahnung«, knurrte er.

»Die Ermittlungen werden sicherlich bald …«

»Verschonen Sie mich mit Ihren Floskeln. Wenn Sie mir sonst nichts mehr zu sagen haben, wäre ich jetzt gerne allein.« Burmeister trat einen Schritt zurück.

»Sollten Sie einen Psychologen benötigen oder mit einem Seelsorger sprechen wollen, können wir …«

»Ich brauche weder Seelenklempner noch Pfaffen«, unterbrach er den Polizisten. Dann knallte Burmeister die Tür zu und legte die Sicherheitskette vor, als könnte er die grauenvolle Nachricht damit aussperren. Mit schlurfenden Schritten schleppte er sich ins Wohnzimmer, öffnete den Barschrank und griff nach dem sündhaft teuren Scotch. Zunächst wollte er noch ein Kristallglas aus der Vitrine nehmen, aber dann schüttelte er den Kopf, als hätte er eine nicht gestellte Frage verneint, und trank direkt aus der Flasche.

Der hochprozentige Alkohol floss durch seine Kehle, explodierte im Magen und strömte danach als flüssiges Feuer durch seine Adern. Burmeister ließ sich mit der Flasche in einen der beiden Ledersessel fallen und dachte darüber nach, was Kerstin vor ihrem Tod alles erzählt haben konnte. Was immer sie auch ausgeplaudert hatte – nun durfte er sich keinen Fehler mehr leisten.

Geheimnisse

»Du weißt doch, dass ich mit dir nicht über meine laufenden Ermittlungen sprechen darf.« Wiebke ging zum Kühlschrank und stellte eine Milchflasche auf den Tisch, an dem sie schon als Kind gesessen hatte. Obwohl die Uhr mit dem zersprungenen Glas an der Küchenwand tickend die Sekunden zählte, schien die Zeit in diesem Raum stehengeblieben zu sein. Neben dem altertümlichen Gasherd erstreckte sich eine zwei Meter lange Arbeitsfläche, die in eine Spüle überging.

Darüber hing ein Hängeschrank mit Holztüren, in die jeweils postkartengroße Fenster eingelassen waren.

Tisch und Stühle in der Küche von Gesines Anwesen waren – wie auch die Einrichtung im Kroog – aus alten Schiffsplanken gezimmert worden. An der Stirnseite des Raumes stand ein Küchenbuffet. Durch das geöffnete Fenster wehte der Abendwind herein und ließ die Vorhänge tanzen.

»Du kannst mir doch zumindest sagen, ob ihr schon einen Verdächtigen habt«, hakte die Friesenbrauerin nach. »Im Kroog gibt es seit dem Mord kein anderes Gesprächsthema. Die Spekulationen werden mit jedem Glas Tüdelbräu abenteuerlicher.«

»Das wundert mich nicht, du hast den Alkoholgehalt ja ordentlich erhöht.«

Gesine lächelte verschmitzt. »Jede Frau hat ein kleines Geheimnis.«

»Ein kleines Geheimnis?« Die Polizistin betonte das letzte Wort wie ein Showmaster, der den Hauptgewinn einer Quizsendung bekanntgibt, bevor sie in normalem Tonfall fortfuhr: »Du bist eine Schatztruhe voller Geheimnisse. Wahrscheinlich hat dir im Kroog jeder Einwohner mindestens einmal seine Untaten gebeichtet.«

»Ich bin eine verschwiegene Zuhörerin.« Sie zwinkerte ihrer Tochter zu.

»Warum willst du überhaupt etwas über den Stand der Ermittlungen wissen?« Wiebke öffnete den Hängeschrank und nahm zwei Gläser heraus.

»Die Sünnumer sind nach dem Mord verunsichert. Ich möchte verhindern, dass sie sich eines Tages gegenseitig verdächtigen und einander misstrauen. Momentan gehen alle Einwohner von einem auswärtigen Täter aus. Aber du weißt, wie schnell die Stimmung kippen kann. Was ist mit Burmeister?«

Wiebke stellte die Gläser auf den Tisch und füllte sie mit Milch. »Er ist Choleriker oder wie du sagen würdest: ein richtiger Bullerballer.«

»Das weiß hier jeder. Damit hast du meine Frage aber nicht beantwortet.«

Die Polizistin trank einen Schluck und stellte das Glas dann wieder ab. »Mama, du bist ein richtiger Sturkopf.«

»Du kennst mich doch. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe …«

»… dann ziehst du dein Ding durch.«

»Ich hätte es etwas anders ausgedrückt, aber darauf läuft es hinaus.« Tüdelbüdel lächelte.

»Die Ehe zwischen Burmeister und seiner Frau scheint zerrüttet gewesen zu sein. Mit ihrer Unterstützung der Bewegung Mien Freesland hat sich Kerstin für eine ökologische Landwirtschaft eingesetzt und sogar an ihrem Todestag an Enno Presters Demonstration in Emden teilgenommen. Damit hat sie sich in der Öffentlichkeit gegen ihren Mann gestellt. Obwohl artgerechte Tierhaltung für Burmeister ein Fremdwort ist, bewegt er sich mit seinem Milchbetrieb innerhalb der gesetzlichen Vorschriften.«

»Könnte ein Streit wegen der Demonstration ein Grund für den Mord gewesen sein?«

»Weshalb sollte Burmeister seine Frau umbringen, wenn er sich auch scheiden lassen kann?«

»Vielleicht würde er bei einer Trennung einen Teil des Hofes verlieren?«, gab Gesine zu bedenken.

Wiebke trank einen weiteren Schluck Milch, bevor sie antwortete. »Wir haben den Vermögenshintergrund bereits geprüft. Der Hof läuft auf seinen Namen. Kerstin hatte eine Lebensversicherung über fünfzigtausend Euro, aber für diesen Betrag würde Burmeister niemanden umbringen. Ein Mann wie er denkt in größeren Dimensionen.«

»Habt ihr sein Haus schon durchsucht?«

»Ach Mama, das hier ist doch kein Fernsehkrimi, dafür ist ein richterlicher Beschluss notwendig. Den bekomme ich nicht ohne hinreichenden Tatverdacht.«

»Fürchtest du dich etwa vor ihm?« Gesine kniff die Augen zusammen und fixierte ihre Tochter.

»Natürlich nicht.« Wiebke knallte das Glas so fest auf den Tisch, dass Milch herausschwappte und eine weiße Pfütze auf der blauen Wachstuchtischdecke hinterließ. »Echte Polizeiarbeit funktioniert nun einmal nicht wie in Filmen! Ordnungshüter können nicht einfach in fremde Häuser einbrechen und Beweise einsammeln.«

»Hat Burmeister denn ein Alibi für die Tatzeit?«

»So, Miss Marple, das war’s. Weitere Auskünfte werde ich dir nicht geben. Ich hab noch zu tun.« Wiebke wandte sich zum Gehen.

»Wo willst du denn hin?«, rief ihr Gesine nach.

Im Türrahmen drehte sich Wiebke zu ihrer Mutter um. »Kitesurfen. Der Wind hat heute Nachmittag aufgefrischt.«

»Triffst du dich am Strand wieder mit deinem Sonnyboy?«

»Nein, ich gehe allein raus. Im Übrigen heißt er Ruben. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

»Ich kann mir seinen Namen beim besten Willen nicht merken. Betreibt er auf Norderney nicht eine Bar?«

Die junge Polizistin seufzte vernehmlich. »Mama, das hatte ich dir doch alles schon erzählt.«

»Ach, Spatz, manchmal bin ich etwas tüdelig.« Gesine grinste verschmitzt, bevor sie fortfuhr: »Warum lädst du ihn nicht zu uns ein? Ich würde deinen Traumprinzen gerne einmal kennenlernen. Er kann im Fremdenzimmer schlafen.«

»Damit du Ruben im Kroog dem ganzen Dorf vorstellen kannst?« Wiebke schüttelte den Kopf. »Sicherlich nicht. Zudem ist er keinesfalls mein Traumprinz. Ich bin schließlich auch nicht Cinderella.«

»Warum triffst du dich dann immer wieder mit ihm?«

»Er ist ein netter Typ, mit dem man eine Menge Spaß haben kann. Und er ist ein echter Hingucker.«

»Ja, er ist ziemlich knackig!«

Wiebke starrte ihre Mutter einen Moment lang konsterniert an. Dann öffnete sie den Mund, brachte zunächst aber keinen Ton heraus. »Woher weißt du das denn?«, erkundigte sie sich.

»Ich habe mir einige seiner Fotos in den sozialen Netzwerken angesehen.«

»Du stalkst ihn?« Wiebke entgleisten die Gesichtszüge.

»Nee, ich habe nur die Website seiner Cocktailbar aufgerufen und bin dann den Links gefolgt. Das ist keinesfalls verboten. Kennst du die dralle Rothaarige, die er auf dem gestern geposteten Strandbild im Arm hat?«

»Sie ist …« Wiebke verstummte und strich sich mit einer fahrigen Bewegung eine Strähne ihres dunkelblonden Haares, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinter das Ohr. »Das geht dich nichts an. Ich gehe jetzt kiten.«

»Pass auf die Strömungen auf, das Meer ist unberechenbar.«

»Mama! Ich bin in Sünnum aufgewachsen und kenne die Nordsee. Zudem habe ich mein Notfallhandy dabei, mit dem ich jederzeit geortet werden kann. Du musst dir also keine Sorgen machen.«

»Jaja, schon gut. Viel Spaß beim Tanz auf den Wellen.«

Baugenehmigung

»Welche Probleme gibt es denn mit der Baugenehmigung?« Burmeister tippte mit einem Bleistift auf die Schreibtischunterlage, während er das Mobiltelefon an sein Ohr presste.

»Ein Teil deines neuen Stalls steht auf einem Grundstück, das dir nicht gehört. Dazu fehlt mir der letzte Kaufvertrag.« Die Stimme des Mitarbeiters vom Bauamt klang so monoton wie eine Lautsprecherdurchsage der Deutschen Bahn.

»Du weißt doch, dass ich das Land aufkaufen werde.«

»Hast du dich inzwischen mit dem Eigentümer geeinigt?«

Der Landwirt stieß einen hörbaren Seufzer aus. »Er muss den Kaufvertrag nur noch unterschreiben.«

»Dann warten wir den Notartermin einfach ab. Wenn du mir den Vertrag bringst, kann ich sofort …«

»Klei mi ann Moors!«, bölkte Burmeister ins Telefon. »Ohne die Genehmigung verweigert meine Bank die Auszahlung der Kredite, die ich für den Bau benötige.«

»Das tut mir leid, aber mir sind hier die Hände gebunden. Vorschriften …« Der Beamte verstummte, als wäre mit diesem einen Wort alles gesagt.

»Deine Vorschriften interessieren mich nicht.« Die Adern am Hals des Milchbauern wanden sich wie Schlangen unter seiner Haut.

»Du musst nicht gleich laut werden! Ich bin schließlich nicht taub!«

»Bitte entschuldige.« Burmeister hatte sich wieder im Griff. »Die letzten Tage waren zu viel für mich.«

»Verstehe ich. Kerstins Tod ist eine unfassbare Tragödie.«

»Danke für deine Anteilnahme. Kannst du mir in dieser Sache nicht doch irgendwie entgegenkommen? Ich würde mich auch erkenntlich zeigen.«

»Das habe ich dir gerade erklärt. Meine Vorschriften …«

»… haben dich im April nicht daran gehindert, meine großzügige Spende anzunehmen. Hast du deine Ferien auf Korsika etwa schon vergessen?«

»Das war etwas anderes«, entgegnete der Beamte mit zitternder Stimme.

»Blödsinn. Du weißt genau, dass dir meine Kohle und der Gratisurlaub als Bestechlichkeit ausgelegt werden wird und du deshalb deinen Job verlieren kannst. Aber in Korruptionsdelikten kennt sich dein Vorgesetzter besser aus als ich. Würdest du mich bitte mit ihm verbinden oder muss ich Hendrik selbst anrufen?«

»Ich … besser nicht. Kannst du mir zumindest einen Entwurf des Kaufvertrages vorlegen?«

»Würde dir das helfen?« Burmeisters Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Lächeln.

»In Ausnahmefällen können wir auf die Beurkundung verzichten«, antwortete der Beamte diensteifrig.

»Ich wusste doch, dass ich mich auf dich verlassen kann. Wann kann ich mit der Baugenehmigung rechnen?«

»Ist Anfang nächster Woche okay?«

»Wie wäre es mit morgen?«

»Das schaffe ich keinesfalls. Meine anderen Projekte …«

»… können warten. Du kannst mir die Unterlagen morgen Nachmittag in den Briefkasten werfen.«

Burmeister beendete das Telefonat und legte das Smartphone vor sich auf den Schreibtisch. Seiner Meinung nach funktionierten die meisten Menschen wie Maschinen. Man musste nur auf die richtigen Knöpfchen drücken oder die passenden Rädchen aufziehen, um das zu bekommen, was man wollte.

Fadenspiele

»Womit willst du die richterliche Anordnung für eine Hausdurchsuchung bei Burmeister denn rechtfertigen?« Steffen Gesner schaute seine Kollegin Wiebke im Büro des Polizeikommissariats Norden fragend an.

Diese hatte sich am Tag nach dem Leichenfund die Ermittlungsergebnisse im Fall der ermordeten Kerstin Burmeister noch einmal angesehen.

»Er könnte hinter den Landkäufen im Umland von Sünnum stehen. Erst fand ich die Vorstellung meiner Mutter auch abwegig, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto realistischer erscheint mir der Gedanke.«

»Na und? Das ist doch nicht illegal.«

»Das nicht, aber wir müssen …«

»Schluss jetzt!«

Ihr Vorgesetzter schlug mit der flachen Hand fest auf den Tisch. Patrick Meiners erschrak derart, dass er seinen Kaffeebecher umwarf. Eine braune Brühe ergoss sich auf den Schreibtisch und tropfte auf seine Hose.

»So eine Scheiße!« Er sprang auf und funkelte Gesner wütend an, aber dieser ließ sich von seinem Ärger nicht beeindrucken. Mit grimmiger Miene nahm der junge Polizist eine Packung Papiertaschentücher aus der Schublade, tupfte seine Hose trocken und wischte die Sauerei damit auf. Nachdem er die durchweichten Papiertücher in den Mülleimer gestopft hatte, setzte er sich wieder und blickte von seinem Chef zu Wiebke.

»Patrick, möchtest du etwas zu den Ermittlungen beitragen?« Der Kommissar legte die Fingerspitzen aneinander.

»Wenn Burmeister etwas mit den Käufen zu tun hat, wird er die Ländereien nicht ohne Grund erworben haben. Es ist nicht auszuschließen, dass seine Frau vertrauliche Unterlagen an Prester weiterleiten wollte, schließlich hat sie die Ziele von Mien Freesland unterstützt und an der Seite des Umweltaktivisten demonstriert. Eventuell hatten die beiden sogar ein Verhältnis und Burmeister hat seine Frau aus Eifersucht erstochen.«

»Du schaust eindeutig zu viele Krimis.« Gesner schüttelte den Kopf. »Dennoch gehe ich auch davon aus, dass der Kerl uns etwas verheimlicht. Die Frage ist nur: Hat es mit dem Mord zu tun?«

»Wir können die Hausdurchsuchung mit dem fehlenden Alibi begründen.« Wiebke spielte mit ihrem Kugelschreiber. »Was ist denn mit dem Schuh und dem blauen Faden, den die Spurensicherung in der Nähe des Tatorts gefunden hat?«

»Bei dem Schuh handelt es sich um eine ramponierte Sandale in der Größe sechsunddreißig, die mit der Flut angespült wurde. Da passt Burmeister mit seinen Füßen bestimmt nicht hinein.«

»Was ist mit dem Faden? Den Experten nach stammt er von einem Schal oder Halstuch, möglicherweise auch von einem Hemd. Wir sollten uns seine Kleidung einmal ansehen.«