Die letzte Metro -  - E-Book

Die letzte Metro E-Book

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Beschreibung

Wie und wo begegnet man der jungen tschechischen Literatur? Womöglich in der Prager Metro? Und ist die tschechische Kneipe immer noch der ultimative Ort der Inspiration? Das Bafeln beim Bier als literarischer Topos ist in diesem Buch nur der Ausgangspunkt für eine wilde Fahrt durch Bilder, Stile und Stimmen der eigenwilligen tschechischen Gegenwartsliteratur. Achtzehn Autorinnen und Autoren sind vertreten, oft erstmals ins Deutsche übersetzt. Mit Texten von: Bianca Bellová, Ondřej Buddeus, Dora Čechova, Vladimíra Čerepková, Irena Dousková, Emil Hakl, Petr Hruška, Václav Kahuda, Dora Kaprálová, Hana Lundiaková, Igor Malijevský, Jaroslav Rudiš, Tereza Semotámová, Petra Soukupová, Alžběta Stančáková, Michal Šanda, Filip Topol und Eva Turnová.

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Seitenzahl: 237

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DEUTSCHE ERSTAUSGABE

1. Auflage 2017

Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2017

© der deutschen Ausgabe by Verlag Voland & Quist GmbH

Korrektorat: Annegret Schenkel

Umschlaggestaltung: Illutwister

Satz: Fred Uhde

E-Book: zweiband.media, Berlin

ISBN: 978-3-86391-179-9

www.voland-quist.de

Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert mit Mitteln des tschechischen Kultusministeriums.

Inhalt

Martina Lisa/Martin Becker (Hg.)Die letzte Metro. Ein ErfahrungsberichtVladimíra ČerepkováDie MetroIgor MalijevskýDas Goldene GlöckchenBianca BellováDie letzte Nacht in FreiheitJaroslav RudišWindstilleEmil HaklPlanet ŽižkovPetr HruškaGebellKneipenuferNach HausFilip TopolTag und NachtTereza SemotamováLeben im SchrankVladimíra ČerepkováVerlust der SpracheEva TurnováAuf das VolkSpeeddatingOm Shantis willenEs werde LiebePetra SoukupováMontagmorgenBianca BellováDas Ende der SaisonOndřej Buddeusaus dem Leben der MauerseglerDora ČechovaLanges EinatmenFilip TopolDrei SongsselbstverständlichRussian mystic pop op. IV.RasierklingenHana LundiakováFremdessinaVáclav KahudaDie Frau von der StraßenbahninselMichal ŠandaRenatas ListeDora KaprálováBašu šiši děkni. (Fick disch, Leben!)Alžběta StančákováVerscheuertFluchtpunkteOndřej BuddeusDer tschechische Namenstag. Eine KurzfassungIgor MalijevskýMultikulturelles ZentrumIrena Dousková* * *Irena DouskováAlle fahren hinAutorinnen und AutorenQuellennachweise

Martina Lisa/Martin Becker (Hg.)

Die letzte Metro. Ein Erfahrungsbericht

Es gibt da diesen einen Satz. Vielleicht sollte ich mit ihm anfangen. Jeder, der schon mal in Prag war, kennt ihn. Seit mehr als dreißig Jahren dieselbe Stimme, die uns bittet, das Einsteigen und Aussteigen zu beenden. Und seit über dreißig Jahren ist das auch mein Satz. Manchmal höre ich ihn bis in mein Wohnzimmer hinein. Manchmal werde ich von ihm geweckt. Wenn die erste Metro des Tages gerade eingefahren ist.

Der Satz ist ein Versprechen. Ein Versprechen, das eingelöst wird. Hundertfach am Tag, tief unter der Stadt. Da wohne ich. Im grünen Bereich. Ein Stück hinter der Metrostation Jiřího z Poděbrad. Auf der Linie A. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört, in einer langen Nacht in irgendeiner Prager Spelunke. Der Mann, der die Metro kennt wie niemand sonst. Der Mann, dem die Metro ein Zuhause ist.

Die klaffenden Mäuler dieser Krake, die im Prager Untergrund ihre Glieder ausbreitet, schlucken und speien jeden Tag anderthalb Millionen Menschen aus. Abertausende im Minu­ten­takt. Du irrst im eisernen Ungetüm durch die Tunnel, getragen von den Wellen des menschlichen Gedränges und Gemurmels, aus einzelnen Wörtern und zerfetzten Sätzen wird eine Melodie, du verstehst sie nicht, summst aber dennoch sofort mit und suchst einen Halt auf dem in bunten Farben gemalten Plan. Drei Farben. Drei Richtungen. Drei Generationen. Die Türen schließen sich, die Bahn fährt an. Der unvergessliche Sound der Stadt unter der Stadt.

Vor über dreißig Jahren bin ich deshalb in den Untergrund gegangen. So hat man es Ihnen in der Prager Spelunke erzählt. Aber geglaubt haben Sie die Geschichte nicht. Einer, der im Tunnel lebt? Mit Wohnzimmer und echtem Bett? Und sie haben ihn nicht rausgeworfen, den Jiří vom Jiřího z Poděbrad? Aber mir können Sie das ruhig glauben. Es gibt mich wirklich. Sie müssen schnell sein, wenn Sie zu mir wollen. Zwischen zwei Bahnen in den Tunnel steigen, sich nicht erwischen lassen, dann die erste Tür fest aufdrücken, Notausgang, ganz fest, und dann ein Stück durch den finsteren Gang, erste Tür rechts, zweite Tür links. Und Sie stehen in meinem Wohnzimmer. Eine komplette Wohnung. Ein Zimmer, provisorisches Bad, Plastikblumen, Porzellan und ein riesiges Bücherregal. Wenn ich nicht der Metro nachschaue, dann lese ich. Eine Zeit lang hatte ich auch einen Fernseher, aber der ist mir zu langweilig geworden. Eine Zeit lang hatte ich auch Ratten, aber denen ist es mit mir zu langweilig geworden.

Vor über dreißig Jahren bin ich in den Untergrund gegangen. Weil sie mich beruhigt, die Metro, die minütlich an meinem, nennen wir es ruhig so, imaginären Wohnzimmerfenster vorbeirumpelt, die gerade erst Fahrt aufnimmt auf dem Weg zum nächsten Halt. Was wäre wohl passiert, wenn sie die Metro nie gebaut hätten? Wo würde ich heute leben? Vielleicht in einer ausrangierten Straßenbahn. Aber das wäre nicht dasselbe. Das wäre einfach nicht dasselbe.

Damals hielt man die Ingenieure für Fantasten, als sie die Idee einer Prager Untergrundbahn ins Spiel brachten. Man lachte sie aus für ihre versponnenen Pläne. Eine Untergrundbahn in Prag? Bei dem sandigen Boden? Und was ist mit dem Fluss? Diese Bahn wird es nie geben. Tatsächlich sollte es von diesem Augenblick an noch einige Jahrzehnte und einige historische Umwälzungen dauern, bis sich die ersten Wagen ihren Weg durch den Untergrund bahnten. Am 9. Mai 1974 wurde die Prager Metro eröffnet.

Am Anfang, da fuhr sie nur wenige Meter tief. Mangelnde Erfahrung im Tunnelbau. Den hat man aber ziemlich schnell erlernt. Die brauchten ja Bunker für den Ernstfall, den es nie gab. So entstand im Laufe der Zeit nicht nur die tiefste europäische Untergrundstation überhaupt, die den Frieden im Namen trägt, sondern auch ein ausgeklügeltes System aus Tunneln und Gängen. Und dann kam die Samtene Revolution, und viele Stationen wurden umbenannt, Lenin verschwand, und Moskau, die ganzen Fučíks und Gottwalds und mit ihnen auch die Erbauer der neuen Welt und die Kosmonauten. Die prächtigen Orte da unten hießen nun »Florenz« oder »Engel«. Wenn man ausstieg, roch es jedoch wie eh und je nach Kohle und Malz, die Luft war trüb, die Straßen voller Dreck und in der Kneipe an der Ecke wurde der Tag mit einem frisch gezapften Bier begrüßt. Die Namen änderten sich, aber das Bier schmeckte genauso bitter wie immer. Aus der Küche roch es nach verbrannten Zwiebeln und der alte Pianist stimmte wie aus dem Nichts den Brežněv-Blues an. Das Lokal schwankte mit. Später dann kam die Flut. Und wieder wurde alles anders. Mir hat es damals auch mein Hab und Gut weggespült. Ich habe geholfen, den Schlamm zu schippen. Tagelang. Freiwillig. Und dann bin ich wieder eingezogen, in meine frisch renovierte Bude unter der Erde.

Vor über dreißig Jahren bin ich also in den Untergrund gegangen. Und ich habe keinen einzigen Tag davon je bereut. Es gibt Geheimnisse, die kennt niemand außer mir. Weil die Planer des Systems längst unter der Erde sind, aber anders als ich. Hier vom Jiřího z Poděbrad aus, zum Beispiel, dem Tor zur Hölle des legendären Kneipenviertels Žižkov, führt ein Geheimgang. Das dürfen Sie aber niemandem erzählen, sonst kommen bald die Touristen. Dieser Geheimgang, und das schwöre ich bei der Metro, führt direkt in den Hinterhof des Planeten Žižkov. Das ist meine Lieblingskneipe. Da gehe ich hin, wenn mir der Sinn nach Gesellschaft steht. Aber erst nach Mitternacht. Ich genieße es, wenn sie mir nach dem zweiten, dritten oder vierten Bier meine eigene Geschichte erzählen. Und dann sage ich: Ein Typ, der in den Tunneln lebt? Das gibt es nicht, das kann es gar nicht geben. Denkt doch mal nach.

Vor Jahrzehnten bin ich in den Untergrund gegangen. Und vorher, da bin ich mit der Metro gefahren, von morgens bis abends, ich saß da und schaute mir die Gesichter an, von Endstation zu Endstation. In der roten Linie C, zum Beispiel, unter sandigem Grund und unter Wasser. Denn Sie wissen ja bestimmt, dass die Metro auch unter dem Prager Fluss fährt, der Vltava, der Moldau. Aber was Sie bestimmt nicht wissen: Man kann den Fluss auch hören. Wenn man es schafft, auf die Sitzbank zu steigen und ganz unauffällig sein Ohr an die Decke zu pressen, dann kann man es hören, das sanfte Schlagen der Wellen. Und sogar die alten Karpfen, die leise die Moldau-Sinfonie summen.

Und die letzte Metro ist die schönste Metro von allen. In der letzten Metro, da ist man melancholisch und will nicht, dass die Fahrt aufhört. In der letzten Metro, da ist man oft verliebt und mit dem Kopf ganz woanders. In der letzten Metro, da bleiben manchmal Gedichtbände liegen oder gleich ganze Romanmanuskripte. In der letzten Metro bleibt nur noch die zufriedene Müdigkeit oder die müde Unzufriedenheit, es gibt keine Fortsetzung mehr, denn die Geschichten des Tages sind geschrieben, die wir uns am nächsten Morgen erzählen werden. Die letzte Metro gehört den Originalen. Gestalten, die den Büchern entspringen könnten, die ich lese. Ich sehe die Gesichter nur kurz, wenn die Bahn ganz langsam vorbeifährt oder vor meiner Haustür für einen Moment stehen bleibt, und doch kommt es mir so vor, als würde ich ihre Geschichten kennen. Da war zum Beispiel ein alter Herr mit Saxofon in der Hand, ich stellte mir vor, wie sie ihn schon lebendig beerdigen wollten und wie er im letzten Moment doch noch aus dem Sarg sprang. Da war diese Frau, die einen ganzen Kleiderschrank dabeihatte, und ich malte mir aus, wie sie darin lebt. Da war dieser Mann, der trug ein neues Jackett unter dem abgewetzten Mantel und hatte eine Kerze in der Hand, und ich stellte mir vor, dass er ein Hotelportier aus der Kleinstadt ist, der die Kerze am Wenzelsplatz anzünden will für seinen Helden, für Václav Havel, den Dichterpräsidenten. Da war mal ein Kerl, der hatte tatsächlich seine Bergmannskluft an, und ich dachte mir, der ist bestimmt gerade aus Ostrava hierhergekommen, um in der letzten Metro allen die Geschichte von seiner schlimmsten Schicht unter Tage zu erzählen. Die letzte Metro fährt nach Mitternacht, und dann ist sie weg, und dann ist es für Stunden still in den Tunneln und Gängen des Prager Untergrunds. Wer die letzte Metro verpasst, der muss eine Odyssee auf sich nehmen, der irrt mit Nachtbussen und Nachttrams durch die schlafende Stadt. Wer die letzte Metro nicht kriegt, der kommt vielleicht gar nicht mehr nach Hause. Der geht wieder in die Kneipe und bestellt ein Bier und dann noch eins. Bis zum Anfang des neuen Tages, bis zum Ende der Nacht.

Wahrscheinlich bin ich wegen dieser letzten Metro überhaupt in den Untergrund gegangen. Weil ich weiß, dass ich sie dort alle sehen kann, die anderen Verlorenen, die Einsamen, die der Nacht und dem Bier entflohen sind. Manchmal, wenn die letzte Bahn des Tages abgefahren ist, dann lege ich mich in mein Bett und träume von ihnen. Ich träume ihre Geschichten weiter. Und dann geht es um die letzte Nacht in Freiheit. Dann geht es um Paare, die sich aneinanderklammern wie Schiffbrüchige. Dann geht es um Tauben und Mauersegler, die einander eigentlich nichts abgewinnen können, aber sich doch den Himmel über uns teilen. Und einmal, ich weiß es noch genau, da habe ich von mir selbst geträumt: Von diesem Typen, der im Seitenarm eines Tunnels der Prager Metro lebt und von unten aus die Welt betrachtet, den jeden Morgen immer wieder derselbe Satz weckt, den er dann hundertfach am Tag hören wird. Und er freut sich manchmal schon am frühen Morgen wie ein Kind auf die letzte Metro. Auf all die Gesichter und Geschichten. Und vielleicht geht er dann in die Kneipe und lauscht seiner eigenen Geschichte, die dort wieder mal erzählt wird und die selbst nach dem sechsten Bier kein Mensch dort oben glaubt.

Vladimíra Čerepková

Die Metro

Metro wie die flackernde Falle

bewacht beim Einstieg ein Biest

Gekrümmte drängen im Getümmel

Gestrandete speisen aus endlosen Säckchen

bloßer Fuß beschuht mit Krempel

streichelt den Schmutz

Igor Malijevský

Das Goldene Glöckchen

Mein dritter Tag in der neuen Arbeit. Da kommt meistens die Krise. Ich sitze mit weiteren zwanzig Menschen in einem Großraumbüro, niemand redet. Stattdessen wird gechattet. Dutzende Tastaturen klappern, das zarte Klackern ist voller Emotionen, Gleichgültigkeit wechselt sich mit Aufregung ab, wird zum lakonischen Schäkern, die Tastaturen schnurren, mal lacht einer kurz auf, mal greift sich ein anderer an den Kopf. Mir, zum Beispiel, schreibt in letzter Zeit immer Lenka. Allerdings am liebsten spät in der Nacht. So piepst es mal um zwei Uhr nachts:

schlafen sie schon? Sie mag das Siezen. Ich tue so, als schliefe ich, und lese dann am nächsten Morgen: es tut mir leid, ich war so einsam. Ich antworte, ich könne für Zerstreuung sorgen, am Abend zum Beispiel, wie wäre es denn mit Schwimmen, Kino, Theater oder Eistanz, worauf sie erwidert, es sei sehr lieb von mir, sie habe aber abends keine Zeit. Darauf folgen üblicherweise etwa fünf Tage Ruhe.

In einer halben Stunde ist Feierabend. das war das schlimmste jahr meines lebens, es tut schon sehr weh, wenn man sich so sehr um etwas bemüht und am ende wirds nichts. verstehen sie? nicht dass ich noch vulgär werde, schreibt Lenka, ich packe zusammen, Rechner, Kamera, Handy, und ab an die frische Luft. Feierabend.

ich fühl mich richtig elend …, piepst meine Hosentasche auf der Rolltreppe. Ich antworte nicht. Ich stehe an der weißen Linie, starre in die Unendlichkeit des Tunnels, die muffige Luft zerzaust mein Haar. Als Kind hatte ich oft einen Albtraum, ich stehe am Bahnsteig, und plötzlich bricht Panik aus, alle rennen, in die Station fährt eine gepanzerte Militärmetro ein, keine Fenster, nur Schießscharten, alles in mir schnürt sich zusammen, zum Abhauen ist es viel zu spät, merke ich und wache auf. was machen sie heute abend?, piepst meine Tasche erneut, dann ist der Empfang weg. ich warte auf sie im cross, schreibe ich in der nächsten Station zurück.

Rundherum nur Rohre, einige enden in einem komisch angeleuchteten Gefäß, wo eine verdächtige Flüssigkeit blubbert. Die Mädels an der Bar haben nur mäßigen Spaß, aber meinen Wein kriege ich dennoch. Und den zweiten auch. Von der Decke blättern Wörter ab, aber nur einige, das Wesentliche bleibt unausgesprochen. Ich notiere sie auf die Rechnung. Zwischendurch piepst hin und wieder mein Handy. das war der schlimmste sommer meines lebens! und dann: ich schaffs heute abend wohl nicht mehr.

»Ich nehm noch einen und werd gleich zahlen.« Das nächste Wort fällt ins Glas.

nicht zu ende gesprochene sätze

bluteten aus an bars

röteten das meer

der straßenbahninseln

huschten durch schlafzimmer

und in allerletzter agonie der sinne

küssten sie den trunkenen

auf die schläfe …

Die Straßenbahn kommt gleich, und ich steige ein. Der Wagen stößt mit Kraft von der Insel ab, die Stadt beginnt fröhlich zu blinken, die Schienen schwanken, und der Mond strahlt auf die Ränder der Wolken. Der Typ gegenüber fängt meinen Blick und lässt ihn nicht mehr los. Ich versuche ihn so nebenbei einzuschätzen. Leicht ergrautes Haar, um die vierzig, schlechte Zähne, nach seiner Kleidung zu urteilen wohl ohne Frau, ein gealterter Rocker vielleicht oder ein Hippie, den alle aus der Clique schon verraten haben, doch er bleibt seinen Idealen – jeden Abend ins Jericho oder in ein ähnliches Loch – treu. Vorsichtig richte ich meinen Blick auf etwas anderes. Da steht der Typ auf, setzt sich auf den Sitz vor mir und streckt mir seine Hand entgegen.

»Ahoj, ich bin Jirka. Schöne Kamera, eine Flexaret?«

Unsere Daumen verhaken sich. Jirka hat raue Hände, an zwei Fingern fehlt die Kuppe.

»Yashica«, antworte ich lustlos.

»Yashica, ach so, na, die hat schon ’ne bessere Linse.«

»Hmm.«

»Ich hab immer mit der Flexaret geknipst. Sag mal, kann ich dich was fragen?«

Ich schaue aus dem Fenster und spüre Druck auf der Blase. Jirka deutet es als Zustimmung.

»Haste zehn Kronen für mich?«

»Nein.«

»Dann sorry, Mann.«

Die Straßenbahn schaukelt hin und her, aber die Großstadt leuchtet plötzlich ganz anders, irgendwie müder, irgendwie gedämpfter. Als wir Čechův most erreichen und über die Brücke fahren, kommt mir wieder die gepanzerte Metro in den Sinn, mitsamt allen Details der Ummantelung. Die ist zackig, vermutlich habe ich damals Zeichentrickfilme von Karel Zeman geschaut.

»Geld kriegste nicht, aber ich lad dich auf ein Bier ein, im Rudolfinum«, sage ich zu meiner eigenenen Überraschung.

»Dein Ernst, Mann? Na, da sag ich nicht Nein. Danke, Mann!«, stimmt Jirka zu.

Die Kneipe ist ziemlich voll, ich halte mir die Möglichkeit zum schnellen Rückzug offen. Wir platzieren uns auf den Barhockern gleich neben der Tür.

»Die Quadrate, was?« Jirka nimmt das Thema wieder auf und blinzelt immer wieder auf die Kamera. »Kriegste überhaupt noch Filme dafür?«

»Bist du Fotograf?«

»Nein, um Gottes willen, da bin ich völlig raus. Aber früher hab ich mal Fotos gemacht, ich hatte auch einen Vergrößerer und alles …«

»Und warum hast du das aufgegeben?«

»Wegen dem Saufen, alles wegen dem Saufen«, vertraut sich mir Jirka an. Ich zeige dem Kellner zwei Finger. »Alles hab ich versoffen, selbst die Familie. Alles versoffen, jetzt bin ich komplett raus. Den Sohn hab ich auch versoffen.«

»Und wovon lebst du?«, will ich wissen.

»Pfandflaschen und Sammeln, hauptsächlich«, erklärt Jirka redlich. »Papier, Bücher. Meistens Antiquariat, manchmal nehm ich mir auch was mit in den Kabeltunnel.«

»Wohin?«

»Kabeltunnel. Heißwasserleitung. Ich hab da eine Stelle, da gibt’s sogar Licht, da kann ich auch lesen.«

»Und wie lange bist du schon…?«

»… auf der Straße? Seit fünfzehn Jahren. Im Sommer in einem Zelt auf der Insel. Im Winter im Kabeltunnel. Fünfzehn Jahre. Ich bin schon komplett raus.«

»Und dein Sohn? Siehst du den manchmal?«

»Ich hab den schon seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Außerdem, die Jungs würden ihn dann eh nur auslachen, oder? Ich bin raus. Aber der Kleine kommt nicht nach mir, er ist clever. Kennste das Goldene Glöckchen?«

»Nein.«

»Das Goldene Glöckchen. Da ist so ein Wettbewerb vom Rundfunk. Für junge Musiker. Und er hat’s letztes Jahr gewonnen. Kennste das? Vom Rundfunk.«

Ich lade also auch noch Bill Gates auf ein Bier ein und klappe den Rechner auf. Free WiFi gibt es hier, Kabeltunnel der Luft.

»Wie heißt er denn?«

»Na, wie ich. Hujer. Honza Hujer. Also Jan Hujer. Das Goldene Glöckchen. Vom Rundfunk.«

Google frisst alles und kurz darauf spuckt es ein Bild aus, das Foto eines schüchternen blonden Jungen, Karohemd, kurze Ärmel, auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, in der Hand eine Querflöte.

»Warte mal, das ist er! Das gibt’s doch nicht. Wir reden hier über ihn und … Guck an, das ist Honza! Er hat den Wettbewerb gewonnen!«

Jirka schießt plötzlich hoch und der hölzerne Barhocker fällt zu Boden.

»Das ist doch Honza. Na, guck an …«, wiederholt er und schaut stumm auf den Bildschirm. Dann winkt er ab, mit der Hand, an der ihm zwei Fingerkuppen fehlen.

»Na ja, Honza. Der ist geschickt. Nicht wie der Vater. Was haste noch so da? Haste auch deine Bilder?«

»Ja, willst du sie sehen?« Ich trete von einem Fuß auf den anderen. Der Kellner bringt uns zwei Bier.

»Aber hallo. Klar will ich sie sehen.«

Die Maus huscht durch eine Bierlache.

»Hier. Mit den Pfeilen kommst du weiter.«

»Das ist echt gut. Da hast du wohl Licht fotografiert. Aber es ist nicht nur das Licht, es ist auch die Dunkelheit. Es ist diese Grenze da. Der Weg des Lichts und rundherum die Dunkelheit. Umherirren. Mit dem Pfeil, ja?«

Ich nicke.

»Das hier gefällt mir auch. Der Typ schaut nach innen. Vielleicht ist er neugierig, oder ihm ist kalt. Er würde gern hinein, er schafft es aber nicht. Dieses Tor da, wie so eine Burg oder so. Er muss draußen bleiben. Aber das Fensterlicht lässt ihn nicht los, und so steht er da und kann sich nicht bewegen. Sonst hättest du ihn auch nicht knipsen können, in der Dunkelheit. Mit dem Pfeil, ja?«

»Ja.«

»Eine Frau, die durch die Stadt schreitet. Die Frau, von der du morgens träumst … Und hier, diese Beine, kleine Blende, als würden sie fliegen … gutes Licht … vom Schatten gejagt, vom eigenen Schatten …« Zuerst spricht Jirka mit mir, dann mehr und mehr nur noch mit sich selbst. Er ist drin, ist eingetreten, läuft herum, grüßt alte Bekannte, ab und zu drückt er die Pfeiltaste, um ins nächste Zimmer zu kommen, manchmal kehrt er noch mal zurück, zu Bildern, die er schon gesehen hat, und begrüßt sie. Er ist im Haus, in dem er einst gewohnt hat. Berührt seine Wände, untersucht es, nimmt sich Zeit, genießt es …

Ich wippe nervös neben ihm, trete von einem Fuß auf den anderen. Der Kampf ist nicht zu gewinnen. Der hört so schnell nicht wieder auf. In drei Minuten fließt das Bier unten aus mir raus … verdammt. Ich kann ihm doch nicht den Firmenrechner dalassen.

»Und dieses kleine Mädchen hier an der Wand, Alice. Alice hinter den Spiegeln. Sie betritt eine andere Welt, hier ist wichtig, dass die Wand kein Ende hat, aber es gibt da einen Durchgang, der irgendwohin führt, wo du nicht hinsehen kannst.«

»Du, Jirka, sag mal …«

»Jaa, wie der Baum sich selbst anguckt im Spiegel …«

»Du, Jirka … Ich muss … Du passt auf meinen Rechner auf, ja? Ich muss pissen.«

»Klaro. Mit dem Pfeil.«

Ich renne die Treppe hinunter.

ich habe sie nicht mal gefragt, wie ihr tag war?, piepst es in meiner Tasche. Ich muss es mal ausschalten. Aber nicht dass hier Missverständnisse entstehen, ich bin doch nicht unerreichbar! Ich bin hier, im Rudolfinum. Alles lebt und tobt hier. Ich atme den Geruch der Pisse ein, berühre den Putz, halte meinen Schwanz, bald wasche ich mir die Hände und schaue nach dem Rechner. Ich bin nicht unerreichbar. Ich stehe am Pissbecken.

nicht zu ende gesprochene sätze

wie kinderlose frauen

wahnsinnige bedeutungen

die nichts mehr tragen

Mir fällt noch ein, dass die gepanzerte Metro kein normales Licht hatte wie die Passagierwagen, sondern nur einen großen Frontstrahler. Flutlichtscheinwerfer. Papiertücher sind aus, ich trockne meine Hände an der Hose ab und steige voller Spannung wieder hoch zur Theke. Für mich zwei Wochen Arbeit, für Jirka Einkünfte von einem Vierteljahr. Außerdem ist ja sein Sohn da drin. Als ich oben ankomme, steht an unserem Platz ein Haufen fremder Männer. Einer von ihnen, Pelz mit weißem Kragen, ein natürlicher Anführer, den die anderen bei jeder Meinung, die sie äußern, schweigend um Zustimmung bitten. Was allerdings, von außen betrachtet, nicht allzu oft vorkommt. Unsicher bewege ich mich auf sie zu. Und dann höre ich wieder Jirkas Stimme: »Schaut euch diesen Hund an: Er greift euch an, und gleichzeitig hat er vor euch Angst. Da ist beides drin. Und man weiß nicht, ob er zubeißt oder wegrennt. Und das Bein, diese Komposition zum Ast. Im Hund wie im Baum ist sie drin. Diese gefährliche Traurigkeit.«

Der Typ im Pelz nickt und zeigt mit dem Finger auf den Bildschirm. Die anderen Männer brummen zustimmend, und ich schiebe mich zwischen sie.

»Das sind wunderschöne Bilder, mein Herr«, verkündet der Pelzmann feierlich.

»Ich selbst male ein wenig, in meinem Hotel habe ich eine, wie ich finde, sehr schöne Galerie. Kommen Sie doch vorbei, wir werden uns bestimmt einigen können«, verabschiedet sich der Hotelbesitzer und reicht Jirka seine Visitenkarte.

»Na, da sag ich nicht Nein. Danke.«

sind sie mir böse?,piepst es in meiner Tasche. Ich drücke den roten Knopf und halte ihn gedrückt, bis das Handy ganz verstummt. Jetzt gibt’s ein paar Tage Ruhe.

Jirka trinkt sein Bier aus, dann schaut er mir in die Augen.

»Kann ich dich mal was fragen?« Ich starre in mein leeres Bierglas und spüre erneut Druck auf der Blase.

»Haste zwanzig Kronen für mich?«

Bianca Bellová

Die letzte Nacht in Freiheit

Der Fußboden unter Zbyšeks Füßen schaukelte ein wenig. Vorsichtig bewegte er sich durch den Flur, er hielt sich an der Wand fest, scheute jedoch den Blick darauf, vom grünlichen Anstrich war ihm nicht gerade wohl zumute. Dann ertastete er irgendeine Tür und drückte die Klinke.

In dem schmalen Raum erkannte er die Umrisse zweier Betten, an jeder Wand eins, wie es in Wohnheimen so ist. Auf dem linken Bett eine schnarchende Silhouette. Das rechte Bett war leer, sogar gemacht. Hochkonzentriert trat Zbyšek über einen undefinierten Haufen auf dem Boden, stolperte über einen Rucksack und fiel schimpfend auf die Bettkante. Er rollte sich zusammen; die Bettwäsche roch nach Stärke und einer Frau, eine schwer beschreibbare Mischung aus Wiesenblumenduft und Kosmetikmitteln, deren Sinn und Zweck sich Zbyšek nie erschlossen hatte. Wenn er auf der Seite lag, schaukelte die Welt nicht mehr ganz so wild. Er atmete durch den Mund und hielt sich das angeschlagene Schienbein. Seine Hosenbeine fühlten sich feucht an. Allmählich fielen ihm die Augen zu. Und dennoch war ihm irgendwie bewusst, dass dies die letzte Feier gewesen war, dass er morgen seinen Wehrdienst antreten würde. Er seufzte leise.

Die Dunkelheit des Zimmers durchschnitt ein Lichtkegel aus dem Flur, mit ihm strömte wie durch einen Filter auch Musik hinein, hauptsächlich Bässe. Joy Division, dachte Zbyšek zufrieden.

»Aach«, hörte er neben sich, danach ein Kichern. Eine unerwartete Energieflut durchfuhr ihn.

»Na, was haben wir denn da?«, fragte er neckisch und drehte sich zur Stimme.

Am Bett stand die Göttin der Feier, die rothaarige Miládka, und rang um ihr Gleichgewicht. Den ganzen Abend hatte er die Augen kaum von ihr lassen können, doch alles nur ganz platonisch, selbstverständlich, sie unterhielt sich ja mit Tomáš. Miládka hatte genau die Figur, auf die er stand, einen Hauch von etwas Ätherischem und glitzernde blaue Ohrringe.

»Was für eine …«, flüsterte er. Es kam ihm sehr unwahrscheinlich vor, dass das, was er da gerade erlebte, auch tatsächlich passierte. Zumal, weil Miládka, abgesehen von Männerschuhen und ihren Glitzerohrringen, splitternackt war. Er setzte sich auf dem Bett auf. Miládka ging auf ihn zu. Sie ließ ihn ihre vollen, milchig weißen Brüste anfassen, und Zbyšek hatte sich verliebt.

Unendlich langsam zog er sie zu sich aufs Bett, von der Nachbarliege tönte weiterhin das regelmäßige Schnarchen herüber. Miládka lächelte zufrieden und hielt ihre Augen geschlossen. Sie roch nach Johannisbeeren. Zbyšek zögerte nicht, er wusste, dass jeder Zweifel fatale Folgen haben könnte. Das hier war die Erinnerung, die er sich zum Militär mitnehmen wollte, sie würde ihn dort, da war er sich sicher, über Wasser halten.

»Wie schön«, stöhnte sie, als er in sie eindrang, und umschloss ihn fest mit Armen und Beinen.

»Fünf lange Jahre haben wir darauf gewartet, und nun endlich, Tom«, flüsterte sie und biss ihm leicht ins Ohr.

Zbyšek erstarrte und das Gefühl, das ihn noch kurz vorher überflutet hatte, dass das hier nur eine schnelle heiße Nummer wird, verebbte. Er spürte, wie er abkühlte wie ein ofenfrisches Brötchen, das in den eiskalten Schnee gefallen war.

»Fünf Jahre lang, ich kann’s immer noch nicht fassen…«, flüsterte sie verträumt. »Was ist los mit dir, Tom?«

Diese verdammte Erziehung zur Ehrlichkeit, schoss ihm durch den Kopf. Es half alles nichts, sie war einfach stärker als er. So gerne hätte er weitergemacht, doch er konnte einfach nicht. Ihm wurde übel.

»Ich bin nicht Tom«, sagte er traurig.

Für einen Moment hörte Miládka auf, sich an ihn zu schmiegen, sie öffnete ihre Augen und blinzelte ihn mit leicht kurzsichtigem Blick an. Dann drehte sie den Kopf zur Seite und drückte ihn wieder fest an sich, sie grinste und mit resignierter Stimme erwiderte sie: »Weißt du was, ist auch egal.«

Im Flur hatte gerade jemand gekotzt.

Jaroslav Rudiš

Windstille

Erwachsen wurde ich auf Rügen. Ich war sechzehn. Ich lag auf dem Rücken, am Himmel waren ein paar kleine Wolken drapiert, doch zwischen ihnen gab es noch genug Platz für Blaugrau, der Himmel ist hier immer blaugrau. Das Meer unter mir und um mich herum bewegte sich kaum, es war nur ein ganz sachtes Zittern. Ich schlief ein und wachte wieder auf, wie es halt so ist, auf einer Luftmatratze mitten in den Ferien. Auf einmal hob mich eine Welle an. Dann noch eine. Der Wind war da.

»Lass uns umkehren«, rief mein Vater, der neben mir auf seiner Luftmatratze trieb. Und ich glaube, genau in diesem Moment blickte ich zurück. Unsichtbare, stille Strömungen hatten uns gut einige Hundert Meter vom Ufer fortgetragen.

Wir steuerten das Ufer an. Doch das Meer wollte uns nicht lassen, und statt uns dem Ufer zu nähern, wurden wir immer weiter fortgetragen. Der Strand mit Mutter und der kleinen, schreienden Schwester schrumpfte zu einem schmalen Strich, genauso schmal wie einige Jahre später bei meinem ersten negativen Schwangerschaftstest.

»Keine Angst, alles wird gut«, versuchte Vater mich zu beruhigen, doch ich hatte keine Angst. Ich war erstaunlich ruhig, das Ganze habe ich erst viel später begriffen. Ich mochte die Vorstellung, weggetragen zu werden. Verschwinden. Nicht mehr sein. Und außerdem wusste ich, dass am Ende immer alles gut wird.

Vater begann, wie besessen mit den Armen zu fuchteln, er schrie, aber seine Worte verschluckte der Wind. Er versuchte, sich auf die Luftmatratze aufrecht zu stellen, die knickte aber unter ihm ein und er verschwand unter Wasser. Dann tauchte er wieder auf, schwamm zu mir und hielt sich an meiner Luftmatratze fest.