Die letzte Fähre - Vonne van der Meer - E-Book

Die letzte Fähre E-Book

Vonne van der Meer

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Beschreibung

Eine neue Saison hat begonnen und im Ferienhaus "Dünenrose" tummeln sich die ersten Urlauber. Die Putzfrau ist dabei durch nichts aus der Ruhe zu bringen: sie kennt die Marotten der Leute. Als die Frau in der roten Strickjacke plötzlich wieder auftaucht, zieht das aber doch einige Aufregung nach sich. Nicht weniger turbulent geht es in den folgenden Wochen zu. Da kommt eine alleinerziehende Mutter, die sich von den erotischen Verwirrungen ihres ältesten Sohnes anstecken lässt und nicht bemerkt, was ihr Jüngster heimlich in der blauen Kammer treibt. Auch Martine, die wir bereits aus den "Inselgästen" kennen, kehrt in das Häuschen zurück. Sie erwartet den neuen Geliebten und ist erschüttert, als die Mutter ihr ein lange gehütetes Geheimnis offenbart ...

"Was uns an den Geschichten anrührt, sind die sehr feine Zeichnung der Charaktere und die eindringliche Schilderung von Erlebnissen, die leicht unsere eigenen sein könnten." FAZ.

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Über Vonne van der Meer

Die dänische Autorin Vonne van der Meer, geboren 1952, veröffentlichte mehrere Romane: »Inselgäste«, »Die letzte Fähre«, »Abschied von der Insel«, »Was du nicht willst« und »Inselliebe«. In den Niederlanden ist jedes ihrer Bücher ein großer Erfolg, auch hierzulande avancierten sie zu geheimen Bestsellern.

Informationen zum Buch

Eine neue Saison hat begonnen, und im Ferienhaus »Dünenrose« tummeln sich die ersten Urlauber. Die Putzfrau ist dabei durch nichts aus der Ruhe zu bringen: sie kennt die Marotten der Leute. Als die Frau in der roten Strickjacke plötzlich wieder auftaucht, zieht das aber doch einige Aufregung nach sich. Nicht weniger turbulent geht es in den folgenden Wochen zu. Da kommt eine alleinerziehende Mutter, die sich von den erotischen Verwirrungen ihres ältesten Sohnes anstecken lässt und nicht bemerkt, was ihr Jüngster heimlich in der blauen Kammer treibt. Auch Martine, die wir bereits aus den »Inselgästen« kennen, kehrt in das Häuschen zurück. Sie erwartet den neuen Geliebten und ist erschüttert, als die Mutter ihr ein lange gehütetes Geheimnis offenbart.

»Was uns an den Geschichten anrührt, sind die sehr feine Zeichnung der Charaktere und die eindringliche Schilderung von Erlebnissen, die leicht unsere eigenen sein könnten.« FAZ.

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Vonne van der Meer

Die letzte Fähre

Roman

Aus dem Niederländischen von Arne Braun

Inhaltsübersicht

Über Vonne van der Meer

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Impressum

Ich habe es wieder geschafft. Alles ist sauber, alles funktioniert. Die Matten sind ausgeklopft, die Gardinen hängen gebügelt vor den Fenstern; in die Lampe über dem Eßtisch habe ich eine neue Birne gedreht. Das Haus riecht noch ein bißchen nach Spiritus. Nicht wie eine zu stark parfümierte Dame, sondern genau richtig.

Nun also meine letzte Runde. Noch einmal gehe ich durch »Dünenrose«, mit Gästeaugen. Zuerst nach oben, in das blaue Zimmer unter dem Dach. Bettys Zimmer, nenne ich es. Betty und Herman Slaghek kommen bestimmt wieder, drei Wochen im Mai, schon zum fünften Mal. Dann die Treppe hinunter, die Stufen hat mein Nachbar diesen Winter gestrichen. Ich habe Herrn Dünenrose nicht um Erlaubnis gefragt, der überläßt doch alles mir. Später habe ich ihm eine Rechnung für die Farbe geschickt, und Bart hat natürlich nichts gekostet. Es sah schimmlig aus, die weiße Farbe hatte sich im Laufe der Jahre völlig abgetreten, als ob manche Leute nichts Besseres zu tun haben, als den ganzen Urlaub die Treppe rauf und runter zu rennen.

Unten habe ich eine feste Route, schon solange ich hierher komme. Ich beginne im Kinderzimmer neben der Eingangstür, dann in die Küche, durchs Wohnzimmer zum Elternschlafzimmer an der Seite des Hauses. Hebe die Vorhänge an, ob nicht irgendwo eine tote Spinne liegt. Die Toilette brauche ich nicht noch ein letztes Mal zu inspizieren, denn vor lauter Nervosität muß ich immer, als ob ich verreisen würde.

Wenn ich alles kontrolliert habe, gehe ich Schach spielen. An mir ist ein wahrer Großmeister verlorengegangen. Wo sollen die Blumen hin, auf den Eßtisch? Oder doch lieber auf den Couchtisch bei den Flügeltüren, so daß das Licht darauf fällt? Lege ich die Sirupwaffeln, die ich für die Gäste gekauft habe, in die Dose oder auf die Anrichte? Und das Gästebuch? Zwischen die ersten leeren Seiten dieser Saison stecke ich dieses Buchenblatt hinein, fast zerfallen. Es besteht nur noch aus Umriß und Nerven und dazwischen einem durchsichtigen Gespinst, so stark wie dickes Papier. Ich sah es zufällig, als ich den Mops meiner Tochter im Wald hinter dem Hafen ausführte. Dort stehen überhaupt keine Buchen. Das Blatt muß von der anderen Seite der Insel herübergeweht sein, damit ich es finden konnte. Noch ein letzter Blick durch die Durchreiche in die Küche, die Streichhölzer liegen neben dem Herd, der Kühlschrank ist zu, Zucker, Tee …

Meine Aufgabe ist erledigt. Zeit zu gehen … nein, noch nicht, ich will noch einmal hinauf. Warum eigentlich? Ich habe dort nichts mehr zu suchen, da war ich schon. Alles sieht wunderbar aus, aber ich kann es nicht lassen. Ich will noch einmal die neue Treppe hinuntergehen, es genießen, wie schön die Stufen glänzen, wenn ich das Flurlicht anknipse, schau nur …

Was ist denn das da, auf der Ablage über der Garderobe? Ein Paar Handschuhe? Schon komisch, daß sie mir jetzt erst auffallen: ein Paar Damenhandschuhe, solche, wie man sie kaum noch sieht. Unten braunes Leder und eine gehäkelte Oberseite aus beiger Baumwolle, Autohandschuhe, ja, so nennt man das.

Die Leute lassen öfter mal was liegen, aber meistens sehe ich es sofort, wenn ich hereinkomme. Steht kein Name drin oder drauf, bewahre ich es auf. Hat nach ein paar Monaten noch niemand angerufen oder geschrieben, suche ich eine Verwendung dafür. Schirme, Schals, Sonnenbrillen, ich finde immer jemanden, und häufig bin ich dieser Jemand selbst. Was ist denn jetzt los, ich glaub, ich fange an zu schrumpfen. Früher brauchte ich mich nicht auf die Zehenspitzen zu stellen, um etwas von der Ablage zu nehmen.

Im nachhinein verstehe ich nicht, warum ich sie unbedingt anprobieren mußte. Ich hätte doch mit einem Blick sehen können, daß sie sehr schön, aber auch viel zu klein waren, solche feinen Hände habe ich nicht. Trotzdem zog ich mir schnell den rechten Handschuh über, wie die Stiefschwester von Aschenputtel, die ihren plumpen Fuß in den gläsernen Pantoffel zu zwängen versuchte. Noch ehe meine Finger drin waren, fühlte ich es: ein Stück Papier.

Ich kenne diese Gewohnheit, stecke selbst auch manchmal einen zusammengelegten Umschlag mit einer Adresse oder einen Garantieschein in meinen Handschuh, nur war das hier dicker. Ich fischte es heraus und erkannte es sofort: dasselbe cremefarbene Papier wie im Gästebuch. Sieben fest zusammengefaltete Blätter, während ich sie glattstrich, dämmerte es mir. Ich brauchte das Gästebuch nicht zu holen, um mich zu erinnern, daß in der letzten Saison eine ganze Reihe von Seiten verschwunden war. Herausgerissen, vom letzten Gast. Darüber war ich damals ziemlich sauer. Und bin es immer noch. Ich verstehe so was einfach nicht. Daß jemand einen Klecks macht, sich verschreibt, okay, aber so viele Seiten. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was da gestanden haben könnte, bin sogar noch einmal zurückgegangen, um im Scrabblekarton nachzusehen, ob sie zum Punktezählen gebraucht worden waren. Erst als ich den Karton wieder zumachte, bedachte ich: Gegen wen hätte sie denn spielen sollen? Soweit ich weiß, war sie hier mutterseelenallein. Es war Ende September, die Saison war fast vorbei.

Es hat mich den ganzen Winter nicht mehr losgelassen. Was stand da, das dann doch nicht gelesen werden durfte, von niemandem? Und letzteres hätte ich mir vorhin auch überlegen sollen, bevor ich ans Fenster ging, meine Lesebrille aufsetzte und die Seiten glattstrich. Ich hatte sie gelesen, ehe ich mich’s versah: Ich bin auf die Insel gekommen, um ein paar Tage allein zu sein, und nun habe ich das dringende Bedürfnis zu reden, brabbele hier auch viel öfter vor mich hin als zu Hause. Ist es die Stille, die Stille eines fremden Hauses, mit anderen Geräuschen?

Jetzt, wo ich es zum zweiten Mal lese, das von der Stille und was sie alles dabei denkt, nicke ich wieder. Mir geht es auch so. Wenn ich in diesem Haus bin, fange ich automatisch an zu reden. Als ob noch etwas von all diesen Leuten in den Zimmern hängen würde, ein Treffen früherer Gäste. Es ist, als ob ich sie hören würde, die Frau in Rot. Ich sehe sie vor mir – eine hübsche Erscheinung, sehr dunkles Haar mit einer schlohweißen Locke vorn – wie sie da saß, auf der Terrasse, und immer wieder aufsprang und unruhig hin und her flatterte. Ich fand sie nur so mager, Haut und Knochen. Jetzt weiß ich, woher das kommt … Vielleicht kann man ja doch noch etwas machen, gibt es keine Metastasen, und ich sitze nächstes Jahr wieder hier …

Wenn ich wollte, könnte ich Herrn Dünenrose um eine Liste mit den Gästen vom vorigen Jahr und denen, die dieses Jahr erwartet werden, bitten. Er führt Buch über alle Namen, jahraus, jahrein. Aber auch ohne diese Liste weiß ich es: Sie kommt nicht wieder. Sie wollte nichts lieber, als auf die Insel zurückkehren, sie war nirgendwo so glücklich wie hier, aber sie wußte es selbst auch: es war das letzte Mal. Sie klagt nicht, doch zwischen den Zeilen lese ich, was für Schmerzen sie hatte. Wie ist es möglich, daß ich das nicht wußte? Habe ich sie richtig angesehen? Sie hat meinen Gruß immer erwidert, wenn ich ihr zuwinkte … erwartete sie vielleicht etwas von mir?

All diese Fragen spuken mir im Kopf herum, und ich kann sie nicht einfach durch kräftiges Lüften herauswehen lassen. Ich hätte sehen müssen, wie schlecht es ihr ging, dann hätte ich vielleicht etwas für sie tun können. Tue ich denn überhaupt genug für die Gäste? Soll ich mir angewöhnen zu klingeln, am zweiten oder dritten Tag? Fragen, wie es ihnen geht, ob sie verstanden haben, wie der Durchlauferhitzer funktioniert, ob genug Decken da sind, ob nicht zufällig jemand eine schleichende Krankheit hat?

Ich habe mich immer glücklich geschätzt, diese Arbeit hier machen zu können; indem ich »Dünenrose« am Anfang der Saison sauber übergebe, sorge ich auch ein wenig für die Gäste. Die meisten Leute können heutzutage kaum erklären, was für eine Arbeit sie tun, aber für mich ist es klar: sauber ist sauber. Ansonsten sehe ich hin und wieder nach dem Rechten, ich fahre mal vorbei, nicke, denn man ist erst dann richtig an einem neuen Ort angekommen, wenn einen jemand grüßt. Die Kinder sind schon seit Jahren aus dem Haus, und so habe ich doch noch etwas, um das ich mich kümmern kann.

Aber nun schaue ich dauernd zum Eßtisch und stelle mir vor, daß sie dort an jenem letzten Morgen vor ihrer Abreise unter der Lampe gesessen und wie eine Wilde geschrieben hat, diese Nachteule in ihrer roten Strickjacke. Sie behauptet zwar, daß sie schreiben muß, jetzt oder nie, aber vielleicht wäre es ihr doch lieber gewesen, wenn ihr mal jemand zugehört hätte. Etwas erwidert hätte. Jetzt geht es nicht mehr. Was soll ich mit all diesen Erinnerungen an ihre Mutter, an ihre Kinder, an ihren Edu? Was soll ich mit Gedanken, die niemand kennen durfte, oder wollte sie insgeheim doch, daß sie gelesen werden? Wie hätte sie die Handschuhe sonst vergessen können? Wo steht es … Niemand wird dies jemals lesen, und doch will ich es geschrieben haben.

Sie konnte nicht wissen, daß ich die Seiten finden würde. Jemand, dem es schwerfällt, etwas wegzuwerfen. Mit letzter Kraft hat sie auf dem Papier ihr Herz ausgeschüttet, und das soll ich dann im Kamin verbrennen? Das bringe ich nicht fertig. Ich würde das Gefühl haben, etwas in die Flammen zu werfen, das noch atmet. Zu unserer Hochzeit habe ich eine Kachel mit einem Spruch geschenkt bekommen: »Vom Konzert des Lebens kennt niemand das Programm«, und was sie hier schreibt, ist mindestens genauso wahr. Eigentlich hat der Mensch nichts, außer einem Namen, und irgendwie habe ich das auf der Insel immer besser verstanden. Weil mir hier auch nichts gehört. Nichts von dem, was ich so genieße, kann ich mein eigen nennen.

Ich falte die Seiten zusammen, stecke sie in den Handschuh zurück, die Handschuhe tief in meine Manteltasche, bis ich weiß, was ich damit machen soll. Jetzt muß ich mich doch wieder beeilen. Na los, den Ofen auf Sparflamme, das Gästebuch nicht auf den Sims, aber wohin dann …? Auf den Couchtisch, neben den gläsernen Aschenbecher in Form eines Seesterns, ein Geschenk von einem Gast, der durch einen Terrassenstuhl gebrochen war. Ein eigenartiges Ding, man muß hinschauen. Wer diesen Aschenbecher sieht, sieht automatisch auch das Gästebuch – es geht gar nicht anders – , schlägt es auf, findet das durchsichtige Buchenblatt und denkt: Ach, wie schön …

I

Er hatte das Haus für eine Woche gemietet, wußte aber nicht, ob er so lange bleiben würde. Obwohl er noch nie in »Dünenrose« gewesen war, hatte er eine genaue Vorstellung, wie es sein würde, die Tür aufzumachen und das Haus zum ersten Mal zu betreten. Diese Erwartung bezog sich nicht auf die Einrichtung oder die Aussicht …, sondern darauf, wie er sich dort fühlen würde.

Wochenlang hatte er diesem Moment entgegengefiebert, wie einem Kuß, und seine Hand zitterte vor Erregung, als er den Schlüssel unter der Fußmatte hervorholte. Ich bin ja wie ein alter Knacker, dachte er. Er war schon seit Jahren in Rente, ruderte aber noch jeden Morgen auf seinem Hometrainer, und im letzten Winter, als es wieder einmal kräftig gefroren hatte, war er kilometerweit Schlittschuh gelaufen.

Als er den schmalen Flur betrat, seinen Koffer und eine Plastiktüte mit Wochenendeinkäufen unter der Garderobe abstellte und auf die geschlossenen Türen schaute, fühlte er nichts, nur Enttäuschung. Er sah sich um, atmete tief ein und wieder aus, räusperte sich, wie um zu zeigen, daß er da war. Er zupfte an seinem Schnurrbart. Hinter den hellgrünen Türen blieb es totenstill, die weiße Treppe nach oben schien noch nie von Menschen betreten worden zu sein, eine Treppe aus Eis. »Was mache ich hier?« Er starrte auf die Garderobenhaken, an denen ein paar Bügel hingen.

Zu Hause war das erste, was er beim Hereinkommen sah, die Garderobe mit ihrer Regenjacke, der weißen mit dem karierten Futter, ihrem kognakbraunen Wintermantel und der alten Wildlederjacke, die sie immer bei der Gartenarbeit getragen hatte. Die Kommode im Flur quoll über von Schals, Mützen, Baretten, alle von ihr. Zu Hause war alles, vom Eierbecher bis zum Gemälde, von ihr ausgewählt worden. Wie hatte er nur glauben können, daß er sie hier wiederfinden würde? In einem Ferienhaus, von fremden Händen eingerichtet, von immer wieder anderen Leuten bewohnt? Es roch sogar antiseptisch. Ihre Spuren waren längst verwischt.

»Marleen!«

Seine Stimme hallte durch das Haus, erschrocken schaute er sich um.

Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht, aber er blieb. Einzig und allein weil er es sich vorgenommen hatte. Schon vor einem halben Jahr hatte er diese Reise geplant; er wollte es vor ihr geheimhalten, es sollte eine Überraschung sein. Erst nach der Operation, sobald sie wieder die alte wäre, wollte er es ihr sagen.

Und wenn sie das Frühjahr nicht erleben würde? Daran hatte er nicht denken mögen. Vom 28. März bis zum 4. April konnten sie das Häuschen haben. Es stand in seinem Kalender. Abgemacht ist abgemacht. Als sie im Oktober starb, war es ihm keinen Moment in den Sinn gekommen abzusagen. Die Notwendigkeit, auf die Insel zu fahren, wurde sogar noch zwingender, denn in »Dünenrose« hatte sie ihren letzten Urlaub verbracht. Allein.

Er verstand es nicht. Seit ihrer Hochzeit war sie noch nie allein losgezogen, auch nicht mit einer Freundin, wie es manche Frauen so gern zu tun schienen. Als er noch arbeitete, hatte er Überstunden gemacht, und nach seiner Pensionierung hatte er so viele Leitungsfunktionen wie möglich übernommen. Bis zu ihrem ersten Krankenhausaufenthalt war sie immer dagewesen, wenn er nach Hause kam. Jeden Urlaub hatten sie zusammen verbracht, fast fünfzig Jahre lang. Dieses ganze Emanzipationsgehabe war an ihr vorbeigegangen, und ausgerechnet da – in den Wochen, die ihre letzten sein sollten – war sie ungewohnt eigensinnig geworden. Sie war nicht zur Vernunft zu bringen gewesen und abgefahren, allein.

Er öffnete die Tür zu seiner Linken: hatte sie hier geschlafen? Gegenüber lag die Toilette oder das Bad. In der letzten Zeit hatte sie nachts andauernd rausgemußt. Es war ein kleines Zimmer mit einem Einzelbett, einem Schrank und zwei Fenstern – so dachte er, bis er entdeckte, daß er die grünen Vorhänge vor dem Fenster noch einmal im Spiegel über dem Waschbecken sah.

Er schob die geblümten Vorhänge zur Seite und schaute hinaus. So hatte sie manchmal oben vor dem Fenster gestanden, wenn er von der Arbeit gekommen war. Wenn er ihr dann zuwinkte, sah sie ihn mitunter nicht einmal. Er hatte sich nie gefragt, was sie machte, wenn er weg war. Sie las viel, wußte er, arbeitete im Garten und schrieb lange Briefe an die Kinder. Aber ob sie für sich kochte, ob sie sich jeden Morgen die Mühe machte, sich gleich anzuziehen, oder ob sie auch mal den halben Tag im Morgenmantel herumlief?

Sie nicht, bestimmt nicht, bis zum allerletzten Abend hatte sie vor dem Schlafengehen um eine Nachtcreme gebeten und um irgendeine Salbe für ihre Hände. Nein, er hatte ihre Toilettentasche nicht umsonst mitgeschleppt. Im Spiegel schaute er zu dem Koffer, der unter der Garderobe im Flur stand. Was hatte er noch eingepackt? Warum? Sie war tot. Ihre Asche befand sich in einer Urne, die er eigenhändig unter der hohen Birke vergraben hatte, wo sie im Sommer immer so gern saß. Sie brauchte ihre Toilettentasche nicht mehr, Marleen … Er schlug sich die Hand vor den Mund. Hatte er sie jetzt wieder gerufen?

Auf der Straße am Waldrand fuhr ein Mann in einem flatternden grünen Regencape vorbei. Wenn er diesen Radfahrer sehen konnte, konnten die Leute auf der Straße ihn auch sehen. Ihn rufen hören. Laß das, stell dich nicht so an. Witwer ist ein würdiges Wort, verhalte dich auch so. Doch der Radfahrer schaute nicht hoch, hatte nur Augen für den Weg; seine rechte Hand lag auf dem Lenker eines zweiten Fahrrads, ein Damenrad, auf dem niemand saß. Unter dem Gepäckgurt steckte ein Nylonpäckchen in derselben Farbe wie sein Regencape.

Als Marleen endlich aus der Narkose erwacht war, hatte sie nach ihrer Mutter verlangt, die schon fast zwanzig Jahre tot war. Es wunderte ihn nicht nur, es ärgerte ihn auch, daß sie nicht einmal bemerkte, daß er an ihrem Bett saß, daß sie Mama, Mama rief statt Edu, Edu.

Was hatte das zu bedeuten, was, daß sie damals nicht nach mir verlangt hat? Daß sie ihren letzten Urlaub allein verbringen wollte, was sagt das über uns? Schließlich war sie früh halb sechs, als er das Schlafzimmer gerade einmal kurz verlassen hatte, gestorben.

Unglaublich dumm. Während er gewartet hatte, bis das Teewasser kochte, war er eingenickt. Er wurde den Gedanken nicht los, daß sie ihn weggeschickt hatte, um sich davonstehlen zu können, um nicht Abschied nehmen zu müssen. Um die Fragen, die er nicht zu stellen wagte – ob sie ihn bis zuletzt geliebt, ihn nie mit einem anderen betrogen habe –, nicht beantworten zu müssen.

Er war hochgeschreckt, als das Wasser überkochte und auf der glühenden Platte zischend verdampfte. Als er das Tablett mit zwei Tassen und einem Apfel in ihr Zimmer brachte, war es bereits geschehen. Er sah ihren Mund, aufgesperrt, den glasigen Blick, der ihn nicht mehr wahrnahm, fragte aber trotzdem: »Tee, Marleen … und ein Äpfelchen? Du mußt wieder mal was essen. Wenn du es nicht schaffst, helfe ich dir.«

Er ging durch das Haus und stellte sich vor, wie sie hier vor einem halben Jahr herumgelaufen war, durch dieses Fenster geschaut, mit einer Zeitschrift auf diesem Sofa gesessen hatte. Das gesprenkelte Ei hatte vielleicht auch schon auf dem Sims gelegen. Die Vögel, die in den letzten Wochen angekommen waren, hatten damals wahrscheinlich gerade ihren Zug begonnen.

Er ging von Zimmer zu Zimmer, las die vergilbten Zettel an den Türen: »Die Gäste haben das Haus sauber zu hinterlassen«, und wo sich die Gartenstühle befänden, und daß alles, was zerbrach, »durch etwas Gleichwertiges« ersetzt werden müsse. Er las die Zettel hastig, als ob sie eine Botschaft für ihn enthielten. Als er auf dem Couchtisch im Wohnzimmer ein Gästebuch liegen sah, wollte er sofort sehen, ob sie etwas hineingekritzelt hatte.

Er zögerte einen Moment, ehe er das rote Buch hochnahm. Wenn er nun etwas zu lesen bekäme, das sein Leben auf den Kopf stellen würde? »Endlich zusammen.« – »Wie haben wir es genossen.« Oder: »Die glücklichsten Tage meines Lebens.« Wenn er so unsicher war wie jetzt, ging es ihm wieder durch den Kopf: daß sie hier einen anderen kennengelernt haben könnte. Oder hatte sie vielleicht schon zu Hause mit einem Liebhaber verabredet, zusammen hierher zu fahren? Man hörte ja öfter von unheilbar Kranken, die sich noch einmal mit Haut und Haar verliebten, ganz verrückt von der Gewißheit, daß es das letzte Mal sei.

Er öffnete das Buch, bei zwei leeren Seiten, zwischen denen das Skelett eines Blattes lag. Er hielt es gegen das Licht. Hatte sie es hineingelegt? Davor waren ein paar Seiten herausgerissen worden, unordentlich, als ob eine Maus daran genagt hätte. Wie er Marleen kannte, hatte sie sich bestimmt auch darüber geärgert. Ungeduldig blätterte er weiter zurück, doch er sah nirgends ihren Namen, ihre Handschrift, kein Satz, kein Wort, kein Hinweis. Er schlug das Buch zu, knallte es auf den Tisch. Was hoffte er hier zu finden?

Sie war verändert zurückgekommen, weniger ängstlich, aber schweigsamer. Er freute sich für sie, doch es machte ihn auch wütend, weil er an dieser Veränderung nicht teilgehabt hatte. Er kam einfach nicht dahinter, was sie verändert hatte. Wenn er fragte, was sie so allein getrieben habe, sagte sie »nachgedacht«. Wenn er fragte, worüber denn, antwortete sie »über mein Leben«. Auch über uns, hatte er fragen wollen, aber er wagte es nicht.

Je länger sie tot war, desto besser lernte er sie kennen. Weil er nun einen großen Teil des Tages ihr Leben führte. Jetzt mußte er alles selbst tun. Essen zubereiten, die Spülmaschine ein- und ausräumen, den Ausguß mit einer Stricknadel durchbohren, Haare und Seifenreste aus dem Duschabfluß fischen, all die tausend Handlungen, von denen er früher keine Ahnung gehabt hatte. Geschweige denn davon, wieviel Zeit das alles kostete. Jetzt verstand er erst, wie sie ihre Tage verbracht hatte.

Während er durch das Haus ging, entdeckte er ein etwas größeres Schlafzimmer mit einem Doppelbett. Das Zimmer war weiter von der Toilette entfernt, hatte aber eine schönere Aussicht. Er schaute aus dem Fenster, ohne viel zu sehen. Es hätten genausogut Fensterläden davor sein können. »Fahr doch nach Hause, Mann«, sagte er vor sich hin. Zu Hause schlief er noch immer in dem großen Bett, dem Bett, in dem sie gestorben war. Noch monatelang hatte er morgens seine Hand nach ihrer Seite ausgestreckt, heftig auf die Bettdecke klopfend, um ihr etwas zu erzählen, das ihm beim Aufwachen eingefallen war. Um wieder und wieder begreifen zu müssen, daß die Matratze neben ihm leer war und leer bleiben würde. Daß sie nicht nur mal eben austreten war oder hinuntergegangen, um die Zeitung von der Türmatte zu holen. So war sie Dutzende Male aufs neue gestorben. Wie oft hatte er die Träume, in denen sie ihn streichelte, verflucht, doch nun, da sie ausblieben, vermißte er sie. Er hatte das Gefühl, daß sie dabei war, aus seinem Leben zu verschwinden – zum zweiten Mal.

Als er an jenem Morgen des vierzehnten Oktober mit dem Tablett an ihrem Totenbett stand, war er verblüfft: daß sie schon so weit weg war. Wie lange war er aus dem Zimmer gewesen, wie lange dauerte es, bis ein Kessel Wasser zu kochen anfing, ein Körper kalt wurde, acht, zehn Minuten? Während er den Tee ziehen ließ, hatte er einen Apfel geschält; ein langer Kringel, den er noch voller Stolz betrachtet hatte, ehe er ihn in den Treteimer fallen ließ. Und nun lag sie da, ihre langen mageren Finger um den Rand des Deckbetts geklammert. Er konnte schreien, so laut er wollte, sie würde ihn nicht hören.

Doch er gab keinen Mucks von sich, aus Angst, etwas zu zerstören. So leise wie möglich stellte er das Tablett auf das Nachtschränkchen, damit nichts, nicht das geringste Löffelklingeln, sie aufschrecken würde. Nein, nicht sie, nicht diejenige, die da lag, sondern etwas, das, nicht sichtbar, noch da war und sich viel langsamer davonmachte. Während er da stand, hörte er draußen auf der Straße das träge Klappern von Pferdehufen. Ein Geräusch aus seiner Kindheit, als der Milchmann, der Abfallsammler und der Lumpenhändler ihre Karren noch von Pferden ziehen ließen. Es war noch nicht hell, und doch fand er es nicht merkwürdig, ein Pferd so früh am Morgen. Er dachte: Gleich kommt der Doktor und dann der Bestattungsunternehmer, und später kommen unsere Kinder und Enkel, aber zuerst kommt das Pferd. Er war auch gar nicht erstaunt, als er ein paar Tage später auf dem Weg zum Krematorium einen Reiter in der Ferne erblickte. Als der Mann den Trauerzug nahen sah, parierte er sein weißes Pferd, nahm höflich die Kappe ab und senkte den Kopf. Da ist er wieder, hatte er gedacht und dem Reiter zugenickt.

Er stellte den Koffer auf die gelbe Tagesdecke des Doppelbetts und klickte die Schlösser auf. Zuerst packte er seine eigenen Sachen aus, legte die Bettwäsche, die er mitgebracht hatte, ans Fußende. Im untersten Teil des Koffers, verborgen unter einem Zwischenboden aus Plastik, lagen ihre Kleider: die weiße Spitzenbluse, die sie getragen hatte, als er sie ’48 auf einem Fest des Segelclubs kennenlernte. Auf seine Bitte hin hatte sie sie immer aufbewahrt und zu besonderen Anlässen getragen. Außerdem hatte er noch eine rote Strickjacke eingepackt und die rote Hose, die sie in den letzten Wochen ihres Lebens fast täglich angehabt hatte. Sie hatte sie in einem Laden für Umstandskleidung gefunden; in der Taille war ein Gummizug, den sie immer, wenn sie wieder dünner geworden war, nur fester zu ziehen brauchte.

Die Kinder hatten schon ein paarmal angeboten, die Sachen ihrer Mutter abzuholen, zu sortieren und unter sich aufzuteilen. Was niemand haben wolle, könne in Müllsäcken an »Menschen in Not« gegeben werden. Was mischten sie sich ein. Er durfte gar nicht daran denken, seine Hand morgens in einen halbleeren Schrank mit meterweise kahlen Kleiderbügeln, die klirrend aneinanderschlugen, zu stecken. Barsch hatte er das Angebot zurückgewiesen, als ahnte er, daß er die Sachen irgendwann noch einmal brauchen würde. Als er gestern nachmittag den Koffer packte und nach ihrer Strickjacke griff, durchfuhr es ihn: Was soll ich damit, warum tue ich das? Doch der Drang war stärker als die Scham. Im letzten Augenblick hatte er ihr Baumwollkopftuch eingepackt, das mit den grellen Farben, die so schön von ihrem schwarzen Haar abgestochen hatten.

Er hatte es auf einem Markt in Portugal für sie gekauft, im Sommer, bevor sie krank wurde. Danach hatten sie Sardinen gegessen, in einem lauten, völlig verqualmten Lokal am Kai, an dem Mopeds vorbeirasten. Um die salzigen Fische hinunterzuspülen, hatten sie viel zuviel Rosé getrunken, und nach der Siesta hatten sie miteinander geschlafen. Er hatte sie mit den Schlafknittern an ihrem Arm geneckt, war mit der Fingerspitze daran entlanggefahren, als wären es Linien auf einer Landkarte. Im Urlaub bist du ganz anders, viel lieber, hatte Marleen immer gesagt. Er hielt sich das Tuch an die Nase. Es roch nach ihr, aber wie lange noch? In den Zeitungen standen lauter überflüssige Diagramme, doch das Wichtigste wurde nicht ausgerechnet. Er nahm die Strickjacke hoch, drückte sie an seine Wange, vergrub das Gesicht darin, rieb seine Haut über die Wolle, bis es schmerzte, aber er konnte nicht aufhören. Er scheuerte sich, immer verzweifelter, wie ein Hund, der einen brennenden Juckreiz zu stillen versucht.

Im nächsten Augenblick fand er sich im Flur wieder, vor dem Spiegel neben der Garderobe. Neugierig musterte er sich von Kopf bis Fuß. Die kurzen Ärmel, die bei ihr kokett von den Schultern abgestanden hatten, spannten um seine Muskeln; wenn er nicht aufpaßte, würden die Nähte platzen. Die Bluse schloß mit kleinen blumenförmigen Glasknöpfen, die er mit viel Mühe durch die engen Knopflöcher nestelte, den Knopf auf seinem Bauch und den darunter ließ er offen. Der Stoff ihrer Hose fiel locker um seine nackten Beine; trug sich ziemlich gut, so eine Frauenhose, nur den Gummi in der Taille hatte er etwas weiter stellen müssen.

Die Strickjacke war groß genug. Sie hatte oft Sachen für ihn gekauft, ohne daß er dabei war, Oberhemden, aber auch mal ein Jackett. Was ihr ein wenig zu weit war, paßte ihm genau. Als letztes band er sich das Tuch um den Kopf, mit einem Knoten im Nacken, wie sie es getragen hatte, wenn sie die Rosen verschnitt. Es gelang ihm nicht auf Anhieb. Das Tuch verrutschte immer wieder, mal fiel der Rand tief in seine Stirn, so daß er nichts mehr sah, mal zog er es schräg über ein Auge, wie ein Seeräuber. Als er einen festen Doppelknoten binden wollte, glitt er ab, und seine Fingerknöchel trafen ihn an der Ohrmuschel. »Au, paß doch auf, was du machst!« Wenn er sich überlegte, daß sie das mit einem Handgriff konnte. Manchmal flocht sie sich auch einen Schal ins Haar, sehr kunstvoll, aber das brauchte er gar nicht erst zu versuchen; er hatte nicht so dickes Haar wie sie, und graue Borsten konnte man nicht flechten.

Es war kein Anblick. Marleen und er waren etwa gleich groß gewesen, doch er hatte offenbar längere Beine, denn die Hose reichte ihm nur halb über die behaarten Waden. Grinsend schaute er zu Boden, wo ihre Toilettentasche an der Scheuerleiste stand, aber dann mußte er sich doch wieder selbst betrachten: Was war in ihn gefahren? Als Kind hatte er sich nie verkleidet. Er hatte sich nie heimlich in ein altes Ballkleid seiner Mutter gezwängt, war nie auf zu hohen Absätzen hin und her stolziert wie manche seiner Freunde.

Scheu blickte er ins Wohnzimmer. Das Haus mit den blauen Jalousien, ein Stück weiter, machte einen unbewohnten Eindruck, aber eine Nachbarin könnte ihn sehen, wenn sie vorbeikäme, um sich Streichhölzer zu borgen. Bloß gut, daß er, schon halb entkleidet, daran gedacht hatte, die Vorhänge zu schließen.

Er lockerte das Tuch etwas, um den Kopf besser drehen zu können. Daß die Bluse zu straff saß, machte nichts, es würde ihn zwingen, sich eleganter zu bewegen. Die Toilettentasche ließ er ungeöffnet zu seinen Füßen stehen, er hatte nicht das Bedürfnis, sich die weißen Wimpern dunkler zu färben oder die Lippen zu schminken. Geschweige denn, sich den Schnurrbart abzurasieren. Er wollte ihr überhaupt nicht ähnlich sehen. Aber was wollte er dann?

Barfuß lief er durchs Haus, setzte Teewasser auf, öffnete Schränke auf der Suche nach einer Tasse und stellte sich vor, er wäre sie. Er konzentrierte sich auf die Erinnerung an ihre Statur, wie sie sich bückte, sich umdrehte, das Ei vom Sims nahm. Sie bewegte sich immer, als ob sie bewundert würde, als ob jede ihrer Handlungen von Belang sei. Vielleicht war das ja die einzige Möglichkeit zu überleben, wenn man so eine verborgene Existenz führte. Hatte er ihr oft genug gesagt, daß er sie liebte? Und daß er schätzte, was sie alles für ihn … Komm, nicht grübeln, noch genug zu tun. Das Teegeschirr bereitstellen, die Einkäufe auspacken, Milch und Butter in den Kühlschrank.

Er merkte, daß er leichter atmete, fast unhörbar, wie sie. Seine Haut wurde nicht glatter, und unter der Bluse entstanden keine Wölbungen, und doch fühlte er, wie er langsam graziler wurde, durchscheinender. Hin und wieder ertappte er sich dabei, daß er sich an den Bauch faßte, so wie er es sie oft hatte tun sehen in jenen letzten Wochen, und dann bekam er automatisch auch diesen verbitterten Zug um den Mund, spürte er.

Als er sich eine Weile warmgelaufen hatte, setzte er sich in den Sessel neben dem Ofen und schenkte sich Tee ein. Er merkte, daß er den Becher anders festhielt, nicht mit der ganzen Hand, sondern am Henkel zwischen Daumen und Zeigefinger. Obwohl er riesigen Durst hatte, ließ er den Tee, genau wie sie, fast kalt werden, ehe er den Becher an die Lippen führte.

Er wußte nicht, wie lange er da schon saß, ihre Lieblingslieder summend, die ihm in den Kopf kamen, eins nach dem anderen; erst tauchte eine Zeile auf, dann hörte er die Melodie des Refrains. Ehe er sich’s versah, sang er die Worte einer ganzen Strophe:

Man hat ihre kleinen Nägelchen

Mit Mostrich vollgeschmiert

Doch sie hat’s trotz der Mostrichkur

Noch immer nicht kapiert

Sie leckt sich nun den Mostrich ab

Und schlemmt noch mal so fein

Als ob ihre kleinen Fingerchen

Aus Fleischkroketten sei’n

   Louise, hör auf, an den Nägeln zu kauen …

Er hätte nicht geglaubt, daß er dieses Lied noch kannte, er hatte überhaupt kein Gedächtnis für solche Dinge. Marleen schon, sie erinnerte sich an all die Lieder, die ihre Onkel bei Geburtstagen zum Pianola gesungen hatten. Nun schau mich mal einer an, wie ich hier sitze, in ihrer Haltung … nein, so. Energisch schlug er ein Bein über das andere, wippte mit dem Fuß im Takt einer neuen Melodie, als es klingelte.

Er wagte nicht, seinen Tee abzustellen, das knackende Rattan würde ihn noch verraten. Mit angehaltenem Atem schaute er von der Haustür am Ende des Flurs zur Terrassentür, die noch immer eingehakt war. Derjenige, der vor der Tür stand, könnte sich wundern, daß alle Vorhänge geschlossen waren, am hellichten Tag. Er könnte auf die Idee kommen, um das Haus herumzulaufen, nachzusehen. Als es zum zweiten Mal klingelte, gellend laut, stand er auf und ging in den Flur.

Angespannt schaute er auf den Briefschlitz, ob sich die Klappe bewegte. »Können Sie später noch einmal wiederkommen?« rief er in Richtung Tür.

Eine Frauenstimme antwortete, doch was sie sagte, ging an ihm vorbei. Er stand wie angewurzelt da und wartete, daß die unbekannte Besucherin wieder abschwirren würde. Knarrend ging das Tor auf und zu. Als er sicher war, daß sie weg war, versuchte er es noch einmal. Vorsichtig, aus Angst, die Stimme, die wie ein Atemzug aus seinem Mund gekommen war, zu verjagen.

»Tee«, sprach sie zögernd, »ja, ich möchte gern noch eine Tasse. Etwas dazu, eine Sirupwaffel? Auf der Anrichte liegt eine Packung, oder lieber doch nicht …«

Er faßte sich an den Hals, fühlte den Adamsapfel, fuhr sich mit der Hand über den Brustkorb, der noch genauso flach war wie sonst, und von dort über die Rundung seines Bauches bis zum Schritt. Er war immer noch er, derselbe, doch aus seiner Kehle kam ihre Stimme. »Es ist das letzte Mal, Edu, das verstehst du doch? Danach mußt du mich gehen lassen. Versprichst du das? Nein, keine Widerrede. Hör zu! Ich bin lange genug bei dir geblieben. Es wird Zeit, daß du mich losläßt …«

Sie sagte es noch einmal, stockte. Er konnte sie nicht gut