Die letzte Karte des Johann Philipp Andreae - Roland Ballwieser - E-Book

Die letzte Karte des Johann Philipp Andreae E-Book

Roland Ballwieser

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Beschreibung

Ballwieser & Rinkes – die Spezialisten für humorvolle Frankenkrimis melden sich mit einem rasanten neuen Fall um ein historisches Verbrechen und eine Podcast-Schatzsuche zurück! In ihrem beliebten True-Crime-Podcast berichten Ina, angehende Journalistin, und ihre Großmutter Angie, eine pensionierte Geschichtslehrerin, regelmäßig über historische und zeitgenössische Kriminalfälle. Die neueste Ausgabe beschäftigt sich mit Johann Philipp Andreae, einem zwielichtigen Globenbauer, der 1760 in einem Schwabacher Kerker starb. Für die beiden Podcasterinnen zuerst nicht erklärbar, kommt es bald zu einem Social-Media-Hype um einen angeblichen Andreae-Schatz, der schnell Ausmaße annimmt, die an die Ereignisse rund um den »Drachenlord« denken lassen. Nach einigen merkwürdigen Unfällen ist schnell vom »Fluch des Globenbauers« die Rede. Als dann noch ein Toter auftaucht, stecken Großmutter und Enkelin tiefer in einem True Crime, als ihnen lieb ist …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 288

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Petra Rinkes und Roland Ballwieser sind ein Paar und schreiben seit vielen Jahren gemeinsam Bücher. Bei ars vivendi erschienen bisher u. a. Kunigundentod (2011), Goldschlägernacht (2012) und SchneeWehen (2015). Instagram: ballwieser.rinkes

Liebe Leserin, lieber Leser, sicher ist Ihnen auf dem Einband das Aktions-Logo des Vereins Junge Helden (www.junge-helden.org) aufgefallen. Man kann sich dieses Signet auch als Tattoo stechen lassen und damit signalisieren, dass man als Organspender zur Verfügung steht. Warum setzt der ars vivendi verlag mit seinen Büchern buchstäblich dieses Zeichen? Hätte ich selbst im Jahr 2006 nicht in allerletzter Sekunde das große Glück gehabt, eine Spenderleber zu erhalten, würden Sie dieses und viele andere Bücher von ars vivendi nicht in den Händen halten. Es ist mir ein Herzensanliegen, mich dafür einzusetzen, dass sich mehr Menschen bereit erklären, Organe zu spenden und damit Leben zu retten.

Ihr Norbert Treuheit, Verleger

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen

Originalausgabe (1. Auflage November 2025)

© 2025 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG,

Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

www.arsvivendi.com

Umschlaggestaltung: ars vivendi

unter Verwendung eines Fotos von unsplash.com

eISBN 978-3-7472-0726-0

Die letzte Karte des Johann Philipp Andreae

Sie zerrten den Mann aus dem Auto. Sein Mund war zugeklebt, seine Hände hinter dem Rücken gefesselt.

Abwechselnd schubsten sie ihn den Weg entlang, weg von den Häusern.

Sie sprachen kein Wort.

Es war stockdunkel und nieselte.

Nach ein paar Metern blieben sie plötzlich stehen. Einer der beiden lief im Laufschritt zurück zum Auto. Er öffnete den Kofferraum, holte etwas heraus und kam im Laufschritt wieder zurück.

»Schalte gefälligst dein Scheißhirn ein, sonst vergisst du das auch noch!«

»Ach, halt’s Maul! Los, weiter! Dann sind wir gleich fertig.«

Sie gingen noch ein paar Minuten, dann blieben sie stehen. Sie schubsten den Mann, sodass er ins nasse Gras fiel.

Der eine holte mit der Eisenstange aus.

*

»Hallo, ihr da draußen, hier ist wieder euer Lieblingspodcast, Ina und Angie – Verbrechen damals und heute. Wie immer mit mir, Ina, und endlich wieder mit Angie, die gestern von ihrer Reha zurückkam. Was macht dein Fuß, Angie?«

Angie, eigentlich Frau Doktor Angelika Müller, pensionierte Studienrätin für Latein und Geschichte, lächelte ihre Enkeltochter an.

»Liebe Ina, mich freut es auch, dass ich wieder dabei bin. Mein Fuß macht gute Fortschritte, danke. Aber ich muss gleich mit einem Geständnis beginnen. Ich habe nichts vorbereitet. Eigentlich wäre ja heute ich mit einem historischen Fall dran gewesen, aber in der Reha nehmen sie einen so hart ran, dass man abends nur noch müde ins Bett fällt.«

»Das glaube ich«, sagte Ina. »Ich habe die Bilder aus dem Hotel gesehen. Das gute Essen, die wunderbare Therme und die gut bestückte Hotelbar haben mit deiner mangelnden Vorbereitung überhaupt nichts zu tun. Stimmt’s?«

»Nein, ich schwöre, wie meine Schüler immer sagten. Aber so wie ich dich als gewissenhafte Journalistin kenne, hast sicherlich du an meiner statt etwas vorbereitet.«

»Das habe ich tatsächlich. Ich habe da einen, nein eigentlich gleich zwei kriminelle Herren aus dem achtzehnten Jahrhundert ausgegraben, die ganz bei uns in der Nähe tätig waren. Einer der beiden saß sogar hier in Schwabach im Kerker.«

»Da machst du mich jetzt aber neugierig. Und unsere Zuhörer*innen sicher auch.«

»Dann leg ich mal los. Es geht um Johann Philipp Andreae. Und von Beruf war er Globenbauer.«

»So wie Martin Behaim, dessen Globus im Germanischen Nationalmuseum steht.«

»Genau wie der, nur weniger berühmt, auch wenn seine Globen ebenfalls in einigen Museen stehen.«

»Globenbau ist aber kein Verbrechen. Was hat er denn angestellt, der Herr Andreae?«

»So einiges. Aber beginnen wir ganz von vorne, bei seinem Vater. Schon der war nicht so ganz gesetzestreu. Er hieß Johann Ludwig Andreae und war Pfarrer in Württemberg. Allerdings musste er seine Heimat verlassen, weil er in ein Mordkomplott verwickelt war.«

»Mordkomplott? Und da musste er lediglich das Land verlassen?«

»Es blieb zum Glück beim Komplott, ermordet wurde niemand. Johann Ludwig Andreae war auch nur am Rande beteiligt. Seine Pfarrstelle hatte er schon zuvor verloren, unter anderem wegen Ehebruchs und magischer Praktiken bei der Schatzsuche.«

»Das scheint ja ein sympathischer Zeitgenosse gewesen zu sein und ein tolles Vorbild für seinen Sohn. Ina, du machst mich immer neugieriger.«

»Die Familie landete schließlich in Nürnberg. Aber das reicht erst mal zum Vater, zu Johann Ludwig Andreae. Der bietet genug Stoff für eine eigene Folge.«

»Die übernehme dann ich.«

»Davon gehe ich aus. Johann Philipp, der Sohn, blieb in Nürnberg, als sein Vater die Stadt wieder verließ. Er betätigte sich als Globenbauer, Kartograph und Herausgeber.«

»Alles gut und schön, aber wo bleibt das Verbrechen? Bisher haben wir nur von einem kriminellen Vater gehört.«

»Gemach, gemach, liebe Angie, wie die Angehörigen deiner Altersgruppe zu sagen pflegen. Auch Johann Philipp, also der Sohn, saß mehrmals im Gefängnis, zum Beispiel wegen Urheberrechtsverletzungen oder Schulden. Seiner Ansicht nach war das alles völlig unberechtigt, und er wetterte gegen seine Gläubiger und Konkurrenten. Am Ende wurde er sogar zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt. Er hatte sich mit dem Nürnberger Rat angelegt.«

»Oha, voll cringe, wie ihr von der Generation Z zu sagen pflegt. Damit übertrifft er sogar seinen Vater. Eine saubere Familie, diese Andreaes.«

»Da hast du recht. Die bieten Stoff für mehrere Folgen. Also nimmst du dir für das nächste Mal den Vater vor, und ich mache danach mit dem Sohn weiter. Liebe Hörer*innen, das war heute lediglich ein kurzes Hallo von Ina und Angie, damit ihr wisst, dass es uns noch gibt. Weiteres zu den Andreaes hört ihr dann beim nächsten Mal. Wie ging es mit dem Vater weiter? Warum starb der Sohn, Johann Philipp, nicht in Nürnberg, sondern hier in Schwabach? Für alle, die nicht so lange warten wollen, habe ich in den Shownotes das Buch verlinkt, das ich verwendet habe.«

»Dieses Buch werde ich mir wohl ebenfalls besorgen müssen. Schließlich mache ich die nächste Sendung zum Vater Andreae. Ich freue mich schon darauf. Und wenn ihr, liebe Hörer*innen, genauso gespannt seid wie ich, was aus diesen beiden zweifelhaften Globenbauern wurde, dann schaltet wieder ein, wenn es heißt: Ina und Angie – Verbrechen damals und heute.«

»Und abonnieren nicht vergessen«, fügte Ina hinzu. »Und liken und einen netten Kommentar dalassen. Ciao.«

Ina stoppte die Wiedergabe. »Und?«, fragte sie.

Angie applaudierte. »Hervorragend! Aufnahme, Schnitt und Sendung an einem Vormittag, du hast dich selbst übertroffen.«

»Danke, danke. Ich bin so froh, dass du wieder dabei bist.«

»Jetzt machen wir aber Feierabend. Das kleine Nickerchen, während du den Feinschliff erledigt hast, hat mir gutgetan. Ein Glück, dass hier noch das alte Sofa steht. Jetzt aber raus aus dem Bandkeller. Ich schnalle mir schnell die Orthese wieder an und dann ab ans Tageslicht. Es ist Frühling.«

*

Patrick Wagner unterbrach seine Arbeit am PC. Eine Mitteilung ploppte auf. Die neueste Folge seines Lieblingspodcasts war soeben veröffentlicht worden. Ina und Angie – Verbrechen damals und heute. Angie, das war Frau Doktor Müller, seine ehemalige Latein- und Geschichtslehrerin. Sie konnte mitreißend erzählen und hatte es im Unterricht tatsächlich geschafft, sein Interesse für den trockenen Geschichtsstoff zu wecken. In Latein war ihr das leider weniger gelungen. Normalerweise hörte er Podcasts vor dem Einschlafen. Die waren genau das Richtige, um abends runterzukommen. So war er auch auf die Sendungen seiner ehemaligen Lehrerin gestoßen.

Er startete den Audioplayer.

Endlich war Frau Doktor Müller wieder zurück nach ihrer Fußverletzung. Dieser Johann Philipp Andreae, über den die Enkelin da berichtete, schien ein ganz interessanter Typ zu sein. Dem ging es ähnlich wie ihm selbst, nur eben dreihundert Jahre früher. Johann Philipp hatte Ärger mit Obrigkeiten, Probleme als Unternehmer und Geldsorgen. Wie Patrick selbst, er kannte das alles aus eigener Erfahrung. Wahrscheinlich hatte auch Andreae unzuverlässige Partner, die ihn in die Schulden getrieben hatten.

Schade, dass es kein Bild von diesem Andreae gab. Der Podcast hatte als Episodenbild nur ein altes Ölgemälde genommen, Der Astronom. Aber in etwa so könnte er ausgesehen haben, der Johann Philipp.

Wegen Ärger mit dem Nürnberger Rat wurde er zu Kerkerhaft verurteilt.

Patrick stoppte den Podcast und wandte sich an das Bild auf seinem Monitor.

»Tja, lieber Johann Philipp«, sagte er laut. »Mir blüht bald das Gleiche.«

Patrick hatte zwei Anzeigen am Hals. Dabei hatte er nur seine Meinung über die Schwabacher Wirtschaftsförderung im Allgemeinen und den hiesigen Sparkassendirektor im Besonderen zum Ausdruck gebracht. Deutlich. Er startete den Podcast erneut.

Verdammt, das Telefon. Er blickte aufs Display. Die Steuerberaterin. Da musste er rangehen.

Fünf sehr unerfreuliche Minuten später legte er wieder auf. Alle wollten nur sein Geld. Keinen interessierte, dass dieses Arschloch von der Bau AG ihn überall schlecht machte und er deswegen kaum noch Aufträge an Land zog.

Patrick merkte, wie die Wut wieder in ihm hochstieg. Er atmete durch und startete den Podcast noch einmal von vorne.

Der Podcast war zu Ende, und Patrick blickte auf das Episodenbild mit dem Astronomen.

»Soso, Johann Philipp«, sagte er zu diesem, »schon wieder haben wir was gemeinsam. Du bist in Schwabach gelandet und kamst von hier nicht mehr weg. Ich hänge auch in diesem verdammten Kaff fest, wo mich alle nur ausnutzen und Geld von mir wollen. Und keiner hilft mir.«

Oh Mann, jetzt führte er schon Gespräche mit einem Monitorbild. Er saß eindeutig zu viel am Computer. Er wechselte auf die Startseite des Podcasts. Von dort blickten ihn die beiden Podcasterinnen an. Man sah sofort, dass sie verwandt waren. Fast könnte man sie für Mutter und Tochter halten. Beide hatten dasselbe offene Lachen, beide hatten Locken, die eine in Blond, die andere in Grau. Lediglich diese grauen Locken verrieten, dass die eine doch eher die Großmutter war. Aber egal, ob Oma oder Enkelin, beide strahlten eine Energie und Lebensfreude aus, die Patrick momentan fehlte, weil sich alles gegen ihn verschworen hatte.

Aber Frau Doktor Müller war auf seiner Seite gewesen, damals, vor acht Jahren, in der Schule.

»Patrick Wagner.«

So, das war’s. Doktor Müller hatte ihn aufgerufen. Die letzte Abfrage vor Notenschluss. Und er war genauso wenig vorbereitet wie das ganze Schuljahr. Ach – wie die letzten drei Schuljahre.

»Patrick, bitte übersetzen Sie mir folgenden Text.«

Doktor Müller will es heute wirklich wissen. Sicher Cicero, In Catilinam. Mit dieser Lektüre hatte sie die Klasse schon das ganze zehnte Schuljahr gequält. Oder zumindest ihn. Die Streber und Mitläufer hatten daran vielleicht sogar Interesse oder konnten es gut vortäuschen. Doch eigentlich war es egal, welchen Text er übersetzen sollte, er würde bei jedem Text scheitern. Und bei einem Stand von 5,6 in Latein hieße das eine Sechs im Jahreszeugnis, und er würde sitzenbleiben, zum zweiten Mal. Der Klassenlehrer, Herr Kowalewski, hatte ihn schon Anfang des Jahres vorgewarnt. »Notenausgleich ist kein automatisches Recht, darüber entscheidet allein die Lehrerkonferenz. Und ein Notenausgleich wird nur genehmigt, wenn ein erkennbares Bemühen vorhanden ist. Bei Ihnen geht es also um Bemühen in Latein. Da nützen Ihnen Ihre guten Noten in Mathe und Physik erst mal nichts.«

Und er hatte sich erkennbar nicht bemüht. Stattdessen hatte er Bots für World of Warcraft entwickelt, kleine Programme, mit denen die Spieler automatisch Punkte und Ressourcen sammelten. Die hatte er über das Internet verkauft und sich ein kleines Taschengeld damit verdient.

»Vulpes esuriens uvam in vite vidit. Cupiens eam sumere, multis saltuum conatibus frustra fatigata, discedens dixit, ›Nondum matura est.‹ et abiit.«

Okay – am besten, er hisste gleich die weiße Flagge. Oder sollte er zumindest so tun, als bemühte er sich? Doktor Müller zuliebe? Er fand sie ja gut, in Geschichte mehr als in Latein. Patrick blickte auf und schaute auf den Text, den Doktor Müller am Beamer zeigte. Äh – Vulpes esuriens …? Also Cicero war das nicht. Das war doch etwas … aus der siebten Klasse! Die Müller war wohl doch nicht so nett. Die wollte ihn am Ende seiner Gymnasialkarriere noch einmal ordentlich bloßstellen mit diesem Anfängertext. Er blickte sich um. Seine Mitschüler und Mitschülerinnen interessierten sich nicht für das, was da vorging. Wie sie sich noch nie für ihn interessiert hatten. Er war für sie der kleine, dünne Computernerd mit den komischen Klamotten. Einige von ihnen kritzelten auf ihren Blöcken herum, andere blickten aus dem Fenster. Noah und Uli spielten Schiffe versenken. Nur Lara und Marie, die Streberinnen, schafften es, interessiert zu gucken, während sie wahrscheinlich innerlich genauso abwesend waren wie der Rest.

Gut, dann spielte er Doktor Müllers Spiel mal mit. Sollte sie was zu lachen haben.

»Vulpes esuriens …« Vulpes heißt Fuchs, esuriens hat was mit Hunger zu tun. »Esurisne?«, hatten sie sich zur Pause immer gefragt, in der Siebten, als Latein noch Spaß gemacht hatte, weil es neu war. Also hieß vulpes ensuriens …

»Der hungrige Fuchs …«

»Vorsicht, da steht nicht vulpus, sondern vulpes.« Doktor Müller wartete geduldig.

Vulpes, vulpes … »Die Füchsin.«

»Richtig, Patrick, machen Sie weiter.«

Okay, dann war das vielleicht doch keine Verarsche, vielleicht wollte sie ihm tatsächlich helfen. Er dachte fieberhaft nach. Also weiter. Uvam … uva hießen die Trauben im Spanischen, das wusste er aus dem Urlaub. Und die Geschichte kannte er. Es ging um diesen Fuchs, dem die Trauben zu hoch hingen.

Patrick kratzte alles zusammen, was sich an Latein noch in seinem Hirn befand.

»Ein hungriger Fuchs – nein: Eine hungrige Füchsin sah eine Traube hängen.«

Doktor Müller nickte. Patrick machte weiter. Einige der Vokabeln kannte er, den Rest phantasierte er zusammen, soweit er sich an die Fabel erinnerte.

»… ist nicht reif, und sie ging weg.«

Er atmete tief durch. Doktor Müller schrieb etwas in ihr schwarzes Notizheft. Dann blickte sie auf.

»Vier minus.«

Vier minus, vier minus. In Patricks Kopf ratterte es. Er holte den Taschenrechner aus dem Rucksack, den programmierbaren, der eigentlich verboten war. Er hatte darin alle Noten gespeichert. Schnell ergänzte er die mündliche Vier, kontrollierte noch einmal die Gewichtung von mündlich und schriftlich. Und … er konnte es kaum glauben: 5,50. Das reichte für eine Fünf. Er war gerettet!

»Alles in Ordnung, Patrick? Sie sind plötzlich so blass.«

Doktor Müller stand neben ihm. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie zu ihm gekommen war.

»Da-Danke, Frau Doktor, es ist alles in Ordnung.«

»Dann bin ich ja froh.«

Sie lächelte ihn an und ging zurück an ihr Pult.

»So, alle wieder aufwachen! Schlagen Sie Seite 49 auf. Video duas adhuc esse sententias … Wer übersetzt?«

Das Telefon weckte Patrick unsanft aus seinem Tagtraum. Er blickte aufs Display. Diesmal war es die Bank. Bei den verdammten Blutsaugern ging er nicht ran. Er wusste ja, was die wollten.

Er recherchierte lieber noch ein wenig über diesen Johann Philipp. Globenbauer, Kartograph, Astronom, Unternehmer, Ausbrecher aus dem Nürnberger Gefängnis. Cooler Typ.

Er stieß auf eine Seite, die Spielkarten zeigte, von Andreae entworfen. Jede Karte war einem Sternbild gewidmet und beschrieb dieses ausführlich.

»Das ist echt interessant, Johann Philipp.«

Patricks Opa hatte ein kleines Teleskop gehabt. Da hatten sie beide ab und zu mal Sterne gekuckt. Und die illustrierte Sternkarte seines Opas mit den vielen Bildern hatte ihn schon fasziniert, bevor er lesen konnte. Mit viel Fantasie hatte er die Sternbilder sogar am Himmel erkennen können.

Patrick sah sich Andreaes astronomische Spielkarten weiter an. Dann kam ihm eine Idee.

»So, Johann Philipp.«

Jetzt sprach er schon wieder mit dem Monitorbild – egal! »Jetzt werden wir beide den Arschlöchern da draußen mal zeigen, wie dumm und wie gierig sie alle sind. Das wird sicher spaßig. Und dann sind wir es, die lachen.«

*

»Meine Güte, mit dem Klumpfuß die Treppen hoch ans Tageslicht zu kommen ist die reinste Quälerei.«

Angie musste oben erst mal verschnaufen.

»Sollen wir, solange du diese Orthese tragen musst, den Podcast woanders aufnehmen?«, fragte Ina.

»Nein, das geht schon. Im Probenkeller ist die Akustik so gut. Du weißt, wie schwierig es ist, einen wirklich geeigneten Raum zu finden. Wo es nicht hallt wie in einer Kathedrale.«

»Dafür stinken meine Klamotten danach immer krass nach Rauch. Ich glaube, deine Oldieband raucht mehr, als sie Musik macht. Und nicht nur Zigarettentabak, so wie das müffelt.« Ina roch angewidert an ihrer Jacke.

»Die sind halt noch vom alten Schlag. Die trinken und rauchen, und ganz bestimmt essen sie nicht vegan.«

Angie sperrte die Tür zu. Sie kannte die Jungs von der Band schon seit mehr als fünfzig Jahren. Manche hatten zwar das Trinken und Rauchen aus gesundheitlichen Gründen einschränken müssen, aber ein Joint ab und zu ging schon noch, der war schließlich wie Medizin.

»Die könnten doch draußen rauchen, wie andere Menschen auch. Ich kenne niemanden mehr, der in Innenräumen raucht. Eigentlich kenne ich so gut wie keine Raucher mehr.«

Angie lachte. »Auf keinen Fall kann Charlie wegen jeder Zigarette die Treppe hoch, das lassen seine Knie gar nicht mehr zu. Ich mag den Gestank auch nicht, aber in den Siebzigern war das halt so. Bevor wir in eine Kneipe gingen, haben wir die Jacken im Auto gelassen, damit sie nicht tagelang gestunken haben. Und spätestens nach einer Stunde musste ich meine sauteuren Kontaktlinsen rausnehmen, weil meine Augen tränten.«

Ina schüttelte verständnislos den Kopf. Sie atmete tief ein.

»Heute ist so eine gute Luft, und warm ist es auch. Komm, lass uns ins Café Monk gehen, da kann man bestimmt schon draußen sitzen. Dann können wir ein bisschen quatschen. Wir haben uns schließlich fast vier Wochen nicht gesehen. Schaffst du das mit deinem Fuß?«

»Ist ja nur etwas mehr als über den Marktplatz, das geht schon. Du musst halt Geduld haben, mit der Krücke geht’s nicht so schnell.«

Im Café bestellte sich Ina einen Chai Latte mit Hafermilch und Angie einen Prosecco und ein Glas Wasser.

»Trinkst du wirklich kein Gläschen mit? Auf unser Wiedersehen? Ach, ihr jungen Leute seid manchmal wirklich spaßbefreit. Zum Glück bin ich eine alte Schachtel und kann tun und lassen, was ich will.«

Ina verdrehte die Augen. »Ich kann auch tun und lassen, was ich will, aber ich will eben nicht früh am Tag schon Alkohol trinken.«

»Schon gut, musst du auch nicht. Jetzt erzähl mal, wie du auf diesen Schwabacher Globenbauer gekommen bist. Von dem höre ich zum ersten Mal.«

Ina erzählte ihr von dem Artikel in der Zeitung anlässlich des dreihundertfünfundzwanzigsten Geburtstages von Johann Philipp Andreae. Sie hatte dann mit dem Redakteur gesprochen, der den Artikel geschrieben hatte. Der sei übrigens »voll krass nett« gewesen und habe ihr noch einige Hintergrundinfos gegeben.

»Da dachte ich mir, das ist zwar kein mega Kriminalfall, es spielt aber bei uns, in Schwabach und in Nürnberg. Also wäre das etwas für den Podcast.«

Während Ina erzählte, nippte sie einige Male an Angies Glas, ihr Chai Latte blieb unberührt. Angie winkte der Bedienung und bestellte zwei Proseccos.

»Noch mehr Prosecco«, fragte Ina. »Und dann gleich zwei? Ich hoffe, du kommst anschließend noch nach Hause. Ich kann dir nämlich nicht helfen, Thorsten holt mich gleich ab, wir wollen noch zum Schwimmen gehen.«

Angie hob das leere Glas in die Höhe.

»Du trinkst schon die ganze Zeit von meinem Prosecco, und da ich keine Lust auf dein Hafergetränk habe, muss ich mir noch einen bestellen und einen für dich, sonst bekomme ich ja wieder nichts ab. Und ja, keine Sorge, ich komme schon nach Hause.«

Ina schaute von Angie zum Proseccoglas und zurück und musste dann kichern. Die Bedienung brachte die beiden Gläser und zwei Decken, denn ganz so frühlingshaft war es dann doch noch nicht. Die beiden Frauen prosteten sich zu und besprachen ihre nächste Podcastfolge. Angie nahm sich vor, später noch das Buch über die beiden Globenbauer in der Buchhandlung am Marktplatz zu kaufen. Ina hatte zwar ein Exemplar, aber das lag in ihrer Wohnung in Nürnberg.

»Wie lange musst du denn diesen Monsterschuh noch tragen? Kannst du danach wieder tanzen oder dauert es noch länger, bis das wieder geht?«, fragte Ina, nachdem das »Geschäftliche« besprochen war.

»Der kommt hoffentlich nächste Woche runter, und dann könnte ich in ein paar Wochen eigentlich wieder tanzen.«

»Wieso eigentlich? Du hast doch so gerne argentinischen Tango getanzt, willst du denn nicht mehr?« Ina nahm das Proseccoglas, stellte fest, dass es schon wieder leer war, und nippte kurz an ihrem Chai Latte. Der war in der Zwischenzeit kalt geworden. Sie schob das Glas zur Seite.

»Ich würde gerne weiter tanzen. Für mich alte Frau war es nicht leicht zu erlernen, aber ich liebe Tango. Doch jetzt habe ich keinen Tanzpartner mehr. Johannes hat sich inzwischen eine andere gesucht.«

»Was, der wollte nicht mal die paar Wochen warten, bis du wieder fit bist? Das ist aber nicht nett von ihm.«

Ina winkte der Bedienung und bestellte zwei weitere Proseccos.

»Ina, mein Schatz, du hast ja keine Ahnung, wie begehrt männliche Tanzpartner sind. Als ich den kleinen Unfall in der Tanzschule mit dem blöden Blumentopf hatte, hat es sich unter den Frauen rasend schnell herumgesprochen, dass meine Achillessehne angeknackst ist. Johannes hat sich dann vor Angeboten nicht retten können. Leider gibt es nicht so viele Männer, die gerne tanzen, und die paar, die es gibt, die haben die freie Auswahl auf dem Frauenmarkt.«

Die Bedienung brachte die neuen Gläser und ein paar Nüsschen.

»Und wenn du mal Opa Peter fragst, jetzt, wo er wieder hier wohnt? Zeit hat er auch, er hat ja endgültig aufgehört zu arbeiten.«

Ina sah auf ihr Handy. In ein paar Minuten würde Thorsten auftauchen, und eigentlich hatte sie gar keine Lust mehr auf Schwimmen. Der Prosecco war ihr doch ziemlich zu Kopf gestiegen, und sie würde untergehen wie ein Kartoffelsack. Angie wischte mit der Serviette auf ihrer Bluse herum. Sie hatte sich verschluckt, als Ina den Vorschlag mit Peter, ihrem Ex-Mann, gemacht hatte.

»Peter und Tanzen, eher bringst du einen Elefanten zum Schlittschuhlaufen. Nicht, dass er es nicht könnte, ich glaube sogar, er wäre sehr gut darin. Aber was denkst du, wie oft ich ihn darum gebeten habe, als wir noch verheiratet waren? Du hättest ihn hören sollen. Nein, selbst wenn er jetzt wollen würde, ich würde ihn nicht fragen. Ich habe schließlich auch meinen Stolz. Peter und ich haben uns zwei, dreimal getroffen, seit er wieder hier ist. Es war immer unerwartet nett, mehr aber nicht. Tanzen ist halt erst mal gestrichen. Schade, aber kann man nichts machen. Ach schau, da kommt dein Thorsten.«

Inas Freund kam auf ihren Tisch zu, gab Ina einen kurzen Kuss, Angie die Hand und starrte dann auf die leeren Sektgläser, die neben dem halb vollen Chai Latte auf dem Tisch standen.

»Ina, können wir gleich los? Ich habe nur zwei Stunden Zeit, dann habe ich noch einen Termin mit meinem Prof. Entschuldigung, Frau Doktor Müller, aber wir wollten schwimmen gehen, wie jeden Montag.«

Ina seufzte. »Angie und ich haben ein bisschen gefeiert, dass sie wieder da ist.« Sie deutete auf die leeren Gläser. »Und ich glaube, ich kann heute nicht mehr schwimmen gehen. Setz dich doch zu uns, und wir lassen das Schwimmen heute einfach mal sausen. Das Wetter ist so schön, man kann das erste Mal in diesem Jahr draußen sitzen.«

Angie deutete auf den freien Stuhl. »Aber klar, setz dich ein bisschen zu uns und bestell dir was. Ihr seid natürlich eingeladen, zur Feier meiner Rückkehr und auch weil Ina so eine interessante Story für den Podcast entdeckt hat. Hat sie dir davon erzählt, Thorsten?«

»Nein, und danke für die Einladung, aber ich gehe jetzt schwimmen. Ina, ich rufe dich später an. Tschüss.«

Damit drehte er sich um und ging. Ina schaute ihm wütend nach. Angie legte ihr die Hand auf den Arm.

Ina schüttelte den Kopf. »Sag jetzt nichts, bitte. Ich will nicht darüber sprechen. Wollen wir noch etwas trinken? Komm, wir bestellen noch zwei Gläser, jetzt erst recht.«

Sie starrte eine Weile vor sich hin. Als die Proseccos kamen, nahm sie einen großen Schluck.

»Wo waren wir vorhin stehen geblieben? Ach ja, beim Tangotanzen. Warum willst du es nicht mit Opa Peter versuchen? Ich meine nur das Tanzen, nicht mehr, du weißt schon, was ich meine.«

Angie schüttelte den Kopf.

»Also erstens, warum sollte er jetzt plötzlich wollen? Und, ehrlich gesagt, mir wäre das echt zu intim. Mit Peter Tango tanzen, nee, das geht nicht.«

»Häh?« Ina beugte sich etwas vor. »Ich check grad gar nichts. Zu intim? Hast du nicht zwei Kinder mit Opa Peter? Wie kann da ein bisschen tanzen zu intim sein?«

»Ja, ich glaube auch, dass du gerade gar nichts checkst, um bei deiner Ausdrucksweise zu bleiben. Du hast ja keine Ahnung, was beim Tanzen alles hochkommen kann. Gute und schlechte Gefühle, nee, das geht wirklich nicht.«

»Aber mit diesem Johannes, da ging es?«

Ina wollte nicht aufgeben. Sie würde ihre Großeltern so gerne wieder als Paar sehen. Und jetzt war vielleicht die Chance, wo Opa wieder aus Wien zurück nach Franken gezogen war.

»Ja, mit Johannes ging das. Johannes und ich haben nämlich keine gemeinsame Vergangenheit. So, ich glaube, ich gehe jetzt nach Hause. Ich muss meinen Fuß ein wenig hochlegen, und ehrlich gesagt merke ich den Prosecco jetzt doch ganz schön. Die alte Frau braucht ihre Ruhe. Das Buch über die Globenbauer kaufe ich morgen, das schaffe ich jetzt nicht mehr. Ich hoffe, ihr beide vertragt euch wieder, du und dein Thorsten.«

Angie winkte der Bedienung und legte dann die Decke sorgfältig zusammen. Sie zahlte, nahm ihre Krücke vom Boden und stand auf.

Ina stand ebenfalls auf, musste sich jedoch kurz an der Stuhllehne festhalten.

Angie gab ihrer Enkelin einen Kuss. »Gut, dass du mit der S-Bahn fährst.«

*

Patrick tippte an seinem Computer. Die Idee mit der falschen Schatzsuche hatte ihn richtig gepackt. Er plante sie als eine Art Schnitzeljagd, die Stationen teilweise im Internet, teilweise vor Ort. Auf die Idee hatte ihn ein Internetartikel gebracht. Ein amerikanischer Milliardär hatte vor ein paar Jahren etwas Ähnliches gemacht. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass es bekannt wurde. Aber er war nicht umsonst IT-Sicherheitsexperte. Da kannte er sich auch mit den etwas weniger legalen Praktiken im Internet aus. Natürlich nutzte er die normalerweise nur zu beruflichen Zwecken, aber für seinen Prank waren sie Gold wert.

Er hatte bei TikTok und Instagram jeweils einen Account »JPAndreae« angelegt. Unter dem wollte er dann die Stationen der Schatzsuche posten. Jetzt brauchte es nur noch Follower. Doch falsche Follower und Abonnenten hinzuzufügen, das war für ihn eine einfache Fingerübung.

Er begann mit tausendfünfhundert aus Südkorea und fügte tausendzweihundert aus Taiwan hinzu. In Südostasien war es einfach, User zu faken. In Europa waren die Sicherheitsmechanismen der Internetanbieter strenger. Am Ende hatte er insgesamt fünfzehntausend falsche Follower für JPAndreae und achtunddreißigtausend Likes auf dem Beitrag »Die letzte Karte des Philipp Andreae«.

Bei so vielen Klicks würde der Algorithmus der Anbieter reagieren und allen Usern mit ähnlichen Interessen den neuen Beitrag vorschlagen. Wenn die dann darauf klickten, rutschte der Beitrag in der Rangliste noch weiter nach oben, wurde noch öfter vorgeschlagen und so weiter. Da vervielfachten sich die Nutzerzahlen oft innerhalb weniger Stunden.

Mal sehen, wann die ersten Schatzsucher anbeißen. Einen Schatz würde es am Ende natürlich nicht geben, nur eine große Blamage für alle, die an der Suche teilnahmen. Wie die genau aussehen sollte, das musste er sich freilich noch überlegen. Die ersten beiden Stationen waren schon fertig, beide mit den astronomischen Spielkarten von Johann Philipp Andreae. Zuerst gab es einen Hinweis im Internet, und wenn der gelöst war, musste man die nächste Station vor Ort finden. Um die zu erkunden, hatte Patrick zum ersten Mal seit seiner Konfirmation wieder eine Kirche betreten.

Ein paar seiner Fake-User hatte er in Kommentaren andeuten lassen, dass hinter dieser Schatzsuche ein unbekannter Millionär steckte und am Ende etwas richtig Wertvolles zu finden war.

Da konnten sicher die wenigsten widerstehen. Sie würden sich anstrengen, seine Rätsel lösen, die Örtlichkeiten absuchen und sich am Ende furchtbar ärgern. Diesmal war er am Drücker, und er war derjenige, der alle verarschte, anstatt von allen verarscht zu werden. Mal sehen, wie die ersten Stationen der Suche ankamen, dann konnte er sich ja überlegen, wie es weiterging.

Natürlich war das nur ein kindischer Scherz. Und er hatte weiß Gott andere Probleme. Aber es machte ihm Spaß, und er konnte ein bisschen Druck ablassen. Richtig schaden wollte er niemandem, nur einen Denkzettel verpassen. Sonst wäre er auch nicht besser als diejenigen, die ihm so übel mitspielten.

Auch damals, als er kurz vor seinem Abgang den Schulcomputer gehackt hatte, hatte er keinen echten Schaden verursacht, keine Daten zerstört oder Ähnliches. Beim Einschalten hatte der Computer lediglich eine Animation des Direktors beim Hula-Hoop-Tanzen gezeigt – in Baströckchen und mit Blumenkranz.

So ein kindischer Scherz konnte ungemein befriedigend sein.

Das Telefon. Verdammt, hoffentlich nicht schon wieder die Steuerberaterin. Er blickte aufs Display.

»Oma?«

»Ja, hier ist deine Oma. Patrick, was hast du gemacht? Du musst das in Ordnung bringen, hörst du? Weil …« Der Rest ging in Schluchzen unter.

»Oma, ist was passiert? Geht es dir gut?«

»Nein, mir geht es nicht gut. Die Bank hat angerufen. Sie haben gesagt, du antwortest nicht auf Briefe und gehst nicht ans Telefon. Und Raten hast du schon seit vier Monaten keine mehr bezahlt.«

Patrick blickte auf den Stapel Briefe, die auf der Ablage seines Schreibtisches ungeöffnet herumlagen.

»Weißt du, Oma, ich hab momentan viel um die Ohren. Und das Geld bezahl ich, wenn ich den nächsten Auftrag fertig habe.«

»Auftrag, Auftrag, immer ist es der nächste Auftrag. Patrick, die wollen mir mein Haus wegnehmen.« Wieder lautes Schluchzen.

»Verdammt. Oma …« Doch mehr brachte er nicht mehr heraus. Seine Oma war die letzte Verwandte, zu der er noch Kontakt hatte.

Das Schluchzen am anderen Ende der Leitung hörte auf.

»Fluchen hilft nichts, Patrick. Die wollen zehntausend Euro bis Ende des Monats. Sonst pfänden sie. Wo soll ich so viel Geld hernehmen? Ich habe nichts mehr. Die Heizung letztes Jahr hat fast zwanzigtausend gekostet, und Norbert brauchte Geld für ein Auto.«

»Du hast Vater wieder Geld gegeben? Du weißt doch, dass er das nur versäuft und verspielt.«

»Er hat mir geschworen, dass er einen Job in Aussicht hat, aber dazu muss er ein Auto haben.«

»Oma, Vater hat schon seit Jahren keinen Führerschein mehr. Und sein letzter richtiger Job … da war ich noch in der Grundschule. Kein Wunder, dass Mama ihn verlassen hat.«

»Hör auf mit deiner Mama! Deine … Mama, die hat euch beide im Stich gelassen. Einen Zwölfjährigen mitten in der Pubertät und einen Mann mit … Problemen.«

Patrick schwieg. Seine Oma hatte ja irgendwie recht. Aber irgendwie auch nicht. Er selbst hatte damals verstanden, dass seine Mutter es mit seinem Vater nicht mehr aushielt und wegging. Aber dass sie keinen Kontakt mehr zu ihm, ihrem einzigen Sohn, suchte, das verstand er bis heute nicht. Die ersten Jahre war noch ab und zu eine Geburtstagskarte gekommen. Ohne Absender. Seit er dann mit achtzehn von zu Hause ausgezogen war, hatte er gar nichts mehr von ihr gehört. Und dem Drang, in den sozialen Netzwerken nach ihr zu suchen, hatte er bisher widerstanden.

»Patrick, bist du noch da?«

»Ja, Oma. Du, ich bring das in Ordnung. Gleich heute ruf ich bei der Bank an. Ich hab noch ein paar Leute, von denen ich Geld bekomme, und ich muss noch einige Rechnungen schreiben. Die Zehntausend bring ich zusammen. Und dann sehen wir weiter.«

Am anderen Ende der Leitung war nur noch Weinen zu hören. Patrick fiel nichts Tröstendes ein. Er legte auf.

Verdammt. Es war ihm damals nicht wohl gewesen, als er Oma um eine Bürgschaft gebeten hatte. Aber die Bank wollte ihm nichts geben, so ganz ohne Sicherheiten. Und die ganzen Computer, Server, Router und die sonstige Ausrüstung für seine Cyber-Security-Firma kosteten Unsummen.

Dass die Firma nicht so lief, lag nicht an ihm. Sondern –

Verdammt, die Türklingel. Dass diese Paketboten immer bei ihm anfragen mussten, wenn sie ein Paket für die Nachbarn abgeben wollten.

*

Der Winter war zurück. Angie musste mit Schirm in der einen und Krücke in der anderen Hand gegen den böigen Wind ankämpfen. Am Marktplatz kurz vor der Buchhandlung war es am schlimmsten. Gestern war sie noch mit Ina draußen im Café gesessen, und heute hätte sie Handschuhe und Mütze gebraucht. Später, wieder zu Hause, würde sie Ina anrufen, vordergründig, um über die nächste Podcastfolge zu reden. Aber eigentlich wollte sie wissen, ob der Haussegen mit Thorsten immer noch schief hing. Ina war schon, seit sie sechzehn Jahre alt war, mit Thorsten zusammen. Angie fand, dass der jetzt, mit nicht mal dreißig, schon ganz schön spießig daherkam.

Vor der Buchhandlung klappte sie den Schirm zusammen. Mit nur einer Hand war das gar nicht so einfach, denn in der anderen hatte sie ja die verdammte Krücke. Die ging ihr so langsam auf die Nerven. Zum Glück kam gerade ein Mann mit schwarzer Kapuzenjacke aus dem Laden und hielt ihr die Tür auf. Sie sahen sich kurz an, und irgendwie kam er Angie bekannt vor. Sie hatte das Gefühl, dass der Mann etwas sagen wollte, aber dann war er auch schon draußen und eilte durch den Regen davon. Wahrscheinlich ein ehemaliger Schüler, das passierte Angie fast täglich. Schwabach war schließlich eine kleine Stadt, und sie war fünfunddreißig Jahre lang hier Lehrerin gewesen. Als sie endlich den Schirm in den Schirmständer bugsiert hatte, kam auch schon Sandra Bauriedl auf sie zu. Auch eine ehemalige Schülerin. Sie war nach der Zehnten vom Gymnasium abgegangen und hatte hier eine Lehre gemacht. Eine sehr gute Entscheidung, wie Angie fand, denn Sandra war eine hervorragende Buchhändlerin geworden.

»Guten Morgen, Frau Doktor Müller. Schön, dass Sie wieder da sind. Ich hoffe, die Bücher, die Sie in der Reha dabeihatten, haben Ihren Geschmack getroffen?«

»Ja, danke, wie immer haben Sie mich super beraten. Ich hatte allerdings weniger Zeit zum Lesen, als ich dachte. Ich bin also immer noch gut versorgt. Heute brauche ich etwas für den Podcast, Sie wissen schon, den, den ich mit meiner Enkelin mache. Sie hat da einen interessanten Stoff ausgegraben, der mit Schwabach zu tun hat. Und dafür brauche ich Der Globenbauer von Hans Gaab. Haben Sie das da?«

Sandra Bauriedl machte ein erstauntes Gesicht.

»Oh, Frau Doktor Müller, das Buch habe ich vor fünf Minuten einem jungen Mann verkauft. Sie sind ihm gerade begegnet, als sie reinkamen. Und leider war das unser einziges Exemplar. Das tut mir jetzt echt leid, aber ich kann das gleich ordern. Wer konnte denn ahnen, dass dieses Buch plötzlich so gefragt ist. Ich schau mal nach, wann das kommt, wenn ich es sofort bestelle. Bin gleich wieder bei Ihnen.«