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Am Ufer der einsamen Insel, auf der die Schriftstellerin Ruth lebt, wird das Tagebuch der sechzehnjährigen Japanerin Nao angespült. Ruth beginnt zu lesen: von Naos Familie, die von Amerika zurück nach Japan musste, von Naos Schwierigkeiten, in der Schule Anschluss zu finden, von der Depression, die alle in der Familie erfasst, und von Naos Urgroßmutter Jiko, einer weisen Nonne, bei der Nao die Grundlagen des Zen-Buddhismus erlernt. Ruth taucht tiefer und tiefer in die Geschichte der Schülerin ein und beginnt sich zu fragen, wer Nao ist, was mit ihr geschah – und warum ihr Tagebuch ausgerechnet bei Ruth landete. Ruth Ozekis Roman spannt den Bogen vom Zweiten Weltkrieg bis zum Tsunami in Japan in 2011, von der Schwere zur Leichtigkeit, vom amerikanischen Traum zum japanischen Zen-Buddhismus und erzählt dabei wie gewohnt von skurrilen Charakteren und mit einem Hauch magischem Realismus.
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Seitenzahl: 736
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das Buch
Am Ufer der einsamen Insel, auf der die Schriftstellerin Ruth lebt, wird das Tagebuch der sechzehnjährigen Japanerin Nao angespült. Ruth beginnt zu lesen: von Naos Familie, die von Amerika zurück nach Japan musste, von Naos Schwierigkeiten, in der Schule Anschluss zu finden, von der Depression, die alle in der Familie erfasst, und von Naos Urgroßmutter Jiko, einer weisen Nonne, bei der Nao die Grundlagen des Zen-Buddhismus erlernt. Ruth taucht tiefer und tiefer in die Geschichte der Schülerin ein und beginnt sich zu fragen, wer Nao ist, was mit ihr geschah – und warum ihr Tagebuch ausgerechnet bei Ruth landete.
Die Autorin
Ruth Ozeki ist Romanautorin, Filmemacherin und Zen-buddhistische Priesterin. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet und schaffte es mit ihrem Roman Geschichte für einen Augenblick, übersetzt in 28 Sprachen, auf die Shortlist des Booker Prize. Ihr neuester Roman Die leise Last der Dinge gewann den Women’s Prize for Fiction 2022 und ist ebenfalls im Eisele Verlag erschienen. Sie ist Mitglied der Everyday Zen Foundation und lebt in West-Massachusetts, wo sie Kreatives Schreiben am Smith College lehrt.
Ruth Ozeki
Geschichte für einen Augenblick
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Tobias Schnettler
Besuchen Sie uns im Internet:
www.eisele-verlag.de
ISBN 978-3-96161-165-2
Die Originalausgabe »A Tale for the Time Being« erschien 2013 bei Canongate Books Ltd, Edinburgh, und bei Viking, New York.
© 2013 Ruth Ozeki Lounsbury
Published by arrangement with Canongate Books Ltd., 14 High Street, Edinburgh EH1 1TE
© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe
Julia Eisele Verlags GmbH, München
© der deutschen Übersetzung 2014
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2022
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Umschlagillustration: © Favoritbuero unter Verwendung von Motiven von Shutterstock
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Über das Buch / Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Teil I
Nao
Ruth
Nao
Ruth
Nao
Ruth
Nao
Ruth
Nao
Teil II
Ruth
Nao
Ruth
Nao
Ruth
Nao
Ruth
Nao
Ruth
Nao
Ruth
Nao
Die Briefe von Haruki #1
Teil III
Nao
Ruth
Nao
Ruth
Nao
Ruth
Das geheime Tagebuch von Haruki #1
Ruth
Nao
Ruth
Teil IV
Nao
Ruth
Nao
Ruth
Epilog
Anhänge
Anhang A
Anhang B
Anhang C
Anhang D
Anhang E
Anhang F
Literaturverzeichnis
Dank
EMPFEHLUNGEN
Cover
Inhalt
Textbeginn
Für Masoko, für jetzt und für immer
Ein ewiger Buddha sagt:
Es gibt die Zeit, auf dem höchsten Gipfel zu stehen.
Es gibt die Zeit, auf dem Grund des Ozeans zu gehen.
Es gibt die Zeit der drei Köpfe und der acht Arme.
Es gibt die Zeit des sechzehn oder acht Fuß [hohen goldenen Körpers].
Es gibt die Zeit des Wanderstocks und des Wedels1.
Es gibt die Zeit der Säule und der Steinlaterne.
Es gibt die Zeit des dritten Sohns des Zhang und des vierten Sohns des Li2.
Und es gibt die Zeit der großen Erde und des Raums.
Dōgen Zenji, »Die Sein-Zeit«3
1 Japanisch hossu – ein Wedel aus Pferdehaar, von Zen-buddhistischen Priestern getragen.
2 Jpn. chōsan rishi – eine Redewendung, die »jede normale Person« bedeutet. Man könnte sie auch mit »jeder Hans und Franz« übersetzen.
3 Eihei Dōgen Zenji (1200–1253) – japanischer Zen-Meister und Autor von Shōbōgenzō (Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges). »Die Sein-Zeit« (Uji) ist der Titel des elften Kapitels.
Hallo!
Ich heiße Nao, und ich bin Sein-Zeit, ich bin Sein, und ich bin Zeit. Weißt du, was das ist? Wenn du einen Moment hast, erzähl ich es dir.
Jeder, der in der Zeit lebt, ist Sein-Zeit, du, ich und jeder andere von uns, den es gibt, jemals gab oder geben wird. Ich sitze gerade in einem französischen Dienstmädchencafé in Akiba Electricity Town und höre ein trauriges Chanson, das irgendwann in deiner Vergangenheit spielt, die zugleich meine Gegenwart ist, schreibe dies und mache mir Gedanken über dich, irgendwann in meiner Zukunft. Und wenn du das hier liest, machst du dir jetzt vielleicht auch Gedanken über mich.
Du machst dir Gedanken über mich.
Ich mache mir Gedanken über dich.
Wer bist du, und was machst du gerade?
Hängst du an einer Schlaufe in der New Yorker U-Bahn, oder tauchst du in Sunnyvale in deinen heißen Whirlpool ein?
Liegst du auf Phuket am Strand in der Sonne, oder lässt du dir in Brighton die Fußnägel polieren?
Bist du Mann oder Frau oder irgendwas dazwischen?
Kocht deine Freundin dir ein leckeres Essen, oder isst du kalte Chinanudeln aus der Schachtel?
Liegst du eingerollt, deiner schnarchenden Frau kalt den Rücken zugewandt, oder wartest du, bis dein schöner Lover aus dem Bad kommt, um ihn dann leidenschaftlich zu lieben?
Hast du eine Katze, die auf deinem Schoß sitzt? Riecht ihre Stirn nach Zedernholz und frischer Luft?
Eigentlich ist es auch egal, denn wenn du das hier liest, wird schon alles anders sein, und du wirst dich an irgendeinem Ort befinden und dieses Buch träge durchblättern, das zufällig ein Tagebuch meiner letzten Tage auf Erden ist, und dich fragen, ob du weiterlesen sollst.
Und falls du dich entscheidest, nicht weiterzulesen, hey, kein Problem, ich habe eh nicht auf dich gewartet. Aber falls du weiterliest, dann stell dir vor! Du bist Sein-Zeit nach meinem Geschmack, und zusammen schaffen wir etwas Magisches!
Bäh. Das war dämlich. Ich muss mir mehr Mühe geben. Du fragst dich bestimmt, welche dumme Gans so was schreiben würde.
Na ja, ich würde.
Nao würde.
Nao bin ich, Naoko Yasutani mit vollem Namen, aber du kannst Nao zu mir sagen, wie alle anderen auch. Ich erzähle dir am besten ein bisschen mehr von mir, wenn wir uns weiter so treffen …!
Eigentlich hat sich nicht viel verändert. Ich sitze immer noch in diesem Dienstmädchencafé in Akiba Electricity Town, und Edith Pilaf singt ein weiteres trauriges Chanson, Babette hat mir gerade einen Kaffee gebracht, und ich habe daran genippt. Babette ist mein Dienstmädchen und auch meine neue Freundin, und mein Kaffee ist ein Blue Mountain, und ich trinke ihn schwarz, was für einen Teenager ungewöhnlich ist, aber eindeutig die Art und Weise, wie man guten Kaffee trinken sollte, wenn man nur ein bisschen Achtung vor der bitteren Bohne hat.
Ich habe einen meiner Strümpfe hochgezogen und mich hinten am Knie gekratzt.
Ich habe die Falten meines Rocks geradegerückt, sodass sie ordentlich auf meinen Oberschenkeln liegen.
Ich habe mein schulterlanges Haar hinters rechte Ohr geklemmt, das mit fünf Löchern gepierct ist, aber jetzt lasse ich es wieder züchtig vors Gesicht fallen, denn der Otaku4-Büroangestellte am Tisch nebenan starrt mich an, und das macht mir Angst, auch wenn ich es gleichzeitig amüsant finde. Ich trage meine Schuluniform aus der Junior Highschool und erkenne an der Art, wie er meinen Körper ansieht, dass er ein heftiger Schulmädchen-Fetischist ist, aber wenn das stimmt, warum hängt er dann in einem Dienstmädchencafé herum? Ich meine, was für ein Idiot!
Aber man weiß nie. Alles ändert sich, und nichts ist unmöglich, vielleicht ändere ich ja noch meine Meinung über ihn. Vielleicht wird er sich in den nächsten fünf Minuten umständlich zu mir herüberbeugen und mir etwas überraschend Schönes sagen, und mich wird eine große Zuneigung zu ihm überkommen, trotz seiner fettigen Haare und der schlechten Haut, und dann werde ich mich herablassen, ein bisschen mit ihm zu reden, und schließlich wird er mich einladen, mit ihm shoppen zu gehen, und wenn er mich überzeugen kann, dass er in mich verknallt ist, gehe ich mit ihm in ein Kaufhaus und erlaube ihm, mir einen süßen Cardigan oder ein Keitai5 oder eine Handtasche zu kaufen, obwohl er ganz offensichtlich nicht viel Geld hat. Danach gehen wir vielleicht in einen Club und trinken ein paar Cocktails, und dann verschwinden wir in ein Love Hotel mit großem Jacuzzi, und nach dem Baden, als ich gerade anfange, mich in seiner Gegenwart zu entspannen, zeigt er plötzlich seine wahre Natur, und er fesselt mich und zieht mir die Plastiktüte von meinem neuen Cardigan über den Kopf und vergewaltigt mich, und Stunden später findet die Polizei meinen leblosen nackten Körper, seltsam verrenkt auf dem Boden liegend, neben dem großen runden Bett aus Zebrafell.
Vielleicht bittet er mich auch nur, ihn ein bisschen mit meinem Slip zu strangulieren, weil ihn sein schönes Aroma so anmacht.
Oder es passiert nichts von alledem, außer in meiner Vorstellung und in deiner, denn, wie schon gesagt, zusammen schaffen wir etwas Magisches, zumindest für den Augenblick.
Bist du noch da? Ich habe gerade noch mal gelesen, was ich über den Otaku-Büroangestellten geschrieben habe, und möchte mich entschuldigen. Das war fies. Das war kein schöner Anfang.
Ich will nicht, dass du falsch von mir denkst. Ich bin keine dumme Gans. Ich weiß, dass Edith Pilaf nicht wirklich Pilaf heißt. Und ich bin nicht fies und auch keine Hentai6. Eigentlich mag ich Hentai überhaupt nicht, wenn du also einer bist, leg bitte sofort das Buch weg und lies nicht weiter, okay? Du wirst nur enttäuscht sein und deine Zeit vergeuden, denn das hier ist nicht das geheime Tagebuch einer Perversen, voll mit pinken Phantasien und ekelhaften Fetischen. Es ist nicht, was du denkst, denn ich schreibe es aus einem bestimmten Grund vor meinem Tod: Ich will jemandem die faszinierende Lebensgeschichte meiner einhundertundvier Jahre alten Urgroßmutter erzählen, die eine Zen-buddhistische Nonne ist.
Du findest Nonnen vielleicht nicht so prickelnd, aber meine Urgroßmutter ist es, und zwar auf überhaupt nicht perverse Weise. Ganz sicher gibt es jede Menge perverse Nonnen … oder vielleicht nicht so viele perverse Nonnen, aber perverse Priester, die ganz bestimmt, perverse Priester sind überall … aber in meinem Tagebuch geht’s nicht um die und die durchgeknallten Dinge, die sie tun.
Dieses Tagebuch erzählt die wahre Lebensgeschichte meiner Urgroßmutter Yasutani Jiko. Sie war schon Nonne und Schriftstellerin und Neue Frau7 der Taisho-Zeit8. Sie war außerdem Anarchistin und Feministin mit vielen Liebhabern, Männern und Frauen, aber sie war nie pervers oder fies. Und auch wenn ich einige ihrer Affären erwähne, ist alles, was ich schreibe, historisch korrekt und handelt von der Stärke der Frauen, nicht so ein blöder Geisha-Scheiß. Wenn du also auf perverse dreckige Dinger stehst, klapp bitte das Buch zu und gib es deiner Frau oder deinem Kollegen. So sparst du viel Zeit und Ärger.
Ich finde es wichtig, im Leben klar definierte Ziele zu haben, du nicht auch? Vor allem, wenn dir nicht mehr viel Leben bleibt. Denn wenn man keine klaren Ziele hat, ist auf einmal die Zeit um, und wenn es so weit ist, stehst du auf der Brüstung eines Hochhausdachs oder sitzt mit einer Tablettenschachtel in der Hand auf dem Bett und denkst, Scheiße! Ich hab’s versaut. Hätte ich mir doch klarere Ziele gesetzt!
Ich erzähle dir das, weil es mich nicht mehr lange geben wird, und das kannst du ruhig von Anfang an wissen, damit du keine falschen Vermutungen anstellst. Vermutungen sind scheiße. Sie sind wie Erwartungen. Vermutungen und Erwartungen machen jede Beziehung kaputt, also lass uns gar nicht damit anfangen, okay?
Die Wahrheit ist, dass ich die Zeit schon bald hinter mir lassen werde. Vielleicht sollte ich nicht »hinter mir lassen« sagen, denn das klingt, als hätte ich meine Ziele erreicht und es verdient, weiterzukommen. Dabei ist es so, dass ich gerade sechzehn geworden bin und noch überhaupt nichts erreicht habe. Null. Nada. Klingt das mitleiderregend? Das soll es nicht. Ich will nur genau sein. Statt »hinter mir lassen« sollte ich vielleicht sagen, dass ich aus der Zeit fallen werde. Ausfall. Auszeit. Raus aus der Existenz. Ich zähle schon die Augenblicke.
Eins …
Zwei …
Drei …
Vier …
Hey, ich hab eine Idee! Lass uns die Augenblicke gemeinsam zählen!9
4otaku (お宅) – obsessiver Fan oder Fanatiker, ein Computer-Geek, ein Nerd
5keitai (携帯) – Mobiltelefon
6hentai (変態) – Perverser, sexuell devianter Mensch
7 Neue Frau – ein Begriff, der in Japan im frühen 20. Jahrhundert verwendet wurde, um die fortschrittlichen, gebildeten Frauen zu bezeichnen, die die Einschränkungen der traditionellen Geschlechterrollen ablehnten.
8 1912–1926. Benannt nach dem Taishō-Kaiser, auch Taishō-Demokratie genannt; eine kurzlebige Periode sozialer und politischer Liberalisierung, beendet durch die Machtübernahme des Militärs, die schließlich zum Zweiten Weltkrieg führte.
9 Weitere Gedanken zu Zen-Augenblicken finden sich in Anhang A.
Ruth bemerkte ein winziges Glitzern, ein Funkeln gebrochenen Sonnenlichts in einem großen Knäuel trocknenden Seetangs, den das Meer bei Flut auf den Sand gehoben hatte. Sie hielt es erst für das Schimmern einer sterbenden Qualle und wäre fast daran vorbeigegangen. Die Strände waren derzeit voll von Quallen, von dieser monströsen, roten, brennenden Sorte, die die Küste wie Wunden überzog.
Doch etwas ließ sie anhalten. Sie beugte sich vor und stieß mit der Turnschuhspitze gegen den Haufen Tang, dann stocherte sie mit einem Stock darin herum. Sie entwirrte die peitschenartigen Pflanzenwedel und entfernte genügend davon, um zu sehen, dass darunter keine sterbende Qualle, sondern etwas aus Plastik lag, ein Beutel. Wenig überraschend. Der Ozean war voller Plastik. Sie grub weiter, bis sie den Beutel herausziehen konnte. Er war schwerer als erwartet, ein verschrammter Gefrierbeutel mit einer Kruste aus Rankenfüßern, die sich wie ein Ausschlag auf seiner Oberfläche ausgebreitet hatten. Der muss lange im Wasser gewesen sein, dachte sie. In dem Beutel konnte sie undeutlich etwas Rotes erkennen, bestimmt Müll, den jemand über Bord geworfen oder nach einem Picknick oder Rave liegengelassen hatte. Das Meer würgte ständig Dinge wieder hoch und schleuderte sie zurück: Angelleinen, Schwimmkörper, Bierdosen, Plastikspielzeug, Tampons, Nike-Turnschuhe. Vor ein paar Jahren waren es abgetrennte Füße gewesen. Die Leute fanden sie überall auf Vancouver Island, einfach auf den Sand gespült. Einer war genau an diesem Strand gefunden worden. Niemand hatte eine Erklärung, was mit dem Rest der Körper geschehen war. Ruth wollte sich nicht ausmalen, was in diesem Beutel vor sich hin rotten mochte. Sie warf ihn weiter hoch an den Strand. Sie würde weiter spazieren gehen und ihn auf dem Rückweg mitnehmen, um ihn zu Hause in den Müll zu werfen.
»Was ist das?«, rief ihr Mann aus dem Windfang.
Ruth kochte gerade Abendessen, sie hackte konzentriert Karotten.
»Das hier«, wiederholte Oliver, als sie nicht antwortete.
Sie sah auf. Er stand im Durchgang zur Küche und hielt den großen verschrammten Gefrierbeutel hoch. Sie hatte ihn draußen auf der Veranda gelassen, um ihn wegzuwerfen, aber sie war abgelenkt worden.
»Oh, lass liegen«, sagte sie. »Das ist Müll. Hab ich am Strand gefunden. Bring ihn bitte nicht mit ins Haus.« Warum musste sie das erklären?
»Aber da ist was drin«, sagte er. »Willst du nicht wissen, was drin ist?«
»Nein«, sagte sie. »Das Essen ist so gut wie fertig.«
Er brachte den Beutel trotzdem mit rein und legte ihn, etwas Sand verstreuend, auf den Küchentisch. Er konnte nicht anders. Es lag in seiner Natur, alles wissen zu müssen, Dinge auseinanderzunehmen und sie manchmal wieder zusammenzusetzen. Ihre Tiefkühltruhe war gefüllt mit Plastikpäckchen mit winzigen Kadavern von Vögeln, Spitzmäusen und anderen kleinen Säugetieren, die ihr Kater mitgebracht hatte und die nun darauf warteten, seziert und ausgestopft zu werden.
»Das ist nicht nur ein Beutel«, berichtete er, während er vorsichtig den ersten öffnete und zur Seite legte. »Das sind Beutel in Beuteln.«
Der Kater, vom Geschehen angezogen, sprang auf den Tisch, um zu helfen. Er durfte nicht auf den Küchentisch. Der Kater hatte einen Namen, Schrödinger, aber den benutzten sie nie. Oliver nannte ihn Pest, was manchmal in Pesto überging. Er machte ständig schlimme Sachen, weidete Eichhörnchen und Spitzmäuse mitten in der Küche aus und ließ die glänzenden kleinen Organe, Nieren und Gedärme genau vor ihrer Schlafzimmertür liegen, sodass Ruth mit nackten Füßen drauftrat, wenn sie nachts zur Toilette musste. Sie waren ein Team, Oliver und der Kater. Wenn Oliver nach oben ging, ging der Kater auch nach oben. Wenn Oliver nach unten kam, um etwas zu essen, kam der Kater auch nach unten, um zu fressen. Wenn Oliver zum Pinkeln rausging, ging auch der Kater zum Pinkeln raus. Jetzt sah Ruth zu, wie die beiden den Inhalt der Plastikbeutel untersuchten. Sie zuckte zusammen, weil sie den Gestank eines verrottenden Picknicks oder noch Schlimmeres erwartete, das den Duft des Essens verderben würde. Linsensuppe. Es gab Linsensuppe und Salat, und sie hatte gerade den Rosmarin hineingerührt. »Könntest du deinen Müll vielleicht draußen auf der Veranda auseinandernehmen?«
»Den hast du mitgebracht«, sagte er. »Und ich glaube nicht, dass es Müll ist. Dafür ist es zu gut verpackt.« Er fuhr mit dem forensischen Entschälen fort.
Ruth schnüffelte, aber es roch nur nach Sand und Salz und Meer.
Plötzlich fing Oliver an zu lachen. »Guck, Pesto!«, sagte er. »Das ist was für dich! Eine Hello-Kitty-Lunchbox!«
»Bitte!«, sagte Ruth, nun etwas verzweifelt.
»Und da ist was drin …«
»Ich mein es ernst! Ich will nicht, dass du das hier drin auspackst. Mach das draußen –«
Aber es war schon zu spät.
Er hatte die Beutel glattgestrichen, der Größe nach aufeinandergelegt und dann den Inhalt sorgfältig in drei Sammlungen aufgeteilt: ein kleiner Stapel handgeschriebener Briefe; ein dickes, gebundenes Buch mit ausgeblichenem roten Einband; eine stabile alte Armbanduhr mit mattschwarzem Blatt und leuchtenden Ziffern. Daneben lag die Hello-Kitty-Lunchbox, die ihren Inhalt vor der Zerstörungskraft des Meeres geschützt hatte. Der Kater schnüffelte an der Lunchbox. Ruth packte ihn und setzte ihn auf dem Boden ab, dann wandte sie sich den Gegenständen auf dem Tisch zu.
Die Briefe waren offenbar auf Japanisch verfasst. Auf dem roten Einband des Buches befand sich eine französische Prägung. Die Markierungen auf der Rückseite der Uhr waren schwer zu entziffern, sodass Oliver sein iPhone herausholte und die Gravur mit der Mikroskop-App untersuchte. »Das ist, glaube ich, auch Japanisch«, sagte er.
Ruth blätterte die Briefe durch und versuchte die mit verblasster blauer Tinte geschriebenen Schriftzeichen zu erkennen. »Die Handschrift ist alt und kursiv. Sehr schön, aber ich kann kein Wort lesen.« Sie legte die Briefe zur Seite und nahm ihm die Uhr ab. »Ja«, sagte sie. »Das sind japanische Zahlen. Aber kein Datum. Yon, nana, san, hachi, nana. Vier, sieben, drei, acht, sieben. Vielleicht eine Seriennummer?«
Sie hielt sich die Uhr ans Ohr und versuchte ein Ticken zu hören, aber sie war kaputt. Sie legte sie zurück und nahm sich die leuchtend rote Lunchbox. Das Rot, das durch das verkratzte Plastik zu sehen gewesen war, hatte sie den Gefrierbeutel mit einer Feuerqualle verwechseln lassen. Wie lange war der Beutel schon im Ozean getrieben, bevor er an Land gespült wurde? Der Deckel der Lunchbox war mit einem Gummiring abgedichtet. Sie nahm das Buch in die Hand, das erstaunlich trocken war; der Stoffbezug war weich und abgegriffen, die Ecken angestoßen. Sie hielt sich den Schnitt an die Nase und inhalierte den muffigen Geruch stockiger, verstaubter Seiten. Sie betrachtete den Titel.
»A la recherche du temps perdu«, las sie. »Par Marcel Proust.«
Sie mochten Bücher, alle Bücher, aber ganz besonders die alten, und ihr Haus quoll über von Büchern. Sie lagerten überall, auf Regalen gestapelt und auf dem Boden, auf Stühlen und Treppenstufen aufgeschichtet, doch das war Ruth und Oliver egal. Ruth war Schriftstellerin, und Schriftstellerinnen, beteuerte Oliver, brauchen Katzen und Bücher. Bücher zu kaufen war ihre Entschädigung für den Umzug auf diese abgelegene Insel mitten im Desolation Sound, wo die öffentliche Bibliothek aus einem kleinen feuchten Raum über dem Gemeindesaal bestand, der immer voller Kinder war. Außer der umfangreichen und stark beanspruchten Kinderbuchabteilung und einigen populären Titeln für Erwachsene bestand die Sammlung der Bibliothek vor allem aus Büchern zu den Themen Gärtnern, Einkochen, Lebensmittelsicherheit, alternative Energiequellen, alternative Heilmethoden und alternative Schulformen. Ruth vermisste die Fülle und die Vielfalt städtischer Bibliotheken, ihre stille Weiträumigkeit. Und als Oliver und sie auf diese kleine Insel zogen, vereinbarten sie, dass sie jedes Buch bestellen durfte, das sie haben wollte – und das tat sie auch. Recherche nannte sie das, obwohl letztlich er die meisten gelesen hatte und sie nur wenige. Sie hatte sie einfach gern um sich. Neulich war ihr jedoch aufgefallen, dass die klamme Seeluft die Seiten aufquellen ließ und dass Silberfische in die Buchrücken eingezogen waren. Wenn sie ein Buch aufschlug, roch es nach Schimmel. Das machte sie traurig.
»Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, übersetzte sie den Titel, der in fleckiger Goldprägung auf den mit rotem Stoff bezogenen Buchrücken gedruckt war. »Ich hab’s nie gelesen.«
»Ich auch nicht«, sagte Oliver. »Ich glaube auch nicht, dass ich es auf Französisch versuchen werde.«
»Mm«, sagte sie zustimmend, aber dann schlug sie das Buch trotzdem auf, weil sie wissen wollte, ob sie zumindest die ersten paar Zeilen verstehen konnte. Sie erwartete ein fleckiges altes Folio, in einer altmodischen Schrift gesetzt, und war deshalb überhaupt nicht auf die jugendliche lila Handschrift gefasst, die sich über die Seite ausbreitete. Es fühlte sich wie eine Entweihung an, und es erschreckte sie so sehr, dass sie das Buch fast fallen ließ.
Gedruckte Schrift ist vorhersehbar und unpersönlich, sie übermittelt Informationen in einem mechanischen Austausch mit dem Auge des Lesers.
Handschrift dagegen widersteht dem Auge, offenbart ihre Bedeutung nur langsam und ist so intim wie Haut.
Ruth starrte die Seite an. Die lila Worte waren hauptsächlich Englisch, mit ein paar japanischen Schriftzeichen hier und da, doch ihr Auge achtete nicht so sehr auf die Bedeutung als vielmehr auf eine gefühlte Spur, unklar und emotional, der Präsenz der Schreibenden. Die Finger, die den lila Gelstift umklammert hatten, mussten einem jungen Mädchen gehört haben, einem Teenager. Ihre Handschrift, diese geschwungenen lila Zeichen, die sie auf der Seite hinterlassen hatte, hielten ihre Stimmungen und Ängste fest. Und sobald Ruth die Seite gesehen hatte, wusste sie ganz sicher, dass die Fingerspitzen des Mädchens rosa und feucht waren und dass sie ihre Fingernägel bis aufs Blut abgekaut hatte.
Ruth sah sich die Buchstaben genauer an. Sie waren rund und ein bisschen schlampig (so stellte sie sich jetzt auch das Mädchen selbst vor), doch sie standen mehr oder weniger aufrecht und marschierten tapfer und zügig über die Seite, nicht in großer Eile, aber auch nicht herumtrödelnd. Manchmal rückten sie sich zum Ende einer Zeile hin ein wenig auf die Pelle, so wie Leute, die drängeln, um noch in einen Aufzug oder in die U-Bahn zu kommen, bevor die Türen sich schließen. Ruths Neugier war geweckt. Es war eindeutig eine Art Tagebuch. Sie sah sich nochmals den Einband an. Sollte sie es lesen? Diesmal schlug sie bewusst die erste Seite auf und fühlte dabei eine leichte Erregung, wie ein heimlicher Lauscher oder ein Spanner. Schriftsteller verbringen viel Zeit damit, ihre Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken. Für Ruth war dies kein unbekanntes Gefühl.
Hallo!, las sie. Ich heiße Nao, und ich bin Sein-Zeit, ich bin Sein, und ich bin Zeit. Weißt du, was das ist …?
»Treibgut«, sagte Oliver. Er untersuchte die Rankenfüßer, die sich an der Oberfläche des äußeren Plastikbeutels angesiedelt hatten. »Ich glaub es nicht.«
Ruth blickte von der Seite auf. »Natürlich ist das Treibgut«, sagte sie. »Oder Seewurf.« Das Buch in ihrer Hand fühlte sich warm an. Sie wollte weiterlesen, hörte sich aber stattdessen fragen: »Was ist überhaupt der Unterschied?«
»Treibgut ist einfach Zeug, das im Meer herumtreibt. Seewurf wurde über Bord geworfen. Das ist eine Frage der Absicht oder nicht. Also hast du recht, vielleicht ist das Seewurf.« Er legte den Beutel zurück auf den Tisch. »Ich glaube, es geht los.«
»Was geht los?«
»Trift«, sagte er. »Die dem Orbit des Pazifikwirbels entkommt …«
Seine Augen leuchteten, und sie merkte, wie aufgeregt er war. Sie legte sich das Buch in den Schoß. »Was für ein Wirbel?«
»Es gibt elf große globale Meeresströmungen«, sagte er. »Zwei von ihnen fließen direkt von Japan aus zu uns und trennen sich kurz vor der Küste von British Columbia. Der kleinere, der Subarktische Meereswirbel, geht nach Norden zu den Aleuten-Inseln. Der größere geht nach Süden. Er wird manchmal Schildkrötenwirbel genannt, weil die Seeschildkröten auf ihm reiten, wenn sie von Japan zur Baja California wandern.«
Er beschrieb mit den Händen einen großen Kreis in der Luft. Der Kater, der auf dem Tisch eingeschlafen war, musste seine Aufregung bemerkt haben, denn er öffnete ein grünes Auge und sah ihm zu.
»Stell dir den Pazifik vor«, sagte Oliver. »Der Schildkrötenwirbel dreht sich im Uhrzeigersinn und der Subarktische Meereswirbel gegen den Uhrzeigersinn.« Er bewegte die Hände in den großen Bögen und Spiralen der Ozeanströmungen.
»Ist das dasselbe wie der Kuroshio?«
Er hatte ihr schon vom Kuroshio erzählt. Man sprach auch von der Schwarzen Strömung, die warmes tropisches Wasser aus Asien zur pazifischen Nordwestküste brachte.
Doch jetzt schüttelte er den Kopf. »Nicht ganz«, sagte er. »Wirbel sind größer. Wie eine Reihe von Strömungen. Stell dir einen Kreis aus Schlangen vor, wo jede Schlange der vor sich in den Schwanz beißt. Der Kuroshio ist eine von vier oder fünf Strömungen, die den Schildkrötenwirbel bilden.«
Sie nickte. Sie schloss die Augen und stellte sich die Schlangen vor.
»Jeder Wirbel dreht sich mit seiner eigenen Geschwindigkeit«, fuhr er fort. »Und die Dauer eines Umlaufs nennt man Ton. Ist das nicht schön? Wie Sphärenmusik. Die längste Umlaufdauer beträgt dreizehn Jahre, dadurch wird der Grundton gesetzt. Der Schildkrötenwirbel hat einen Halbton von sechseinhalb Jahren. Der Subarktische Wirbel einen Viertelton von drei Jahren. Das Treibgut, das auf den Wirbeln reitet, nennt man Trift. Trift, die in der Umlaufbahn des Wirbels bleibt, wird als Teil des Wirbelgedächtnisses bezeichnet. Wie häufig etwas davon dem Wirbel entkommt, bestimmt die Halbwertszeit von Trift …«
Er nahm die Hello-Kitty-Lunchbox und drehte sie in den Händen. »Das ganze Zeug, das der Tsunami aus den japanischen Häusern ins Meer gespült hat, wurde nachverfolgt. Es heißt, dass es an unseren Küsten angeschwemmt werden würde. Ich glaube, das passiert früher, als alle erwartet haben.«
Es gibt so viel zu schreiben. Wo soll ich anfangen?
Diese Frage habe ich meiner alten Jiko in einer SMS gestellt, und das hat sie geantwortet: 現在地で始まるべき10.
In Ordnung, meine liebe alte Jiko. Ich fange gleich hier in Fifi’s Lovely Apron an. Fifi’s ist eines von vielen Dienstmädchencafés, die vor ein paar Jahren in Akiba Electricity Town11 eröffnet wurden. Doch was Fifi’s ein wenig besonders macht, ist das Leitmotiv eines französischen Salons. Die Inneneinrichtung ist hauptsächlich pink und rot, mit goldenen, tiefschwarzen und elfenbeinfarbenen Akzenten. Die Tische sind rund und gemütlich, mit einer marmorartigen Oberfläche und Beinen, die wie aus Mahagoni geschnitzt wirken. Die dazu passenden Stühle haben Sitzflächen aus flauschigem rosa Stoff. Dunkelrote Samtrosen ziehen sich die Tapeten hinauf, und die Fenster sind mit Satin behangen. Die vergoldete Decke hängt voller Kristalllüster, und nackte kleine Kewpie-Dolls schweben wie Wolken in den Ecken. Es gibt einen Eingangs- und Garderobenraum mit Springbrunnen und der Statue einer nackten Dame, die von einem pulsierenden roten Strahler beleuchtet wird.
Ich weiß nicht, ob dieses Dekor authentisch ist oder nicht, weil ich noch nie in Frankreich war, aber ich vermute doch stark, dass es nicht viele französische Dienstmädchencafés dieser Art in Paris gibt. Das macht aber nichts. Die Atmosphäre in Fifi’s Lovely Apron ist sehr schick und intim, als steckte man in einem einzigen großen, vollgestopften Valentinsgeschenk, und die Dienstmädchen sehen mit ihren hochgeschnürten Brüsten und den Rüschenuniformen wie niedliche kleine Valentinssweethearts aus.
Leider ist es gerade ziemlich leer hier drin, abgesehen von ein paar Otaku12-Typen am Ecktisch und zwei glotzenden amerikanischen Touristen. Die Dienstmädchen stehen beleidigt aufgereiht, sie zupfen an der Spitze ihrer Petticoats und wirken gelangweilt und enttäuscht von uns, als wünschten sie sich neue und bessere Kunden, die Leben in die Bude bringen. Vor einer Weile war ein bisschen was los, als einer der Otaku ein Omurice13 mit einem großen roten Hello-Kitty-Gesicht aus Ketchup darauf bestellte. Ein Dienstmädchen, dessen Namensschild sie als Mimi ausgibt, kniete sich vor ihn, um ihn zu füttern. Sie pustete auf jeden Bissen, bevor sie ihn ihm in den Mund steckte. Die Amerikaner waren ganz aus dem Häuschen, was sehr witzig war. Das hättest du sehen müssen. Aber dann hatte er aufgegessen, Mimi nahm den dreckigen Teller mit, und jetzt ist es wieder langweilig. Die Amerikaner trinken nur Kaffee. Der Mann versucht seine Frau zu überreden, ihn sich auch ein Hello-Kitty-Omurice bestellen zu lassen, aber sie ist viel zu verklemmt. Ich habe gehört, wie sie flüsterte, das Omurice sei viel zu teuer, und da hat sie recht. Das Essen hier ist die totale Abzocke, aber ich bekomme meinen Kaffee gratis, weil ich mit Babette befreundet bin. Ich sag dir Bescheid, wenn sich die Frau locker macht und ihre Meinung ändert.
Es war nicht immer so. Als die Dienstmädchencafés noch Ninki #1!14 waren, Babette zufolge, standen die Kunden Schlange und warteten stundenlang auf einen Tisch, und die Dienstmädchen waren die hübschesten Mädchen von Tokio, und man konnte sie über dem Lärm von Electricity Town rufen hören: Okaerinasaimase, dannasama!15 Dadurch fühlen sich Männer reich und wichtig. Aber jetzt ist dieser Hype durch, Dienstmädchen sind nicht mehr in, und die einzigen Kunden sind ausländische Touristen und Otaku16 vom Land oder traurige Hentai mit einem altmodischen Faible für Dienstmädchen. Auch die Dienstmädchen sind nicht mehr so hübsch und niedlich wie früher, seit man viel mehr Geld als Krankenschwester in einem Medizincafé oder als Plüschfigur in Bedtown verdienen kann.17 Französische Dienstmädchen sind ganz klar auf dem absteigenden Ast, und alle wissen es, deshalb gibt sich keiner mehr Mühe. Man könnte das Ambiente deprimierend nennen, aber ich persönlich finde es entspannend, gerade weil sich niemand mehr anstrengt. Deprimierend wird es, wenn sich alle zu sehr anstrengen, und am deprimierendsten ist es, wenn sich alle zu sehr anstrengen und auch noch glauben, es schaffen zu können. Ich bin sicher, dass es hier früher genauso war, mit dem fröhlichen Klimpern von Glöckchen und Gelächter, mit Schlangen von Kunden vor der Tür und süßen kleinen Dienstmädchen, die den Besitzern der Cafés in den Hintern krochen, die sich mit ihren Designersonnenbrillen und Vintage-Levi’s wie Unterweltprinzen oder Computerspiel-Mogule hinfläzten. Diese Typen sind von einem ganz hohen Ross gefallen.
Mich stört das also gar nicht. Mir gefällt es sogar, weil ich immer einen Tisch in Fifi’s Lovely Apron bekomme, weil die Musik okay ist und die Dienstmädchen mich inzwischen kennen und in der Regel in Ruhe lassen. Vielleicht sollte das Café »Fifi’s Lonely Apron« heißen, Fifis einsame Schürze. Hey, das ist gut! Das gefällt mir!
Meine alte Jiko mag es, wenn ich ihr möglichst detailliert vom modernen Leben erzähle. Sie kommt nicht mehr viel raus, weil sie in einem Tempel in den Bergen mitten im Nirgendwo wohnt und sich von der Welt distanziert hat. Und außerdem ist sie einhundertundvier Jahre alt. Ich sage jedenfalls immer, dass das ihr Alter ist, aber eigentlich rate ich nur. Wir wissen nicht sicher, wie alt sie ist, und sie behauptet, sich ebenfalls nicht zu erinnern. Wenn man sie fragt, sagt sie:
»Zuibun nagaku ikasarete itadaite orimasu ne.«18
Das ist keine Antwort, also fragt man noch einmal, und sie sagt:
»Soo desu ne.19 Ich habe schon so lange nicht mehr nachgezählt …«
Dann fragt man sie, wann sie Geburtstag hat, und sie sagt:
»Hm, ich kann mich nicht erinnern, geboren worden zu sein …«
Und wenn man sie noch weiter bearbeitet und sie fragt, wie lange sie schon lebt, sagt sie:
»Ich bin schon immer hier, soweit ich mich erinnern kann.«
Na toll, Oma!
Wir wissen nur, dass es niemanden gibt, der älter ist als sie und sich erinnern könnte, und das Familienstammbuch im Bezirksamt ist bei einem Brandbombenangriff im Zweiten Weltkrieg in Flammen aufgegangen, also müssen wir ihr glauben. Vor ein paar Jahren hat sie sich auf einhundertundvier festgelegt, und dabei ist es seitdem geblieben.
Wie schon gesagt, meine alte Jiko liebt Details, und sie mag es, wenn ich ihr von all den kleinen Geräuschen und Gerüchen und Farben und Lichtern und Werbetafeln und Menschen und Moden und Zeitungsschlagzeilen erzähle, die diesen lärmenden Ozean Tokio ausmachen. Deshalb habe ich mich dazu erzogen, wahrzunehmen und zu erinnern. Ich erzähle ihr alles, von kulturellen Trends bis zu Nachrichten über Schülerinnen, die in Love Hotels vergewaltigt und mit Plastikbeuteln erstickt wurden. Oma kann man so was erzählen, es stört sie nicht. Nicht, dass es sie glücklich macht. Sie ist keine Hentai. Aber sie weiß, dass schlimme Dinge passieren, und sie sitzt da, hört zu, nickt und zählt die Glasperlen ihres Juzu20, während sie für diese armen Schülerinnen betet, für die Perversen und alle Wesen, die auf der Welt leiden müssen. Sie ist eine Nonne, das ist ihr Job. Ganz ehrlich, manchmal denke ich, der Hauptgrund, warum sie noch lebt, sind die ganzen Sachen, die ich ihr zum Beten liefere.
Einmal habe ich sie gefragt, warum sie gerne solche Geschichten hört, und sie hat erklärt, dass sie sich bei ihrer Ordination den Kopf rasiert und gelobt habe, ein Bosatsu21 zu sein. Eines ihrer Gelübde lautete, alle Wesen zu retten. Das bedeutet im Grunde, dass sie sich bereit erklärt hat, keine Erleuchtung zu erlangen, bis nicht alle anderen Wesen auf der Welt erleuchtet sind. Das ist so, als würde man erst alle anderen in einen Aufzug einsteigen lassen. Wenn man alle Wesen nimmt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Welt leben, und dann die dazurechnet, die jede Sekunde geboren werden und die, die schon gestorben sind – und nicht nur Menschen, sondern alle Tiere und anderen Lebensformen wie Amöben und Viren und vielleicht sogar Pflanzen, die je gelebt haben oder je leben werden, und dazu noch die ausgestorbenen Arten –, na ja, man kann sich vorstellen, dass das mit der Erleuchtung noch lange dauern wird. Und was, wenn der Aufzug voll ist, sich die Türen schließen und du noch draußen stehst?
Als ich Oma das fragte, rieb sie sich ihre glänzende Glatze und sagte, »Soo desu ne. Das ist ein sehr großer Aufzug …«
»Aber Oma, das dauert doch ewig!«
»Dann müssen wir uns noch mehr anstrengen.«
»Wir?!«
»Natürlich, liebe Nao. Du musst mir helfen.«
»Auf keinen Fall!«, sagte ich zu Oma. »Vergiss es! Ich bin keine verdammte Bosatsu …«
Aber sie befeuchtete sich nur ihre Lippen und klackerte mit den Juzu-Perlen, und wie sie mich durch diese dicken, schwarz gefassten Brillengläser ansah, betete sie vielleicht gerade auch für mich. Das störte mich nicht. So fühlte ich mich sicher. Ich wusste, egal was passiert, Oma würde dafür sorgen, dass ich in den Aufzug komme.
Weißt du was? In diesem Augenblick, in dem ich das schreibe, ist mir etwas klargeworden. Ich habe sie nie gefragt, wohin der Aufzug fährt. Ich schreibe ihr gleich eine SMS und frage sie. Ich sag dir dann, wie ihre Antwort lautet.
Gut, jetzt erzähle ich dir aber wirklich vom faszinierenden Leben von Yasutani Jiko, der berühmten Anarchistin-Feministin-Schriftstellerin der Taisho-Zeit, die zur buddhistischen Nonne wurde, aber erst muss ich etwas zu diesem Buch erklären, das du in der Hand hältst.22 Dir ist bestimmt schon aufgefallen, dass es nicht wie ein typisches Schulmädchentagebuch aussieht, mit Schaumstofftieren auf einem glänzenden, pinken Cover und einem Schloss in Herzform mit kleinem goldenen Schlüssel. Und als du es zum ersten Mal in die Hand genommen hast, dachtest du bestimmt nicht, »Oh, was haben wir denn da? Das schöne Tagebuch einer interessanten japanischen Schülerin. Mensch, das les ich doch mal!«, denn als du es in die Hand genommen hast, hieltst du es für ein philosophisches Meisterwerk mit dem Titel A la recherche du temps perdu, vom berühmten französischen Schriftsteller Marcel Proust, und nicht für das unbedeutende Tagebuch eines Niemands namens Nao Yasutani. Das zeigt doch, dass es stimmt, was man sagt: Ein Buch lässt sich nicht von außen beurteilen!23
Ich hoffe, du bist nicht allzu enttäuscht. Es ist so, dass Marcel Prousts Buch wie ein Computer gehackt wurde, aber nicht von mir. Ich habe es so gekauft, vorgehackt, in einer kleinen Boutique für Selbstgemachtes drüben in Harajuku24, wo sie handgefertigte Einzelstücke verkaufen, wie Häkelschals und Keitai-Hüllen und Manschettenknöpfe mit Perlen und andere coole Sachen. Handarbeiten sind gerade das große Ding in Japan, alle stricken und häkeln und fädeln Perlen auf und bauen Pepakura25, aber ich bin ziemlich ungeschickt und muss mir meine selbstgemachten Sachen kaufen, wenn ich den Trend mitmachen will. Das Mädchen, das diese Tagebücher herstellt, ist superberühmt. Sie kauft containerweise alte Bücher aus der ganzen Welt und schneidet dann sorgfältig die alten Seiten raus, um leere Blätter einzusetzen. Sie macht das so gut, dass man den Eingriff gar nicht bemerkt. Man denkt fast, die Buchstaben seien einfach von den Seiten gerutscht und auf den Boden gefallen, wie ein Haufen toter Ameisen.
Zuletzt sind mir ein paar schlimme Sachen passiert, und an dem Tag, als ich das Tagebuch gekauft habe, schwänzte ich die Schule und war besonders schlecht drauf. Deshalb bin ich zum Shoppen nach Harajuku gefahren, um bessere Laune zu bekommen. Als ich diese alten Bücher im Regal liegen sah, dachte ich erst, sie seien Dekoration und beachtete sie nicht weiter. Aber als die Verkäuferin mir ihre Verwandlung zeigte, musste ich natürlich sofort eins haben. Sie waren gar nicht billig, aber mir hat das Abgenutzte des Einbands gefallen, und ich wusste, dass es sich gut anfühlen würde, darin zu schreiben, wie ein echtes, veröffentlichtes Buch. Aber vor allem wusste ich, dass es eine hervorragende Schutzmaßnahme war.
Ich weiß nicht, ob du je das Problem hattest, verprügelt zu werden oder etwas weggenommen zu bekommen, was dann gegen dich verwendet wurde. Aber wenn ja, dann verstehst du sicher, dass dieses Buch absolut genial war, falls irgendeiner meiner blöden Klassenkameraden mal auf die Idee kommen sollte, sich mein Tagebuch zu schnappen und Sachen ins Internet zu stellen oder so was. Denn wer würde ein altes Buch mit dem Titel A la recherche du temps perdu in die Hand nehmen, oder? Meine blöden Mitschüler würden denken, dass es dabei um Juku26-Hausaufgaben ging. Die wüssten ja nicht mal, was es bedeutet.
Ehrlich gesagt, wusste ich das auch nicht, da mein Französisch nicht existent ist. Es gab eine ganze Reihe von Büchern mit verschiedenen Titeln im Angebot. Einige waren englisch, wie Great Expectations oder Gulliver’s Travels, was okay war, aber ich fand es besser, einen Titel zu nehmen, den ich nicht verstand, weil das Wissen um seine Bedeutung möglicherweise meine eigene kreative Leistung behindert hätte. Es gab auch welche in anderen Sprachen, wie Deutsch oder Russisch und sogar Chinesisch, aber ich habe mich für A la recherche du temps perdu entschieden, weil ich ahnte, dass es Französisch war, und weil Französisch cool ist und sich gebildet anfühlt, und außerdem passt das Buch genau in meine Handtasche.
Sobald ich das Buch gekauft hatte, wollte ich natürlich sofort losschreiben, also ging ich in ein Kissa27 in der Nähe und bestellte einen Blue Mountain. Dann holte ich meinen lila Lieblingstintenroller hervor und schlug die erste cremeweiße Seite auf. Ich nahm einen bitteren Schluck und wartete auf die Worte. Ich wartete und wartete, trank noch einen Schluck Kaffee und wartete weiter. Nichts. Ich rede ziemlich viel, wie du wahrscheinlich gemerkt hast, und habe eigentlich immer was zu erzählen. Aber diesmal kamen die Worte nicht, obwohl ich viel auf dem Herzen hatte. Es war seltsam, aber ich dachte, dass ich bestimmt nur von dem neuen alten Buch eingeschüchtert war und dass es vorbeigehen würde. Also trank ich den Rest Kaffee und las ein paar Mangas, und als Schulschluss war, ging ich nach Hause.
Aber am nächsten Tag versuchte ich es wieder, und es passierte dasselbe. Jedes Mal, wenn ich das Buch herausholte, starrte ich den Titel an und kam ins Grübeln. Ich meine, Marcel Proust muss ziemlich wichtig sein, wenn sogar jemand wie ich von ihm gehört hatte, auch wenn ich erst nicht wusste, wer er war, und dachte, er sei ein Starkoch oder ein französischer Modedesigner. Was, wenn sein Geist noch im Buchdeckel steckte und sauer war, dass das geschickte Mädchen einfach seine Worte und Seiten rausgeschnitten hatte? Und vielleicht hielt mich der Geist jetzt davon ab, sein berühmtes Buch dafür zu missbrauchen, über typisches dummes Schulmädchenzeug zu schreiben, wie Jungs, in die ich verknallt bin (nicht, dass ich das wäre), oder neue Klamotten, die ich haben will (meine Wunschliste ist endlos), oder meine dicken Oberschenkel (meine Oberschenkel sind eigentlich okay, aber ich hasse meine Knie). Man kann es dem Geist des alten Marcel nicht verdenken, dass es ihn richtig anpissen würde, wenn ich so blöd wäre, einen solchen Mist in sein berühmtes Buch zu schreiben.
Aber selbst wenn es seinem Geist egal wäre, würde ich das Buch nicht für so triviales Zeug verwenden, auch dann nicht, wenn dies nicht meine letzten Lebenstage wären. Aber das sind meine letzten Tage, und deshalb will ich etwas Wichtiges schreiben. Na ja, vielleicht nichts Wichtiges, weil ich nichts Wichtiges weiß, aber etwas, das den Aufwand lohnt. Ich will etwas Wahres hinterlassen.
Aber was kann ich schreiben, das wirklich ist? Klar, ich kann über die Scheiße schreiben, die mir passiert ist, und was ich über meinen Dad und meine Mom und meine sogenannten Freunde denke, aber dazu habe ich keine Lust. Immer wenn ich über mein blödes, leeres Leben nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass ich nur meine Zeit vergeude, und ich bin nicht die Einzige. Jeder, den ich kenne, macht es genauso, außer der alten Jiko. Zeit vergeuden, Zeit totschlagen, sich beschissen fühlen.
Was heißt das überhaupt, seine Zeit vergeuden? Wenn man die Zeit vergeudet, ist sie dann für immer verloren?
Und was bedeutet es, wenn die Zeit für immer verloren ist? Es ist ja nicht so, dass man dann früher stirbt, oder? Ich meine, wenn man früher sterben will, muss man das schon selbst in die Hand nehmen.
Jedenfalls gingen mir diese wirren Gedanken über Geister und Zeit jedes Mal durch den Kopf, wenn ich in Marcels Buch schreiben wollte, bis ich schließlich herauszufinden beschloss, was der Titel bedeutet. Ich fragte Babette, aber sie konnte mir nicht helfen, weil sie natürlich kein echtes französisches Dienstmädchen ist, sondern eine Schulabbrecherin aus der Präfektur Chiba. Das einzige Französisch, das sie kennt, sind ein paar sexy Sätze, die sie von diesem verschnarchten alten Französischprofessor gelernt hat, mit dem sie ein paarmal ausgegangen ist. Als ich an diesem Abend nach Hause kam, googelte ich Marcel Proust und erfuhr, dass A la recherche du temps perdu »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« bedeutet.
Komisch, oder? Ich meine, da saß ich in diesem französischen Dienstmädchencafé in Akiba und dachte über verlorene Zeit nach, und der alte Marcel Proust saß hundert Jahre zuvor in Frankreich und schrieb ein ganzes Buch über genau dasselbe Thema. Vielleicht lungerte sein Geist zwischen den Buchdeckeln und hatte sich in meinen Verstand eingehackt, oder vielleicht war es einfach ein verrückter Zufall, aber ganz egal, wie cool ist das denn? Ich finde Zufälle cool, auch wenn sie nichts bedeuten, aber wer weiß? Vielleicht tun sie’s ja! Ich behaupte nicht, dass es für alles einen Grund gibt. Es war eher so, dass ich das Gefühl hatte, mit dem alten Marcel auf derselben Wellenlänge zu sein.
Am nächsten Tag ging ich wieder ins Fifi’s und bestellte eine kleine Kanne Lapsang Souchong, den ich manchmal als Abwechslung zum Blue Mountain trinke. Und als ich so dasaß, den rauchigen Tee trank, an einem französischen Teilchen knabberte und wartete, dass mir Babette ein Date verschaffte, dachte ich nach.
Wie sucht man überhaupt nach verlorener Zeit? Das ist eine interessante Frage, also schrieb ich eine SMS an Jiko. Das tue ich immer, wenn ich auf ein philosophisches Dilemma stoße. Und dann musste ich sehr, sehr lange warten, bis endlich mein Keitai einen kleinen Ton von sich gab, der mir sagte, dass sie zurückgeschrieben hatte. Sie schrieb dies:
(あるときや
ことのはもちり
おちばかな28
was so etwas bedeutet wie:
In der Zeit des Seins
Verstreuen sich Worte …
Sind es gefallene Blätter?
Ich verstehe nicht viel von Lyrik, aber als ich Jikos Gedicht las, hatte ich das Bild eines großen, alten Ginkgobaums vor Augen, der auf dem Gelände ihres Tempels steht.29 Die Blätter haben die Form kleiner grüner Fächer, und im Herbst werden sie leuchtend gelb, fallen ab und bedecken den Boden, sodass alles wie pures Gold aussieht. Mir kam der Gedanke, dass dieser große alte Baum Sein-Zeit ist und dass auch Jiko Sein-Zeit ist, und ich stellte mir vor, wie ich unter dem Baum nach der verlorenen Zeit suchte und die gefallenen Blätter durchkämmte, die ihre verstreuten goldenen Worte waren.
Die Idee der Sein-Zeit stammt aus einem Buch mit dem Titel Shōbōgenzō, das ein alter Zen-Meister namens Dōgen Zenji vor ungefähr achthundert Jahren geschrieben hat. Damit ist er noch älter als die alte Jiko oder sogar Marcel Proust. Dōgen Zenji ist einer von Jikos Lieblingsautoren, und er hat das Glück, dass seine Bücher immer noch wichtig sind und gelesen werden. Leider ist alles, was Jiko geschrieben hat, nicht mehr lieferbar, sodass ich ihre Worte nie gelesen habe. Aber sie hat mir viele Geschichten erzählt, und mir kam der Gedanke, dass auch Worte und Geschichten Sein-Zeit sind, und dann kam mir plötzlich die Idee, Marcel Prousts wichtiges Buch zu benutzen, um das Leben meiner alten Jiko aufzuschreiben.
Nicht nur, weil Jiko die wichtigste Person ist, die ich kenne, obwohl das auch eine Rolle spielt. Und nicht nur, weil sie unfassbar alt ist und schon auf der Welt war, als Marcel Proust gerade sein Buch über die Zeit schrieb. Das war sie vielleicht, aber auch das ist nicht der Grund. Der Grund, warum ich über sie in A la recherche du temps perdu schreiben wollte, ist, dass sie die einzige Person ist, die ich kenne, die Zeit wirklich versteht.
Die alte Jiko geht supervorsichtig mit ihrer Zeit um. Sie tut alles ganz, ganz langsam, selbst wenn sie bloß auf der Veranda sitzt und den Libellen zusieht, die träge um den Gartenteich kreisen. Sie sagt, sie tue alles ganz, ganz langsam, um die Zeit zu dehnen, sodass sie mehr davon hat und länger lebt. Und dann lacht sie, damit ich merke, dass sie einen Witz gemacht hat. Ich meine, sie weiß genau, dass die Zeit nicht etwas ist, das man verstreichen und ausbreiten kann wie Butter oder Marmelade, und dass der Tod nicht so lange warten wird, bis man mit dem, was man gerade tut, fertig ist, bevor er zuschlägt. Das ist der Witz, und sie lacht, weil sie es weiß.
Aber eigentlich finde ich das nicht besonders witzig. Obwohl ich nicht weiß, wie alt die alte Jiko wirklich ist, ist mir klar, dass sie ziemlich bald sterben wird, auch wenn sie nicht damit fertig ist, die Tempelküche zu fegen oder im Daikon-Beet Unkraut zu jäten oder frische Blumen auf dem Altar anzuordnen. Und wenn sie tot ist, ist das ihr Ende, zeitlich gesehen. Sie kümmert das überhaupt nicht, aber mich kümmert es sehr. Dies sind die letzten Tage, die die alte Jiko auf der Erde verbringt, und ich kann nichts daran ändern, und ich kann nichts tun, um das Fortschreiten der Zeit anzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen. Und jede Sekunde des Tages ist eine weitere verlorene Sekunde. Sie würde mir wahrscheinlich nicht zustimmen, aber so sehe ich das.
Es macht mir nichts aus, mir eine Welt ohne mich vorzustellen, weil ich ganz gewöhnlich bin. Aber ich hasse den Gedanken an eine Welt ohne die alte Jiko. Sie ist absolut einzigartig und besonders, wie die letzte Galapagosschildkröte oder irgendein anderes altes Tier, das über die verbrannte Erde hinkt und das letzte seiner Art ist. Aber lass uns gar nicht erst vom Artensterben anfangen, denn das ist ein total deprimierendes Thema, und dann müsste ich auf der Stelle Selbstmord begehen.
Okay, Nao. Warum tust du das? Was soll das?
Ich habe ein Problem. Der einzige Grund, der mir einfällt, warum ich Jikos Lebensgeschichte in diesem Buch aufschreiben sollte, ist, dass ich sie liebe und sie nicht vergessen will, aber ich habe selbst nicht vor, noch lange zu bleiben, und ich kann mich ja schlecht an ihre Geschichten erinnern, wenn ich tot bin, oder?
Und wen außer mir würde das Ganze interessieren? Ich meine, wenn ich dächte, dass alle Welt sich für die alte Jiko interessiert, würde ich ihre Geschichten in einem Blog posten, aber damit habe ich vor einer Weile aufgehört. Als ich mich dabei erwischte, so zu tun, als würde sich jeder da draußen im Internet für meine Gedanken interessieren, obwohl es eigentlich allen scheißegal war, machte mich das traurig.30 Und als ich diese Traurigkeit mit all den Millionen Menschen in ihren einsamen kleinen Zimmerchen multiplizierte, die wie wild schreiben und auf ihren kleinen, vereinsamten Websites posten, die zu lesen niemand Zeit hat, weil alle so mit Schreiben und Posten beschäftigt sind31, brach mir fast das Herz.
Es ist so, dass ich gerade sozial nicht besonders gut vernetzt bin, und die Leute, mit denen ich Zeit verbringe, interessieren sich nicht für eine einhundertundvier Jahre alte buddhistische Nonne, auch wenn sie eine Bosatsu ist, die E-Mails und SMS schreiben kann. Das auch nur, weil ich sie dazu gebracht habe, einen Computer zu kaufen, damit wir in Kontakt bleiben können, wenn ich in Tokio bin und sie in ihrem verfallenden, alten Tempel auf einem Berg im Nirgendwo. Sie ist nicht gerade verrückt nach neuer Technik, aber sie macht das ganz gut für Sein-Zeit mit grauem Star und Arthritis in beiden Daumen. Die alte Jiko und Marcel Proust stammen aus einer noch unvernetzten Zeit, und das ist eine heute total verlorene Zeit.
Hier sitze ich also, in Fifi’s Lonely Apron, starre die leeren Seiten an und frage mich, warum ich mir die Mühe mache, als ich plötzlich von einer grandiosen Idee umgehauen werde. Bereit? Hier ist sie:
Ich werde alles, was ich über Jikos Leben weiß, in Marcels Buch schreiben, und wenn ich fertig bin, lasse ich’s einfach irgendwo liegen, damit du es findest!
Wie cool ist das denn? Es ist, als würde ich in der Zeit vorgreifen und dich berühren, und jetzt, da du es gefunden hast, greifst du zurück und berührst mich!
Wenn du mich fragst, ist das unfassbar cool und wunderschön. Wie eine Flaschenpost, die auf dem Ozean von Zeit und Raum schwimmt. Absolut persönlich und auch wirklich, direkt aus der unvernetzten Welt von Jiko und Marcel. Das ist das Gegenteil eines Blogs. Das ist ein Antiblog, weil es nur für eine bestimmte Person gedacht ist, und diese Person bist du. Und wenn du bis hierher gelesen hast, verstehst du wahrscheinlich, was ich meine. Verstehst du’s? Fühlst du dich schon wie etwas Besonderes?
Ich warte einfach ein bisschen, ob du darauf antwortest …
War nur ein Witz. Ich weiß, du kannst nicht antworten, und jetzt komme ich mir dumm vor, denn was, wenn du dich nicht wie etwas Besonderes fühlst? Das war eine Unterstellung von mir, oder? Was, wenn du mich bloß für eine Idiotin hältst und mich in den Müll schmeißt, wie all die jungen Mädchen, von denen ich der alten Jiko erzähle, die von Perversen getötet, in Stücke gehackt und in Müllcontainer geworfen werden, bloß weil sie den Fehler begangen haben, mit dem falschen Typen auszugehen? Das wäre wirklich traurig und schrecklich.
Oh, mir kommt noch ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn du das hier überhaupt nicht liest? Was, wenn du das Buch nie gefunden hast, weil es jemand in den Müll oder ins Altpapier geworfen hat, bevor es dich erreichen konnte? Dann sind die Geschichten der alten Jiko wirklich für immer verloren, und ich sitze nur hier und vergeude Zeit damit, mit dem Inneren eines Müllcontainers zu sprechen.
Hey, antworte mir! Stecke ich in einer Mülltonne fest oder nicht?
War nur ein Witz. Schon wieder.
Okay, ich habe mich entschieden. Das Risiko stört mich nicht, denn das Risiko macht es noch interessanter. Und die alte Jiko wird es, glaube ich, auch nicht stören, denn sie ist Buddhistin. Sie versteht das Wesen der Vergänglichkeit und dass sich alles verändert und nichts ewig bleibt. Der alten Jiko wird es wirklich egal sein, ob ihre Lebensgeschichten aufgeschrieben werden oder verlorengehen, und vielleicht habe ich ein bisschen dieser Laissez-faire-Einstellung von ihr übernommen. Wenn es so weit ist, kann ich einfach loslassen.
Oder auch nicht. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es mir, wenn ich die letzte Seite geschrieben habe, peinlich oder ich schäme mich, das Buch herumliegen zu haben, sodass ich kneife und es stattdessen zerstöre.
Hey, wenn du das hier nicht liest, weißt du, dass ich ein Feigling bin! Ha ha.
Und was den Geist des alten Marcel angeht, der vielleicht sauer sein könnte, habe ich entschieden, mir keine Sorgen zu machen. Als ich Marcel Proust gegoogelt habe, bin ich auch auf seinen Amazon-Verkaufsrang gestoßen. Ich konnte nicht glauben, dass seine Bücher immer noch nachgedruckt werden, und je nach Ausgabe von A la recherche du temps perdu belegt er einen Rang zwischen Platz 13 695 und 79 324. Das ist kein Bestseller, aber gar nicht schlecht für einen Toten. Ich will damit sagen, dass dir der alte Marcel nicht allzu sehr leidtun muss.
Ich weiß nicht, wie lange ich für dieses ganze Projekt brauchen werde. Vermutlich Monate. Da sind jede Menge leerer Seiten, und Jiko hat viele Geschichten zu erzählen, und ich schreibe ziemlich langsam, aber ich werde mich wirklich anstrengen. Vielleicht wird Jiko, wenn ich die letzte Seite gefüllt habe, bereits tot sein, und dann ist auch meine Zeit gekommen.
Ich weiß, dass ich unmöglich jedes Detail aus Jikos Leben aufschreiben kann. Wenn du also mehr erfahren willst, musst du ihre Bücher lesen, falls du sie auftreiben kannst. Wie schon gesagt, ihre Sachen sind nicht mehr lieferbar, und es ist gut möglich, dass irgendein geschicktes Mädchen schon ihre Seiten herausgeschnitten und all ihre goldenen Worte neben die von Proust ins Altpapier geworfen hat. Das wäre wirklich traurig, denn die alte Jiko hat gar keinen Verkaufsrang bei Amazon. Das weiß ich, weil ich nachgesehen habe. Sie taucht dort gar nicht auf. Hm. Ich muss dieses Konzept des Bücherzerstückelns noch mal überdenken. Vielleicht ist es doch nicht so cool.
10Genzaichi de hajimarubeki – »Fang an, wo du bist.« Genzaichi wird auf Karten verwendet: Sie befinden sich hier.
11Akihabara (秋葉原) – ein Stadtteil von Tokio, der für Elektronikartikel bekannt ist, das Zentrum der japanischen Manga-Fankultur.
12otaku (お宅) – zugleich die förmliche Anrede Sie. 宅 bedeutet »Haus«, und mit dem förmlichen お heißt es wörtlich Ihr ehrenwertes Haus. Das impliziert, dass Sie weniger eine Person sind als ein Ort, der räumlich verankert und überdacht ist. Wie passend, dass das Stereotyp des modernen Otaku ein Stubenhocker ist, ein besessener Einzelgänger und Sonderling, der selten sein Haus verlässt.
13omuraisu (オム・ライス – ein Omelett, gefüllt mit Pilawreis und mit Tomatenketchup und Butter gewürzt
14ninki nanba wan! – das Beliebteste überhaupt
15Okaerinasaimase, dannasama! – »Willkommen zu Hause, Meister!«
16 … weil das Wort otaku eine Höflichkeitsform ist, wenn es als Pronomen in der zweiten Person verwendet wird, schafft es eine Art förmlicher sozialer Distanz zwischen Sprecher und dem angesprochenen Sie. Diese Distanz ist üblicherweise respektvoll, aber kann auch ironisch oder spöttisch sein.
17 Ich finde keine Hinweise auf Medizincafés oder Bedtown. Denkt sie sich das aus?
18Zuibun nagaku ikasarete itadaite orimasu ne – »Ich lebe schon seit langer Zeit, oder?« Völlig unübersetzbar, aber es geht in diese Richtung: Ich lebe durch die tiefen Verhältnisse des Universums und dafür bin ich demütig und zutiefst dankbar. P. Arai spricht vom »Dankbarkeits-Tempus« und sagt, die Schönheit dieser grammatikalischen Konstruktion bestehe darin, dass »nicht mit dem Finger auf eine Quelle gezeigt« werde. Sie sagt auch, es sei »unmöglich, wütend zu sein, wenn man diesen Tempus benutzt«.
19Sō desu ne … – »Hm, ja, stimmt vermutlich …«
20juzu (数珠) – ein buddhistischer Rosenkranz
21bosatsu (菩薩) – Bodhisattva, Erleuchtungswesen, buddhistische Heilige
22 Ein kräftiger, kompakter Schinken, vielleicht ein Crown Octav, in etwa in den Maßen 127 × 190 mm.
23 Der Einband ist abgenutzt und aus rotem Leinen. Der Titel ist in fleckigen Goldbuchstaben vorne und auf den Buchrücken geprägt.
24 Harajuku (原宿) – ein Teil von Tokio, der für Jugendkultur und Street Fashion bekannt ist.
25peipaakura (ペーパー・クラ) – Kartonmodelle, vom englischen paper + craft
26juku (塾) – Paukschule
27kissa (喫茶) – Café
28Aru toki ya / Koto no ha mo chiri / Ochiba ka na
aru toki ya – jene Zeit, irgendwann, einstweilen (有る時や). Dasselbe Kanji wird für Uji (有時) verwendet.
koto no ha – wörtlich »Blätter der Sprache« (言 の 葉). Dasselbe Kanji wird für kotoba (言葉) verwendet und bedeutet »Wort«.
ochiba – gefallene Blätter, mit einer Anspielung auf ha (葉), was an fallende Worte denken lässt
ka na – ein Fragewort, das Verwunderung ausdrückt.
29 Ginkgoblätter werden als Tee zur Stärkung des Gedächtnisses verwendet. Ginkgobäume wurden oft bei buddhistischen Tempeln gepflanzt, um den Mönchen beim Auswendiglernen der Sutras zu helfen.
30 »Ich denke immer, dass es allen scheißegal ist«, sagte Oliver. »Ist das traurig? Ich find’s nicht traurig.«
31 »Sobald der Schriftsteller in jedem Individuum erwacht (und es wird bald so weit sein), steht uns ein Zeitalter der umfassenden Taubheit und der Verständnislosigkeit bevor.« Milan Kundera, Das Buch vom Lachen und Vergessen, Frankfurt am Main 1980.
Der Kater war auf Ruths Schreibtisch geklettert und bereitete einen strategischen Vorstoß auf ihren Schoß vor. Sie hatte im Tagebuch gelesen, als er von der Seite gekommen war, seine Vorderpfoten auf ihre Knie gelegt und seine Nase unter den Buchrücken gesteckt hatte, um es aus dem Weg zu schubsen. Sobald das geschafft war, ließ er sich auf ihrem Schoß nieder und fing an, seinen Kopf in ihre Hand zu drücken. Er war so lästig. Ständig forderte er Aufmerksamkeit ein.
Sie klappte das Tagebuch zu und legte es auf den Schreibtisch, während sie dem Kater den Kopf streichelte. Doch selbst nachdem sie das Buch weggelegt hatte, spürte sie ein seltsames und anhaltendes Gefühl der Dringlichkeit … aber Dringlichkeit, was zu tun? Dem Mädchen zu helfen? Es zu retten? Lächerlich.
Als sie mit dem Tagebuch angefangen hatte, wollte sie es zunächst zügig bis zum Ende durchlesen, doch die Handschrift des Mädchens war oft nur schwer zu entziffern, und ihre Sätze waren voller Slang und faszinierender umgangssprachlicher Ausdrücke. Es war Jahre her, dass Ruth in Japan gelebt hatte. Sie konnte sich noch immer passabel verständigen, doch ihr Vokabular war veraltet. An der Universität hatte Ruth japanische Klassiker studiert – Die Geschichte vom Prinzen Genji, No-Theater, Das Kopfkissenbuch –, jahrhunderte- oder sogar jahrtausendealte Literatur. Aber die japanische Popkultur kannte sie nur sehr flüchtig. Manchmal bemühte sich das Mädchen um eine Erklärung, aber oft hielt sie sich nicht damit auf. Also begann Ruth im Internet nachzuforschen und die Verweise des Mädchens zu überprüfen. Bald hatte sie ihr altes Kanji-Wörterbuch herausgeholt und übersetzte und kommentierte und kritzelte Anmerkungen über Akiba und Dienstmädchencafés, Otaku und Hentai. Und dann war da noch die anarchistische, feministische, Zen-buddhistische Schriftstellernonne.
Sie beugte sich vor und suchte bei Amazon nach Jiko Yasutani, aber sie fand nichts, wie von Nao vorhergesagt. Sie googelte nach Nao Yasutani, wieder kein Ergebnis. Verärgert über ihre Ruhelosigkeit und den Mangel an Aufmerksamkeit, verließ der Kater ihren Schoß. Er mochte es nicht, wenn sie am Computer saß und ihre Finger zum Tippen und Scrollen verwendete, anstatt ihn am Kopf zu kraulen. Seiner Meinung nach war das eine Verschwendung zweier gut zu gebrauchender Hände, und so machte er sich auf die Suche nach Oliver.
Bei Dōgen hatte sie mehr Glück. Sein Meisterwerk, Shōbōgenzō oder Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, hatte es auf einen Verkaufsrang bei Amazon geschafft, wenn auch weit entfernt von dem Prousts. Natürlich hatte er im frühen dreizehnten Jahrhundert gelebt, war also fast 700 Jahre älter als Proust. Als sie nach »Sein-Zeit« suchte, erfuhr sie, dass der Begriff in der Überschrift des elften Kapitels von Shōbōgenzō verwendet wurde, und sie stieß im Netz auf etliche Übersetzungen und Kommentare. Der alte Zen-Meister hatte eine nuancierte und komplexe Vorstellung von Zeit, die sie poetisch fand, aber auch ein wenig rätselhaft. Die Zeit ist schon Sein, schrieb er, und alles Sein ist Zeit … Das Wesentliche ist deshalb: Alles, was in diesem ganzen All existiert, ist eine Kette von Augenblicken, und gleichzeitig für sich allein bestehende Augenblicke der Zeit.