Leichenblass im Fass - Joost Jensen - E-Book

Leichenblass im Fass E-Book

Joost Jensen

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Beschreibung

Die Friesenbrauerin Gesine Felber gewinnt mit ihrem Tüdelbräu den norddeutschen Brauwettbewerb – gegen den Vorjahressieger Hopfensturm. Das kleine Küstendorf wird zum Touristenmagnet, auch Hopfensturm-Brauer Ulrich Neunaber stattet dem Kroog einen Besuch ab. Als Neunaber eines Morgens tot in einem Bierfass gefunden wird, gerät ausgerechnet die Friesenbrauerin unter Mordverdacht und verschwindet von der Bildfläche. Zusammen mit den anderen Dorfbewohnern macht sich Wiebke auf die Suche nach ihrer Mutter ...

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Cover

Titel

Joost Jensen

Leichenblass im Fass

Die Friesenbrauerin ermittelt

Insel Verlag

Impressum

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eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4984.

© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: FinePic®/Getty Images/mauritius images

eISBN 978-3-458-77647-5

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Nachtschatten

Anmeldung

Watthumpen

Siegerehrung

Biertouristen

Tüdeltown

Barkeeper

Stimmungskanone

Überraschungsbesuch

Flammenhölle

Feuerteufel

Aktenlage

Planspiele

Verdächtigungen

Schützenfest

Suchaktion

Bierfass

Mörderdorf

Familienbande

Lagerkoller

Superbulle

Heuler

Dünenhopfen

Kindertage

Kurierdienst

Jähzorn

Bildbetrachtung

Vertrauensbruch

Spurensuche

Einsamkeit

Entführung

Bierdorf

Brummschädel

Campingplatz

Nachforschungen

Diebesgut

Kletteraktion

Kroog

Ermittlungsergebnisse

Klönschnack

Danksagung

Tüdelbräu – Das Bier zum Buch

Informationen zum Buch

Leichenblass im Fass

Nachtschatten

Eine dunkle Gestalt huschte durch Sünnum.

Die Wolken hingen in dieser Nacht so tief über dem ostfriesischen Dorf, dass es den Anschein hatte, als könnte man nach ihnen greifen und sie wie schwarze Zuckerwatte vom Himmel holen. Ein kräftiger Nordwind zerzauste Hecken und Sträucher. Vom Deich her war das Rauschen der Brandung zu vernehmen, deren Wellen sich mit Getöse am Strand brachen.

Das Unwetter, das sich über der Nordsee zusammenbraute und bald über der Küstenregion toben würde, schreckte die Gestalt nicht ab. Vor dem Kroog blieb sie stehen.

Bei dem Schietwetter war niemand im Innenhof des hufeisenförmig angelegten Gebäudes, in dem sich die Schankwirtschaft von Gesine Felber befand.

Die Sonnenblumen vor den weiß gekalkten Wänden standen im fahlen Mondlicht, das für einen Moment durch die Wolken brach, wie stumme Soldaten. Aber sie würden weder das Haus noch die Friesenbrauerin beschützen.

Eine Windbö fegte über den Hof und ließ Blütenblätter der Hortensien, die neben Rosensträuchern und Wildblumen in ausrangierten Bierfässern wucherten, zu Boden regnen.

Die vor dem Kroog stehende Bank war verwaist. Die meisten Dorfbewohner hatten sich vor dem Gewitter in die gute Stube des Ortes, wie die Sünnumer die Gastwirtschaft nannten, zurückgezogen.

Ein Blitz zuckte über den Himmel und tauchte die Dorfkneipe in ein gespenstisches Licht. Die schwarz gekleidete Gestalt beobachtete die Gäste durch das Fenster neben der Tür.

Im Licht des hell erleuchteten Innenraums waren die Sünnumer wie Schauspieler auf einer Bühne zu sehen. Wie an jedem anderen Abend schnackten und lachten sie, als wäre ihr Dorf eine paradiesische Insel inmitten einer Welt, die sich immer schneller zu drehen schien.

Urplötzlich öffnete der Himmel seine Schleusen und verschleierte den Blick der Gestalt auf den Kroog derart, als würde sie hinter einem Wasserfall stehen.

Dicke Regentropfen klatschten wie Geschosse zu Boden und durchnässten sie innerhalb weniger Sekunden – aber der unheimlichen Erscheinung machte der kräftige Schauer nichts aus. Mit starrem Blick musterte sie die Sünnumer eine Weile, bevor sie im strömenden Regen verschwand, der jeden Beweis ihrer Anwesenheit hinwegspülte.

Wenn sie zurückkehrte, würde sie der Sturm sein, der das Dorf verwüstete und die Bewohner aus dem Ort vertrieb.

Anmeldung

»Mein Tüdelbräu hat euch wohl den Verstand vernebelt.«

Die Friesenbrauerin Gesine Felber nahm das leere Glas von ihrem alten Freund Joris Harms entgegen und reichte Hinnerk Gravenhorst ein frisch gezapftes Bier. Der Tischler saß an diesem Abend neben dem ehemaligen Kapitän an der Theke im Sünnumer Kroog auf einem Barhocker, der unter seinem hünenhaften Körper wie das Möbelstück aus einem Kindergarten wirkte.

Die hintere Wand der Gaststube wurde von einem deckenhohen Regal dominiert, das bis zum Rand mit verschiedenen Flaschen, Gläsern und Strandgut gefüllt war.

Die anderen Wände des kleinen Schankraums verzierten handgemalte Ölbilder mit maritimen Motiven in alten und teilweise verkratzten Holzrahmen. Auf einem der Gemälde prangte seit Jahren ein geheimnisvoller Fingerabdruck. Über der Theke hing eine ausrangierte Schiffsglocke aus Messing, die nur zu besonderen Anlässen geläutet wurde. In der Mitte des Raums standen drei Stehtische, an denen die Dorfbewohner miteinander schnackten.

Aus den Lautsprechern erklang das Lied An der Nordseeküste, das die meisten Gäste textsicher – und lauthals – mitsangen. Trotz der Geräuschkulisse war der Donner, der den zuckenden Blitzen des Gewitters folgte, deutlich zu hören.

Hinnerk trank ordentlich ab und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Dein Bier ist viel besser als die Plörre vom Dünenhopfen.«

Joris Harms gönnte sich ebenfalls einen großen Schluck und leckte sich danach über die Lippen, als wäre er ein Biersommelier, der gerade einen besonders guten Tropfen verkostet hatte, und drehte sich zu den Sünnumern an den Stehtischen hinter ihm um. »Das neue Schützenfestbier hat ein malzaromatisches Mundgefühl, was meint ihr?«

Die meisten Dorfbewohner ließen ein zustimmendes Murmeln hören. Der beleibte Wattführer Sören Gebhard, der mit seiner Frau Leefke, Tammo Friese und Hauke Peters an einem Tisch stand, hob den rechten Daumen.

»Im Nachtrunk ist zudem ein zarter Karamellgeschmack erkennbar.« Hinnerk fuhr sich mit der linken Hand über seinen mächtigen Bart, den er an diesem Abend zu einem Zopf geflochten hatte.

»Tiefgold in der Farbe mit einer leichten Trübung.« Joris drehte sein halbvolles Glas im Licht einer Deckenlampe.

»Das Tüdelbräu ist auch für eine Frau nicht zu herb. Die Fruchtaromen sorgen für eine wahre Geschmacksexplosion auf der Zunge.« Gesines Tochter Wiebke, die neben ihrer Mutter hinter der Theke stand, trank ebenfalls einen Schluck und verdrehte genießerisch die Augen.

»Aromen von Haselnuss und Honig kitzeln meinen Gaumen.«

»Nee, das sind dunkle Schokolade und Kaffee.«

»Hinnerk, was bist du nur für ein Vollpfosten. Der Geschmack kommt von den Beerenfrüchten, ist doch klar«, wandte Joris ein.

»Ein alter Seemann wie du schmeckt doch nicht einmal den Unterschied zwischen Tee und Salzwasser. Das Bier hat ein leichtes Grapefruitaroma. Tüdelbüdel hat bestimmt Cascade-Hopfen verwendet.«

»Super, bei dem ganzen Obst brauche ich keinen Vitaminsaft mehr und trinke ab sofort nur noch Tüdelbräu.« Wiebke grinste wie ein Honigkuchenpferd.

»Ihr habt doch nicht mehr alle Latten am Zaun.«

Die Friesenbrauerin stemmte die Hände in die Seiten und musterte die Dorfbewohner wie eine Lehrerin ihre Klasse mit unartigen Schülern. »Bisher habt ihr jedes neue Tüdelbräu lediglich mit einem Kopfnicken zur Kenntnis genommen und jetzt lobt ihr mein Bier über den grünen Klee. Warum macht ihr das? Raus mit der Sprache.«

»Dein Bier ist einfach super. Schon der erste Schluck begeistert mit einem Bouquet von Kaffee und einigen vom Malz stammenden …«

»Wiebke, halt den Sabbel und erzähl mir endlich, was hier los ist«, unterbrach Gesine ihre Tochter.

»Mama, du musst unbedingt an dem Watthumpen-Festival teilnehmen und diesem Schnösel Neunaber zeigen, wer in der Küstenregion das beste Bier braut. Der Kerl hält sich für einen großartigen Brauer, dabei ist er nur ein armseliger Stümper.«

»Neunabers Gesöff schmeckt im Vergleich zu deinem Tüdelbräu wie Spülwasser«, ließ sich Joris vernehmen.

»Ich braue mein Bier nur für die Sünnumer, das solltet ihr eigentlich wissen.«

»Willst du dir etwa die zehntausend Euro Siegesprämie entgehen lassen?«

»Zehntausend Euro?« Gesine sah Hinnerk mit weit aufgerissenen Augen an.

»Jo.« Joris trank einen Schluck.

»Mama, das Geld können wir für die Reparatur des Reetdachs gut brauchen.«

Wiebke zog einen Flyer aus der hinteren Hosentasche und reichte ihn ihrer Mutter. Diese blätterte die Werbung für das diesjährige Watthumpen-Festival durch, dessen Höhepunkt die jährliche Preisverleihung des Watthumpens war, bei dem es sich um ein Trinkgefäß in Form eines Seehundes handelte.

»Um überhaupt an dem Festival teilnehmen zu können, brauchen wir einen Bierwagen oder einen Stand, an dem wir mein Tüdelbräu vor dem Wettbewerb verkaufen können. So etwas habe ich nicht. Zudem kann ich die tausend Euro Anmeldegebühr nicht aufbringen. Da der Anmeldeschluss vor drei Tagen abgelaufen ist, hat sich das Thema ohnehin erledigt.« Tüdelbüdel deutete auf das Datum.

»Ähm …« Joris nahm seine Seemannsmütze ab und knetete sie zwischen den Händen. Im Licht der Wandbeleuchtung wirkten seine stoppelkurzen Haare wie ein Heiligenschein.

»Was habt ihr Bagaluten denn diesmal ausgeheckt?«

Gesine Felber ließ den Blick langsam durch den Raum schweifen, wobei sie jeden einzelnen Gast ins Visier nahm. Die Dorfbewohner waren plötzlich mucksmäuschenstill und sahen betreten zu Boden. Sogar Hinnerk Gravenhorst, der nichts und niemanden fürchtete, betrachtete verstohlen seine Schuhe.

Da das alte Lied zu Ende war und das neue noch nicht begonnen hatte, herrschte für einen Moment eine solche Stille im Kroog, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

»Wir haben dich bereits angemeldet.« Wiebke zog einen Papierbogen aus der hinteren Hosentasche und reichte ihn ihrer Mutter.

»Wer ist wir?« Die Friesenbrauerin nahm das Schriftstück entgegen.

»Ich.«

»Ich.«

»Ich.«

»Ich.«

Einer nach dem anderen hob langsam die Hand.

»Joris, du etwa auch?« Gesine blickte ihrem alten Freund in die Augen.

»Jo. Ich habe sogar bei deiner Unterschrift geholfen. Siehst du diesen Bogen hier? Der kommt von mir.« Er beugte sich über die Theke und deutete auf eine schwungvoll durchgezogene Linie.

»Dat kunn je wull nich angahn.« Die Friesenbrauerin betrachtete das Gekrakel, das mit viel Fantasie Gesine Felber heißen konnte.

»Tüdelbüdel, obwohl wir bei dem malzaromatischen Mundgefühl und den Fruchtaromen vielleicht etwas übertrieben haben, wirst du den Watthumpen mit Sicherheit gewinnen. Wir begleiten dich auch alle in die Krummhörn. Hinnerk hat bereits einen mobilen Verkaufsstand gezimmert, den wir auf dem Festival aufbauen werden.« Joris setzte seine Seemannsmütze wieder auf.

»Warum habt ihr mich nicht einfach gefragt, ob ich mitmachen möchte?« Die Friesenbrauerin blickte in die Runde.

»Weil du abgelehnt hättest, da du dein Bier nicht außerhalb des Dorfes verkaufen willst. Aber keiner von uns kann Neunabers Beleidigung, dass du eine lausige Panscherin bist, die vom Bierbrauen so viel versteht wie eine Kuh vom Fliegen, auf sich sitzen lassen.«

»Joris, wann hat er das denn gesagt?« Gesine hob die Brauen.

»In einem Interview mit Robert Sternberg in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Deichkieker.«

»Das wusste ich nicht.«

»Wir finden, dass du den Gröölbüdel in aller Öffentlichkeit in seine Schranken weisen solltest. Dein Tüdelbräu ist das beste Bier im Norden«, grummelte Joris.

»Neunaber kennt die Mitglieder der Jury. Die werden ihn sicherlich wieder gewinnen lassen, wie in den letzten sieben Jahren auch«, wandte Gesine ein.

»Keine Sorge. Wir werden uns schon um eine faire Abstimmung kümmern«, versicherte Hinnerk Gravenhorst grinsend und spannte seinen mächtigen Bizeps an.

»Was passiert, wenn ich nicht antrete?«

»Mama, dann verlieren wir die Anmeldegebühr. Zudem wird Neunaber deinen Rückzug als Feigheit werten.«

»Woher weiß er denn von meiner Beteiligung?« Die Friesenbrauerin zapfte ein neues Bier.

»Keine Ahnung. Ich gehe davon aus, dass ihm jemand vom Organisationsteam einen Tipp gegeben hat.«

»Wo kommen die tausend Euro eigentlich her? Habt ihr das Geld etwa für mich zusammengelegt?«

»Jo.«

»Und alles ist verloren, wenn ich nicht gewinne?«

»Jo.«

»Ihr kommt am nächsten Wochenende alle mit zum Festival?«

»Jo.«

»Dann werden wir der Brauerei Dünenhopfen mal zeigen, wie ein gutes Bier schmecken muss.«

»Jo.«

»Joris, kennst du eigentlich auch andere Wörter?«

»Jo.«

Der alte Kapitän lachte und stieß mit den Sünnumern auf das Festival an. Das Unwetter, das sich in diesem Moment über dem Dorf austobte, beachtete keiner von ihnen.

Watthumpen

Die Sünnumer erreichten das Landcafé, einen ehemaligen Bauernhof in der Krummhörn, auf dessen weitläufigem Gelände das Watthumpen-Festival in diesem Jahr stattfand, am späten Vormittag.

Ostfriesland zeigte sich an diesem sonnigen Sommertag von seiner schönsten Seite. Über einen blassblauen Himmel zogen dünne Schleierwolken. Auf einer Wiese, die sich bis zum Horizont erstreckte, weideten Kühe. Gelegentlich war ein Muhen zu hören. Die Halme eines angrenzenden Weizenfeldes bewegten sich sanft in einer lauen Sommerbrise, als würden sie zu einer nur für sie hörbaren Musik tanzen.

Auf einem weiträumigen Platz zwischen dem Haupthaus und der zu einer Veranstaltungshalle umgebauten Scheune, in der an diesem Abend der Wettbewerb und die anschließende Preisverleihung stattfinden würden, standen die Bierbuden der zwölf teilnehmenden Brauereien.

Die Brauer gingen sich beim Aufbau ihrer Stände gegenseitig zur Hand, fachsimpelten über Hopfen und Stammwürze und verkosteten schon einmal die Biere ihrer Kollegen.

Tüdelbüdel und die anderen Dorfbewohner wurden mit einem herzlichen Moin begrüßt und machten sich mit vereinten Kräften an den Aufbau des von Hinnerk gezimmerten Standes.

Neben den kleinen Bierbuden wirkte das lastwagengroße Gefährt der Brauerei Dünenhopfen mit seiner chromglitzernden Karosserie wie ein futuristisches Raumschiff, das auf diesem Platz notgelandet war. Mitarbeiter der Brauerei, die T-Shirts mit dem Dünenhopfen-Logo – einem Hopfen, über dem eine Krone schwebt – trugen, drängten sich durch die immer dichter werdende Menschenmenge und verteilten Werbegeschenke in Form von Schlüsselanhängern und Flaschenöffnern.

Bis die Friesenbrauerin den Zapfhahn in eines der vier Fässer, die die Sünnumer in einem Hänger mitgenommen hatten, schlagen konnte, verging etwas mehr als eine Stunde.

Mittlerweile war das Festival eröffnet, schnell drängten sich die ersten Gäste an den Stand und ließen sich ein Tüdelbräu schmecken.

Die Dorfbewohner, die sich mit dem Verkauf des Bieres abwechselten, hatten alle Hände voll zu tun. Als der Höhepunkt des Festivals, der Wettbewerb um den Watthumpen, näher rückte, versammelten sich alle Besucher und Brauer in der Scheune.

Auf einer großen Bühne, die die komplette Stirnseite des Innenraums einnahm, befanden sich fünf schmale, hohe Kabinen, die nach vorne hin offen waren. Rechts und links führte jeweils eine Treppe nach oben. In jeder Kabine standen ein runder Tisch und ein Stuhl. Im vorderen Bereich der Bühne befand sich ein etwa brusthohes Podest, auf dem ein rotes Samtkissen lag. Über der Bühne hing eine elektronische Anzeigetafel, die alle zwölf teilnehmenden Brauereien aufführte.

»Da steht Tüdelbräu.« Joris deutete auf die Leuchtschrift im mittleren Teil der Tafel.

»Warum schleppen die Leute denn Kameras auf die Bühne?«

»Mama, der Wettkampf wird im Regionalfernsehen übertragen und als Live-Stream ins Internet gestellt. Dein Bier wird nach dieser Nacht im ganzen Land bekannt sein.« Wiebke setzte sich neben ihre Mutter auf eine der Holzbänke, die in der Scheune aufgestellt waren, und kurz darauf hatten auch alle anderen Sünnumer Platz genommen.

»Das gefällt mir nicht.« Gesine beobachtete die Techniker, die auf der Bühne herumwuselten und letzte Kabel verlegten.

Das Stimmengewirr der anwesenden Besucher wurde immer lauter und erfüllte den Raum wie das Summen eines Hornissenschwarms. Als das Licht erlosch und nur noch die roten Leuchtdioden der Anzeigetafel sichtbar waren, ging ein Raunen durch die Menge.

Plötzlich flammten in die Kabinendecken eingelassene Spots auf, die Stuhl und Tisch beleuchteten. Die Juroren, die nun die Bühne betraten und ihre Plätze einnahmen, wurden mit tosendem Beifall empfangen, in den sich Rufe und Pfiffe mischten.

»Guten Abend oder Moin, wie man an der Küste sagt«, ertönte eine Stimme aus dem Publikum. Ein Scheinwerfer glitt suchend über die Menge und erfasste einen Mann in weißem Anzug, der nun aufstand und mit tänzelnden Schritten zur Bühne stolzierte. Das rosafarbene Hemd hatte er bis zur Brust aufgeknöpft. Um den Hals trug er eine fingerbreite Goldkette. In der rechten Hand hielt er ein kabelloses Mikrofon, in der linken den Watthumpen.

»Was ist das denn für ein Lackaffe?«, flüsterte Sören Gebhard.

»Das ist Neunaber«, antwortete der neben ihm sitzende Josef Bergmüller, den alle Sünnumer nur Sepp nannten.

»Wieso trägt der hier drin denn eine Sonnenbrille? Hat er was mit den Augen?«, wunderte sich Tüdelbüdel.

»Mama, das ist ein modisches Accessoire. Neunaber will damit sicherlich cool aussehen.«

»Damit sieht er vor allem bescheuert aus.« Die Friesenbrauerin schüttelte den Kopf, ohne den Inhaber des Dünenhopfens dabei aus den Augen zu lassen, der die Bühne inzwischen erreicht hatte. Von dort aus winkte Neunaber dem Publikum zu, als wäre er ein Rockstar, dem die Menge zu Füßen liegt. Mit einer theatralischen Geste platzierte er den Watthumpen auf dem roten Kissen.

»Meine Damen und Herren, herzlich willkommen zum heutigen Wettbewerb, der erstmals in seiner Geschichte live übertragen wird. Wie Sie sicherlich alle wissen, wird die Verkostung vom letztjährigen Sieger eröffnet, der seine Trophäe …« Bei diesen Worten deutete er auf den Watthumpen vor sich. »… neu verteidigen muss. Da ich in den letzten sieben Jahren gewonnen habe, bin ich inzwischen nicht nur Ostfrieslands bester Braumeister, sondern auch ein gefragter Moderator, der die Männer mit Fachwissen und die Frauen mit seinem guten Aussehen überzeugt.« Er warf den weiblichen Besucherinnen in den ersten Reihen Kusshände zu.

»Das Gesülze erträgt kein Mensch.« Joris verzog das Gesicht, als müsse er eine bittere Medizin einnehmen.

Neunaber tänzelte am Bühnenrand entlang, blieb plötzlich stehen und deutete dann auf Gesine. »Ist das etwa die Friesenbrauerin mit ihrer Gefolgschaft aus … wie heißt das Kaff noch gleich?« Er hielt sich die rechte Hand hinter das Ohr und grinste süffisant.

»Sünnum, du Töffel«, brüllte Hinnerk aus voller Kehle.

»Ist das nicht das Dorf, das so unbedeutend ist, dass es nicht einmal bei Google Maps auftaucht?«, witzelte Neunaber und redete weiter, ohne eine Antwort abzuwarten: »Heute werden wir endlich feststellen, ob das Tüdelbräu im Vergleich mit den erstklassigen Bieren aus der Region bestehen kann. Bevor wir mit dem Wettbewerb starten, möchte ich kurz die Spielregeln erläutern.

Die Juroren bekommen nacheinander jeweils ein neutrales Sommelierglas vorgesetzt. Keiner weiß, welches der zwölf Biere sich darin befindet. Das Einschenken wird von unabhängigen Prüfern überwacht und dokumentiert. Nach der Verkostung vergibt jeder Juror eine Note auf einer Skala von eins bis zehn. Die Summe dieser Noten wird auf der Anzeige hinter mir erscheinen. Da die Jurymitglieder das Ergebnis nicht sehen können, kennen sie weder den Punktestand noch die bisher verkosteten Biere. Das Getränk mit der höchsten Wertung gewinnt. Sollten zwei Biere dieselbe Punktzahl aufweisen, entscheidet das Publikum über den Sieger. Zu diesem Zweck wird jetzt das Tor geschlossen, da nur die Stimmen der hier anwesenden Besucher gezählt werden. Aber zu einer Publikumsentscheidung wird es auch heute sicherlich nicht kommen, denn der Dünenhopfen ist nun einmal das beste Bier im Norden.«

»Mach dich vom Acker!«, rief Joris. »Das ist ein Wettbewerb und keine Werbeveranstaltung.«

»Abflug, aber zackig«, unterstützte ihn Sören lautstark.

»Bevor die Sünnumer mich vor lauter Ungeduld im nächsten Bierfass ertränken, erkläre ich den heutigen Wettkampf für eröffnet.«

Neunaber verließ die Bühne und alle Augen richteten sich nun auf die fünf Männer, die, jeder mit schwarzer Hose und weißem Hemd bekleidet, zu den Juroren eilten. In den Händen hielten sie ein silbernes Tablett, auf dem jeweils ein Glas stand. Als sie es auf die Tische in den Kabinen stellten, brandete Applaus auf, der nach und nach verebbte, bis es vollkommen ruhig war. Gespannt betrachtete das Publikum die Jurymitglieder, die das Bier verkosteten, danach zu den vor ihnen liegenden Zahlentafeln griffen und diese in die Höhe hielten.

»Sechs, acht, sieben, fünf … das ist hoffentlich nicht das Tüdelbräu«, wisperte Wiebke und starrte, wie auch die anderen Dorfbewohner, auf die Anzeige, auf der nun eine 38 bei dem Namen Ballerkopp erschien.

In der Scheune machten einige Leute ihrem Unmut über das Ergebnis lauthals Luft, schwiegen aber, als die Kellner neue Gläser zu den Tischen brachten und die alten mitnahmen.

Im zweiten Durchgang bekam die Suffnase nur 27 Punkte. Dafür holten die Möwentränen mit 42 Punkten das bisher beste Ergebnis.

Mit jeder weiteren Runde wuchs die Spannung bei den Sünnumern. Joris hatte seine Seemannsmütze abgenommen und knetete sie wie Brotteig zwischen den Händen. Wiebke wickelte eine Haarsträhne um ihre Finger und Sören rieb sich die schweißnassen Hände immer wieder an seiner Hose ab.

Beim achten Durchgang verschränkte sogar die Friesenbrauerin, die bis dahin erstaunlich ruhig gewesen war, die Hände ineinander, als wollte sie um göttlichen Beistand bitten.

Als die Zahl 48 beim Tüdelbräu aufblinkte, rissen die Dorfbewohner die Arme nach oben und sprangen unter lautem Jubel von ihren Sitzen auf. Die Kameras fingen ihre Freude ein, bevor sich alle wieder setzten und die elfte Runde begann. In der Scheune war es nun so ruhig, dass jedes Räuspern einem Donnerhall gleichkam.

Als der Wattwurm44 Punkte bekam, atmeten die Sünnumer erleichtert auf. Nun konnte ihre Punktzahl nur noch vom Dünenhopfen überboten werden.

Die Juroren ließen sich bei der letzten Runde besonders viel Zeit und hoben erst nach einer gefühlten Ewigkeit die Karten. Wenige Sekunden später erschien die Zahl 48 auf der Anzeigentafel.

»Schiet ok«, schimpfe Joris und setzte seine Mütze wieder auf.

»Dünenhopfen hat noch nicht gewonnen. Zudem …«

Gesine verstummte, als Neunaber wie ein Springteufel auf die Bühne zurückkehrte.

»In der langjährigen Geschichte des Watthumpen-Festivals hat es ein solches Ergebnis noch nicht gegeben. Nun wird das Publikum den Sieger bestimmen. Wer das Tüdelbräu besser findet als den Dünenhopfen, geht über die linke Treppe nach oben. Alle Leute mit gutem Geschmack nehmen die Treppe auf der rechten Seite. Wenn sich alle auf der Bühne versammelt haben, wird der Sieger geehrt. Aber nicht drängeln, damit die Juroren auch vernünftig zählen können. Jeder, der sich für mein Bier entscheidet, bekommt eine Kiste Dünenhopfen gratis und …«

»Halt endlich den Sabbel.« Neunaber sah verwundert zu Renate Nansen, die neben der Friesenbrauerin in ihrem Rollstuhl saß und den Brauer hinter ihren dicken Brillengläsern wütend anfunkelte. Neben der alten Dame, die sich nur langsam von einem Schlaganfall erholte, hockte ihre Tochter, die Krankenschwester Monika, auf einer der Holzbänke.

»Besser ist das«, ertönte eine tiefe Bassstimme aus dem hinteren Bereich der Scheune.

»Ich wollte nur …«, begann Neunaber, wurde aber sofort wieder unterbrochen, dieses Mal von einer Frau aus der zweiten Reihe, »… einen Abgang machen, aber zackig.«

»Tüdelbräu!« Hinnerk stand auf und reckte seine muskelbepackten Arme in die Höhe.

»So muss das. Tüdelbräu!« Sörens Schrei hallte wie ein Schlachtruf durch die Scheune.

»Tüdelbräu«, hörte man jetzt Wiebke, die aufstand und zur linken Treppe ging. Nun erhoben sich auch die anderen Zuschauer und drängten nach vorn.

»Dünenhopfen. Dünenhopfen«, plärrte Neunaber ins Mikrofon und winkte die Gäste zur rechten Treppe.

»Tüdelbräu!«, skandierte eine Gruppe junger Männer und drängte auf die linke Seite.

In den nächsten Minuten glich die Scheune einem Tollhaus. Die Anhänger des Dünenhopfens versuchten mit Sprüchen und Parolen so viele Unentschlossene wie möglich auf ihre Seite zu ziehen. Die Sünnumer und ihre Unterstützer hielten mit aller Kraft dagegen. An den Treppen kam es zu Rangeleien, weil jeder als Erster auf die Bühne wollte.

Die Juroren hatte alle Hände voll zu tun, um die Leute, die nach oben stürmten, zu zählen. In der Menschenmenge befanden sich auch die Mitarbeiter des Fernsehsenders, die das Geschehen mit Kameras und Mikrofonen einfingen.

Nach zwanzig Minuten waren alle Besucher gezählt worden und blickten gespannt auf die Anzeigentafel, auf der man sowohl beim Tüdelbräu als auch beim Dünenhopfen die Anzahl der stimmberechtigten Gäste sehen konnte.

137.

Bei jedem Bier.

»Das darf doch nicht wahr sein.« Gesine seufzte vernehmlich und wandte sich dann an ihre Tochter. »Was passiert jetzt?«

»In diesem Fall tritt die dritte Regel der Spielordnung in Kraft.« Neunaber, der die ganze Zeit auf der Bühne gewesen war und die Frage gehört hatte, griente hämisch.

»Und was besagt diese Regel?«, hakte die Friesenbrauerin sofort nach.

»Wenn auch nach zwei Durchgängen kein Sieger ermittelt werden kann, bleibt der Watthumpen bis zum nächsten Wettkampf in Besitz des letztjährigen Gewinners. Die zehntausend Euro Siegprämie werden in diesem Fall nicht ausbezahlt.«

»Dat kunn jo woll nich angahn«, schimpfe Joris und schaute in die Scheune. »Ist denn niemand mehr da?«

»Nee, alle Besucher haben die Bänke verlassen und stehen bereits auf der Bühne.« Neunaber deutete mit einer ausholenden Geste in den menschenleeren Raum, der nun von mehreren Scheinwerfern erhellt wurde.

»Haben die Juroren auch richtig gezählt?«, fragte der alte Kapitän argwöhnisch.

»Lass gut sein, mein Seebär.« Tüdelbüdel legte Joris die Hand auf den Unterarm. »Es ist vorbei.«

»Die Leute sind doch nur wegen der Gratiskiste zum Dünenhopfen gegangen. Wir werden Einspruch gegen die Wertung einlegen.« Hinnerk baute sich drohend vor Neunaber auf.

»Nein!«, widersprach die Friesenbrauerin energisch. »Ich möchte keinesfalls, dass Anwälte über Sieg oder Niederlage entscheiden.«

»Uns fehlt nur eine Stimme, das ist bitter.« Monika Nansen strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah sich dann suchend um. »Wo ist eigentlich meine Mutter?«

»Ich dachte, Renate wäre bei dir.« Gesine drehte sich um die eigene Achse, konnte ihre alte Freundin aber nirgendwo entdecken. »Du wolltest sie doch mit ihrem Rollstuhl zur Bühne schieben.«

»Das habe ich nicht gesagt. Mama?« Die Krankenschwester eilte über die Treppe nach unten und rannte durch die Scheune. »Hier ist sie nicht.«

»Deine Mutter kann sich nicht in Luft aufgelöst haben.« Joris beteiligte sich nun ebenfalls an der Suche, der sich wenig später weitere Sünnumer anschlossen.

»Hoffentlich ist ihr nichts passiert«, wisperte Monika sorgenvoll.

»Renate ist hier.« Der alte Kapitän deutete auf die Ecke neben der linken Treppe.

»Was machst du denn da?« Die Krankenschwester eilte zu ihrer Mutter, auf deren Schoß eine Katze lag, die sich dort sichtlich wohlfühlte.

»Ich verstehe dich nicht.« Die betagte Dame fummelte an ihren Hörgeräten herum. »So, jetzt kann ich dich wieder hören. Bei der Abstimmung war es so laut, dass ich die Dinger abgestellt habe. Das arme Tier ist bei dem Tumult vollkommen durchgedreht. Glücklicherweise konnte ich es beruhigen.«

»Hast du schon abgestimmt?«

»Nein, ich musste mich doch um das Kätzchen kümmern. Was ist denn mit Tüdelbüdel los?« Renate sah der Friesenbrauerin nach, die zur Bühne lief und dabei aufgeregt mit den Armen wedelte.

Siegerehrung

Auf der Bühne bahnte sich die Friesenbrauerin einen Weg durch dichtgedrängt stehende Gäste, die sich angeregt miteinander unterhielten. Anhänger beider Biere waren von der Pattsituation enttäuscht. Sogar die Unterstützer des Dünenhopfens machten angesichts des Unentschiedens lange Gesichter. Als Sieger der letzten sieben Wettbewerbe hatten sie sich so sehr an den Erfolg gewöhnt, dass sich ein Punktegleichstand wie eine Niederlage anfühlte.

Vor Neunaber blieb Gesine stehen. Das Herz schlug ihr vor Aufregung bis zum Hals. Sie holte tief Luft und verkündete dann: »Wir haben noch jemanden gefunden.«

»Wie das denn? Die Bänke waren doch alle leer.«

»Renate sitzt im Rollstuhl.«

»Wer um alles in der Welt ist Renate?«

»Eine ältere Dame aus Sünnum. Wir haben sie …«

»… nach der Auszählung heimlich reingeschoben. Das Tor steht seit einigen Minuten wieder offen. Ihre Stimme kann daher unmöglich gezählt werden«, winkte Neunaber ab.

»Das stimmt nicht!« Die Friesenbrauerin stemmte die Hände in die Seiten.

»Ist doch seltsam, dass die betagte Dame ausgerechnet aus Sünnum kommt, oder nicht?«, bemerkte der Brauer süffisant.

»Was soll das denn heißen?«

»Dass ihr Dorfdeppen bei der Auszählung betrügen wollt.«

»Wie hast du uns genannt?«

Gesine ging auf Neunaber zu. Obwohl sie fast einen Kopf kleiner und wesentlich zierlicher war als er, strahlte sie eine unbändige Kraft aus, die den Brauer allerdings keineswegs zu verunsichern schien.

»Dorfdeppen. Soll ich es buchstabieren?« Er grinste überheblich.

»Dat gifft wat an de Ohrn!« Hinnerk, der die letzte Bemerkung mitbekommen hatte, ballte die Hände zu Fäusten.

»Bleib ruhig.« Die Friesenbrauerin legte ihm die rechte Hand auf den Unterarm.

»Der Schnösel will uns um den Sieg bringen.«

Beim Anblick des zornigen Tischlers zog sich Neunaber vorsichtshalber einen Schritt hinter seine Anhänger zurück, die auf die Auseinandersetzung aufmerksam geworden waren. Als diese eine lebende Mauer vor ihm gebildet hatten, erklärte er lauthals:

»Gemäß den Statuten des Wettbewerbs dürfen nur jene Besucher gezählt werden, die während der Stichwahl bei der Veranstaltung anwesend waren.«

»Renate ist zum Zeitpunkt der Auszählung in der Scheune gewesen.« Die Adern an Gesines Hals traten so deutlich hervor, als würden sich Schlangen unter ihrer Haut winden.

»Sie hat doch mit einem Zwischenruf auf sich aufmerksam gemacht«, bestätigte Hinnerk.

»Im Zuschauerbereich war es während der Veranstaltung so dunkel, dass man niemanden erkennen konnte. Somit gibt es keinen Beweis für ihre Anwesenheit.« Neunaber ließ die beiden Sünnumer einfach stehen und drängte zum Watthumpen, der noch immer auf dem roten Kissen lag.

Er wollte die Bühne mit der Trophäe gerade verlassen, als sich ihm ein Kameramann in den Weg stellte.

»Ich habe während der Verkostung immer wieder ins Publikum gefilmt, um die Reaktionen der Gäste zu zeigen. Dabei habe ich auch die Rollstuhlfahrerin aufgenommen, daran kann ich mich genau erinnern. Wenn Sie möchten, können wir uns das Bildmaterial zusammen ansehen.«

»Wenn die Dame zum Zeitpunkt der Abstimmung in der Scheune war, müssen wir ihre Stimme zählen«, ließ sich nun einer der Juroren vernehmen.

»Der Wettbewerb ist noch nicht zu Ende.« Die Stimme der Friesenbrauerin, die Neunaber gefolgt war, duldete keinen Widerspruch.

»Die Abstimmung ist gelaufen«, widersprach der Brauer und wollte sich an dem Kameramann vorbeidrängen, aber dieser wich keinen Millimeter zur Seite.

»Wie Ihnen bekannt sein sollte, ist der Wettkampf erst dann entschieden, wenn die Jury die Veranstaltung offiziell beendet hat. Da das noch nicht geschehen ist, wird die Stimme dieser Dame nun ausschlaggebend sein.«

Inzwischen waren immer mehr Gäste auf den Disput aufmerksam geworden.

»Lasst die Frau abstimmen«, forderte ein beleibter Rothaariger.

»So muss das«, bestätigte ein anderer.

»Macht hinne!«, rief eine Ungeduldige.

»Legen Sie den Watthumpen wieder auf das Kissen«, verlangte ein weiterer Juror von Neunaber und ging dann zum Bühnenrand. »Für welche Seite entscheiden Sie sich?«, wollte er von Renate wissen, die inzwischen von ihrer Tochter vor die Bühne gefahren worden war.

»Was ist das denn für eine Frage? Für die linke Seite, für Tüdelbräu natürlich.«

Wenige Augenblicke später hatte Monika ihre Mutter direkt vor die erste Stufe geschoben.

»Hier ist keine Rollstuhlrampe«, stellte die Krankenschwester fest.

»Die ist auf der rechten Seite.« Neunaber beugte sich am Bühnenrand vor und grinste Renate wölfisch an. »Sollten Sie diese nutzen, wird Ihre Stimme für den Dünenhopfen gezählt.«

»Kein Problem. Ich trage Renate einfach die Treppe hoch«, bot sich Hinnerk an.

»Das wäre eine unerlaubte Hilfestellung. Gemäß den Statuten muss jeder Teilnehmer ohne Unterstützung einer fremden Person auf die Bühne.« Neunaber hob belehrend seinen Zeigefinger.

»Stimmt das?«, erkundigte sich Gesine bei einem Juror.

»Leider ja«, bestätigte dieser.

»Warum ist hier dann keine Rollstuhlrampe?«

»Die wird beim Aufbau vergessen worden sein. Es tut mir wirklich leid, dass das Tüdelbräu deshalb auf die entscheidende Stimme verzichten muss.«

»Das ist eine unerhörte Benachteiligung behinderter Menschen«, ereiferte sich Gesine.

»Da kann ich nicht widersprechen. Im nächsten Jahr können sicherlich Anpassungen vorgenommen werden, aber heute müssen wir uns an die geltenden Vorschriften halten.« Der Juror schüttelte bedauernd den Kopf.

»Ich nehme die Treppe, wie alle anderen auch. Kann mir jemand die Katze abnehmen?«, fragte Renate mit fester Stimme.

Joris griff nach dem Stubentiger und setzte ihn auf den Boden. Die Katze lief zum Ausgang und war kurz darauf verschwunden.

»Mama, so weit bist du noch lange nicht. Ich bin froh, dass du wieder die ersten Schritte mit dem Rollator machen kannst. Die fünf Stufen wirst du unmöglich schaffen.«

»Kindchen, Unmöglich ist mein zweiter Vorname. Das solltest du langsam wissen.«

»Als Krankenschwester muss ich dir davon abraten. Die Anstrengung ist zu viel für dich.«

Renate ignorierte den Ratschlag, legte die Hände auf die Lehnen und drückte sich mit ihren dünnen Armen hoch.

»Du bist so ein Sturkopf«, schimpfte ihre Tochter.

»Das betrachte ich als Kompliment.«

Renate packte das Geländer mit der rechten Hand und zog sich die erste Stufe hoch. Monika, die direkt hinter ihr stand, um sie notfalls aufzufangen, wisperte: »Das ist Wahnsinn.«

»Nein, das ist nur eine Frage des Willens.« Renate nahm die zweite Stufe in Angriff. Inzwischen hatte sich eine Menschentraube um die Treppe gebildet und alle Kameras waren auf die alte Frau gerichtet, die sich Stufe für Stufe emporkämpfte. Als sie mit zitternden Beinen endlich oben angekommen war, brandete Applaus auf. Monika half ihr in den Rollstuhl, den Hinnerk in der Zwischenzeit auf die Bühne gehoben hatte. Die Anzeige an der Scheunenwand flackerte kurz auf und zeigte dann die Zahl 138 beim Tüdelbräu an.

»Wir haben gewonnen!«, rief die Friesenbrauerin und führte ein Freudentänzchen auf, von dem sich zunächst die Sünnumer und danach auch alle anderen Anwesenden anstecken ließen, bis die Bühne einer riesigen Tanzfläche glich.

»Hiermit erklären wir das diesjährige Watthumpen-Festival für beendet und gratulieren der Gewinnerin Gesine Felber«, war der Juror nun über die Lautsprecher des Mikrofons zu vernehmen. »Jetzt können wir endlich den Watthumpen und das Preisgeld offiziell übergeben. Dürfen wir Frau Felber zu uns bitten?«

Gesine trat vor die fünf Juroren, die mit feierlicher Miene neben der Trophäe standen und ihr zunächst einen Scheck über 10000 Euro reichten, den sie unter dem Jubel der Sünnumer an Joris weitergab, bevor sie den Watthumpen in Empfang nahm.

»Die Trophäe wird einen Ehrenplatz im Kroog bekommen«, versprach die Friesenbrauerin und drückte ihrer Tochter den Watthumpen in die Hand. Diese reckte ihn freudestrahlend in die Höhe und gab ihn dann Joris, der ihm einen fetten Schmatz aufdrückte.

»Können sich bitte alle Sünnumer um den Pokal gruppieren?«, bat ein Kameramann, und die Dorfbewohner kamen der Aufforderung gerne nach. In den nächsten Minuten wurden neben einer Filmaufnahme auch unzählige Fotos mit privaten Smartphones gemacht, denn jeder der Anwesenden wollte diesen magischen Moment festhalten.

»Jetzt wollen wir den Leuten mal zeigen, wie man in Sünnum eine anständige Party feiert! Wer von euch hat noch Bier in seinem Verkaufswagen?« Die Frage richtete Gesine an die anderen Brauer, die ihr zum Sieg gratuliert hatten und nun im Pulk um sie herumstanden.

»Ich habe noch ein Fass Ballerkopp übrig«, ließ sich ein schmächtiger Mann mit kupferroten Haaren vernehmen.

»Für eine ordentliche Feier opfere ich gerne meine eiserne Reserve.« Die Äußerung des Brauers der Möwentränen wurde mit Applaus aufgenommen.

»Ein paar Kisten Wattwurm sind noch auf dem Hänger. Jungs, fasst mal mit an.« Ein bierbäuchiger Hüne stampfte von der Bühne. Einige Männer folgten ihm unter lautem Gelächter.

Nach ihnen verließen weitere Gäste das Gebäude und kurz darauf wurden Kisten und Fässer in die Scheune gebracht und neben der Bühne zu einem gemeinsamen Bierstand aufgebaut.

»Freibier für alle!«, rief Hinnerk und rollte mit Sören das letzte Fass Tüdelbräu in die Scheune. Unter dem johlenden Applaus der Gäste schlug Gesine den Zapfhahn ein und reichte die Becher in alle Hände, die sich ihr entgegenstreckten.

Bald war die Scheune erfüllt von Stimmengewirr und Gelächter. Aus den Lautsprechern erklangen Seemannslieder, die Wiebke auf einer Playlist ihres Smartphones gespeichert und an die Boxen angeschlossen hatte.

Die Songs wurden von vielen Feiernden mehr oder weniger textsicher mitgesungen. Einige schwoften auf der Bühne, die kurzerhand zu einer Tanzfläche umfunktioniert worden war. Bis zum Morgengrauen gab es keinen Unterschied zwischen Gästen, Juroren, Reportern, Elektrikern und Brauern. Es existierte nur eine ausgelassen feiernde Menschenmenge, die den diesjährigen Wettbewerb in ein rauschendes Fest verwandelte.

Alle hatten einen Riesenspaß.

Bis auf einen.

Neunaber hatte die Veranstaltung direkt nach der Bekanntgabe der Gewinnerin verlassen und war mit seinem hypermodernen Bierwagen nach Hause gefahren.

Niemand vermisste ihn.

Biertouristen

Eine Woche später machte sich Wiebke Felber nach ihrer Schicht im Polizeikommissariat auf den Heimweg. In Sünnum standen die am Seitenstreifen parkenden Autos so dicht, dass sie auf den ersten Blick wie ein blecherner Lindwurm wirkten, der sich in das Dorf verirrt hatte. An diesem Abend war vor dem Kroog kein Durchkommen mehr, also stellte sie ihren himmelblauen Mini in einer Seitenstraße ab und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück.

»He, was soll das?«, blaffte sie einen jungen Mann an, der an eine Hecke pinkelte. Der drehte sich um und musterte ihre Uniform mit glasigen Augen.

»Entschuldigung, ich musste mal.« Er zog den Reißverschluss seiner Hose hoch und torkelte zum Kroog.

»Das darf doch nicht wahr sein.« Wiebke drängte sich durch die vor der Gaststätte stehenden Menschen und öffnete die Tür. Stimmengewirr, in das sich Musikfetzen aus den Lautsprechern mischten, quoll wie eine akustische Wolke heraus.

Der Tierarzt Hauke Peters kam ihr entgegen. »Die Kneipe gleicht einem Tollhaus, so schlimm wie heute war es noch nie. Kannst du nichts gegen die Bagaluten unternehmen, die in den letzten Tagen in Sünnum eingefallen sind?«

»Mal sehen, was ich machen kann.« Wiebke betrat den Schankraum.

Die Gäste standen so dicht beieinander, dass sie sich bis zur Theke vorkämpfen musste, hinter der ihre Mutter stand und Tüdelbräu zapfte. Renate Nansen saß im Rollstuhl neben ihr und spülte die benutzten Gläser.

Joris hockte auf seinem Stammplatz auf der rechten Seite der Theke. Sören stand neben ihm und starrte in sein halbvolles Glas. Der hünenhafte Tischler, der direkt hinter den beiden sein Bier trank, ragte wie ein Leuchtturm aus der Menge hervor.

»Das ist noch voller als gestern«, schimpfte Joris, als sich Wiebke an ihm vorbeidrängte und hinter die Theke trat.

»Zieh dich um und hilf mir. Monika kümmert sich um die Gäste im Innenhof, aber wir können jede Hand brauchen.«

Die Friesenbrauerin stellte ein volles Glas auf den Tresen, der wie ein schützendes Bollwerk gegen die Menschenmenge wirkte.

»Können wir ein Selfie machen?«

Bevor Gesine die Frage beantworten konnte, hatte sich ein dünner Kerl mit seinem mageren Hintern auf die Theke geschwungen und knipste mit dem Smartphone ein Foto. Dabei stieß er ein Glas um. Bier floss über die Theke und tropfte zu Boden.

»Du zahlst mir ein neues Tüdelbräu«, beschwerte sich ein beleibter Mann.

»Runter da, aber sofort«, befahl Wiebke.

»Ich bin schon weg.« Der Hagere machte ein weiteres Bild und sprang zu Boden. Wenige Augenblicke später war er in der Menge verschwunden.

»He, was ist jetzt mit meinem Bier?«

»Nehmen Sie das hier. Geht aufs Haus.« Die Friesenbrauerin wischte mit einem Lappen über die Theke und stellte dann ein frisch gezapftes Tüdelbräu darauf.

»Danke. Das ist nett.«

»Das ist echt guter Bölkstoff«, lobte ein sichtlich angetrunkener Mittvierziger, der neben dem Beleibten wie ein nasser Sack auf seinem Barhocker kauerte.

Gesine stellte ein weiteres Glas auf die Theke. Als zwei Zecher gleichzeitig danach griffen, fiel es zu Boden und zerbrach.

Wiebke atmete tief ein und ließ die Luft langsam entweichen. Nach ihrer nervenaufreibenden Arbeit hatte sie sich auf etwas Ruhe und einen Klönschnack mit ihrer Mutter und anderen Dorfbewohnern im Kroog gefreut. Aber daraus würde anscheinend wieder nichts werden.

Die Polizistin holte den hinter der Theke liegenden Handbesen und kehrte die Scherben auf. Dabei wurde sie von einem Betrunkenen angerempelt, der sein Bier über ihre Hose kippte und ohne Entschuldigung in der Menge verschwand. Die Touristen verlangten immer ungeduldiger nach ihrem Tüdelbräu.

»Mach hinne!«

»Wieso dauert das denn so lange?«

»Kann mal jemand die alte Schachtel am Zapfhahn ablösen?«, rief eine besonders impertinente Person.

Wiebke drehte sich zu einer etwa dreißigjährigen Frau um, die mit ihrer eleganten Kleidung und der Hochsteckfrisur eher in eine angesagte Großstadtbar als in eine Dorfkneipe passte. Neben ihr stand ein Mann in einem anthrazitfarbenen Anzug, der mit seinen Fingern ungeduldig auf die Theke trommelte.

»Ich verstehe nicht, warum der Kroog im Internet über den grünen Klee gelobt wird. Das Tüdelbräu mag ein gutes Bier sein, aber das Ambiente ist so primitiv wie die Proleten aus dem Dorf. Kein Wunder, dass Sünnum auf keiner digitalen Landkarte auftaucht.«

»Raus, aber sofort.« Die Friesenbrauerin, die die abfällige Bemerkung des Anzugträgers gehört hatte, deutete zur Tür.

»Wollen Sie mir ernsthaft Hausverbot erteilen? Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?«, echauffierte sich der Angesprochene.

»Nein, und das ist mir auch vollkommen egal.«

»Ich bin Herausgeber der Zeitschrift Land und Luxus«, erklärte er trotz Gesines Antwort in herablassendem Tonfall. »Bei einer negativen Berichterstattung wird keiner meiner Leser jemals wieder einen Fuß in diese Absteige setzen. An Ihrer Stelle würde ich mir und meiner Frau ein Bier spendieren und sich in aller Form bei uns entschuldigen.«

»Welchen Teil von Raus, aber sofort haben Sie nicht verstanden?« Gesine beugte sich vor.

»Sie haben meine Mutter gehört.« Wiebke baute sich vor dem Schnösel auf.

»Was erlauben Sie sich?« Der Kopf des Wichtigtuers hatte inzwischen die Farbe einer reifen Tomate angenommen.

»Meine Mutter hat Ihnen Hausverbot erteilt. Abflug«, ordnete die Polizistin an.

»Niemand nennt Tüdelbüdel ungestraft eine alte Schachtel.« Joris hob belehrend den Zeigefinger.

»Das wird ein Nachspiel haben«, drohte der Zeitungsmacher und drängte mit seiner aufgetakelten Begleiterin zum Ausgang. Sofort rangelten andere Gäste um die freien Plätze an der Theke.

Wiebke kippte die Scherben in den Mülleimer hinter dem Tresen. Nachdem sie die Bierpfütze aufgewischt hatte, verließ sie die Kneipe, um sich umzuziehen und eine Kleinigkeit zu essen.

Während der schnellen Mahlzeit, die aus einem Käsebrot und einem Glas Milch bestand, vibrierte das Smartphone, das neben ihr auf dem Küchentisch lag.

»Moin Ruben«, begrüßte sie ihren Freund. Der betrieb auf Norderney eine Cocktailbar und das abendliche Telefonat war inzwischen zu einem Ritual in ihrer Beziehung geworden. »Können wir später telefonieren? Hier brennt gerade die Hütte.«

»Das wundert mich nach dem Sieg des Watthumpens keinesfalls. Die Fotos der Veranstaltung werden im Internet tausendfach geteilt und kommentiert. Deine Mutter und diese ältere Lady, die sich die Treppe hochgequält hat … wie heißt sie noch gleich?«

»Renate Nansen.«

»Nansen, richtig. Die beiden Frauen rocken gerade die sozialen Netzwerke. Der Kroog ist inzwischen bekannter als meine Bar und für ein Selfie mit der Friesenbrauerin bekommen die User Likes ohne Ende. Waren denn noch keine Journalisten bei euch?«

»Die Pressevertreter sind schon am Tag nach dem Sieg in unser Dorf eingefallen. Meine Mutter hat bereits neun Interviews gegeben. Vor wenigen Minuten hat sie den Herausgeber der Zeitschrift Land und Luxus rausgeworfen.«

»Echt jetzt? Bei dem Mann habe ich monatelang um einen Beitrag gebettelt. Als er dann endlich erschien, war meine Bude jeden Abend so voll, dass ich drei neue Aushilfen einstellen musste, um alle Gäste bedienen zu können.«

»Die Aushilfen könnte meine Mutter jetzt auch brauchen. Seit dem Besucheransturm braut sie in jeder freien Minute, aber wir haben nun einmal eine kleine Kellerbrauerei mit begrenztem Bierausstoß.«

»Warum geht sie denn keine Kooperation mit einer großen Brauerei wie dem Dünenhopfen ein?«

»Vergiss es«, unterbrach Wiebke den Insulaner. »Meine Mutter wird mit Neunaber sicherlich keine Geschäfte machen. Zudem würde sie ihr Tüdelbräu immer selbst brauen wollen. Können wir später reden? Ich muss wieder in den Kroog.«

»Das hast du an den letzten beiden Abenden auch schon gesagt. Wann willst du denn wieder nach Norderney kommen?«

»Nichts würde ich lieber tun, aber ich kann Mama jetzt unmöglich allein lassen.«

»Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen.« Seine Stimme hatte etwas Flehendes.

»Das weiß ich, aber jetzt geht es echt nicht.«

»Ist zwischen uns alles okay?«

»Natürlich. Warum fragst du?«

»Weil ich das Gefühl habe, dass du mir aus dem Weg gehst.«

»Das stimmt nicht«, rechtfertigte sich Wiebke, die sich über Rubens Drängen wunderte, da sie sich auch in der Vergangenheit nur unregelmäßig gesehen hatten. »Ich habe momentan nur keine Zeit für einen Inselurlaub, das ist alles.« Sie stellte den Teller in die Spüle.

»Ich will dich nicht verlieren.«

»Was ist das denn für ein Spruch? Bist du betrunken oder hast du dir in der Glotze eine Überdosis Schmonzetten reingezogen?«

»Nee, heute habe ich noch keinen Tropfen angerührt und zum Fernsehgucken komme ich nur im Winter.«

»Oh, ich dachte nur … weil … so etwas hast du noch nie zu mir gesagt.«

»Das hätte ich längst tun sollen. Du bist meine …«

»… wenn du jetzt Traumfrau sagst, spreche ich nie wieder ein Wort mit dir«, drohte sie scherzhaft.

»Seit wann kannst du meine Gedanken lesen? Du bist … ach, vergiss es.«

»Ruben, lass uns in den nächsten Tagen in Ruhe miteinander reden, okay? Bis später.«

»Warte …«

»Was ist denn noch?«

»Du bist mein Lieblingsmensch, vergiss das nicht.«

»Niemals.«

Wiebke beendete das Gespräch und legte das Mobiltelefon gedankenverloren vor sich auf den Tisch. So gefühlsbetont hatte sie ihren Freund noch nie erlebt. Bisher war ihre Beziehung recht locker, mehr Freundschaft plus als echte Liebe. Dabei konnte sie sich in ihren ruhigen Momenten ein Leben mit dem Sonnyboy durchaus vorstellen.

Wiebke seufzte vernehmlich. Ein Gefühlschaos, bei dem die Emotionen mit ihr Achterbahn fuhren, brauchte sie momentan so wenig wie der Seehund ein Fahrrad.

Sie trank die Milch aus, schlüpfte in die weißen Sneakers und warf einen kurzen Blick in den Wandspiegel, der neben der Garderobe in der Diele hing. Statt ihrer Uniform trug sie nun eine Jeans und ein blaues T-Shirt mit dem Aufdruck einer Möwe. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Die Ringe unter den Augen konnte sie nicht mehr lange unter ihrem Make-up verstecken. In der letzten Woche hatte Wiebke kaum geschlafen, weil sie entweder im Polizeikommissariat oder im Kroog gearbeitet hatte.