Die leise Last der Dinge - Ruth Ozeki - E-Book

Die leise Last der Dinge E-Book

Ruth Ozeki

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Beschreibung

»Ein Triumph!« MATT HAIG  Ein Jahr nach dem Unfalltod seines Vaters beginnt der dreizehn Jahre alte Benny Oh Stimmen zu hören. Es sind die Stimmen der unbelebten Gegenstände in seinem Zuhause – seine Sneakers, eine zerbrochene Weihnachtskugel, ein Blatt welker Salat. Gleichzeitig beginnt seine Mutter Annabelle, immer mehr Dinge zu horten, bis es kaum mehr einen freien Platz auf dem Fußboden oder in den Regalen ihres Hauses gibt. Mutter und Sohn drohen in ihrer Trauer den Halt zu verlieren – bis sie auf ein Buch stoßen, das sie womöglich zu retten imstande ist ... Mit liebenswerten Figuren, einer fesselnden Geschichte und der Auseinandersetzung mit den Themen Trauer, Erwachsenwerden und unser Verhältnis zu materiellen Dingen legt die Booker-Preis-nominierte Ruth Ozeki einen klugen, verspielten, mitreißenden, herzerwärmenden und absolut einzigartigen neuen Roman vor. Er wurde mit dem Women's Prize for Fiction 2022 ausgezeichnet.

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Seitenzahl: 839

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Das Buch

Ein Jahr nach dem Unfalltod seines Vaters beginnt der dreizehn Jahre alte Benny Oh Stimmen zu hören. Es sind die Stimmen der unbelebten Gegenstände in seinem Zuhause – seine Sneakers, eine zerbrochene Weihnachtskugel, ein Blatt welker Salat. Gleichzeitig fängt seine Mutter Annabelle an, immer mehr Dinge zu horten, bis es kaum mehr einen freien Platz auf dem Fußboden gibt. Mutter und Sohn drohen in ihrem seelischen Chaos den Halt zu verlieren – bis sie auf ein Buch stoßen, das sie womöglich zu retten imstande ist...

Die Autorin

Ruth Ozeki ist Romanautorin, Filmemacherin und Zen-buddhistische Priesterin. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet und schaffte es mit ihrem Roman Geschichte für einen Augenblick, übersetzt in 28 Sprachen, auf die Shortlist des Booker Prize. Sie ist Mitglied der Everyday Zen Foundation und lebt in West-Massachusetts, wo sie Kreatives Schreiben am Smith College lehrt. Die leise Last der Dinge ist ihr vierter Roman und steht auf der Shortlist des Women’s Prize for Fiction.

Die Originalausgabe »The Book of Form and Emptiness« erschien 2021 bei Canongate Books Ltd, Edinburgh.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

ISBN978-3-96161-150-8

© 2021 Ruth Ozeki Lounsbury

Published by arrangement with Canongate Books Ltd., 14 High Street, Edinburgh EH11TE

© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagillustration: © Favoritbuero unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Zitat
Am Anfang
Ein Junge
Teil Eins: ZU HAUSE
Das Buch
1
2
Benny
Das Buch
3
Benny
Das Buch
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5
6
Benny
Das Buch
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8
9
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Das Buch
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Teil Zwei: DIE BIBLIOTHEK
Benny
Das Buch
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Benny
Das Buch
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Benny
Das Buch
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Das Buch
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Benny
Das Buch
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Benny
Das Buch
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Benny
Das Buch
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Benny
Das Buch
41
Benny
Das Buch
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44
Das Buch
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Teil Drei: LOST IN SPACE – VERSCHOLLEN ZWISCHEN FREMDEN WELTEN
Das Buch
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Benny
Das Buch
47
Benny
Das Buch
48
Benny
Das Buch
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Benny
Das Buch
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Benny
Das Buch
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Das Buch
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Das Buch
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Teil Vier: DIE STATION
Tidy Magic
Benny
Das Buch
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87
Benny
Das Buch
Teil Fünf: WIEDER ZU HAUSE
Das Buch
88
Benny
89
90
91
Danksagung
EMPFEHLUNGEN

Für meinen Vater, dessen Stimme mich noch immer leitet

(Pro captu lectoris) habent sua fata libelli.

(Je nach Auffassungsgabe des Lesers) haben Bücher ihre Schicksale

Walter Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus

AM ANFANG

Ein Buch muss irgendwo beginnen. Ein tapferer Buchstabe muss sich freiwillig melden und vorangehen, sich in die Schusslinie begeben, voller Zuversicht, damit ein Wort Mut fasst und ihm nachfolgt, einen Satz im Schlepptau. Und so formieren sich die Sätze nach und nach zu einem Absatz, und das Buch macht sich auf den Weg, findet seine Stimme und erweckt sich selbst zum Leben.

Ein Buch muss irgendwo beginnen, und dieses beginnt hier.

EIN JUNGE

Pssst … Hört mir zu!

Das ist mein Buch, und es spricht mit euch. Könnt ihr es hören?

Falls nicht, dann ist das auch in Ordnung. Ihr könnt nichts dafür. Dinge sprechen die ganze Zeit, aber wenn eure Ohren nicht darin geübt sind, müsst ihr erst noch lernen, ihnen zuzuhören.

Ihr könnt damit beginnen, indem ihr eure Augen benutzt, denn das ist einfach. Betrachtet die Dinge, die euch umgeben. Was seht ihr? Ein Buch, das ist offensichtlich, und offensichtlich spricht es mit euch. Also versucht es mit etwas Anspruchsvollerem. Dem Stuhl, auf dem ihr sitzt. Dem Bleistift in eurer Tasche. Dem Schuh an eurem Fuß. Könnt ihr immer noch nichts hören? Dann kniet euch hin und legt den Kopf auf euren Stuhl oder zieht einen Schuh aus und haltet ihn euch ans Ohr – nein, wartet, wenn andere Leute in der Nähe sind, könnten sie euch für verrückt halten, also versucht es zuerst mit dem Stift. Bleistifte tragen Geschichten in sich, und ihr könnt sie euch gefahrlos anhören, solange ihr euch nicht die Spitze ins Ohr steckt. Haltet den Stift einfach an euren Kopf und lauscht. Könnt ihr das Holz flüstern hören? Den Geist der Kiefer? Das Gemurmel des Grafits?

Manchmal ist es mehr als eine Stimme. Manchmal dringt aus einem einzigen Gegenstand ein ganzer Chor von Stimmen, vor allem, wenn es ein menschengemachter Gegenstand ist, an dessen Entstehung viele verschiedene Menschen beteiligt waren, aber habt keine Angst. Ich glaube, alles hängt davon ab, wie es ihnen damals in Guangdong oder Laos, oder sonst wo, erging, ob sie in der Ausbeuterfabrik einen guten Tag hatten oder nicht, und wenn sie in dem Moment, als eine bestimmte Schnürsenkel-Öse auf dem Band an ihnen vorbeirollte und durch ihre Finger glitt, einen fröhlichen Gedanken hatten, dann wird dieser fröhliche Gedanke der Öse anhaften. Manchmal ist es weniger ein Gedanke als ein Gefühl. Ein angenehmes, warmes Gefühl, wie Liebe zum Beispiel. Sonnig und gelb. Aber wenn es ein Gefühl von Trauer ist oder von Wut, das in euren Sneaker eingeschnürt ist, dann nehmt euch in Acht, denn der Schuh könnte irgendeinen verrückten Scheiß anstellen, indem er euch zum Beispiel vor einen Nike-Laden lotst und euch dazu bringt, die Schaufensterscheibe mit einem Baseballschläger einzuschlagen, der aus wütendem Holz gemacht ist. Sollte das passieren, dann könnt ihr trotzdem nichts dafür. Entschuldigt euch einfach bei dem Fenster, sagt zum Glas, dass es euch leidtut, und egal, was ihr macht, versucht nicht, etwas zu erklären. Der Polizist, der euch festnimmt, schert sich nicht um die miesen Arbeitsbedingungen in der Baseballschläger-Fabrik. Die Kettensägen und die robuste Esche, aus der der Baseballschläger gemacht ist, sind ihm egal, also haltet lieber den Mund. Bleibt ruhig. Seid höflich. Und vergesst nicht zu atmen.

Es ist wirklich wichtig, sich nicht aufzuregen, sonst gewinnen die Stimmen die Oberhand und bemächtigen sich eures Verstands. Dinge sind bedürftig. Sie nehmen Raum ein. Wollen Aufmerksamkeit. Treiben euch in den Wahnsinn, wenn ihr es zulasst. Also, stellt euch einfach vor, dass ihr ein Fluglotse wärt – nein, halt, eher der Dirigent einer großen Blaskapelle, die den Jazzkram des ganzen Planeten im Repertoire hat, und ihr schwebt da draußen im Weltraum, über dem riesigen Müllberg, der sich Erde nennt, mit gegelten Haaren, einem schicken Anzug, den Taktstock hoch erhoben, umgeben von diesen ganzen gierigen Dingen, und einen kurzen, wunderbaren Moment lang verstummen alle Stimmen und warten darauf, dass ihr den Dirigentenstab schwingt.

Musik oder Wahnsinn. Das hängt ganz allein von euch ab.

Teil Eins

ZU HAUSE

Jede Leidenschaft grenzt ja ans Chaos, die sammlerische aber an das der Erinnerungen.

Walter Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus

Das Buch

1

Beginnen wir also mit den Stimmen.

Wann hat er sie zum ersten Mal gehört? Als er noch klein war? Benny war schon immer ein kleiner Junge, der sich nur langsam entwickelte, so als sträubten sich seine Zellen dagegen, sich zu vermehren und in der Welt Raum einzunehmen. Als er zwölf wurde, scheint er mehr oder weniger zu wachsen aufgehört zu haben, im selben Jahr, in dem sein Vater starb und seine Mutter anfing, Gewicht zuzulegen. Die Veränderung war unauffällig, aber es schien, als würde Benny im selben Maß schrumpfen, in dem seine Mutter zunahm, als würde sie sich den Kummer ihres kleinen Sohns mit einverleiben.

Ja. So war es wohl.

Vielleicht begannen die Stimmen also auch damals, kurz nachdem Kenny gestorben war? Er wurde bei einem Autounfall getötet – nein, eigentlich wurde er von einem Lastwagen überrollt. Kenny Oh war Jazz-Klarinettist, hieß aber in Wirklichkeit Kenji, also wollen wir ihn auch so nennen. Er spielte meistens Swing, Big-Band-Sachen, auf Hochzeiten und Bar Mitzwas und in angesagten Hipster-Clubs downtown, wo die Typen alle Bärte und Pork-Pie-Hüte trugen, karierte Hemden und mottenzerfressene Tweedjacken von der Heilsarmee. Nach einem seiner Gigs war er noch ausgegangen, um zu trinken oder sich was reinzupfeifen oder was er sonst so mit seinen Musikerfreunden machte – nur ein kleines bisschen Koks vielleicht, aber es muss wohl so viel gewesen sein, dass er, als er auf dem Heimweg stolperte und hinfiel, keine Notwendigkeit sah, gleich wieder aufzustehen. Er war nicht mehr weit von zu Hause entfernt, nur ein paar Meter noch bis zu dem klapprigen Tor, das zur Rückseite seines Hauses führte. Wenn er es geschafft hätte, ein Stück weiter zu kriechen, wäre ihm nichts passiert, aber stattdessen blieb er einfach auf dem Rücken liegen, im trüben Lichtkegel einer Straßenlaterne neben dem Müllcontainer vor dem Secondhandladen der Gospel Mission. Die langen kalten Wintertage neigten sich dem Ende zu, und in der Gasse hing der Frühlingsnebel. Er lag da, starrte hinauf ins Licht und in die winzigen Nebeltröpfchen, die glitzernd durch die Luft tanzten. Er war betrunken. Oder high. Oder beides. Das Licht war wunderschön. Er hatte sich am frühen Abend mit seiner Frau gestritten. Vielleicht tat ihm das jetzt leid. Vielleicht nahm er sich im Geiste vor, sich zu bessern. Wer weiß schon, was er in diesem Moment tat? Vielleicht schlief er auch ein. Hoffentlich. Jedenfalls hat er dort noch gelegen, als ungefähr eine Stunde später ein Lastwagen die Gasse entlangratterte.

Der Fahrer konnte nichts dafür. Die Gasse war voller Spurrillen und Schlaglöcher. Sie war mit halb ausgeleerten Müllbeuteln, Essensabfällen, vollgesogenen Kleiderbündeln und kaputten Haushaltsgeräten übersät, die die Mülltaucher zurückgelassen hatten. Im fahlen grauen Licht der nebligen Morgendämmerung konnte der Fahrer zwischen dem Abfall und dem schlanken Körper des Musikers, der mittlerweile von Krähen belagert war, nicht unterscheiden. Die Krähen waren Kenjis Freunde. Sie versuchten lediglich, ihm zu helfen, indem sie ihn warm und trocken hielten, aber jeder weiß, dass Krähen Abfall lieben. Ist es da ein Wunder, dass der Fahrer Kenji für einen Müllsack hielt? Der Fahrer hasste Krähen. Krähen brachten Unglück, und deshalb hielt er mit dem Laster direkt auf sie zu. Er hatte Kisten mit lebenden Hühnern für die chinesische Schlachterei am Ende der Gasse geladen. Er trat aufs Gaspedal und spürte, wie die Räder über den Körper hinwegrumpelten, während die Krähen direkt vor seiner Frontscheibe aufflogen und ihm die Sicht versperrten, sodass er die Kontrolle verlor und in die Laderampe der Eternal Happiness Printing Company Ltd. schlitterte. Der Lastwagen kippte um, und die Hühnerkisten flogen in hohem Bogen heraus.

Der Lärm von kreischenden Vögeln weckte Benny, dessen Zimmerfenster auf die Gasse hinausging. Er lag da und lauschte, dann schlug die Hintertür zu. Ein hoher, dünner Schrei stieg von der Gasse auf, entrollte sich wie ein Seil, schlängelte sich wie ein lebender Tentakel durch sein Fenster, packte ihn und zerrte ihn aus dem Bett. Er ging ans Fenster, zog die Vorhänge zur Seite und spähte auf die Straße hinunter. Der Himmel begann sich gerade aufzuhellen. Er konnte den umgekippten Lastwagen sehen, dessen Räder sich drehten. Die Luft war voller flatternder Flügel und fliegender Federn, obwohl die in Käfigen aufgezogenen Hühner gar nicht richtig fliegen konnten. Sie sahen nicht einmal wie richtige Vögel aus. Sie erinnerten ihn an die Tribbles aus Raumschiff Enterprise, wie sie da kopflos in eine dunkle Ecke flüchteten. Der dünne Schrei straffte sich wie eine Klaviersaite, lenkte Bennys Blick auf eine geisterhafte Gestalt, von einer Wolke aus transparentem Weiß umhüllt, die Quelle des Geräuschs, die Quelle seines Lebens: seine Mutter, Annabelle.

Sie stand im Nachthemd da, allein im Lichtkegel der Laterne. Um sie herum war alles in Bewegung, Federn stoben wie Schnee durch die Luft, aber sie stand vollkommen reglos da, wie eine versteinerte Prinzessin, dachte Benny. Sie blickte auf etwas, was vor ihr auf dem Boden lag, und plötzlich wusste er, dass das Etwas sein Vater war. Von seinem Fenster aus konnte er das Gesicht seines Vaters nicht sehen, aber er erkannte seine Beine, die angewinkelt waren und zuckten, so als würde Kenji tanzen, nur dass er jetzt auf der Seite auf dem Boden lag.

Seine Mutter machte einen Schritt auf ihn zu. »Neeein!«, schrie sie und fiel auf die Knie. Ihr üppiges goldenes Haar floss über ihre Schultern, fing das Licht der Laterne ein und umhüllte den Kopf ihres Mannes. Sie beugte sich vor, und während sie versuchte ihn aufzurichten, wimmerte sie: »Nein, Kenji, nein, nein, bitte, es tut mir leid, ich hab’s nicht so gemeint …«

Ob er sie hören konnte? Hätte er in diesem Moment die Augen geöffnet, hätte er das schöne Gesicht seiner Frau gesehen, das über ihm schwebte wie ein bleicher Mond. Vielleicht tat er es ja. Er hätte die Krähen gesehen, die auf den Dächern und schaukelnden Stromleitungen saßen und ihn beobachteten. Und wenn er über die Schulter seiner Frau hinweggeblickt hätte, hätte er seinen Sohn gesehen, der ihn von seinem Fenster aus ebenfalls beobachtete. Er wird ihn wohl gesehen haben, denn nun beruhigten sich seine tanzenden Beine, hörten auf zu zucken und regten sich nicht mehr. Wenn in diesem Moment Annabelle Kenjis Mond war, dann war Benny sein Stern, und als er ihn hell funkelnd am blassen Morgenhimmel sah, bewegte Kenji leicht den Arm, hob die Hand und wackelte mit den Fingern.

Als hätte er mir zugewinkt, dachte Benny später. Als hätte er mir zum Abschied gewinkt.

Kenji starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Die Beerdigung fand in der darauffolgenden Woche statt. Es war an Annabelle, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, aber sie war nicht besonders gut darin, solche Dinge zu organisieren. Im Gegensatz zu Kenji war sie kein besonders kontaktfreudiger Mensch, und als Ehepaar hatten sie kaum Besuch gehabt oder Leute zu sich eingeladen. Sie hatte nur wenig Freunde, wenn überhaupt welche.

Der Bestatter stellte ihr viele Fragen über die Familie und den Glauben des Verstorbenen, die sie kaum beantworten konnte. Sie wusste nichts über etwaige Familienangehörige. Er war in Hiroshima zur Welt gekommen, und seine Eltern waren gestorben, als er noch ein Kind war. Seine Schwester, damals noch ein Säugling, hatte man in die Obhut von Tante und Onkel gegeben, während Kenji bei seinen Großeltern in Kyoto aufwuchs. Er sprach nur selten über seine Kindheit, erwähnte nur, dass seine Großeltern sehr traditionell und streng gewesen seien und er sich nicht gut mit ihnen verstanden habe; aber natürlich waren sie inzwischen auch tot. Vermutlich lebte seine Schwester noch, aber er hatte den Kontakt zu ihr verloren. Wenn Annabelle ihn in den ersten Jahren ihrer Ehe danach fragte, lächelte er nur, strich ihr über die Wange und sagte, dass sie die einzige Familie sei, die er brauche.

Was seinen Glauben anging, so wusste sie, dass seine Großeltern Buddhisten gewesen waren. Er hatte ihr einmal erzählt, dass er während seines Studiums eine Zeit lang in einem Zen-Kloster gelebt hatte. Sie erinnerte sich noch daran, wie er gelacht hatte. Witzig, was? Ich, ein Mönch! Und sie lachte damals auch, weil er ihr kein bisschen mönchisch erschien. Er sagte, er brauche keine Religion, denn er habe ja den Jazz. Der einzige religiöse Gegenstand, den er besaß, war eine hübsche Gebetskette, die er manchmal ums Handgelenk trug. Aber sie hatte ihn nie damit beten sehen. Angesichts seiner buddhistischen Wurzeln fand sie es nicht richtig, dass ein christlicher Geistlicher die Trauerfeier abhielt, und deshalb antwortete sie auf die Fragen des Bestatters: Nein, es gebe keine Familie, nein, er sei nicht religiös gewesen, und sie wünsche auch keine Trauerfeier. Der Bestatter wirkte enttäuscht.

»Und was ist mit Ihrer Familie?«, fragte er eilfertig, und als sie zögerte, fügte er hinzu: »In Zeiten wie diesen ist es gut, die Familie um sich …«

Eine schemenhafte Erinnerung blitzte in ihr auf. Sie dachte an den ausgezehrten Körper ihrer Mutter im Krankenhausbett. Die schattenhafte Gestalt ihres Stiefvaters, der in ihrer Zimmertür stand. »Nein«, unterbrach sie ihn entschieden. »Wie ich bereits sagte, keine Familie.«

Verstand er es nicht? Dass sie und Kenji ganz allein auf der Welt waren und dass es das war, was sie zusammenschweißte, bis Benny geboren wurde.

Der Bestatter sah auf seine Uhr und ließ nicht locker. Er fragte sie, wie sie über eine offene Aufbahrung denke. Wieder zögerte sie, worauf er ihr die Sache erklärte. Der Anblick des sorgfältig zurechtgemachten Leichnams könne das durch den gewaltsamen Tod eines Angehörigen ausgelöste Trauma verringern. Er könne die schmerzlichen Erinnerungen lindern und es den Hinterbliebenen erleichtern, die Realität des physischen Todes zu akzeptieren. Der Aufbahrungsraum sei persönlich gehalten und geschmackvoll eingerichtet. Man könne für die Trauergäste gern Erfrischungen bereitstellen, eine reiche Auswahl an Tee, Kaffee und eine Palette von köstlichen aromatisierten Kaffeeweißern, und etwas Gebäck vielleicht?

Kaffeeweißer?, dachte sie und unterdrückte ein Grinsen. Ernsthaft? Das musste sie sich merken, um es später Kenji zu erzählen – das war genau die Art von Absurdität, die ihn zum Lachen bringen würde –, aber der Bestatter wartete auf eine Antwort, und so willigte sie ein, ja, Gebäck wäre schön. Er machte sich einen Vermerk und erkundigte sich dann nach ihren Wünschen bezüglich der Bestattung der sterblichen Überreste des Verschiedenen. Sie saß auf der Kante des zu dick gepolsterten Sofas und hörte sich dabei zu, wie sie einer Einäscherung zustimmte, aber eine Grabparzelle und ein Urnenfach ablehnte, als ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss: Sie konnte Kenji ja gar nicht von den »köstlichen aromatisierten Kaffeeweißern« erzählen, weil Kenji tot war. Diesem Gedanken folgten schnell weitere: Der Verschiedene, über dessen Überreste sie sprachen, war Kenji, und es waren die Überreste von Kenjis Körper, derselbe geliebte Körper, den sie so gut kannte und den sie, wenn sie die Augen schloss, so deutlich vor sich sah, die sehnigen Schultermuskeln, die glatte, bräunlich-gelbe Haut, die Rundung seines nackten Rückens.

Sie entschuldigte sich und fragte, ob sie die Toilette benutzen könne. Selbstverständlich, sagte der Bestatter, und wies den mit Teppichboden ausgelegten Flur entlang. Sie schloss die Tür hinter sich. Die Lufterfrischer in den Steckdosen verströmten einen penetranten Parfümduft. Sie kniete sich vor die Toilettenschüssel und erbrach sich in das hellblaue desinfizierte Wasser.

Und nun lag Kenjis Leichnam in einem offenen Sarg in dem salonartigen Aufbahrungsraum des Beerdigungsinstituts. Als Benny und Annabelle eintrafen, führte der Bestatter sie hinein und trat dann diskret zurück, um ihnen einen Moment Zeit zu lassen. Annabelle holte tief Luft. Dann fasste sie ihren Sohn am Ellbogen und ging mit ihm auf den Sarg zu. Benny hatte noch nie erlebt, dass sich seine Mutter an ihm festhielt, so als trüge er jetzt allein die Verantwortung. Er kam sich vor wie ein Handlauf oder ein Geländer. Steifbeinig führte er sie nach vorn. Dann standen sie Seite an Seite am Sarg.

Kenji war ein kleiner Mann, und jetzt, da er tot war, wirkte er noch kleiner. Er trug den hellblauen Seersucker-Blazer, den Annabelle für ihn ausgesucht hatte, denselben Blazer, den er immer zu schwarzen Jeans getragen hatte, wenn er im Sommer auf Hochzeitsfeiern aufgetreten war, allerdings ohne den Pork-Pie-Hut. Seine Klarinette lag quer über seiner Brust. Annabelle atmete aus, ein langer, leiser, zitternder Seufzer.

»Er sieht gut aus«, flüsterte sie. »Als würde er schlafen. Und der Sarg ist auch schön.« Als Benny nicht antwortete, zupfte sie ihn am Arm. »Findest du nicht?«

»Glaub schon«, sagte Benny. Er betrachtete den Leichnam in dem edlen Sarg. Obwohl seine Augen geschlossen waren, sah es nicht so aus, als ob er schlief. Aber lebendig sah er auch nicht aus. Nicht einmal lebendig genug, um tot zu sein. Er sah nicht einmal aus, als hätte er je gelebt. Jemand hatte seine Wunden überschminkt, aber sein Dad hätte niemals Schminke benutzt. Jemand hatte seine langen schwarzen Haare gebürstet und auf dem Satinkissen ausgebreitet. Kenji trug sein Haar nur dann offen, wenn er zu Hause war und sich ausruhte. In der Öffentlichkeit hatte er es immer zu einem dicken schwarzen Pferdeschwanz gebunden. All diese Details bewiesen Benny, dass das Ding in dem Sarg nicht sein Vater war. »Werden Sie seine Klarinette auch verbrennen?«

Sie saßen auf unbequemen Klappstühlen und warteten. Nach und nach trafen die ersten Trauergäste ein. Mrs. Wong, ihre alte chinesische Vermieterin. Zwei Kolleginnen von Annabelle. Die Jungs aus Kenjis Band und seine Freunde aus der Clubszene. Die Musiker blieben in der Tür stehen, als wollten sie gleich wieder gehen, aber der Bestatter winkte sie energisch herein. Mit zögernden Schritten gingen sie zum Sarg. Einige standen nur stumm da und starrten hinein. Andere sprachen mit dem Toten oder rissen einen Witz – Also, mal ehrlich, Kumpel, ausgerechnet ein Hühnerlaster? –, was Annabelle geflissentlich überhörte. Als sie den Tisch mit den Erfrischungen entdeckten, steuerten sie eilig darauf zu, aber nicht, ohne vorher stehen zu bleiben, um Annabelle ein paar unbeholfene Beileidsworte zu sagen und Benny kurz zu drücken und den Kopf zu tätscheln. Annabelle war gnädig. Es waren nun mal Kenjis Freunde. Benny war zwölf und hasste diese Tätscheleien, aber die Umarmungen hasste er noch mehr. Einige der Bandmitglieder klopften ihm auf die Schulter. Dagegen hatte er nichts.

Vielleicht war es die Klarinette im Sarg, die jemanden auf die Idee gebracht hatte, denn es tauchten immer mehr Leute auf, die ein Instrument dabeihatten. Und dann stellten sich einige Bandmitglieder in einer Ecke auf und fingen an zu spielen. Ruhiger Jazz, nichts Beschwingtes. Weitere Gäste trafen ein. Als auf dem Tisch mit den Erfrischungen, direkt neben den Kaffeeweißern, eine Whiskyflasche auftauchte, sah es so aus, als würde der Bestatter gleich einschreiten, aber der Trompeter nahm ihn beiseite und redete mit ihm. Und so trat er den Rückzug an, und die Band spielte weiter.

Kenjis Freunde wussten, wie man richtig feiert. Und kurz bevor der Leichnam ihres Freundes zum Krematorium gefahren werden sollte, sagten die Musiker den Leichenwagen ab und nahmen die Sache selbst in die Hand. Der Sarg war schwer, was nicht an Kenjis Gewicht gelegen haben konnte. Sie hoben ihn auf ihre Schultern und gingen los. Sie zogen mit ihm durch enge Gassen und dunkle, regennasse Straßen, genau wie bei den Jazz-Beerdigungen in New Orleans. Annabelle und Benny gingen mit. Jemand führte sie an die Spitze des Trauerzugs, direkt hinter den Sarg, und drückte Benny einen leuchtend roten Regenschirm in die Hand, den er stolz über den Kopf seiner Mutter hielt, wie eine prächtige Fahne, bis sein Arm steif wurde und schier abbrechen wollte.

Es war Frühling. Der Regen hatte die Pflaumenblüten von den Bäumen gefegt, hellrosa Blütenblätter klebten auf dem nassen Straßenpflaster. Über ihnen kreisten und kreischten Möwen, stiegen mit den Luftströmen immer höher hinauf. Von dort oben muss der rote Schirm wie das rote Auge einer Schlange ausgesehen haben, die sich langsam durch die durchnässte Stadt wand. Die Krähen flogen tiefer, folgten der Prozession, flogen von Ast zu Ast durch die Bäume, ließen sich auf Straßenlaternen und Stromleitungen nieder. Mittlerweile war die Band fast vollzählig, und während der Leichenzug durch den triefenden Regen zog, spielten die Musiker Trauermelodien und reichten Flaschen in braunen Papiertüren herum, während Huren und Junkies hinter ihnen her taumelten wie aufgewirbeltes Laub.

Im Krematorium war nicht genug Platz für alle, aber da der Regen nachgelassen hatte, blieben die Musiker draußen und spielten weiter. Annabelle und Benny folgten dem Sarg bis zum Eingang, doch als die Tür geöffnet wurde, scheute Benny zurück. Er hatte von dem Ofen gehört. Selbst wenn das Ding da im Sarg nicht sein Vater war, wollte er nicht zusehen, wie man es ins Feuer warf und verbrannte wie einen Holzscheit oder grillte wie ein Stück Fleisch, deshalb bestand er darauf, draußen bei dem Trompeter zu bleiben, der das in Ordnung fand. Annabelle machte ein verstörtes Gesicht, traf dann aber eine Entscheidung. Sie nahm das zarte, runde Gesicht ihres Sohnes zwischen die Hände, gab ihm einen schnellen Kuss und wandte sich dem Trompeter zu. »Lassen Sie ihn nicht aus den Augen«, sagte sie und ging hinein.

Die Band wechselte von Trauerliedern zu einem Satz Benny-Goodman-Stücke. Goodman war Kenjis Lieblingsmusiker. Sie spielten »Body and Soul« und »Life Goes to a Party«. Dann spielten sie »I’m a Ding Dong Daddy«, »China Boy« und »The Man I Love«. Und die ganze Zeit über klopfte Bennys Herz wie wild, weil er an die Flammen im Ofen dachte. Als in »Sometimes I’m Happy« das Klarinetten-Solo an der Reihe war, verstummten die Blechbläser, während der Drummer mit seinem Besen ruhig den Takt hielt und so den Raum ausfüllte, der sonst der Klarinette vorbehalten war. Es war Kenjis Erkennungsmelodie, und man hätte meinen können, das vertraute Riff würde durch den Dunst zu ihnen herüberwehen. Und vielleicht hörte Benny ihn ja wirklich. Er lauschte angestrengt. Als der Break zu Ende war und die Hörner wieder einstiegen, schlich er sich weg. Drahtig wie sein Vater, aber klein und schmalgliedrig, schlängelte er sich zwischen den Musikern hindurch, die mittlerweile zu benebelt waren, um es zu bemerken. Er hatte gesehen, wohin seine Mutter gegangen war. Als sich die schwere Tür hinter ihm schloss, konnte er immer noch die Musik draußen hören, aber jetzt lauschte er auf etwas anderes.

Benny …?

Die Stimme kam von irgendwoher tief im Innern des Gebäudes, er folgte ihr. Während er einen düsteren Korridor entlangging, wurde das Geräusch der Lüftungsanlage immer lauter. Er gelangte in einen Warteraum mit einem Sofa und ein paar niedrigen, gepolsterten Stühlen. Auf einem Beistelltisch stand eine Vase mit weißen Plastiklilien, daneben lag eine Schachtel Kleenex. Ein riesiges Fenster blickte auf den Verbrennungsraum. Obwohl Benny nicht wusste, wie der eigentlich hieß, wusste er doch genau, was dort, hinter der Glasscheibe, passierte. Er konnte seine Mutter sehen. Sie hielt die Klarinette seines Vaters in der Hand, unbeholfen und verkrampft, da sie nicht wusste, wie man damit umging. Neben ihr stand der edle Sarg. Er war leer. Wo war der Leichnam? Außer seiner Mutter war noch ein Krematoriumsmitarbeiter da. Sie standen zu beiden Seiten eines langen, schmalen Kartons, der so unscheinbar war, dass Benny ihn erst bemerkte, als er wieder die Stimme hörte.

Benny …?

Dad?

Es war die Stimme seines Vaters. Benny konnte sie wegen des Lärms der Lüftung kaum hören, aber er wusste, dass sie aus dem Karton kam. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um hineinsehen zu können.

Oh, Benny …

Sein Dad klang traurig, als ob er ihm etwas sagen wollte und es nun zu spät wäre, und tatsächlich, genau in diesem Moment nickte Annabelle kurz dem Mitarbeiter zu und wandte sich ab. Der Mitarbeiter setzte den Deckel auf den Karton. Benny presste die Handflächen an die Scheibe.

»Mom!«, rief er und schlug gegen das Glas. »Mom!«

Und da begann sich der Karton wie von selbst zu bewegen.

»Nein!«, schrie Benny, aber das Glas war zu dick, die Lüftung zu laut. Der Karton glitt über eine kurze Rampe, direkt auf den Schlund des Ofens zu, der sich öffnete, um ihn zu verschlingen. Er sah den rot glühenden Rachen und die lodernde Flammenzunge, hörte das Grollen des Feuers und das Fauchen der Luft, das sich mit dem Trauerlied einer einsamen Posaune auf der Straße mischte. »Don’t Be That Way«. Sie spielten »Don’t Be That Way«.

Benny hämmerte mit den Fäusten gegen die Scheibe. »Nein!«, schrie er. »Nein!«

Da blickte Annabelle auf. Sie hielt immer noch Kenjis Klarinette umklammert, das Gesicht aschfahl und tränenüberströmt. Als sie ihren Sohn hinter der Scheibe entdeckte, streckte sie die Hände nach ihm aus und formte mit den Lippen seinen Namen.

Benny …!

Hinter ihr glitt der Karton in den Ofen, und die Tür schob sich zu.

Als sie das Krematorium verließen, hatte sich Benny wieder etwas beruhigt. Die meisten Musiker hatten ihre Instrumente zusammengepackt und waren heimgegangen. Nur ein paar der Jungs standen noch vor dem Urnenfriedhof herum. Der Trompetenspieler lehnte an einer Wand und spielte eine schwermütige Interpretation von »Smoke Gets in Your Eyes«, während sie zusahen, wie flimmernde Schwaden heißer Luft durch den hohen Schornstein aufstiegen.

Jemand nahm sie im Wagen mit. Zu Hause ging Benny sofort ins Bett und schlief durch bis zum Morgen. Als er wach wurde, sagte Annabelle ihm, dass er nicht zur Schule müsse und bis zum Mittagessen Videospiele spielen dürfe. Am Nachmittag fuhren sie mit dem Bus noch einmal zum Bestattungsinstitut, um Kenjis Asche abzuholen. Die Asche war in einen Plastikbeutel eingeschweißt, der in einer Plastikschachtel lag, die sich wiederum in einer braunen Einkaufstüte befand. Im Bus weigerte Benny sich, die Tüte zu nehmen, als fürchtete er, die Fahrgäste könnten merken, dass sich sterbliche Überreste darin befanden. Als sie von der Haltestelle heimgingen, versammelten sich die Krähen in der Gasse vor ihrem Haus, saßen auf dem Gartentor und dem Dach. Kenji hatte auf der rückwärtigen Veranda ein Futterhaus aufgestellt, das aus einer umfunktionierten alten Fernsehkommode bestand, die er im Müllcontainer gefunden hatte. Als Annabelle die Hintertür aufschloss und sah, dass das Futterhaus leer war, nahm sie sich vor, es gleich aufzufüllen. Sie stellte die Tüte mit der Asche auf dem Küchentisch ab, holte ein Blech aus dem Backofen und heizte ihn vor.

»Fischstäbchen oder Chicken Nuggets?«

»Egal.«

Sie musste ihn irgendwie beschäftigen, dachte sie. Er brauchte eine Aufgabe. »Schatz, könntest du bitte Dads Krähen füttern?« Sie reichte ihm einen Plastikbeutel mit altbackenen Mondkuchen, die Kenji in der chinesischen Bäckerei ergattert hatte und die er immer an den Türgriff der Verandatür hängte. Sie durfte nicht vergessen, die Mondkuchen auf die Liste all der Erledigungen zu setzen, für die sie jetzt zuständig war.

Benny nahm den Beutel und ging auf die Veranda, kam aber gleich wieder zurück. »Guck mal«, sagte er und hielt ihr einen Kronkorken, eine zerbrochene Muschel und einen angelaufenen Goldknopf hin. Sie streckte die Hand aus, und er ließ seinen Fund hineinfallen.

»Wie seltsam«, sagte sie und betrachtete den Knopf. »Ich habe von Krähen gehört, die Geschenke hinterlassen.« Und dann dämmerte es ihr. »Ach so! Glaubst du …« Sie hielt inne.

»Was?«

»Ach, nichts.« Sie nahm eine kleine Schale aus dem Regal und legte die Sachen behutsam hinein. »Könntest du bitte den Tisch freiräumen, mein Schatz?«

Die Tüte mit der Asche stand immer noch auf dem Tisch. Benny beäugte sie. Sie sah wie eine ganz normale Einkaufstüte aus. »Willst du die da stehen lassen?«

»Ich dachte, wir könnten nach dem Essen einen besonderen Platz dafür finden.« Sie öffnete die Gefriertruhe und nahm eine Packung Chicken Nuggets heraus. »In Japan machen sie das so, weißt du. Sie bewahren die Asche bei sich zu Hause auf einem kleinen buddhistischen Altar auf.«

»So was haben wir aber nicht.«

»Wir könnten einen machen.« Sie riss die Schachtel auf und verteilte die Nuggets auf dem Backblech. »In einem der Bücherregale. Wir könnten die Lieblingssachen deines Dads hineinstellen, zum Beispiel seine Klarinette. Dann könnte er im Jenseits darauf spielen.« Sie schob das Blech in den Ofen und klappte ihn zu. »Hol dir deine Milch und deck bitte den Tisch.«

»Heißt das, dass er jetzt so ’ne Art Zombie ist?«

Annabelle lachte. »Nein, mein Schatz. Dein Dad ist kein Zombie. Die Buddhisten glauben an ein Leben nach dem Tod. Die Seele wird wiedergeboren und erwacht in einem anderen Körper zu neuem Leben.«

»Ist er dann ein anderer Mensch?«

»Vielleicht gar kein Mensch. Vielleicht ein Tier. Vielleicht eine Krähe …«

»Ist ja schräg«, sagte er und ging zum Küchenschrank. »Aber wir sind ja sowieso keine Buddhisten. Wir sind gar nichts.« Er zerrte an der alten Schublade und zog sie ruckelnd heraus.

Annabelle blickte auf. »Möchtest du denn etwas sein?«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, ein Buddhist. Oder etwas anderes. Vielleicht ein Christ?«

»Nein.« Er nahm zwei Gabeln und seinen Speziallöffel aus der Schublade und legte alles auf den Tisch, peinlich darauf bedacht, der Asche nicht zu nahe zu kommen. Er holte ein Glas aus dem Küchenregal und ging zum Kühlschrank.

»Dein Dad war früher Buddhist«, sagte Annabelle. »Vielleicht ist er’s ja noch.«

»Meinst du jetzt?«

»Klar, warum nicht?«

Benny stand vor dem Kühlschrank und starrte auf die Ansammlung von Küchenmagneten, während er darüber nachdachte. Er verschob einige Magnete. Es waren Wortmagnete, die man immer wieder neu anordnen und zu Gedichten zusammenstellen konnte. Annabelle hatte sie im Secondhandladen besorgt, damit Kenji sein Englisch aufbessern konnte. Und immer wenn er daran dachte, legte er ein Gedicht für sie, und Benny tat es manchmal auch. Einige Wörter fehlten in der Sammlung, aber Annabelle fand das nicht schlimm, weil man für ein Gedicht nicht viele Worte brauche.

»Nein«, sagte Benny schließlich. »Er ist jetzt gar nichts. Er ist einfach tot.«

An dem Tag, als Kenji starb, kurz bevor er zum Club aufgebrochen war, hatte er ein Gedicht gelegt. Es war immer noch da, inmitten der bunten Ansammlung von Wörtern.

»Ja, sicher«, sagte Annabelle. »Aber wir wissen nicht genau, was das bedeutet. Tot sein.«

Benny verschob einige der Wörter und ordnete sie neu an. »Doch, wissen wir. Es bedeutet, dass er nicht mehr lebt.«

Annabelle stand gebückt vor dem offenen Backofen und wendete die Nuggets. Als sie den entschiedenen Tonfall ihres Sohns bemerkte, drehte sie sich um.

»Oh, Benny, nein!« Sie ließ den Pfannenwender fallen und knallte die Ofentür zu, lief zum Kühlschrank und stieß ihn zur Seite. »Schieb sie wieder zurück! Wir müssen sie wieder zurückschieben. Frau gehört hierhin, und Sinfonie dahin, aber da war doch noch ein Adjektiv. Aber welches? Ich erinnere mich nicht mehr! Warum erinnere ich mich nicht mehr? Oh, Benny, weißt du’s noch?«

Sie drehte sich um und sah ihn flehend an, doch er wich zurück. Er hatte das Gedicht seines Vaters nicht zerstören wollen. Die Magnete wollten verschoben werden, um neue Verse zu bilden, und er versuchte nur, ihnen zu helfen. Er öffnete den Mund, um es ihr zu erklären, aber er fand nicht die richtige Worte. Als Annabelle seine geknickte Miene sah, ließ sie es gut sein und streckte die Arme aus.

»Ach, mein Schatz«, sagte sie. »Es tut mir so leid. Komm her.« Sie drückte ihn an sich. Er spürte das Gewicht ihrer Arme auf seinen Schultern und die Wölbung ihrer Brust.

»Ich wollte nicht …«, sagte er.

Sie drückte ihn noch fester an sich. »Ich weiß, Benny. Mach dir keine Gedanken. Du kannst nichts dafür. Ist schon gut. Weine nicht, es wird alles wieder gut …«

Er weinte nicht. Sie war es, die weinte. Als sie ihn wieder losließ, wischte sie sich mit dem Zipfel ihres T-Shirts das Gesicht ab. Und dann gab es Abendessen. Später setzten sie Kenjis Gedicht wieder zusammen. Benny rührte die Magnete nicht mehr an, legte kein Gedicht mehr, und eine Zeit lang blieb die schiefe Anordnung der Wörter unverändert.

2

In jenem ersten Sommer nach Kenjis Tod schlief Benny viel und war in sich gekehrter als sonst, doch er schien nie den Wunsch oder das Bedürfnis zu haben, über seine Gefühle zu sprechen, obwohl ihn seine Mutter dazu ermunterte. Manchmal, abends im Bett kurz vor dem Einschlafen, glaubte er, die Stimme seines Vater zu hören, der ihn rief, und dann war er wieder hellwach, aber da sonst nichts weiter passierte, sprach er nicht darüber.

Im darauffolgenden Herbst, als er in die siebte Klasse kam, stellte seine Klassenlehrerin bei ihm eine gewisse Konzentrationsschwäche und ein Aufmerksamkeitsdefizit fest, aber die Schulpsychologin erwies sich als sehr hilfreich. Sie vereinbarte regelmäßige Gesprächstermine mit ihm, bei denen sie ihm erklärte, dass das, was er gerade durchmache, ein ganz normaler Teil des Trauerprozesses sei. Trauer, sagte sie, sei etwas ganz Individuelles und könne sich auf ganz unterschiedliche Weise äußern. Annabelle fand das einleuchtend und war erleichtert, als die Psychologin sagte, dass keine Notwendigkeit für eine medikamentöse Behandlung bestehe, solange sich die Probleme nicht verschlimmerten.

Benny war in der Schule nie sonderlich beliebt gewesen, aber er hatte immer Freunde gehabt – sonderbare, verschlagene kleine Jungs mit leerem, ausweichendem Blick, ungewaschenen Haaren und mit Müttern, denen Annabelle nicht recht über den Weg traute. Kenji holte die Jungen immer von der Schule ab und nahm sie mit nach Hause, wo er ihnen einen Snack zurechtmachte und sie dann nach draußen zum Spielen schickte, wo Annabelle sie traf, wenn sie von der Arbeit heimkam.

Da Benny Elternteile unterschiedlicher Herkunft hatte, fürchtete sie, dass er aufgrund seines Aussehens gemobbt wurde. »Ist das deine richtige Mom?«, hörte sie die Jungen einmal fragen, und sie hätte am liebsten Natürlich bin ich seine richtige Mutter! gerufen, aber Benny blieb ungerührt, sagte einfach nur ja. Die Spiele, die sie spielten, bereiteten ihr noch größere Sorgen – Spiele wie »Okay, ich bin der Cowboy und du bist der Indianer. Du musst versuchen, mich zu skalpieren, und dann massakrier ich dich.« Oder, als sie ein wenig älter waren: »Ich bin ein Anti-Terrorkämpfer, und du bist ein ultranationalistischer, islamistischer Terrorist. Du musst versuchen, mich in die Luft zu sprengen, und dann vernichte ich dich.« Benny schien immer derjenige zu sein, der massakriert oder vernichtet wurde, aber als sie Kenji darauf ansprach, lachte er nur.

»Es sind eben Jungs«, sagte er. »Ich pass schon auf, dass keiner vernichtet wird.«

Und es passierte tatsächlich nichts. Nach Kenjis Tod ließen sich die Jungen nicht mehr blicken, und als Annabelle Benny darauf ansprach, zuckte er bloß mit den Schultern.

»Ich konnte die sowieso nie leiden. Diese Deppen.« Er wirkte weder unglücklich noch einsam, was Annabelle erleichterte. Abgesehen von der ständigen Angst um ihren Job, ging es ihnen beiden gut zusammen.

Ihr Job machte ihr wirklich Sorgen. Als Annabelle Kenji kennenlernte, hatte sie gerade angefangen, Bibliothekswissenschaften zu studieren. Schon als Schulmädchen, als sie viele Stunden in der Leihbücherei verbracht hatte, hatte sie davon geträumt, einmal Bibliothekarin zu werden. Sie war ein Einzelkind, und Bücher waren ihre besten Freunde. Ihre Mutter machte sich nichts aus Büchern, und ihr Vater trank. Nur bei den netten Bibliotheksmitarbeiterinnen fühlte sie sich wohl. Als sie den Studienplatz bekam, freute sie sich unbändig, aber bald darauf wurde sie schwanger. Sie wusste, dass es nicht leicht sein würde, zu dritt von dem zu leben, was Kenji mit seinen Auftritten verdiente. Also brach sie das Studium ab und nahm eine Stelle im Regionalbüro einer Firma für Medienbeobachtung an, wo sie auch jetzt noch arbeitete. Sie war für die Sichtung der Printmedien zuständig. Ihre Aufgabe bestand darin, die Stapel von Lokal- und Regionalzeitschriften, die jeden Morgen ins Büro geliefert wurden, im Schnelldurchlauf zu durchforsten und alle Artikel auszuschneiden, die für die Kunden von Interesse waren, und sie ihnen dann zuzuschicken. Zu ihren Kunden zählten Wirtschaftsunternehmen, Parteien und Interessengruppen. Die Artikel befassten sich meist mit Lokalpolitik, Umweltfragen und ökoregionalen Branchen – Forstwirtschaft, Fischerei, Öl, Kohle, Gas, Ressourcengewinnung, Waffenkontrolle sowie Wahlen auf Gemeinde- und bundesstaatlicher Ebene. Die Kollegen, die die Fernseh-, Radio- und Online-Beiträge verfolgten, waren nicht sehr gesprächig. Spaß machte die Arbeit nur wegen der anderen Schnipsel-Ladys.

Als sie in der Print-Abteilung anfing, arbeiteten noch vier andere Frauen dort. Sie waren so cool mit ihren Fiskars-Scheren, Schablonenmessern, Metalllinealen und OLFA-Schneideunterlagen. Und so selbstbewusst und auch ein bisschen einschüchternd, aber sie nahmen sie herzlich in ihrer Runde auf, und sie gewöhnte sich schnell ein. Sie waren ein tolles Team, wie sie da um den großen Tisch saßen, schnippelten, schwatzen und sich über interessante Artikel unterhielten. Aber dann verließ eine nach der anderen die Firma. Die beiden letzten Kolleginnen, die aufhörten, waren eine ältere Schwarze, die in Rente ging, und eine aus Pakistan stammende Frau mittleren Alters, die perfekt Englisch sprach und vorhatte, Englisch als Fremdsprache zu unterrichten. Annabelle vermisste sie. Sie waren alle so nett zu ihr gewesen. Als Kenji gestorben war, hatten die Lokalzeitungen demütigende Berichte über den Unfall gebracht, voller reißerischer Details über kreischende Hühner, herumfliegende Federn und Drogen. Aber, wie Annabelle nicht entging, schnitten ihre Kolleginnen die Artikel rasch aus und ließen sie verschwinden, damit sie in Würde trauern konnte.

Diese Freundlichkeit vermisste Annabelle am meisten, als sie fortgingen, aber die Zeiten änderten sich, und während die Online-Nachrichten auf dem Vormarsch waren, kämpfte die Print-Abteilung ums Überleben. Die alten Tonbandgeräte und VHS-Rekorder, die zum Überspielen von Radio- und TV-Sendungen gedient hatten, waren schon vor langer Zeit entsorgt und durch Computer und digitale Ausrüstung ersetzt worden. Die Wandgestelle, auf denen die Geräte gestanden hatten, waren leere Metallskelette, auf denen sich der Staub ansammelte. Die ihr noch verbliebenen Kollegen waren allesamt Männer mit vielfältig einsetzbaren Fähigkeiten, dieselben Männer, die einst geistesabwesend auf ihren Busen gestarrt hatten, um sich die Langweile zu vertreiben. Annabelle war eine hübsche Frau gewesen, drall und sinnlich, wenn auch auf nicht mehr zeitgemäße Art; man konnte sie sich gut mit leicht zerzaustem Haar in einem aufgeknöpften Kittel und mit einem sexy Mieder vorstellen, wie sie überschwappende Milchkannen schleppte. Aber das war, bevor Kenji starb und sie anfing zuzunehmen. Seit die Kollegen wussten, dass Annabelles Tage gezählt waren, versteckten sie sich hinter ihren Monitoren, weil es ihnen peinlich war, ihr zu begegnen. Und nun saß Annabelle mit der Schere in der Hand, in einer ausgeleierten Stretchhose und einem schlabberigen Sweatshirt, allein am langen Arbeitstisch, umgeben von Stapeln Zeitungspapier und verwaisten Hockern. Sie war die letzte der Schnipsel-Ladies. Es war das Ende einer Ära.

Niemand war überrascht, als die E-Mail von der Unternehmenszentrale eintraf, in der die Umstrukturierung der Firma ankündigt wurde. Alle Regionalbüros, auch ihres, würden geschlossen werden; aber, glücklicherweise, so hieß es in der E-Mail weiter, werde dies nicht zu weiteren Entlassungen führen. Stattdessen werde man die Angestellten mit der nötigen Hardware und einem Breitbandanschluss ausstatten, damit sie von zu Hause aus arbeiten könnten. Annabelles Kollegen waren begeistert. Sie fanden es prima, einen kostenlosen Breitbandanschluss zu bekommen und nicht mehr pendeln zu müssen. Sie fanden es prima, morgens aus dem Bett steigen und in Unterwäsche am Computer sitzen zu können, aber Annabelle wusste nicht, was sie davon halten sollte. Von der Print-Abteilung war in den Mitteilungen der Firmenleitung keine Rede gewesen, und als letzte verbliebene Schnipsel-Lady rechnete sie mit dem Schlimmsten.

Die Angst drückte sie nieder wie ein drohendes Unwetter. Da sie fürchtete, ihre dunklen Vorahnungen könnten sich bestätigen, wartete sie einfach ab, ging ihrem Vorgesetzten aus dem Weg und tat so, als ob sie die Begeisterung ihrer Kollegen teilte. Sie wollte zuversichtlich bleiben. Vielleicht würden sie irgendwo in einem kleinen Büro einen Raum mit einem Arbeitstisch für sie anmieten. Das wäre schön. Und falls sie die Print-Abteilung ganz auflösten, könnte sie vielleicht an einer Computerschulung teilnehmen, obwohl sie sich keine großen Hoffnungen machte, da die Firma bekanntermaßen sexistisch war, und außerdem war sie eher ein analoger Mensch. Aber vielleicht war die Kündigung genau das, was sie jetzt brauchte. Vielleicht schickte ihr das Universum eine Botschaft, machte den Weg frei für einen neuen Job, der kreativer und befriedigender war.

Nach vier Tagen bangen Wartens bekam sie eine E-Mail von ihrem Chef, der sie darüber informierte, dass man die von ihr zu sichtenden Zeitungen zu ihr nach Hause schicken werde und dass am nächsten Tag ein Computer, ein Modem und ein High-Speed-Scanner geliefert und installiert würden.

Am selben Nachmittag verabschiedete sich Annabelle von ihren Kollegen und fuhr nach Hause, um alles vorzubereiten. Es war ein kleines, altes Haus, eine Doppelhaushälfte mit einer Wohnküche, einer Abstellkammer und einem Wohnzimmer im Erdgeschoss und zwei Zimmern und Bad im ersten Stock. Der einzige Ort, an dem sie ihr Homeoffice einrichten konnte, war das Wohnzimmer. Kenji hatte an den Wänden Regale aufgebaut, auf denen er seine Audioausrüstung, seine Instrumente und Schallplatten aufbewahrte. Ihre ganzen Bücher, Bastelsachen und das Sammelsurium aus altem Blechspielzeug, Porzellanpuppen-Teilen, alten Apothekerflaschen und historischen Urlaubskarten fremder Leute stapelten sich ebenfalls in den Regalen. Und auch Kenjis Asche war dort gelandet. Annabelle war nie dazu gekommen, einen richtigen buddhistischen Altar einzurichten, und so fand sich die Schachtel neben einem Schuhkarton voller unsortierter Fotos wieder. Sie hatte eigentlich vorgehabt, die Asche im Sommer irgendwo zu verstreuen und vielleicht mit Benny eine kleine Zeremonie abzuhalten, aber sie war einfach nicht dazu gekommen. Die Monate waren einfach so verstrichen. Und woher hätte sie denn auch die Zeit für eine Zeremonie hernehmen sollen? Sie war eine alleinerziehende Mutter mit einem toten Mann und einem Sohn, für den sie sorgen musste. Sie nahm die Schachtel mit der Asche aus dem Regal, ging hoch ins Schlafzimmer und verstaute sie im obersten Fach ganz hinten in ihrem Wandschrank. Wenn sie beide ein wenig zur Ruhe gekommen wären, könnten sie ja vielleicht etwas Besonderes machen, zum Beispiel ein Boot mieten und aufs Meer hinausfahren. Vielleicht könnten sie sogar irgendwann nach Japan fliegen und dort die Asche verstreuen.

Ihren ganzen Krimskrams und ihre Bücher brachte sie ebenfalls nach oben ins Schlafzimmer. Das Spielzeug arrangierte sie auf der Fensterbank, die Bücher stapelte sie an den Wänden, bis sie weitere Regale besorgt hätte. Die Bastelsachen kamen ins Bad – ebenfalls eine vorübergehende Maßnahme. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging wieder ins Wohnzimmer hinunter, um nachzusehen, was noch übrig war. Sie wusste, dass es langsam Zeit wurde, Kenjis Sachen loszuwerden, aber die Instrumente waren sein kostbarster Besitz, und Benny würde sie vielleicht eines Tages haben wollen. Einige Schallplatten waren Raritäten und wahrscheinlich ziemlich wertvoll, aber um sie verkaufen zu können, würde sie sie erst von einem Fachmann schätzen lassen müssen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als vorerst alles in Kisten zu verpacken und sie in Kenjis Schrank zu verstauen.

Entschlossen ging sie wieder nach oben. Seit dem Abend, an dem sie den Blazer für die Beerdigung rausgesucht hatte, hatte sie nicht mehr in den Schrank geschaut. Jetzt nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und öffnete ihn. Durch den Luftzug aufgestört, winkten ihr die ordentlich aufgehängten Flanellhemden zaghaft zu. Doch es war der Geruch, den sie als Erstes wahrnahm – Kenjis Geruch, scharf und salzig wie der Wind, der vom Meer herüberweht. Er überwältigte sie geradezu. Sie schloss die Augen, neigte sich vor, ließ sich vom Geruch umfangen, der sie weich und warm umhüllte. Sie sog ihn ein, bis ihre Lungen voll waren, und dann entfuhr ihr ein langer, bebender Schluchzer. Die Augen immer noch geschlossen, schob sie die Hände zwischen die Hemden und griff sich ein Bündel, so dick wie ein menschlicher Körper, und warf es aufs Bett. Dann ging sie zurück zum Schrank und holte die Jacketts heraus, dann die T-Shirts, dann die Pullover, immer weiter und weiter, bis sich alles auf dem Bett stapelte und der Schrank leer war. Von der Anstrengung erhitzt, setzte sie sich auf die Bettkante, um kurz auszuruhen. Erschöpft ließ sie sich zurückfallen in den wohlig-weichen Berg aus verschlissener Baumwolle, ausgeblichenem Denim und abgetragenem Tweed.

Eine vertraute Wärme durchdrang das Gewebe, das immer noch seine Gegenwart atmete. Sie wühlte sich tiefer hinein, drückte das Gesicht auf die Kragen, Taschen und Ärmel, entlockte ihnen einen Hauch von Rauch und Whisky – verbliebene Spuren der Nachtclub-Gerüche, die sie an das allererste Mal erinnerten, als er die Hände auf ihre Schultern gelegt, sie zu sich umgedreht und sie geküsst hatte. Sie erschauerte bei der Erinnerung. Die kratzige Wolle und der weiche Flanell fühlten sich so gut auf ihrer Haut an, und es verlangte sie nach mehr. Sie setzte sich auf und zog ihr Sweatshirt über den Kopf, aber als sie aufstand, um ihre Jogginghose auszuziehen, fiel ihr Blick in den Spiegel an der Innenseite der Schranktür. Sie starrte auf ihr Spiegelbild, auf den fülligen, weißen Körper mit den Speckfalten, die über den Rand ihrer Unterwäsche quollen. Sie schaute weg, dabei fiel ihr Blick auf die kantigen, roten Ziffern des Digitalweckers neben dem Bett. Es war fast drei Uhr, gleich würde die Schule aus sein. Benny hasste es, wenn er auf sie warten musste. Langsam zog sie ihr Sweatshirt an und setzte sich wieder auf den Rand des zerwühlten Betts, befühlte den Ärmel eines grünen Flanellhemds, der auf ihrem Knie lag. Es war Kenjis Lieblingshemd, das mit dem hübschen gelb-blauen Schottenmuster. Man könnte eine schöne Patchworkdecke daraus machen, dachte sie. Es gab Leute, die aus den Kleidern ihrer verstorbenen Angehörigen Memory Quilts nähten. Wirklich eine schöne Idee, sich in Erinnerungen einzumummeln und so alte Sachen zu neuem Leben zu erwecken.

Benny

Moment mal, willst du uns nicht erzählen, wie sie sich kennengelernt haben? Ich will dir ja nicht vorschreiben, wie du deinen Job zu machen hast, aber du überspringst die ganzen guten Sachen, die coolen Sachen, und wenn du die nicht erzählst, erfahren die Leute, die das hier lesen, nicht, wie normal alles am Anfang war. Und wie sehr sich meine Mom und mein Dad geliebt haben, und das war ja auch der Grund, weshalb sie später so fertig war. Die werden alle nur denken, ach, diese Annabelle, die ist eben eine komplette Versagerin, und das ist nicht fair.

Und überhaupt hätte ich nichts dagegen, es auch mal zu hören. Als mein Dad noch lebte, redeten meine Eltern ständig über ihre große Liebe, aber sie erzählten mir nur bestimmte Sachen, zum Beispiel, dass mein Dad sich auf den ersten Blick in meine Mom verliebte, wie hübsch sie war, und wie nett er war, und dass sie füreinander bestimmt wären und so weiter, aber ich wusste genau, dass sie einiges für sich behielten. Manchmal, wenn sie sich anschauten, blitzten ihre Augen geradezu vor Geheimnissen, die ihr Sohn nicht erfahren sollte, und dann lachten sie und sahen weg oder bissen sich auf die Lippen und wechselten das Thema. Das machte mir nichts aus. Ich fand es gut, dass sie Geheimnisse hatten, solange sie das glücklich machte, aber als mein Dad starb, wurde meine Mutter ganz traurig, und es blitzten keine Geheimnisse mehr in ihren Augen auf. Und deshalb braucht man sie ja nicht mehr für sich zu behalten, oder? Natürlich gibt es Dinge, die ein Kind über seine Eltern nicht zu wissen braucht, aber ein paar davon könntest du schon erzählen.

Aber warte mal. Da fällt mir ein, dass du die Geheimnisse meiner Eltern vielleicht gar nicht kennst? Ich hab immer gedacht, dass Bücher alles wissen, aber vielleicht bist du ja ein dummes Buch oder ein faules, die Art von Buch, das in der Mitte anfängt, weil es nicht weiß, wie man eine Geschichte beginnt, und es auch nicht für nötig hält, es herauszufinden. Stimmt’s? Bist du so ein Buch? Denn wenn das der Fall ist, solltest du dir lieber eine andere Geschichte suchen, die du erzählen kannst, von irgendeinem normalen netten Jungen mit jeder Menge Freunde, der keine Stimmen hören kann oder ihnen nicht zuhören will. Es gibt jede Menge solcher Jungs, also bitte, tu dir keinen Zwang an. Du hast die Wahl.

Es ist nur leider so, dass ich keine Wahl habe. Wenn du mein Buch bist, muss ich gut aufpassen. Wenn ich’s nicht tue, werde ich wieder verrückt, und zurzeit ist es mein Job, das zu verhindern. Also würde ich vorschlagen, dass du deinen Job machst und ich meinen. Versuch’s noch mal. Erzähl den Leuten, wie sie sich kennengelernt haben. Fang mit dem Anfang an.

Das Buch

Geschichten beginnen nie am Anfang, Benny. Das unterscheidet sie vom Leben. Das Leben wird von der Geburt bis zum Tod gelebt, vom Anfang bis in eine unbekannte Zukunft. Aber Geschichten werden rückblickend erzählt. Geschichten sind rückwärts gelebtes Leben.

3

Sie lernten sich im Herbst 2000 in einem Downtown-Jazzclub kennen. Annabelle war damals auf der Uni und hatte ein Verhältnis mit einem Saxofonspieler, der Bibliothekarinnen sexy fand, zumindest sagte er ihr das, während sie ein Faible für Musiker hatte. Er hieß Joe und war ein großer, hagerer Mann mit tief liegenden Augen und einem lässigen, anzüglichen Grinsen, das sein Gesicht in zwei Hälften teilte. Anfangs fand sie seinen Gesichtsausdruck ironisch, dann sarkastisch und schließlich grausam.

Das Jazzlokal war eine heruntergekommene Bar am Rand von Chinatown, wo Musiker zu Jamsessions zusammenkamen. Joe war der Leiter einer kleinen Jazzband, die dort regelmäßig spielte. Eines Abends hatte er die Idee, bei nächster Gelegenheit Annabelle auf die Bühne zu holen. Die Vorstellung amüsierte ihn. Sie hatte eine interessante Stimme, irgendwie sphärisch und geheimnisvoll. Außerdem sang sie gern. Aber sie hatte noch nie vor Publikum gesungen, und Joe wusste, dass ihr das Angst machte. Er wartete den Samstag ab, als der Laden brechend voll war – Hipster, Programmierer, Risikokapital-Anleger und andere Nichtmusiker hatten den Club offenbar zu ihrem bevorzugten Treffpunkt erklärt, der ideale Ort, um jemanden abzuschleppen und sich gleichzeitig einen kultivierten Anstrich zu geben. Annabelle saß an ihrem üblichen Platz, an einem Tisch direkt vor der Bühne.

Nach der Hälfte des Sets wandte sich Joe an die Band und sagte: »Und jetzt ›Mein Liebling‹, okay?« Sie spürte, wie ihr das Herz in die Hose rutschte. Er nahm das Mikrofon.

»Und nun, liebe Leute«, säuselte er. »Eine kleine Extraüberraschung. Ein herzlicher Applaus für die reizende und überaus begabte Miss Annabelle Lange!«

Mit einer ausladenden, dramatischen Geste wies er auf Annabelle. In diesem Moment bemerkte Kenji sie. Er spielte zum ersten Mal mit der Band. Er war noch nicht lange in der Stadt, war mit einem Touristenvisum aus Tokio eingereist und sah sich in der Jazzszene um. Sein Englisch war nicht besonders gut, sein Deutsch gleich null, aber »Mein Liebling« verstand man in jeder Sprache. Der Bandleader hielt das Mikro einer blassen, grobknochigen Blondine mit hellrosa Strähnchen und ausdrucksvollen, lavendelblauen Augen hin. Erschrocken schüttelte sie den Kopf und sah ihn flehentlich an, aber Joe hatte sich bereits wieder umgedreht und leckte an seinem Blatt. Doch sie schien zu begreifen, dass ihr keine Wahl blieb, stand auf und stakste auf die Bühne wie ein kleines Mädchen, das sich verkleidet hat und die High Heels seiner Mutter trägt. Sie blieb kurz am Rand des Scheinwerferkegels stehen, biss sich auf die Unterlippe und schluckte. Sie hatte eine wunderschöne Unterlippe, fiel Kenji auf. Voll und prall. Kein Lippenstift, überhaupt kein Make-up. Nur ihr zartes, nacktes, von goldenen Locken umrahmtes Gesicht. Sie setzte die Spitze ihres Schuhs in den Lichtkreis, zögerte und sah das Publikum an, dann Joe, der sie mit laszivem Blick und seinem typischen, lässigen Grinsen beobachtete. Selbst von seinem Platz bei den Blechbläsern aus sah Kenji, dass sie zitterte.

Kenji nahm seine Klarinette und griff ein paar Töne. Die Hörner würden das Stück beginnen, und er würde über die Breaks einsteigen. Er hatte vor dem Set mit der Band einen Joint geraucht und war bereit.

Joe wippte ungeduldig mit dem Fuß. Endlich trat Annabelle ins Scheinwerferlicht. Ihr Kleid, ein altmodisches Cocktailkleid aus aquamarinblauem Satin, war zu eng und sah ziemlich unbequem aus. Hatte Joe sie gezwungen, es anzuziehen? Der Satin glänzte. Ihre langen, blonden Locken umspielten ihre nackten, runden Schultern, während die rosa Strähnchen das Licht einfingen. Tropfenförmige Strassohrringe glitzerten an ihren Ohrläppchen. Die Trompeter hoben ihre Instrumente an. Joe neigte den Kopf und zählte, und dann legten sie los.

Einen Augenblick lang schien es, als würde sie am liebsten davonlaufen. Ihr Stiletto verhakte sich in einem Kabel, aber sie griff geistesgegenwärtig nach dem Mikroständer und fing sich wieder. Sie nahm das Mikro und starrte es an, als wüsste sie nicht, was sie damit anfangen sollte. Zögerlich fuhr sie mit den Fingern an der Schnur entlang. Das Schlagzeug setzte ein, der Bass folgte, sechs schnelle Takte, und dann war sie an der Reihe. Sie führte das Mikro zum Mund, und Kenji beobachtete, wie es vor Wonne zitterte, weil es ihren Lippen so nah war. Sie begann zu singen.

Before I met you, my dear, I thought I knew

Nichts stimmte, dachte Kenji. Ihre Stimme war zu dünn und ängstlich und so leise, dass er sie neben den Hörnern kaum hören konnte. »Mein Liebling« musste man mit Selbstvertrauen singen, wenn schon nicht im sinnlichen Cabaret-Stil einer Zarah Leander, dann wenigstens auf die forsch-fröhliche amerikanische Art einer Martha Tilton oder der Andrews Sisters. Aber nicht so. Dieses junge Mädchen sang weder fröhlich noch selbstbewusst.

All the many words for love, but then they flew …

Die zögerliche Phrasierung tat Kenji in der Seele weh. Nach nur zwei Zeilen war sie schon verloren. Niemand konnte sie retten. Er schlug mit dem Fuß den Takt und leckte wieder an seinem Blatt, wartete auf seinen Einsatz und fühlte, wie sein Herz zu bersten drohte. Und in diesem Moment, als hätte sie seine Blicke gespürt, drehte sie den Kopf und sah ihn direkt an. In ihren lavendelblauen Augen standen Tränen.

Far, far away …

Niemand konnte sie retten, aber Kenji musste es wenigstens versuchen. Er schloss die Augen, setzte seine Klarinette an den Mund und spielte eine geschmeidige Tonfolge, die sich wie ein Seil emporschwang, sich durch die Trompeten wand und noch höher hinauf durch den Bass, die Snare bändigte und am Sax vorbei eine Schleife drehte, bis sie endlich Annabelle erreichte. Sie griff sein Riff auf und ließ sich davon mittragen.

There are no words in any tongue,

Or any song that can be sung,

That can possibly convey …

Er spielte für sie, trug sie durch die zweite Strophe und dann weiter, voller Elan, zum Refrain.

Du bist mein Liebling, can’t you see

How wunderschön you are to me …?

Als sie jetzt mit voller, kräftiger Stimme sang, schwiegen selbst die ignoranten Hipster. Bärte drehten sich zur Bühne, Stiefel begannen im Takt zu wippen und Finger zu schnipsen, während sich der Song zu einem letzten, furiosen Crescendo steigerte – und dann war es vorbei. Kenji ließ das Blatt von den Lippen gleiten, ließ sein tropfendes Instrument sinken und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er, dass sie ihn anschaute, aber jetzt lächelte sie, und ihre Wangen waren gerötet. Sie schüttelte ihre blonden Locken und drehte sich zum Publikum um. Der Applaus schwoll an und ebbte ab, während sie sich mit gefalteten Händen unbeholfen verbeugte. Joe trat zu ihr ins Scheinwerferlicht und legte einen Arm um ihre Taille, aber sie entzog sich mit einer kleinen Drehbewegung seinem Griff und stakste zurück an ihren Tisch.

Später an diesem Abend, im abgedunkelten Schlafzimmer des kleinen Apartments downtown, das sich Annabelle mit zwei Mitbewohnerinnen teilte, öffnete Kenji den Reißverschluss ihres langen Satincocktailkleids. Wie in einem Traum spürte sie, wie er es über ihre runden, weißen Schultern schob und auf den Boden fallen ließ. Wie konnte das sein? Er hakte ihren BH auf und half ihr, ihre Arme daraus zu befreien, und dann stützte er sie am Ellbogen, während sie aus ihrem Schlüpfer stieg. Als sie nackt war, trat er einen Schritt zurück und betrachtete sie. Sie stand da, unsicher, reglos, vom Fenster eingerahmt – wie ein Gemälde. Das Licht der Straßenlaterne, das durch die durchscheinenden Vorhänge hereinfiel, verlieh ihrer cremefarbenen Haut einen perlmuttartigen Schimmer. Sie wartete auf irgendeine Reaktion von ihm, Gefallen oder Missfallen, aber als er sich nicht rührte, bedeckte sie ihre Brüste und ihre Scham mit den Händen. Es verschlug ihm den Atem. Sie sah umwerfend aus. Wie sie da in einer Lache aus billigem aquamarinfarbenem Satin und schäbiger Spitze stand, erinnerte sie ihn an Botticellis Venus, die den Wellen entstieg, oder war es eher eine Muschel? Er wusste es nicht mehr, aber er war sich sicher, dass sie die schönste Frau war, die er je gesehen hatte. Und falls er Botticelli geflüstert hatte, so hatte sein Akzent das Wort verfälscht und sie hatte es nicht verstanden. Verwirrt wandte sie sich von ihm ab, und er war beschämt. Schnell machte er einen Schritt auf sie zu. Er legte die Hände auf ihre Schultern und drehte sie zu sich, umfasste ihr liebliches Gesicht und küsste sie auf den Mund. Er spürte, wie sie zitterte. Alles an ihr. Ihr ganzer Körper.

Sie liebten sich, und als sie danach zwischen zerwühlten Laken lagen, sang sie ihm den Text des Lieds leise ins Ohr, während er einen Joint rauchte und eine rosa Strähne aus ihrem blonden Lockenschopf zog und sie sich um den Finger wickelte.

Du bist mein Liebling, can’t you see

How wunderschön you are to me…?

»Wunderschön?«, fragte er.

Sie beobachtete, wie seine Lippen das unbekannte Wort formten. Sein Gesicht war glatt und ebenmäßig. Sie hatte keine Ahnung, wie alt er war, wusste so gut wie nichts über ihn.

»Wonderful«, flüsterte sie und errötete. »Oder beautiful. Oder eigentlich beides. Wonderbeautiful. Auf Deutsch hängt man die Wörter oft aneinander. Das sagt ein Mann zu einer Frau.«

Überrascht richtete er sich auf und stützte sich auf seinen Ellbogen. Er hatte eine schmale, aber muskulöse Brust. »Das sagt ein Mann?«

Sie nickte. »Er sagt der Frau in mehreren Sprachen, dass er sie schön findet.«

I could say bella, schön, or très jolie,

Ich liebe dich, do you love me…?

»Bella? Aber so heißt du doch! Ich sollte dieses Lied für dich singen.« Er beugte sich zu ihr vor und strich ihr die Locken aus dem Gesicht. »Bella, Bella«, sang er leise, und während seine Lippen ihre Kehle hinunterwanderten, bog sie den Rücken durch und schloss die Augen. »Wunder«, flüsterte er, umschloss mit beiden Händen ihre vollen, runden Brüste und saugte zärtlich an ihren Brustwarzen. »Schön …«

Wenn Haut die Grenze zwischen dem Ich und dem Du