Die Leiche im Keller: Ein Wiener DDR-Krimi - Hubert Anders - E-Book

Die Leiche im Keller: Ein Wiener DDR-Krimi E-Book

Hubert Anders

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Beschreibung

Verena Richters erster Fall Bei Umbauarbeiten im Wiener Palais der alteingesessenen Familie von Eckstein wird eine Leiche entdeckt - eine mysteriöse Spur, die tief in die Vergangenheit zurückführt, in die DDR der 1970er Jahre. Die Privatdetektivin Verena Richter wird beauftragt, die Identität des Toten und die Geschichte hinter seinem Schicksal zu ergründen. Doch der Fall birgt weit mehr als nur ein vergessenes Geheimnis. Während Verena in die Schatten der Vergangenheit eintaucht, stößt sie auf verstörende Geheimnisse, die bis in höchste Kreise reichen. Mit jedem Fundstück rekonstruiert sie das Leben von drei jungen Frauen, die in die Machenschaften der Stasi und ein gefährliches Netz politischer Intrigen verstrickt waren. Doch was damals wirklich in Wien geschah, bleibt unklar - und Lena von Eckstein, die Auftraggeberin und Erbin des Palais, verfolgt ihre ganz eigenen Interessen. Verena muss nicht nur den Fall lösen, sondern auch ihre Gefühle für Lena in den Griff bekommen. Bald merkt sie, dass in diesem Spiel aus Macht und Vergangenheit nicht nur die Toten schweigen - auch die Lebenden haben vieles zu verbergen. Ein packender Krimi über Schuld, politische Intrigen und die dunklen Geheimnisse hinter den Mauern eines alten Wiener Palais.

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Seitenzahl: 298

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Verena Richters erster Fall

Bei Umbauarbeiten im Wiener Palais der alteingesessenen Familie von Eckstein wird eine Leiche entdeckt – eine mysteriöse Spur, die tief in die Vergangenheit zurückführt, in die DDR der 1970er Jahre. Die Privatdetektivin Verena Richter wird beauftragt, die Identität des Toten und die Geschichte hinter seinem Schicksal zu ergründen. Doch der Fall birgt weit mehr als nur ein vergessenes Geheimnis.

Während Verena in die Schatten der Vergangenheit eintaucht, stößt sie auf verstörende Geheimnisse, die bis in höchste Kreise reichen. Mit jedem Fundstück rekonstruiert sie das Leben von drei jungen Frauen, die in die Machenschaften der Stasi und ein gefährliches Netz politischer Intrigen verstrickt waren. Doch was damals wirklich in Wien geschah, bleibt unklar – und Lena von Eckstein, die Auftraggeberin und Erbin des Palais, verfolgt ihre ganz eigenen Interessen.

Verena muss nicht nur den Fall lösen, sondern auch ihre Gefühle für Lena in den Griff bekommen. Bald merkt sie, dass in diesem Spiel aus Macht und Vergangenheit nicht nur die Toten schweigen – auch die Lebenden haben vieles zu verbergen.

Ein packender Krimi über Schuld, politische Intrigen und die dunklen Geheimnisse hinter den Mauern eines alten Wiener Palais.

Die großen Verbrechen hinterlassen uns sprachlos, die kleinen hinterlassen uns Kriminalromane.

Hubert Anders

Danksagung

Mein besonderer Dank gilt Erika, Gerhard und Lisa, die Rezensenten der ersten Stunde, die das Buch durch ihre Hinweise und Anregungen zu dem gemacht haben, was es geworden ist.

Inhalt

Prolog

Der Auftrag

Ein Leichenfund

Ein ehemaliger Kollege

Ein erster Hinweis

Elke Schneider

Elkes Rekrutierung

Ein neues Leben

Ein Platz im System

Unruhe

Durchgemacht

Im Café Hegel

Mitternacht

Begegnungen

Im Zentrum der Macht

Die erste Begegnung

Der Morgen danach

Die Stasi wird aufmerksam

Ein Spiel – oder mehr?

Der dritte Kontakt

Ein Abend zu zweit

Allein oder verliebt?

Kraftlinien

Im Garten der Botschaft

Eine neue Hoffnung

Noch eine neue Hoffnung

Bielefeld

Gerade, Dreieck, Punkt?

Lena?

Liebesleid

Der Besuch bei der alten Dame

Bei Markus

Die Steine rollen

In den Westen

Desillusionierung

Am Frachtenbahnhof

Bei Hanna

Die Entdeckung

Am Rande der Wahrheit

Frühstück im Kaffeehaus

Lenas Anruf

Hannas Beichte

Der letzte Puzzlestein

Showdown

Einmal Botschaft und retour

Elkes Entscheidung

Jetzt auch noch Gitti

Kurzschluss und Überschlag

Seine Exzellenz greift durch

Ihre Leiche, Frau Beran

Die Leiche kommt in den Keller

Zwei Generäle

Abschluss

Zwischenwelt

Der letzte Vorhang einer Dame

Beim Heurigen

Zur letzten Ruhe

Epilog

Prolog

Wien-Zentrum, später Abend an einem Junitag 1974

Kurz nach 22 Uhr hielt ein schwarzer Kombi vor dem Portal des Palais Eckstein. Die Scheinwerfer warfen lange Schatten über das Kopfsteinpflaster, als der Wagen rückwärts auf den Gehsteig schob. Eine Frau trat aus der Eingangstür und spähte in die Dunkelheit. Drei dunkel gekleidete Männer stiegen aus, der Kofferraum öffnete sich leise. Ohne ein Wort zu verlieren, stemmten sie mit vereinten Kräften einen groben Sack aus dem Wagen und schleppten ihn durch die Einfahrt. Die Frau hielt die Tür auf, der kalte Nachtwind wehte ihr Haar zurück.

Der Sack wurde achtlos auf den Fliesen des Eingangs fallengelassen, ein dumpfer Aufprall hallte im Flur wider. Einer der Männer stellte stumm eine kleine graue Schachtel daneben ab, auf deren Deckel Hammer und Zirkel im Ährenkranz eingeprägt waren, die markanten Symbole der Deutschen Demokratischen Republik. Dann stiegen sie wieder in den Wagen, der Motor heulte auf, und der Kombi verschwand in der Dunkelheit.

„Und jetzt?“, fragte die Frau in den leeren Flur hinein. – „Tragen. Hier kann die Leiche nicht liegen bleiben.“ Die zweite Frau verzog das Gesicht und schob den schweren Sack wortlos über den Boden.

Es dauerte fast eine Stunde, bis die beiden Frauen die Last in den zweiten Keller geschafft hatten. Die Stille des alten Gemäuers schien schwer auf ihnen zu lasten, während sie den Sack in einen dunklen Raum rollten, den sie für diesen Zweck ausgesucht hatten. Ein letzter Blick, dann fiel die schwere Tür wieder ins Schloss. Eine der beiden Frauen drehte den Schlüssel zweimal um und steckte ihn ein.

„Hier ist sie sicher“, sagte die andere leise. Ohne ein weiteres Wort verließen die Frauen den Keller und schlossen die Tür hinter sich. Ihre Schritte hallten in der Kälte des Treppenhauses wider, als sie nach oben stiegen, die Schachtel an sich nahmen und in der Nacht verschwanden.

Der Auftrag

Ein Leichenfund

Wien-Zentrum, Gegenwart, ein Junitag

Die schwere, verzierte Eingangstür des Palais von Eckstein lässt sich nur mit einem gewissen Kraftaufwand öffnen. Das Knarren der alten Scharniere hallt durch die Eingangshalle, die in kühles Dämmerlicht getaucht ist. Die Luft im Haus ist kühl, fast klamm, als ob die alten Mauern die Kälte des frühen Morgens noch lange festhalten. Kein freundlicher Ort, denke ich, während ich eintrete. Nicht, dass ich solche Orte nicht erwarten würde.

Lena von Eckstein wartet am Fuß der breiten Marmortreppe auf mich. Ihr Blick ist aufmerksam, als ich näher komme, doch ihre Haltung bleibt distanziert. Kühle Eleganz. Ihr blondes Haar liegt perfekt, ihre grünen Augen sind ruhig, aber wachsam. Sie wirkt, als hätte sie den Morgen lange vorbereitet, damit sie keinen Raum für Überraschungen lässt.

„Frau Richter, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie so schnell kommen konnten“, sagt sie, ohne den Blick von mir zu nehmen. Die Stimme passt zu ihrem Auftreten: kühl, kontrolliert, keine Emotionen, die sich in den Ton einschleichen.

„Es klang nach einem Fall, der meine Aufmerksamkeit verdient“, erwidere ich. Ich halte die Augen auf sie gerichtet, versuche, mehr hinter dem zu sehen, was sie sagt. Ihr Auftreten passt zu dem Haus. Alt, herrschaftlich, repräsentativ – aber hinter all dem könnte sich alles Mögliche verbergen.

„Ich hoffe, dass dem so ist.“ Sie lächelt kurz, ein flüchtiges, knappes Lächeln, das mehr Routine als echte Freundlichkeit zeigt. „Kommen Sie, ich möchte Ihnen den Fundort zeigen.“

Lena dreht sich um, und ich folge ihr die breite Treppe hinab in den Keller. Die Schritte hallen dumpf auf dem kalten Marmor, und mit jedem Schritt wird die Luft kühler. Unten im Keller herrscht eine Feuchtigkeit, die sich in die Haut frisst. Irgendetwas an diesem Ort macht mich aufmerksamer, als es ein einfacher Leichenfund tun sollte.

Die Wände sind feucht, stellenweise schimmelt der Putz. Der Boden ist uneben und feucht, als würde das Haus selbst langsam verfallen. Lena bleibt vor einer massiven Holztür stehen, die von einem bronzenen Knauf gehalten wird. Sie dreht den Knauf und öffnet die Tür mit einem schweren Ruck. Ein dumpfer, modriger Geruch schlägt mir entgegen.

Der Raum dahinter ist klein, das Licht kommt von einer einsamen Glühbirne, die von der Decke hängt. „Hier hat man sie gefunden“, sagt Lena und deutet auf den Boden in der Mitte des Raums. „Die Bauarbeiter stießen auf den Leichnam, als sie den Keller für die Einleitung der Fernwärme vorbereiteten. Die Polizei war schnell zur Stelle, aber sie haben den Fall rasch abgeschlossen.“

Ich gehe in die Hocke und betrachte den Boden. Der Beton ist rau, stellenweise noch feucht, obwohl die Arbeiten längst abgeschlossen sind. Im Hintergrund streben offensichtlich neue, rot eingepackte Rohre aufwärts. Es ist nichts mehr zu sehen, was auf die Leiche hinweist. Ich frage mich, warum man den Fall so schnell abschließen wollte.

„Ungewöhnlich“, sage ich, während ich mich langsam aufrichte. „Dass die Polizei das so schnell als erledigt ansieht.“

Lena nickt knapp. „Ja, das fand ich auch. Es ging alles sehr schnell. Vielleicht, weil der Todeszeitpunkt so lange zurückliegt. Der Autopsiebericht sprach von den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.“ Ich blicke Lena an, für sie ist das genauso historische Vergangenheit wie für mich.

Ihre Antwort ist sachlich, neutral, als würde sie nur die offensichtlichen Fakten wiederholen. Aber sie wirkt zu beherrscht. Zu wenig überrascht, zu wenig besorgt. „Haben Sie irgendwelche Unterlagen oder Hinweise, die den Fall vertiefen könnten?“, frage ich sie, während ich sie direkt ansehe.

„Nein“, sagt sie. Das Lächeln, das jetzt kurz ihre Lippen umspielt, ist zu glatt, als dass ich es ernst nehmen könnte.

Ich gehe noch einmal gedanklich durch, was ich gesehen habe. Lena sagt, die Polizei hätte den Fall „rasch abgeschlossen“, aber irgendwas an dieser Geschichte passt nicht. Rasch abgeschlossen ist selten eine gute Nachricht. Es bedeutet meistens, dass jemand nicht weiter graben will.

„Kommen Sie, wir gehen wieder nach oben“, sagt Lena. Ihre Stimme ist jetzt fast beiläufig, als wolle sie den Keller so schnell wie möglich hinter sich lassen. Sie wendet sich um, und wir verlassen den Raum.

Der Salon ist in warmes, gedämpftes Licht getaucht, ein fast überwältigender Kontrast zum kalten Keller, aus dem wir gerade gekommen sind. Doch Lena bleibt unberührt, ihre kühle Ausstrahlung unverändert. Sie deutet auf das Sofa, setzt sich mir gegenüber und betrachtet für einen Moment ihre eigenen Hände, bevor sich unsere Blicke wieder treffen.

„Was erwarten Sie von mir?“, frage ich sie und lehne mich im Sessel zurück. „Der Fall ist alt, Spuren sind kaum vorhanden.“

Lena atmet tief ein, dann erwidert sie leise: „Ich habe Sie ausgewählt, weil ich gehört habe, dass Sie schwierige Fälle lösen. Ich brauche Ihre Diskretion.“

Ich nicke und überlege, ob ich noch einmal nach dem Grund für ihre Eile fragen sollte. Doch ihr Blick verrät mir, dass ich nicht viel mehr herausbekommen werde. Noch nicht.

„Bevor ich gehe, möchte ich Sie nur darauf hinweisen, dass mein Honorar unabhängig von einem Erfolg fällig wird“, sage ich. Lena zögert keine Sekunde und nickt. „Das ist selbstverständlich.“

Bevor ich mich zum Gehen wende, bemerke ich, wie sie eine CD-ROM von einem Sideboard nimmt. „Ich habe es geschafft, an die Polizeibilder des Leichenfundes zu kommen. Ich dachte, das könnte Ihnen helfen.“

Ich nehme die CD-ROM entgegen und nicke. „Das wird sicher nützlich sein.“

Lena steht auf und begleitet mich zur Tür. „Ich zähle auf Sie, Frau Richter“, sagt sie und wirft mir einen letzten Blick zu, bevor ich das Palais verlasse.

Ein ehemaliger Kollege

später

Die Stille in meiner Wohnung lastet drückend auf mir. Es ist wie immer ganz am Anfang eines neuen Falles: Da ist diese Unruhe, bevor ich den ersten konkreten Ansatzpunkt gefunden habe. Die CD-ROM mit den Polizeibildern muss ich erst umkopieren lassen, mein letztes Laufwerk ist defekt. Ich erwarte mir davon aber ohnehin nicht viel. Die Leiche wird mir nicht erzählen, was die Ermittler vielleicht schon herausgefunden haben.

Die Ermittler. Mein Handy liegt vor mir auf dem Tisch. Der Name, den ich schon so oft gewählt habe, schwebt in meinem Kopf. Markus.

Ich atme tief durch, dann tippe ich seine Nummer ein. Zweimal klingelt es, bevor er abhebt.

„Verena“, sagt er, mit einem Ton, der Überraschung nicht ganz verbergen kann. „Das ist ja eine Freude.“

„Markus“, antworte ich, bemüht, meine Stimme neutral zu halten. „Ich hoffe, ich störe nicht.“

„Kommt darauf an.“ Ich höre, wie er sich in seinem Stuhl zurücklehnt. „Worum geht’s?“

„Es geht um den Fall Palais Eckstein“, sage ich, ohne Umschweife. „Die Leiche im Keller.“

Er bleibt einen Moment still, dann höre ich nur seinen leisen Atem am anderen Ende der Leitung. „Palais Eckstein, ja?“ Seine Stimme klingt jetzt kühler, distanzierter. „Was interessiert dich daran, Verena?“

„Ich habe einen Auftrag bekommen. Lena von Eckstein will, dass ich herausfinde, wer die Leiche ist.“ Meine Stimme klingt ruhiger, als ich mich fühle. „Die Polizei hat den Fall abgeschlossen, aber sie glaubt, dass mehr dahintersteckt.“

„Verena“, sagte er, während sich seine Stimme senkte, als hätte er sich gerade einen schweren Mantel umgelegt. „Ich weiß nicht, ob ich dir dabei helfen kann.“

„Markus, bitte.“ Ich höre selbst den dringlichen Ton in meiner Stimme. „Es geht nur um ein paar Hinweise. Wir waren doch mal Freunde, oder?“

„Freunde“, wiederholt er mit einem leichten, bitteren Lachen. „Ja, wir waren mal Freunde. Lass uns das nachmittags besprechen. Ich habe um fünf Zeit. In meinem Büro.“

„Danke, Markus.“ Meine Stimme klingt jetzt erschöpft. „Bis dann.“

*

Endlich dreiviertel fünf. Markus’ Büro liegt im zweiten Stock eines tristen Verwaltungsgebäudes. Die Wände sind in einem faden Grau gestrichen, und der Geruch von altem Papier und kaltem Kaffee hängt in der Luft wie eine unangenehme Erinnerung. Ich klopfe an die Tür, und als ich eintrete, sehe ich ihn hinter seinem Schreibtisch sitzen, der mit Aktenstapeln und einer halb vollen Kaffeetasse überladen ist.

„Verena“, begrüßt er mich, ohne aufzustehen. Seine Augen mustern mich kurz, dann zeigt er auf den Stuhl vor ihm. „Setz dich.“ Markus hat sich kaum verändert. Er ist groß und schlank, sein Uniformhemd ist bis zum dritten Knopf geöffnet, über dem dunklen Teint seines freundlichen Gesichts steht ein Bürstenhaarschnitt, der – das ist neu – schon leichte Ansätze ins Grau zeigt.

Ich nehme Platz, und sofort liegt diese vertraute Anspannung in der Luft. Es ist eine Weile her, dass wir einander so gegenüber gesessen haben, und die Erinnerungen kommen unaufhaltsam zurück.

„Wie läuft’s in deiner Detektei?“, fragt er beiläufig, während er eine Akte zur Seite schiebt.

„Es läuft“, antworte ich knapp. „Nicht so spannend wie bei der Polizei, aber es hält mich auf Trab.“

Er nickt. „Und warum interessiert dich der Fall Eckstein so sehr, dass du mich deshalb anrufst?“

Ich lehne mich zurück, lege die Hände auf die Armlehnen des Stuhls. „Lena von Eckstein glaubt, dass es mehr hinter dem Leichenfund gibt. Sie will, dass ich die Wahrheit herausfinde.“

Markus verzieht das Gesicht zu einem skeptischen Ausdruck. „Verena, ich sage es dir nur ungern, aber lass die Finger davon. Es ist nicht dein Fall.“

„Was meinst du?“ Meine Stimme wird schärfer. „Warum sollte ich die Finger davon lassen?“

„Weil es so entschieden wurde“, sagt er, ohne den Blick abzuwenden. „Von oben. Es gibt Dinge, die besser unberührt bleiben. Und dieser Fall ist einer davon.“

„Von oben?“ Ich kann den Ärger kaum verbergen. „Willst du mir etwa sagen, dass das Ganze vertuscht werden soll?“

„Ich sage dir nur, was man mir gesagt hat.“ Er hebt beschwichtigend die Hände. „Es ist besser für dich, wenn du dich nicht weiter damit beschäftigst.“

„Seit wann spielst du das Spiel nach deren Regeln, Markus? Das bist nicht du.“ Ich spüre, wie mein Temperament aufwallt. Die Hitze der Enttäuschung und Wut.

Er seufzt tief und reibt sich die Schläfen, als würde er Kopfschmerzen haben. „Verena, die Zeiten ändern sich. Es ist nicht immer alles so einfach, wie du denkst. Manchmal muss man sich anpassen, um zu überleben. Denk dran, was vor zwei Jahren passiert ist.“

Nein, ich denke jetzt nicht dran, an die Ereignisse, die mich faktisch gezwungen haben, den Polizeidienst hinter mir zu lassen. Und Markus gleich mit. Ich verscheuche die Gespenster.

„Anpassen?“ Ich stehe auf und sehe ihn fest an. „Ist das dein Ernst? Ich dachte, du wärst anders.“

Markus schaut auf und für einen kurzen Moment sehe ich eine tiefe Traurigkeit in seinen Augen. „Ich bin anders. Aber ich kann auch nichts ändern, Verena. Nicht in diesem Fall. Bitte, lass es gut sein.“

Ich spüre die Enttäuschung in mir aufsteigen, doch ich weiß, dass er etwas verschweigt. „Kann ich kurz das WC benutzen?“, frage ich, bemüht, meine Stimme so neutral wie möglich zu halten.

Markus’ Gesicht hellt sich für einen Moment auf. „Klar“, sagt er mit einem leicht sarkastischen Lächeln. „Manche Dinge ändern sich nie, was?“

Ich verlasse das Büro und gehe den schmalen Korridor entlang zum WC. Während ich das Wasser über meine Hände laufen lasse, denke ich über unser Gespräch nach. Etwas an ihm war jetzt zum Schluss merkwürdig, er konnte es nicht erwarten, dass ich das Büro verlasse.

Als ich zurückkomme, steht Markus immer noch am Fenster und starrt hinaus. Ich trete näher, um ihm die Hand zu geben, und bemerke, dass er etwas vor mir verbirgt. Ein kurzes Zögern, dann sieht er mir in die Augen. „Pass auf dich auf, Verena“, sagt er mit einer seltsamen Dringlichkeit in seiner Stimme.

„Immer“, antworte ich, während ich die Handtasche aufhebe. Markus war ungewöhnlich nervös, und es bleibt dieses Gefühl, dass er mir mehr sagen wollte, als er durfte.

Als ich das Gebäude verlasse – einst meine Dienststelle, jetzt nur noch ein Schatten meiner Vergangenheit – spüre ich, dass ich einen Hinweis übersehen habe. Irgendetwas hat er mir durch sein Verhalten vermittelt. Aber wo soll ich anfangen zu suchen?

Ein erster Hinweis

Am späten Abend

Das Wohnzimmer liegt still im Halbdunkel, und die Nacht draußen ist tief und undurchdringlich. Das gedämpfte Licht meiner Stehlampe wirft lange Schatten über den Tisch, und die Zeit scheint sich zu dehnen. Nach einem Tag voller Rätsel fühlt sich mein Kopf wie in Watte gepackt an – dumpf, benommen, doch gleichzeitig kommen meine Gedanken nicht zur Ruhe.

Vor mir, auf dem Couchtisch, liegt meine Handtasche. Etwas daran zieht immer wieder meine Aufmerksamkeit auf sich, als wäre da etwas, das ich übersehen habe. Ich denke an Markus, an sein seltsames Verhalten beim Abschied. Hatte er mir nicht mit diesem fast zu ernsten Blick etwas vermitteln wollen?

Ich greife in die Tasche und durchwühle sie, fast mechanisch, und da ist es – etwas Kleines, Kaltes, das meine Finger streifen. Verwundert ziehe ich es heraus: ein kleiner, unscheinbarer USB-Stick. Kein Hinweis darauf, woher er kommt oder was sich darauf befindet. War das Markus? Hat er ihn mir heimlich zugesteckt, ohne etwas zu sagen? Oder ist es doch ein Stick von mir, den ich schon so lange herumschleppe, dass ich ihn vergessen habe?

Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden: Ich setze mich aufrecht hin und schiebe den Stick in den Laptop. Ein leises Klicken, das Summen des Lüfters, dann erscheinen die ersten Dateien auf dem Bildschirm.

„Bericht_73“, „SN_Leipzig“, „Verhör_P“. Es sind eine Menge Dateien, doch jede von ihnen strahlt eine Dringlichkeit aus, die mich sofort gefangen nimmt. Die Namen sind kryptisch, das ist sicher keine meiner eigenen Arbeitsunterlagen. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, als ich den Ordner „Personenakte_SN“ öffne.

Das erste Dokument, das sich öffnet, ist ein ausgeblichenes Protokoll, vermutlich ein alter Stasi-Bericht. Ein Name springt mir ins Auge, und mit ihm beginnt sich ein seltsames Gefühl in meiner Magengrube auszubreiten. Wer war sie?

Der Bericht enthält nur vage Informationen – nichts Konkretes, keine persönlichen Details. Aber es genügt, um meine Neugier zu wecken. Warum war dieser Name so wichtig? Und warum ist er mit Leipzig verbunden? Es gibt hier mehr, als auf den ersten Blick ersichtlich ist.

Eine weitere Datei zeigt eine Liste von Namen, die ich überfliege. Noch mehr Namen, die mir nichts sagen. Leipzig, 1974, Stasi. So viel ist klar: Ich habe hier schlagartig eine Fülle von Material bekommen, die die Lösung des Falles jedenfalls deutlich näher rückt als die vage Information von Lena. Die Frage ist: Wo beginnen?

Ich lehne mich zurück und schließe den Laptop. Die Nacht draußen ist tiefschwarz, und mein Kopf beginnt zu schmerzen. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich schaue noch einmal auf den Stick, drehe ihn in der Hand.

Etwas daran fällt mir jetzt auf. Eine winzige Stelle an der Seite des Gehäuses sieht seltsam aus – als hätte jemand etwas abgekratzt. Ich kneife die Augen zusammen, betrachte es genauer. Wer würde so etwas tun? Und warum?

Ich spüre, dass ich etwas übersehen habe. Ich hole die UV-Lampe aus dem Schrank, schalte das Licht im Wohnzimmer aus und leuchte auf den Stick. Die abgewischte Stelle beginnt zu leuchten, langsam tauchen Buchstaben auf: „Elke S.“

Ich halte die Luft an. Markus. Seine Handschrift erkenne ich sofort. Elke S.? Elke ist kein häufiger Name. Zurück zum Laptop, den Stick wieder hinein. Wo war noch mal die Liste? Ah, hier: Es muss Elke Schneider sein. Ich habe jetzt einen klaren Anhaltspunkt.

Ich klicke weiter durch die Ordner, blättere durch die kryptischen Dateinamen, und erst allmählich ergibt sich eine zeitliche Reihenfolge. 1973 ist das früheste Jahr, das ich finde. Und es scheint um Elke zu gehen. Warum nicht mit ihr beginnen?

Elke Schneider

Elkes Rekrutierung

Hennigsdorf, Mai 1973

Der Lärm der Pressmaschinen dröhnte durch die Werkhalle, als Elke die ölverschmierten Hände an einem alten Lappen abwischte. Der Vorarbeiter, ein gedrungener Mann mit dichten grauen Haaren, trat an sie heran, die Stirn in Falten gelegt.

„Du sollst ins Büro kommen“, brummte er, ohne sie richtig anzusehen. „Gestern wieder die Klappe zu weit offen gehabt?“ Elke zuckte mit den Schultern, warf das Tuch beiseite und ging zur Personalgarderobe. Ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit.

Sie wusch sich schnell Hände und Gesicht, dann betrachtete sie sich im schmalen Spiegel neben den Waschbecken. Ihre blonden Haare lagen kurz und ordentlich an, aber der Schweiß des Tages ließ sie dunkler wirken. Die blauen Augen wirkten wach, ein wenig trotzig, wie immer, wenn sie spürte, dass etwas im Anzug war. Ihre schlanke Figur war auch im Blaumann gut zu erkennen, ihr Gesicht wirkte offen, erweckte aber oft den Eindruck, dass hinter dem Lächeln mehr lag. Ja, hübsch war sie wohl, das wusste sie. Aber das war nicht das, was die jungen Männer an ihr unwiderstehlich fanden. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie konnte haben, was sie wollte. Oder wen. Sie zwinkerte sich selbst zu, bevor sie die Garderobe verließ.

Der Gang zum Büro zog sich in die Länge. Mit jedem Schritt dachte sie über die möglichen Gründe nach. Vielleicht hatte sie es mit ihrer Kritik gestern übertrieben? Sie hatte sich über die langatmigen Ausführungen des Parteisekretärs geärgert, die zwar gut klangen, aber das bessere Essen in der Kantine kam jedenfalls auf dem Teller von Arbeiterinnen wie ihr nicht an. Oder der versprochene zweite Werksbus, der immer noch nur auf dem Papier existierte. War das der Grund?

Im Büro saß sie erst einmal eine Weile auf einem harten Stuhl. Die Sekretärin, Mitte fünfzig, tippte auf ihrer Schreibmaschine und würdigte Elke keines Blickes. Der muffige Geruch nach altem Tabak und abgestandenem Kaffee ließ den Raum wie einen Ort des Stillstands wirken.

Endlich öffnete sich die Tür zum Büro des Direktors. Schröder, ein Mann in einem schlecht sitzenden Anzug, stand unsicher in der Tür. „Frau Schneider, kommen Sie bitte herein“, sagte er und rang sich ein bemühtes Lächeln ab.

Elke trat ein und sah sofort den Mann, der bereits in einem der Ledersessel saß. Er trug eine graue Uniform, die ihn fast in den Hintergrund verschwinden ließ, aber seine Präsenz war unübersehbar. Stasi. Elke wusste es sofort.

Der Direktor, sichtbar nervös, zeigte auf den Sessel neben dem Offizier. „Herr Weber vom Ministerium möchte ein paar Worte mit Ihnen wechseln.“ Schröder wirkte unbehaglich, seine Hände spielten nervös mit einem Papierstapel.

Weber blickte sie ruhig an, sein Lächeln kalt und kontrolliert. „Setzen Sie sich“, sagte er. Elke setzte sich, verschränkte die Arme und erwiderte seinen Blick. „Stasi?“ Ihre Stimme war ruhig, fast gelangweilt. Wegen ihrer vorlauten Art war der jedenfalls nicht hier, sie hatte Orlow erwartet, den mächtigen Parteisekretär des Betriebes.

Weber lächelte schmal und wandte sich dann mit einer knappen Handbewegung an den Direktor. „Wir kommen hier gut zurecht, Schröder. Sie können uns allein lassen.“ Der Direktor zuckte zusammen. „Ja, natürlich“, murmelte er und verließ hastig das Büro. Die Tür schloss sich schwer hinter ihm.

Weber lehnte sich zurück, musterte Elke mit einem durchdringenden Blick. „Schnell von Begriff, das gefällt mir“, sagte er ruhig. Er ließ sich Zeit, seine Worte zu wählen, als wollte er die Spannung im Raum auskosten. „Du bist zu klug, um in dieser Fabrik zu versauern, das weißt du selbst.“

„Ich habe mich nicht hergewünscht, das wissen Sie vermutlich. Was wollen Sie von mir?“ Elkes Stimme war fest, kühl. Sie hatte eigentlich eine kaufmännische Lehre oder Fachschule machen wollen, die Zuweisung an die Lokomotivfabrik hatte sie ihrem Schuldirektor zu verdanken.

„Mehr als das, was dir diese Werkhalle bieten kann.“ Weber hob eine Augenbraue. „Du langweilst dich hier. Pleuelstangen, Schichtarbeit, Karena, Kohl und Kartoffeln – du bist für mehr gemacht.“

Elke ließ sich nichts anmerken. „Und was wäre das für ein 'mehr', das Sie mir bieten können?“

Weber lächelte, sein Blick wurde intensiver. „Es gibt Leute, die auf der Leipziger Messe verhandeln. Sie haben Informationen, die uns interessieren. Und ich habe das Gefühl, dass du das Talent hast, diese Leute – sagen wir – für uns zu gewinnen.“

Elke fragte sich, ob sie richtig hörte. Sie wusste, dass es das gab, aber hinter vorgehaltener Hand, unter dem Radar der grauen Männer. Aber dass man sie so offen darauf ansprach? Sie dachte kurz an ihre Mutter, die im Hafen in Rostock arbeitete, immer wieder Westsachen heimbrachte und ihr gegenüber in den letzten Jahren kein Geheimnis mehr daraus gemacht hatte, wie sie an die kam. Eine Alleinerzieherin musste überleben, Elke wertete nicht.

Sie überlegte: Die Aussicht störte sie nicht. Zumindest nicht, solange sie ihr half, aus der Fabrik herauszukommen. Sie hatte ihre Schlosserlehre längst abgeschlossen, hier steckte sie fest. „Und was bekomme ich dafür?“ Ihre Stimme klang kühl, distanziert.

„Reisen, Freiheit. Ein Leben, das du dir hier in Hennigsdorf nicht vorstellen kannst.“ Weber hielt kurz inne, seine blauen Augen fixierten sie. „Und das alles im Dienst des Sozialismus.“

Elke dachte kurz nach. Seit Erich Honecker Walter Ulbricht abgelöst hatte, war nichts mehr wie zuvor. Sie konnte sich nur auf ihre Intuition verlassen. Der Mann spielte mit ihr, aber er log nicht. Und die Aussicht, aus der Monotonie auszubrechen, reizte sie. Pleuelstangen oder Leipziger Messe? Das war keine schwere Entscheidung.

„Klingt interessant“, sagte sie knapp. „Aber schwierig als Arbeiterin mit den Armen bis zu den Ellbogen im Schmieröl.“

Weber taxierte sie. „Ich bin nicht Orlow“, antwortete er. „Ich mache Dinge fertig, die ich beginne.“ Elke beschloss, noch ein wenig auf den Busch zu klopfen. „Meine Schicht endet um sechs, ich nehme an …“

Weber schien das erwartet zu haben. „Ich nehme an, du findest dir auch so wen“, winkte er ab. „Aber gute Einstellung.“ Er stand auf und reichte ihr die Hand. „Willkommen. Wir kümmern uns um den Rest.“

Elke spürte die Kälte seiner Finger, als sie die Hand schüttelte. „Und bis dahin?“, fragte sie.„Bleib, was du bist.“

Weber nickte ihr kurz zu und verließ das Büro.

Elke blieb einen Moment sitzen, starrte auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte. Eine andere Tür war gerade aufgegangen, und Elke würde nicht zögern, hindurchzugehen. Sie verließ das Büro mit einem Ausdruck, der Schröder noch lange mit offenem Mund zurückließ.

Verena: Hmmm, ob sie wohl wirklich verstanden hat, was sie da genau tun soll? Andererseits, wenn du schon als Kind damit konfrontiert bist und keinen Pastor kennst?

Jedenfalls scheint sie sich zu freuen, dass sie aus der Lokomotivfabrik wegkommt, und ein Kind von Traurigkeit war sie wohl sowieso nicht.

Ein neues Leben

Leipzig, August 1973

Der Sommerwind strich durch das offene Fenster des Transporters, als Elke neben Uwe saß, die Beine übereinandergeschlagen. Ihre blondes Haar wehte ihr immer wieder ins Gesicht, und sie schob die Strähnen mit einer beiläufigen Bewegung beiseite. Uwe warf ihr immer wieder verstohlene Blicke zu, die er schlecht verbarg, und sie erwischte ihn jedes Mal mit einem breiten Grinsen.

„Du solltest dich auf die Straße konzentrieren“, neckte sie ihn und stupste ihn mit dem Ellbogen an.

„Kannst du es mir übel nehmen?“ Uwe zwinkerte. „Ich hab selten so eine charmante – Genossin – neben mir sitzen.“

Elke streckte ihm die Zunge raus. Genossin. SED-Mitglied? Die Vorstellung war fast lächerlich. Das hatte sie nie gebraucht, um im Leben das zu bekommen, was sie wollte.

„Links abbiegen“, sagte sie, während sie auf die Karte tippte, die auf seinem Schoß lag. „Dann sind wir fast da. Es sei denn, du willst noch ein paar Runden drehen, nur um die Zeit mit mir zu verlängern.“

„Wenn’s nach mir ginge …“, erwiderte er und lenkte den Wagen um die nächste Kurve. „Aber ich denke, du bist gespannt auf deine neue Wohnung.“

Elke lächelte. „Hey, ist das der Turm da drüben?“ Sie deutete auf ein zehnstöckiges Gebäude, das allein inmitten von unberührtem Grasland stand.

Ein paar Minuten später erreichten sie den hellen, modernen Plattenbau. Ein weiterer Bauplatz in der Nähe ließ vermuten, dass hier eine größere Siedlung entstehen sollte. Uwe brachte den Transporter zum Stehen und sah sie von der Seite an.

„Da wären wir. Mehr Charme, als ich erwartet hatte, oder?“

„Und wie“, antwortete Elke und stieg aus, streckte sich ausgiebig. „Hoffentlich nicht im zehnten Stock ohne Lift.“

Er grinste sie an. „Solang die Klospülung funktioniert, beschwer dich nicht.“

Sie ließ ihren Blick über das Gebäude schweifen. „Jetzt müssen wir nur noch den Hausmeister finden. Kalowski oder so.“

Gemeinsam machten sie sich auf die Suche und fanden ihn bei der Arbeit in einem Blumenbeet. Eine Zigarette hing locker in seinem Mundwinkel, während er sich langsam aufrichtete und den beiden entgegenkam. Ein Schlüsselbund an seiner Hüfte klimperte leise bei jedem Schritt.

„Na, das muss die Neue sein!“, rief er, als er sie entdeckte. „Frau Schneider, nicht wahr? Willkommen im Block! Und Sie“, fügte er zwinkernd hinzu, „sind der Umzugshelfer oder der neue Mitbewohner?“

Elke schmunzelte und warf Uwe einen schelmischen Blick zu. „Das wäre ihm wohl entgangen“, sagte sie mit gespielter Unschuld. „Aber wer weiß?“ Ein Lächeln, eine flüchtige Berührung. Gerade genug, Uwe interessiert zu halten. Routine.

Kalowski lachte heiser, als ob er solche Sprüche schon tausendmal gehört hätte. „Hier wir’s Ihnen gefallen, junge Dame“, sagte er, während er sie und Uwe zum dritten Stock führte. „Helle Wohnung, ordentliche Nachbarn – und falls Sie mal was brauchen, ich bin nicht weit.“

Elke folgte ihm in die Wohnung. Sonnenlicht fiel durch die Fenster, und sie schloss kurz die Augen, um den Moment zu genießen. Ihre eigenen vier Wände. Keine Überwachung, keine Verpflichtungen, außer denen, die sie selbst wählen würde. Obwohl … den Hausmeister würde sie im Auge behalten müssen. Typen wie er waren der Archetyp des kleinen IM, des „inoffiziellen Mitarbeiters“, der Westfernsehen oder zu flotte Sprüche meldete. Sie war sich beinahe sicher.

Der Mann führte sie durch die leeren Räume. „Noch ganz frisch“, sagte er. „Wie das ganze Gebäude.“

Elke nickte. „Nicht schlecht“, sagte sie und ging auf den Balkon hinaus, der einen Blick auf die grünen Flächen bot. „Das ist wirklich nett hier.“

Der Mann stand noch eine Weile da, betrachtete sie mit einem Ausdruck, der schwer zu deuten war. „Ich bin übrigens der Paule, und wir sind hier im Haus alle per du. Kalowski nennt mich nur das Amt.“ Sein Blick blieb für einen Moment an Elke haften, fast als wolle er sie einschätzen. „Falls es mal was zu besprechen gibt, ich bin im Parterre. Erste Tür links.“

„Gern, Elke“, rief sie ihm nach, doch sie bezweifelte, dass er das noch gehört hatte. Sie drehte sich langsam zu Uwe um, der noch in der Tür stand und sie musterte. „Und? Zufrieden?“, fragte er, während er die Arme vor der Brust verschränkte.

„Mehr als zufrieden“, antwortete sie und trat näher zu ihm. „Es ist ein Neuanfang, und ich habe ein gutes Gefühl dabei.“ Sie sah ihm in die Augen, spielte mit einer Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fiel, und ließ den Moment bewusst in die Länge ziehen.

„Nur“, fragte er dann leichthin, „was machen wir jetzt mit dem Krempel im Wagen? Wie kommt der hier rauf?“ Elke setzte ein mädchenhaftes Lächeln auf. „An das habe ich überhaupt noch nicht gedacht“, flötete sie. Sie schien zu überlegen. „Kannst du mir vielleicht helfen? Oder hast du vielleicht noch einen Freund, dann ginge es leichter.“ Sie schaute Uwe mit großen Augen an. Ja nicht mehr sagen, das musste jetzt von ihm kommen.

Uwe apportierte brav. „Ich habe einen Bruder hier in der Stadt. Der könnte schon helfen, wenn ich ihm erzähle, was für eine nette junge Genossin ich gerade hergefahren habe.“

„Bruder“, wiederholte sie. „Soso. Ich hoffe mal, der ist ebenso gut gebaut wie du.“ Sie ließ ihren Blick langsam von Uwes Gesicht nach unten über seinen Körper streifen. Es war ihm sichtlich peinlich, dass sie seine Reaktion deutlich sehen konnte. Er fing sich aber gleich wieder und tat so, als müsste er nachdenken. „Na ja, ich könnte ihn fragen. Wir wären in einer Stunde hier.“

Elke lächelte. „Perfekt. Mach mal, dass du wegkommst, Uwe.“

Dann zog sie ihn zu sich, legte ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen schnellen, spielerischen Kuss. Als er überrascht die Hände an ihre Hüften legen wollte, wich sie geschickt aus und zwinkerte ihm zu. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Uwe lachte und verließ die Wohnung mit einem nervösen Lächeln. Elke ging auf den Balkon, sah ihm nach, wie er in den Lieferwagen stieg und davonfuhr.

Als der Wagen die Straße entlangfuhr und um die Ecke verschwand, blieb Elke noch eine Weile auf dem Balkon stehen. Der Wind fuhr durch ihr Haar, das Rauschen der Bäume füllte die Stille. Sie dachte an das Lager zurück, an die kalte Professionalität der Schulungen, an die Männer, die man ihr als Partner zugewiesen hatte. Dort hatte sie auch die Kontrolle gehabt – aber es war anders gewesen.

Das hier fühlte sich leichter an. Echter. Sie führte die Jungs zwar am Nasenring herum, aber es würde Spaß machen, mit ihnen zu flirten, sich auf die beiden einzulassen, auch ein wenig die Kontrolle abzugeben. Sich schenken und dafür beschenkt werden. Vielleicht, doch wofür gab es schon Garantien?

Sie wandte sich ab. Zeit, den nächsten Schritt zu setzen. Einen perfekten Auftritt ohne Makel war sie sich selbst schuldig. Sie streifte also die Shorts und das T-Shirt achtlos ab, ließ auf dem Weg ins Bad ihren Slip zu Boden gleiten und stieg in die Dusche. Nach einer halben Stunde kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, suchte aus dem Handkoffer, den sie mitgebracht hatte, sorgfältig ein Designer-Top und Jeans aus. West natürlich, die Sachen passten ihr perfekt. „Danke, Mama“, murmelte sie, als sie sich noch einen Hauch Schminke auftrug, gerade so, dass man es mit dem freien Auge nicht sah. Der Lieferwagen brummte bereits die Zufahrtsstraße heran, als sie wieder auf den Balkon trat und den beiden Jungs winkte.

Naja, mit – wie alt war sie da? – 20 oder 25, vielleicht nimmt frau es da noch leicht. Die Schrammen kommen erst später. Bei den meisten halt.

Aber schauen wir mal, was in diesem neuen Leben sonst noch auf sie wartet. – Das hier, was ist das? Ein Bericht über ihr Einstellungsgespräch in diesem Forschungslabor?

Ein Platz im System

Leipzig, Forschungslabor des VEB Schienenfahrzeugbau, eine Woche später

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Elke über das Werksgelände des VEB Schienenfahrzeugbau Leipzig ging. Das Verwaltungsgebäude lag nur wenige Schritte entfernt, und um sie herum summte das Leben. Auf einer freien Fläche standen halbfertige Lokomotiven und Waggons, daneben einige Arbeiter, die sich gerade in ihrer kurzen Pause eine Zigarette anzündeten. Aus den Werkhallen drang das rhythmische Hämmern und Zischen der Maschinen, und irgendwo roch es nach frisch gebrühtem Kaffee.

Elke zog die Schultern zurück und atmete tief durch. Die Heimat war nicht immer grau, dachte sie. Sie wusste, dass dies ein besonderer Ort war – eines der wenigen Forschungslabore für den Schienenfahrzeugbau im ganzen Land. Doch sie wusste auch, dass es in ihrem Fall nicht darauf ankam.

Sie fühlte eine leichte Anspannung, als sie das Verwaltungsgebäude betrat. Nüchtern, aber gut in Schuss. Eine Tür stand offen, und eine Sekretärin mit hochgestecktem Haar sah nur kurz von ihrer Schreibmaschine auf. „Sie sehen aus, als würden Sie etwas suchen. Frau Schneider?“ – „Ja, Elke Schneider, ich wurde hierher zugewiesen.“ Sie kramte in ihrer Tasche. – „Schon gut, Sie sind avisiert. Gehen Sie gleich zum Chef durch. Er heißt übrigens Buchholz. Und per Sie bitte, er duzt nicht.“

Elke klopfte kurz an die Tür und öffnete sie, als sie ein knappes „Herein“ vernahm.

Der Werksleiter, ein großer Mann mit einem dichten Schnurrbart, saß hinter seinem Schreibtisch und blätterte in einigen Akten. Das Fenster hinter ihm ließ den Raum hell und freundlich wirken. Auf dem Tisch stand eine Tasse Kaffee, und es roch angenehm nach Tabak.

„Setzen Sie sich, Frau Schneider“, sagte er, ohne den Blick von den Papieren zu heben.

Elke nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz und wartete geduldig. Nach ein paar Augenblicken legte er die Akten beiseite und sah sie über den Rand seiner Brille hinweg an.