Inselgäste - Vonne van der Meer - E-Book

Inselgäste E-Book

Vonne van der Meer

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Beschreibung

Im Ferienhaus "Dünenrose" auf einer Nordseeinsel geben die Saisongäste einander die Klinke in die Hand. Da kommt ein junges Paar, das versucht, eine zerbrochene Beziehung zu kitten, und ein verwitweter Mann, der seinem Leben ein Ende setzen will. Eine Zwanzigjährige hat gerade entdeckt, dass sie schwanger ist. Ein Mittvierziger, dem ein junger dynamischer Kollege vor die Nase gesetzt wird, grübelt über einen Ausweg aus seiner schier hoffnungslosen Situation. Und auch drei Studenten, die eine verzwickte Dreiecksgeschichte verbindet, tragen sich ins Gästebuch ein. Aus sicherem Abstand kommentiert die Putzfrau das Kommen und Gehen der Besucher. Zu gern erführe sie mehr über deren Schicksale, aber Zeuge all der Träume und Geheimnisse wird allein der Leser dieses hinreißend erzählten Sommerreigens ... 

"Unbedingt im Strandkorb lesen - oder im Ferienhaus." Marie Claire. "Von den Wechselfällen des Lebens und den Ausnahmebedingungen des Inseldaseins." Die Zeit.

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Über Vonne van der Meer

Die dänische Autorin Vonne van der Meer, geboren 1952, veröffentlichte mehrere Romane: »Inselgäste«, »Die letzte Fähre«, »Abschied von der Insel«, »Was du nicht willst« und »Inselliebe«. In den Niederlanden ist jedes ihrer Bücher ein großer Erfolg, auch hierzulande avancierten sie zu geheimen Bestsellern.

Informationen zum Buch

Im Ferienhaus »Dünenrose« auf einer Nordseeinsel geben die Saisongäste einander die Klinke in die Hand. Da kommt ein junges Paar, das versucht, eine zerbrochene Beziehung zu kitten, und ein verwitweter Mann, der seinem Leben ein Ende setzen will. Eine Zwanzigjährige hat gerade entdeckt, dass sie schwanger ist. Ein Mittvierziger, dem ein junger dynamischer Kollege vor die Nase gesetzt wird, grübelt über einen Ausweg aus seiner schier hoffnungslosen Situation. Und auch drei Studenten, die eine verzwickte Dreiecksgeschichte verbindet, tragen sich ins Gästebuch ein.

Aus sicherem Abstand kommentiert die Putzfrau das Kommen und Gehen der Besucher. Zu gern erführe sie mehr über deren Schicksale, aber Zeuge all der Träume und Geheimnisse wird allein der Leser dieses hinreißend erzählten Sommerreigens!

»Unbedingt im Strandkorb lesen – oder im Ferienhaus.« Marie Claire.

»Von den Wechselfällen des Lebens und den Ausnahmebedingungen des Inseldaseins.« Die Zeit.

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Vonne van der Meer

Inselgäste

Roman

Aus dem Niederländischen von Arne Braun

Inhaltsübersicht

Über Vonne van der Meer

Informationen zum Buch

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Buch lesen

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Anmerkungen

Impressum

Höchste Zeit, daß ich fertig werde. Wenn sie die Mittagsfähre genommen haben, können sie in einer halben Stunde hiersein. Einmal ist es mir passiert, daß ich sie unten am Muschelweg stehen sah, neben einem Handwagen voller Gepäck und Kinder – und ich hatte gerade verschwitzt und zufrieden die Tür hinter mir zugezogen und den Schlüssel unter den Abtreter gelegt. Diese Enttäuschung auf ihren Gesichtern. Seitdem weiß ich, daß ich unsichtbar bleiben muß. Wenn sie mich hier antreffen, fühlen sie sich weniger zu Hause, und wenn sie sich nicht zu Hause fühlen, werden es keine glücklichen Tage. Zwar wissen die Leute, daß sie dieses Haus für eine Woche oder zwei oder vielleicht gar einen ganzen Monat mieten, doch sie müssen so tun können, als ob es ihnen gehört. Mir würde das nicht schwerfallen. Von allen Häusern, in denen ich geputzt habe, ist mir »Dünenrose« das liebste. »Turmblick«, »Kornweihe«, »Jojanneke« und »Einkehr« habe ich im Laufe der Jahre abgestoßen. Schöne Häuschen, keine Frage, mit Fliesen und Linoleum auf den Fußböden, viel pflegeleichter als »Dünenrose«, aber es wurde mir zuviel, ich mußte mich entscheiden.

Für das Großreinemachen am Anfang der Saison plane ich anderthalb Tage ein, die Wäsche nicht mitgerechnet. Aber wieviel Zeit ich mir auch nehme, es endet immer damit, daß ich mich beeilen muß. Decken, Matratzenschoner und Vorhänge wasche ich am Ende der Saison. Zu Saisonbeginn bügle ich die Vorhänge, doch manchmal übersehe ich auch was. Im letzten Moment entdecke ich dann, daß sich der Saum der gelben Gardine im Elternschlafzimmer gelöst hat. Das muß ich in Ordnung bringen, denn ich weiß genau, wie es läuft: die Kinder kriechen morgens zu ihren Eltern ins Bett, reißen die Vorhänge auf, und ehe man sich’s versieht, hängt der ganze Saum herunter.

Gut, daß ich gestern alle Fenster und Türen, von den großen Flügeltüren bis zur Durchreiche und zu den Dachfenstern, geöffnet und richtig Durchzug gemacht habe, um die Winterschlafluft zu vertreiben. Heute regnet es andauernd. Zwischen zwei Schauern habe ich den Kokosläufer rausgelegt, denn er riecht ein bißchen muffig, und noch einmal den Holzfußboden gesaugt. Das hatte ich gestern auch schon getan und am Ende der letzten Saison natürlich, doch aus den breiten Ritzen zwischen den Dielen kommt immer wieder Sand. Ich möchte wirklich mal wissen, wieviel Kilo ich da im Laufe der Jahre rausgesaugt habe. In diesem Jahr wird der Strand aufgeschüttet, überall liegen Rohre, so dick wie Baumstämme, aber eine direkte Verbindung mit meinem Staubsaugerschlauch wäre auch eine Lösung gewesen.

Dieser Kokosläufer müßte eigentlich mal ersetzt werden. Braun-orange gestreift, er dürfte schon an die dreißig Jahre alt sein, aus den Sechzigern, als Braun und Orange modern waren, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, daß Herr Dünenrose ihn aus diesem Grund gekauft hat. Mit modern oder unmodern brauche ich ihm nicht zu kommen. Er hat nicht einmal ein Telefon. Ich habe ihm geschrieben, daß der Läufer im Wohnzimmer erneuert werden müßte und daß er einen neuen schicken oder Geld überweisen soll, damit ich in Harlingen etwas Hübsches aussuchen kann, aber darauf hat er noch nicht reagiert. Auch nicht auf den Brief, daß der Fernseher, seit ich denken kann, kaputt ist.

Um den Winter zu vertreiben, habe ich ein paar Kienäpfel auf den Tisch und aufs Fensterbrett gelegt, aber ich bin heute schon wieder so lange hier, daß ich nicht mehr weiß, wie es riecht. Oh, ich kann das Schiff schon hören. Wenn ich es höre und noch hier bin, fühle ich mich wie Aschenputtel auf dem Ball. War der Kühlschrank nun zu? Habe ich eine neue Rolle Toilettenpapier in den Halter gehängt? Liegt eine Schachtel Streichhölzer neben der Büchse am Herd? Ist das Radio aus? Noch einmal durchs Haus, ruhig, zuerst werden die Gepäckwagen vom Schiff gefahren, dann erst dürfen die Passagiere herunter.

So … Wenn sie ein Taxi nehmen, können sie jeden Moment hiersein. Ich muß gehen, aber es fällt mir nicht leicht, denn es ist vorläufig das letzte Mal, daß ich alles in Ruhe überprüfen kann. Im Spülschrank stehen Reinigungsmittel, über dem Eimer hängt ein neuer Scheuerlappen, zweimal gewaschen, sonst nimmt er keine Feuchtigkeit auf, und man gibt ihm die Schuld, wenn der Boden nicht sauber wird. »Die Gäste haben das Haus sauber zu hinterlassen« – so steht es im Mietvertrag und auf dem Zettel neben dem Durchlauferhitzer in der Küche. Ich werde nur fürs Großreinemachen am Anfang und am Ende der Saison bezahlt, darf, »falls erforderlich«, kleine Anschaffungen machen, und im Prinzip brauche ich dann den ganzen Sommer nicht mehr herzukommen. Aber es hat auch nie jemand gesagt, daß ich zwischendurch nicht mal nach dem Rechten sehen darf. Das darf ich schon.

Das Buch, das Gästebuch, wo soll ich das nur hinlegen? Auf dem Eßtisch ist es zu aufdringlich, auf dem Couchtisch sieht es zu sehr nach Zierde aus. Auf dem Bücherbord wird es Leuten, die nie lesen, vielleicht gar nicht auffallen. Ich will, daß sie es sehen. Ich finde es so traurig, wenn sie nichts hineinschreiben. Wenn sie ausgepackt haben und sich ein wenig umsehen, sollten sie es finden, dann denken sie später bei bestimmten Ereignissen vielleicht: Ah, das wäre etwas für das Gästebuch. Und dann bleibt nur zu hoffen, daß sie sich am Tag vor ihrer Abreise daran erinnern und sich nicht in letzter Minute mit ein paar Sätzen aus der Affäre ziehen. Daß das Wetter so herrlich war oder gerade nicht, »aber wir haben uns dadurch nicht den Spaß verderben lassen«. Welchen Spaß? denke ich, wenn ich so etwas lese. Warum sind diese Menschen auf die Insel gekommen? Nach dem Geschirr zu urteilen, das hier innerhalb weniger Monate draufgeht, scheinen sie sich ganz schön abzureagieren. Manchmal wünschte ich, daß ich dieses Haus nicht nur sauberhalten würde, sondern daß meine Arme die Wände wären, meine Augen die Fenster. Daß ich sehen und hören könnte, was Haus »Dünenrose« erlebt.

Hier, auf das Eckbänkchen lege ich es. Wenn die Sonne untergeht und es zu kalt ist, noch einmal an den Strand zu gehen, sitzen die Gäste hier, denke ich. Wenn ich das Häuschen gemietet hätte, würde ich abends auf diesem Bänkchen sitzen wollen. Man überblickt den ganzen Badweg, bis zur letzten Düne vor der See. Es ist der schönste Platz, mit den Sträuchern, die sich am Haus hochranken. Wenn die Dünenrose im Mai blüht, sitzt man mitten in den Blüten. Ja, da lege ich es hin. Da liegt es, als ob es schon immer da gelegen hätte. Und die kleine Feder, die ich heute morgen am Waldrand gefunden habe, lege ich hinein, auf eine neue Seite, damit die ersten Gäste dieses Jahres das Buch gleich an der richtigen Stelle aufschlagen.

I

Ein quadratisches Häuschen, mit geteerten Brettern verkleidet. Anbauten an beiden Seiten, wie breite Hüften. Ob es Zimmer waren oder eine Küche oder ein Schuppen, war auf dem Foto nicht zu erkennen gewesen. Im Erdgeschoß große Flügeltüren, die auf eine von einem weißen Holzgeländer umgebene Terrasse führten. Dort würde Floris auf einer Decke in der Sonne spielen können. Direkt unter dem roten Ziegeldach befand sich noch ein kleines Fenster, und in dem Dreieck zwischen Fenster und Gesims ein schmales weißes Schild mit schwarzen Buchstaben: »Dünenrose« mußte dort stehen. Chiel war eines Abends, vor ungefähr fünf Wochen, mit einem Ferienhauskatalog nach Hause gekommen und hatte ihn aufgeschlagen auf ihren Schoß gelegt. »Schau, dieses Häuschen habe ich für eine Woche gemietet.« Das Haus hatte etwas Stabiles, Klares, sah sie sofort, all das, was ihr in letzter Zeit fehlte. Sie hoffte, daß die Bretter noch nach Teer riechen würden, Teer versetzte sie immer zurück in die Sommer ihrer Kindheit, zu den Kais, wo sie mit ihrem Vater die Fischerboote beobachtet hatte.

Dana hatte sich das Foto von Haus »Dünenrose« eingeprägt, doch nun, da sie dort hinfuhren, regnete es so stark, daß sie durch die Busfenster alles nur schemenhaft sah, es war nicht viel zu erkennen. Wenn Chiel sich mit ihr beraten hätte, statt sie zu überfallen, hätte sie sich vielleicht doch für einen Urlaub in einem warmen Land entschieden, für eine Insel mit einem exotischen Namen, wo man im April schon im Bikini herumlaufen konnte.

Sie hielten an einem Campingplatz, der »Stortemelk« hieß, niemand stieg aus, es war noch viel zu kalt zum Zelten. »Stortemelk« – Milchsturz, komischer Name, er erinnerte sie an die Strahlen, die aus ihren Brüsten geflossen waren, als sie nach sechs Monaten aufgehört hatte zu stillen. Sie war noch nie auf Vlieland gewesen, hatte keine Ahnung, wie weit »Dünenrose« vom Hafen entfernt war, ob sie bald dasein würden oder gar schon vorbei wären, wenn der Fahrer vergessen hatte, ihnen Bescheid zu sagen. Dann würden sie noch ein ziemliches Stück zurücklaufen müssen, im strömenden Regen mit Floris und dem ganzen Gepäck, eine riesige Tasche allein mit Bettwäsche. Als ob sie nicht schon genug zu schleppen hätten. Floris war die ganze Fahrt über, zwei Stunden im Auto und anderthalb Stunden auf dem Schiff, hellwach gewesen, doch jetzt schlief er, mit dem Kopf an Chiels Brust. Warum hatten sie bloß kein Taxi genommen, sie wären längst da. Sie stieß Chiel an.

»Weißt du, wo wir raus müssen?«

»Nein, aber der Fahrer sagt uns Bescheid.«

Sie wußte nicht, ob es von der Busfahrt kam, sie fuhr fast nie Bus, oder davon, daß sie sich die Nase an der Fensterscheibe platt drückte und hinausspähte, doch sie erinnerte sich plötzlich ganz deutlich, wie es früher war, wenn sie von einer Klassenfahrt zurückkam: die Unruhe, wenn sie ihre Mutter nicht sofort unter den wartenden Eltern erblickte. Eine Unruhe, die noch dadurch verstärkt wurde, daß ihr übel war vor Müdigkeit und von den vielen Süßigkeiten. Wenn ihre Blicke sich dann fanden, hatte ihre Mutter sie in dem Bus voller aufgeregter Kinder längst entdeckt. Sie merkte es daran, wie sie sie ansah, wie sie winkte. Manche Mütter standen nur da und schwatzten, die schauten gar nicht hin.

Vielleicht erkennt das Haus ja uns, dachte sie, es steht schließlich auf einer Düne, vielleicht hat es uns schon kommen sehen.

Der Bus fuhr langsamer, Dana wischte über das beschlagene Fenster und schaute angestrengt zu den Häusern auf der rechten Seite. »›Kornweihe‹, ›Brummtopf‹, ›Marianna‹, ›Suzanna‹, ›Veronica‹«, sagte der Fahrer und hielt am Straßenrand. Unwillkürlich blickte sie Chiel an, um zu sehen, ob er beim Hören eines dieser Frauennamen reagierte, aber er verzog keine Miene, sein Kinn ruhte noch immer auf dem Kopf von Floris. Das Geräusch, mit dem sich die Türen öffneten, glich einem tiefen Seufzer, als habe der Bus ihre Gedanken erraten. Sie hatte Chiel nie gefragt, wie sie hieß, diese Frau in Berlin. Bewußt nicht. Er hatte ihr erzählt, daß sie in der DDR aufgewachsen sei und daß sie als Dolmetscherin arbeite. Mehr wollte Dana nicht wissen. Wenn sein Betrug einen Namen hatte, war er schwerer zu vergessen. Angenommen, es wäre ein häufig vorkommender Name, wie Eva oder Marianne, dann würde sie jedesmal, wenn er fiele, wieder daran erinnert werden. Sie wurde schon oft genug daran erinnert. Wenn jemand sagte, daß er zu einem Kongreß fährt, zum Beispiel. Kongreß war seit Berlin ein Wort wie Bordell oder Sauna.

Ein Ehepaar mit etwa fünfjährigen Zwillingen stieg aus. Zuerst die Frau mit den Kindern, der Mann reichte ihr hastig die Koffer, während er immer wieder ängstlich zum Fahrer blickte, als fürchte er, daß der Bus schon abfahren könnte. Dana paßte auf, daß nicht aus Versehen eine Tasche von ihnen ausgeladen wurde. Floris konnte ohne seinen Schlaflappen, ein zerrissenes blau-grau kariertes Geschirrtuch, nicht einschlafen, seine Tasche durfte nicht wegkommen. Während sie in Gedanken durchging, was in welcher Tasche war, fiel ihr auf einmal wieder ein, was sie vergessen hatte: ein dickes Buch. Schon seit Wochen hatte sie es lesen wollen. Aber sie wußte nicht mehr, wo es lag.

Alle Koffer und Taschen des Paares mit den Zwillingen standen am Straßenrand. Der Mann nickte dem Chauffeur zu, wischte sich den Schweiß von der Stirn und winkte auch ihnen erleichtert. Dana nickte abwesend. »Die unendliche Geschichte«, so hieß das Buch. Sie hatte es von ihrem Vater zum dreißigsten Geburtstag bekommen. Ob es etwas für sie war, wußte sie nicht, sie hatte erst ein paar Seiten gelesen, aber die Geste hatte sie gerührt. Meistens kaufte ihre Mutter die Geschenke für die Kinder, manchmal schickte er auch seine Sekretärin los, doch dieses Buch hatte er selbst ausgewählt. »Es scheint für Kinder und Erwachsene zu sein«, hatte er gesagt, und da sie nun Mutter sei …

Der Bus nahm eine scharfe Kurve, und automatisch sah sie zur anderen Seite. Chiel hatte seine freie Hand schon um Floris gelegt. Seit Berlin kümmerte er sich ständig um ihn. Das hatte gleich bei ihrem Wiedersehen in Schiphol angefangen. Als versuchte er, über das Kind zu ihr zurückzukommen und, indem er hartnäckig den Vater spielte, auch wieder ganz ihr Mann zu werden. Floris spürte nichts von der Kurve, der Hand oder den Blicken, die über seinen Kopf hinweg gewechselt wurden. Manchmal brauchte man nur ein Bein zu strecken, schon wachte er auf, und ein anderes Mal hätte man sich getrost mit ihm in eine Achterbahn setzen können. Ein Motorrad, das unter seinem Schlafzimmerfenster aufheulte, störte ihn nicht, aber als sie eines Abends in der Badewanne einen Weinkrampf bekommen hatte, war kurz darauf aus dem Kinderzimmer auch sein Weinen zu hören gewesen, wie ein Echo. Chiel hatte ihn aus dem Bett geholt und sich mit dem weinenden Kind auf den Wannenrand zu seiner Frau gesetzt und nicht gewußt, wen er zuerst trösten sollte. Sie hatte sich schnell einen Waschlappen aufs Gesicht gelegt. »Mama aua?« – »Nein, Mama erkältet.«

Der Bus wurde langsamer. »›Amsel‹, ›Turmblick‹, ›Dünenrose‹«, sagte der Fahrer. Wieder öffneten sich die Türen mit einem Seufzer. Nicht mehr dran denken, dachte Dana, sechs zermürbende Wochen sind genug. Es muß vorbei sein. Ich will mich nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit über ihn ärgern. Wenn ich mir das vornehme, gelingt es auch: Es ist vorbei. Das war mein letzter Seufzer.

Sie stand auf und holte tief Luft. Salz, sie roch es sofort, sie brauchte nur die Dünen zu überqueren und war am Meer. Ihr Blick fiel auf ein Haus mit rotem Ziegeldach und geteerten Brettern. Sie lächelte unwillkürlich. »Da, unser Haus«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihrem Mann und ihrem Sohn.

Es hatte etwas Aufregendes, einen Schlüssel, den sie nicht selbst dort hingelegt hatte, zu einem Haus, das nicht ihnen gehörte, unter dem Abtreter hervorzuholen. Als sie die Tür nicht sofort aufbekam, ertappte sie sich dabei, daß sie sich ängstlich umschaute, und als Floris quengelnd wach wurde, versuchte sie schnell, ihn zu beruhigen. Sie nahm Chiel das Kind ab und gab ihm den Schlüssel; und nachdem er ein paarmal daran gerüttelt hatte, mit geschlossenen Augen, weil er sich so besser konzentrieren konnte, ging die Tür auf. Er tat einen Schritt zur Seite, machte eine ritterliche Geste: Treten Sie ein, und lief den Weg zurück, um den Sportwagen zu holen und die Taschen, die noch am Zaun standen.

Sie schaute in den schmalen Flur, von dem vier Türen abgingen und eine Treppe. Glänzend lackierte Türen, meergrün, in einem etwas dunkleren Rahmen. Das Linoleum auf dem Fußboden war beige-grau, fast dieselbe Farbe wie der Muschelweg hinter ihr. Bevor sie das Haus betrat, putzte sie sich gründlich die Schuhe ab. Floris schob die Unterlippe vor, zögerte, ob er betreten schweigen oder doch lieber wieder weinen sollte. Um ihn zu beruhigen, begann Dana, ihm alle Dinge, die sie sah, zu zeigen und beim Namen zu nennen. Verlegen, weil es doch unhöflich war, in einem fremden Haus einfach so eine Tür zu öffnen, legte sie ihre Hand auf die erste Türklinke.

»Guck, die Toilette.«

Als kleines Kind hatte sie überall, wo sie mit ihren Eltern gewesen war, bei Verwandten, in Restaurants, zuerst die Toilette sehen wollen. Komisch, wie oft sie, seit sie Mutter war, an ihre Kindheit zurückdachte, an manchen Tagen ständig. Diese Toilette war in Schuß, das Klobecken sauber, das Waschbecken auch, und es roch nach grüner Seife. Eine neue Rolle hing im Halter und darüber ein handgeschriebener Zettel: »Denk nicht, wenn du das letzte Blättchen abgerissen, der nächste wird sich schon zu helfen wissen.« Die Schlaufen der Buchstaben waren auffällig groß, wie Flügel.

Kichernd zog sie einen gestreiften Plastikvorhang auf und wieder zu und schluckte gerade noch das Wort Dusche hinunter. Schon bei dem Wort flippte Floris aus. Zu viel Lärm, zu viel Gespritze. Es gab keine Badewanne in diesem Haus, hatte sie im Katalog gesehen, aber bestimmt eine Waschschüssel, in der sie Floris baden konnten. Sie wollte die gegenüberliegende Tür öffnen, war wieder versucht zu klopfen, tat es aber nicht. Das Haus gehörte ihnen, sie konnte überall hineingehen, sich setzen, legen, laut singen, lachen, bei offener Tür pinkeln. Sie hatten es für eine ganze Woche gemietet und bezahlt.

Die Tür führte in ein kleines Schlafzimmer. Schlafzimmer im Erdgeschoß, das war immer so in Ferienhäusern. Vor dem Fenster hingen altmodische grüne Gardinen mit gelben und roten Blümchen, die das Zimmer in ein grünliches Licht tauchten. Floris sah in diesem Licht aus, als wäre er seekrank, ein seekrankes Fischlein in einem Aquarium. Sie zog die Vorhänge auf. Draußen, auf der Straße, stieg ein Mann von seinem Fahrrad, streifte sich sein gelbes Regencape über den Kopf und schüttelte die Tropfen ab. Dana setzte Floris neben dem Bett ab, damit er etwas zum Festhalten hatte. »Bett«, sagte sie. »Nicht Floris’ Bett. Floris’ Bett steht woanders.« Es mußte hier irgendwo ein Kinderbett geben und einen Kinderstuhl.

Auf der Matratze lagen ein Matratzenschoner, sauber offenbar, ein Kissen und zwei karierte Decken. Zu Hause hatten sie auch Decken. Sie mochte es, wenn sie richtig festgesteckt wurden, das war besser, als wenn einem jemand nur das Federbett zurechtzog. Ihre Mutter hatte sie früher immer ganz fest eingepackt. Dana hatte manchmal ein Spiel daraus gemacht: die Kunst bestand darin, die ganze Nacht still liegenzubleiben und morgens, ohne Laken und Decke herauszuziehen, aus dem Bett zu schlüpfen, wie ein Brief aus einem Kuvert rutscht, das nicht zugeklebt ist. Dann war ihre Mutter früh ins Zimmer gekommen und hatte erstaunt getan: »Guck dir das mal an, Gerard, Daantje hat heute nacht nicht zu Hause geschlafen.« Darüber mußten ihre Eltern furchtbar lachen, jedesmal wieder, und dann fragten sie sich, wo sie in dieser Nacht wohl gewesen sei, bei wem?

Als sie früh um acht im Hotel angerufen hatte und Chiel nicht in seinem Zimmer gewesen war, hätte sie es schon wissen müssen. Acht Uhr ist die beste Zeit, mich anzurufen, hatte er gesagt, dann bin ich auf jeden Fall wach, aber noch nicht weg. Sie hatte den Mann an der Rezeption noch fragen wollen, ob ihr »Ehemann« vielleicht gerade beim Joggen sei, aber sie war sich auf einmal nicht mehr sicher, was das auf deutsch heißt.

Schnaufend stellte Chiel die letzte Tasche im Flur ab und wischte sich mit dem Handrücken den Regen aus dem Gesicht. Das Regenwasser war salzig, schmeckte nach Meer, Chiel konnte sich nicht erinnern, wann er diesen Geschmack zum letzten Mal auf den Lippen gespürt hatte. Er hatte sich beeilt, das ganze Gepäck so schnell wie möglich ins Trockne zu schaffen, doch als er die Haustür hinter sich zuzog, sah er, daß es aufgehört hatte zu regnen. Er hätte sich nicht so ins Zeug legen müssen. Aber er konnte nicht anders, sein Bestes zu geben war ihm in letzter Zeit zur zweiten Natur geworden. Er sah Dana in dem Zimmer gleich neben der Eingangstür stehen, über das eiserne Bettgestell gebeugt. Sie roch an den Decken. Ihre Nase, davor hatte er am meisten Angst gehabt. Daß sie es sofort riechen würde. Daß sie es riechen und schmecken würde, das Salz auf seinen Lippen. Als er wieder im Hotel gewesen war, hatte er bestimmt eine halbe Stunde in der Wanne gelegen, um die Nacht aus seinen Poren zu weichen.

Dana drehte sich um. »Was guckst du so?«

Er verjagte die Erinnerung mit einem Grinsen: »Dana, der Drogenhund.« Er bückte sich und hob Floris hoch in die Luft. »Ist das was, gefällt es euch ein bißchen?«

Zu dritt besichtigten sie in aller Ruhe das Haus. Die Küche war geräumig, mit einer niedrigen Anrichte aus Granit und einem schwarz-weiß gefliesten Spülbecken. In der Wand zum Wohnzimmer befand sich eine Durchreiche. Vor einem Fenster mit Blick auf die Dünen stand ein Glas, das einmal Nescafé enthalten hatte, gefüllt mit Zucker, daneben lagen ein Päckchen Kaffee und eine Packung Teebeutel.

»Hinterlassenschaft der vorigen Bewohner?« fragte Chiel.

»Ich glaube, wir sind die ersten in diesem Jahr.«

»Woher weißt du das?«

»Die Decken riechen noch nach Waschpulver.«

Nachdem er begriffen hatte, wozu die Durchreiche diente, wollte Floris nicht mehr auf dem Arm seiner Eltern ins Zimmer, sondern nur noch durch die Luke, und Dana ging ins Wohnzimmer, um ihn Chiel abzunehmen. Wieder fing sie an, Floris alles zu zeigen und laut beim Namen zu nennen: Eßtisch, Blumen, Korblampe, Stühle, Fernseher, Aschenbecher aus Glas – nein, nicht anfassen –, Kinderstuhl, Sofa, Couchtisch. Gardinen mit Blumen oder fleischfressenden Pflanzen – was soll es sein? –, Ofen, Bücherbord. Sie setzte Floris neben dem Couchtisch ab und öffnete eine Tür, die zu einem weiteren Schlafzimmer führte.

Ein Doppelbett nahm fast den gesamten Raum ein, neben der Tür war nur noch Platz für einen schmalen Schrank, in dem Kleiderbügel hingen. Schon seit Jahren wahrscheinlich, das Metall fühlte sich rauh an, als sei die salzige Luft sogar in den Schrank gedrungen. An den beiden Fenstern hingen gelbe Gardinen. Sie liebte diese Farbe, man hatte selbst an grauen Tagen das Gefühl, daß schönes Wetter sei. Sie streckte sich auf dem Bett aus, sah, daß es keine Nachttischlampen gab, wohl aber eine Steckdose kurz über der Scheuerleiste neben dem Bett. Sie würde eine der Stehlampen aus dem Wohnzimmer hierherstellen, denn sie wollte unbedingt im Bett lesen, und bevor sie es wieder vergaß, mußte sie Chiel doch einmal fragen, ob er »Die unendliche Geschichte« irgendwo liegen sehen hatte. Sie richtete sich auf, und im selben Moment fiel ihr ein, daß in dem anderen Zimmer ein Ofen stand, zu dem Floris hinkrabbeln konnte.

Vorsichtig berührte sie mit den Fingerspitzen die gußeiserne Ofenklappe, aber die war ungefährlich lauwarm. Trotzdem war es nicht feucht oder winterklamm im Haus, jemand mußte den Ofen heute eine Zeitlang höher gedreht haben, um die Kälte aus dem Haus zu jagen.

Floris schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und schaute sich um. Sein Mund stand auf, er sabberte vor Aufregung. Was sah er? Bestimmt nicht dasselbe wie sie. Er sah ein Sofa mit großen weichen Kissen, die er herunterziehen konnte, während sie, wenn sie dasselbe Sofa ansah, nur denken konnte, wie häßlich sie es fand. Ein braunes Holzgestell mit schrägen Armlehnen und einer auffallend hohen Rückenlehne; die quadratischen Kissen waren mit einem unverwüstlichen, grob gewebten, kackbraunen Stoff bezogen.

»Worüber lachst du?« Chiel legte seinen Arm um sie.

»Über die Einrichtung, das Sofa vor allem, wie aus der Vorkriegszeit.«

»Es ist nur für eine Woche.«

Schon als dieser Urlaub zum ersten Mal zur Sprache gekommen war und sie sich über das Foto von »Dünenrose« gebeugt hatten, war Dana nicht entgangen, wie gern er wollte, daß seine Wahl, seine Überraschung, ihr gefiel.

»Es macht auch nichts«, sagte sie, »sauberes Klo, der Ofen funktioniert, keine Kuhlen in der Matratze. Es ist ein prima Haus, wirklich.«

»Aber dieses Braun. Das Sofa hat genauso eine Farbe wie das Zeug aus dem Glas, mit dem wir Floris manchmal gefüttert haben. Was für ein Stil ist das? Oisterwijk?«

»Ostdeutsch.«

Es war ihr herausgerutscht. Sie hatte es einfach so gesagt und meinte nichts anderes damit, als daß das Möbel ein wenig ostblockartig aussehe.

Chiel wandte sich mit rotem Kopf ab und beschloß, so zu tun, als hätte er es nicht gehört. Kongreß stand seit etwa sechs Wochen auf der Liste belasteter Wörter, doch Ostdeutschland nun offensichtlich auch. Das konnte ja noch heiter werden … Er streckte sich. »Hast du schon irgendwo ein Kinderbett entdeckt?«

»Nein. Unter dem Bett im Aquariumzimmer vielleicht?«

»In welchem Zimmer?«

»Gegenüber dem Klo. Aber vielleicht auch oben, da bin ich noch nicht gewesen. Ich schau gleich mal …«

»Nein, ich gehe schon.«

Er eilte aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu, um so schnell wie möglich unsichtbar für Dana zu sein. Langsam stieg er die schmale, steile Treppe hinauf. Es war doch nicht seine Schuld, daß sie dahintergekommen war? Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er es geheimgehalten. Geheim, ein schwerwiegendes Wort für eine Nacht mit einer anderen Frau. Es müßte ein Wort geben für etwas, das man lieber für sich behält, eins, das weniger gewichtig ist.

Oben stieß er auf eine Tür mit einem kleinen weißen Metallschild, auf dem in schwarzen Buchstaben PRIVAT stand. Er konnte es nicht lassen und legte seine Hand auf die Klinke, doch die Tür gab nicht nach. Diese Nacht mit Helga hätte auch ein verschlossenes Zimmer bleiben müssen, von dem Dana nichts wüßte. Helga wohnte in Berlin, in einer Wohnung mit verschlissenem Linoleum auf dem Fußboden, das an den Scheuerleisten schon abbröckelte. Ein Bett, ein Küchentisch, an dem sie aß, arbeitete, Briefe schrieb, mehr stand dort nicht. Eine Wohnung, die so kahl war, daß er dachte, sie sei gerade dabei umzuziehen. Das hatte er sie auch gefragt. Sie hatte gelacht. Nein, so müsse es sein, so sehe es hier immer aus. Von dem Gehalt, das sie als Dolmetscherin verdiene, unterstütze sie ihre Mutter. Sie sei schon froh, daß sie eine Wohnung für sich allein habe; was für sie selbst übrigbleibe, gehe für Miete, Essen und Kleidung drauf. Während sie von den Problemen erzählte, sah sie ihn mit ihren großen braunen Augen unverwandt an, und er fragte sich, wie er ihr helfen könnte. Sie kannten sich jetzt seit drei Tagen, suchten ständig die Gesellschaft des anderen. Er durfte ihr doch wohl – einfach als Freund – etwas Geld anbieten: Hier, nimm es bitte an, für einen Teppich, einen guten Schreibtischstuhl oder eine bessere Lampe zum Arbeiten. Schäm dich nicht; als ich nichts hatte, ist mir auch geholfen worden. Doch je weiter der Abend fortschritt und die Flasche Wodka sich leerte, desto weniger dachte er ans Helfen, sondern nur noch ans Habenwollen. Und nachdem er die Nacht mit ihr verbracht hatte, wußte er überhaupt nicht mehr, wie er auf unverfängliche Weise seine Brieftasche zücken sollte, ohne wie ein Kunde zu wirken, ein Wessi, ein Großkotz. Sie war eine gut ausgebildete Dolmetscherin, sprach Russisch, Englisch, Niederländisch, er hatte Angst, sie zu beleidigen.

Später hatte er doch noch eine Lösung gefunden. Als er wieder in seinem Hotelzimmer war und triefend aus der Wanne kam, sah er das Buch auf seinem Nachtschränkchen liegen. Ein prächtiges, dickes, gebundenes Buch, in dem er noch keine Seite gelesen hatte, es sah aus, als käme es geradewegs aus dem Laden. Sie hatten es zu Weihnachten bekommen, Dana oder er, zusammen wahrscheinlich, von wem, wußte er nicht mehr, Danas Familie war zu Weihnachten immer sehr großzügig mit Büchern. Beim Mittagessen am letzten Kongreßtag hatte er es Helga geschenkt. Ein deutsches Buch in niederländischer Übersetzung, sie hatte sich darüber gefreut, fand es passend, aber eine unendliche Geschichte würde ihre gemeinsame Nacht wohl nicht werden? Nein, hatte er geantwortet, das würde sie nicht, in diesem Punkt sei er doch vom ersten Moment an sehr ehrlich gewesen? Er sei verheiratet und »nicht einmal unglücklich«, er sei sogar schon Vater.

Unten hörte er Dana mit Floris reden. Er konnte jedes Wort verstehen. So nah war sie in jener Nacht auch gewesen. Er hatte sie nicht vor sich gesehen, als er Helgas Bluse aufgeknöpft hatte, aber sie war dagewesen, die ganze Zeit.

»Nein, den Fernseher machen wir jetzt nicht an. Erst heute abend, genau wie zu Hause. Pfui! Aschenbecher. Erst wird Papa Floris’ Bett aufbauen, dann werden wir es beziehen … Ja, Kienapfel. Riechst du den Wald? Nicht in den Mund!«

Er hatte das Kinderbett längst entdeckt, auf dem Treppenabsatz, es lehnte zusammengeklappt am Geländer, daneben lag eine Matratze. Er hatte hier nichts mehr zu suchen. Außer der verschlossenen Tür, an der PRIVAT stand, gab es noch ein Zimmerchen hier oben, hellblau gestrichen, mit einem kleinen Fenster, das Aussicht auf die Dünen bot. Ein schöner Platz zum Briefeschreiben. Es hatte etwas von einer Zelle oder einer Kapelle, wenn man sich die Möbel wegdachte.

Er hatte Helga nicht nach ihrer Adresse gefragt, wollte sich nicht in Versuchung bringen, sie noch einmal anzurufen, ihr zu schreiben oder sich mit ihr irgendwo in Europa zu verabreden. Sie war beruflich viel unterwegs, es wäre ganz einfach gewesen, aber er wollte es nicht. Nicht noch verwirrter werden, als er ohnehin schon war, wenn er an jene Nacht dachte. Nicht, daß sie anfangen würde, sich nach ihm zu sehnen, ihn wiedersehen wollte, mal hier, mal da. Er mochte kein zerrissenes Leben führen, mit noch mehr Erinnerungen, die er Dana verschweigen mußte. Er war übermütig gewesen. Er vertrug keinen Wodka, er wußte es, und doch hatte er zwei Gläser getrunken, weil er einmal vergessen wollte, wer er war, wessen Mann, wessen Vater. Komischerweise fühlte er sich seit jener Nacht mehr denn je als Ehemann und Vater. Ein Vogel, der kreischend sein Nest bewacht.

Er stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte, beugte sich vor, um aus dem Fenster sehen zu können. Ihr Häuschen stand auf einer Düne, inmitten anderer Dünen mit Häuschen wie diesem, manche größer, neuer. Der Abstand zwischen den Häusern war groß genug, man konnte sich nicht gegenseitig ins Fenster schauen und nicht die Gespräche der anderen hören, wenn man draußen saß.

Er sah zu dem Haus, das ihrem genau gegenüberlag, in einer Dünenkuhle auf der anderen Seite des Badwegs. Wenn er sich beklommen fühlte, half es ihm immer, sich vorzustellen, daß in einem anderen Haus, neben ihm oder gegenüber, ein Mann herumlaufen würde, der das alles auch schon einmal erlebt hat, der ihn versteht und ihm väterlich zunickt. Doch die grünen Fensterläden des Hauses gegenüber waren geschlossen, die Saison hatte gerade erst begonnen. Die Straße, auf der sie gekommen waren, lag wie ausgestorben da, am Rand standen große Pfützen. Ihm fiel ein, daß auf der Insel keine Autos erlaubt waren, nur Busse, Taxis und die Autos der Bewohner. In der Ferne hörte er das Meer rauschen. Es war so still hier, daß er das Gefühl hatte, man könne seine Gedanken hören, Wort für Wort, als flüstere er sie jemandem ins Ohr.

Die Lügen hatten schon auf dem Flughafen angefangen. Er war halb fünf gelandet und hatte ausgerechnet, daß Dana, wenn sie ihn abholen wollte, schon um drei hätte losfahren müssen. Weil Floris da noch schläft, war er sicher, daß sie nicht dasein würde, er wollte den Zug nehmen. Aber sie stand da, er sah sie schon von weitem wegen des gelben Luftballons, den sie Floris ans Handgelenk gebunden hatte. Sie winkte, ließ Floris winken, und der Ballon winkte mit. Linkisch umarmte er sie, ihrem Mund ausweichend, und verhedderte sich dabei in der Schnur. Gereizt schlug er den Ballon weg, er konnte sie nicht küssen, nicht einmal flüchtig, wie sie es sonst in der Öffentlichkeit taten. Trotz all seines Badens, endlosen Zähneputzens, des Frühstücks und Mittagessens und etlicher Gläser Mineralwasser hatte er Angst, daß Dana den Verrat schmecken würde. Vor noch nicht einmal vier Stunden hatte er Helga zum letzten Mal geküßt. Um seine Verwirrung zu verbergen, stürzte er sich auf Floris. Seine Hände zitterten, als er seinem Sohn die blau-weiß gestreifte Mütze über die Ohren zog.

»Wie ist die Ohrenentzündung verlaufen«, fragte er, »ist das Fieber wirklich ganz weg?« Ich schwatz mich schon irgendwie aus der Affäre, dachte er dabei. Wenn wir erst einmal im Auto sitzen, kann ich so tun, als müßte ich auf den Weg achten, zu Hause kann ich im Badezimmer verschwinden, »mich frisch machen nach der Reise«, und danach muß ich dringend in mein Arbeitszimmer, um im Büro anzurufen, und morgen habe ich alles vergessen, habe ich nichts mehr zu verbergen, bin ich wieder ein Mann ohne Geheimnis.

Es war, als würde alles, was sie fragte, auf Helga hindeuten, als sei Helga ein Magnet, der jeden Satz, den Dana sagte, mit aller Kraft anzog. »Du warst kaum eine Stunde weg, da sank das Fieber schon«, sagte sie, während sie zum Ausgang gingen. »Ich glaube, er hat gespürt, daß wir zusammen weg wollten. Ich hätte ihn gut und gerne noch zu meinen Eltern bringen und einen späteren Flug nehmen können.« Er sagte nicht: Ja, das hättest du tun sollen. Er brachte es nicht über die Lippen. Vielleicht wiederholte sie deshalb immer wieder, wie schade es sei, wie schade, daß Berlin, die erste Möglichkeit seit Floris’ Geburt, mal ein paar Tage zusammen wegzufahren, ihr durch die Lappen gegangen war. Wenn ich erst einmal am Steuer sitze, dachte er.