Die letzte Terroristin - André Georgi - E-Book
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Die letzte Terroristin E-Book

André Georgi

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Beschreibung

Für ihre Überzeugung würde sie alles opfern – fast alles

Eine Frau in den Fängen des Terrorismus, unterwegs in einer waghalsigen Mission. Ihr Zielobjekt: einer der meistgehassten Männer der wiedervereinigten Republik. Ihr Gegenspieler: ein unter Druck geratener BKA-Ermittler. In die Enge getrieben steht sie plötzlich vor einer Entscheidung, die nicht nur ihr eigenes Leben verändern wird …

Berlin, 1991: Treuhandchef Hans-Georg Dahlmann muss die Staatsbetriebe der untergegangenen DDR in die Privatwirtschaft überführen und ist der meistgefährdete Mann nach der Wende: Verhasst im Osten, im Konflikt mit westdeutschen und internationalen Unternehmen, potenzielles Zielobjekt der RAF.
BKA-Mann Andreas Kawert ist der jüngsten Generation der Terrorgruppe auf der Spur. Hinweise verdichten sich, dass ein Attentat auf Dahlmann bevorsteht. Eine Frau rückt in den Fokus des Ermittlers. Doch ist er wirklich hinter der Richtigen her? Und wird er es schaffen, das Attentat zu verhindern?

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Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Die letzte Terroristin

Für Dietrich Kluge

I

Staubflusen auf dem Boden, die Vorhänge vergilbt, das Licht ein Halbschatten, rot besprenkelt von den Marktschreiereien der Bordelle dort draußen. Gereon steht auf, wieder, zum dritten Mal in den letzten fünfzehn Minuten. Unruhig tigert er durch die Wohnung, keine Stunde am Stück hat er geschlafen, insgesamt vielleicht fünf, mehr war nicht drin.

Dabei war er gestern Abend schon um neun hier angekommen, überreizt und übermüdet. Er hatte sich auf die Isomatte in der Ecke gelegt, den Schlafsack ausgepackt, über sich gezogen und – endlich in Sicherheit – versucht zu schlafen. Aber die ganze Nacht hindurch war er überdreht gewesen, manisch umhergetrieben wie schon die ganzen Tage, eigentlich die ganze Woche vorher. Ins Bad, Wasser trinken, zurück, hinlegen, sich der Angst überlassen, ist schon okay so, ist schließlich auch eine harte Nummer, die du hier durchziehst. Dann doch gegen die Angst kämpfen, jetzt reiß dich zusammen! Dann kurz in den Schlaf getrieben, aufgeschreckt, nur darauf warten, dass es endlich Morgen würde und er diesen Anruf hinter sich bringen könnte. Er würde Kawert Bescheid sagen, ihm eine Adresse für ein Treffen geben, die Pizzeria in Darmstadt. Kawert würde jemanden schicken und ihn hier rausholen, keine Ahnung wie, aber Kawert hatte ihm versprochen, dass es den Exit geben würde, wenn er ihn brauchte. Und Gereon braucht ihn jetzt. Sieben Jahre V-Mann und jetzt – endlich – kann er liefern, was Kawert will: Die RAF plant ein Attentat. Gereon kennt: den Ort (Königstein bei Frankfurt), die Zeit (heute, im Laufe des bevorstehenden Morgens), das Opfer (Dr. Ernst Wegner).

Das ist seine Eintrittskarte in ein neues Leben. Gereons Zukunft wird heute beginnen, und sie soll – muss! – besser sein als die letzten vierunddreißig Jahre.

Gereon geht zum Fenster und zieht die nikotinvergilbten Vorhänge auseinander. Vorsichtig. Nicht allzu weit, damit er von draußen nicht gesehen werden kann. Eine Straße in der Frankfurter Innenstadt, weit hinten protzt Mainhattan mit den Emblemen der Banken. Davor, am Ende der Straße, steht die Telefonzelle. Gereon weiß nicht, warum Kawert die Wohnung nicht mit Telefon ausgestattet hat. Ein Riesenfehler. Wahrscheinlich hatte er befürchtet, dass man die Anrufe zurückverfolgen könnte, oder weiß der Geier. Not funny. Jetzt muss Gereon da raus, zur Telefonzelle, sein erster und letzter Gang heute, dann zurück in die Wohnung, diesen Saustall, und warten, warten, warten. Wenn Kawert schnell ist, denkt Gereon, bin ich heute Mittag hier weg, spätestens am Nachmittag. Nicht eine Nacht mehr werde ich hier pennen, kannste vergessen.

Gereon schaut auf die Uhr. 7 Uhr 25.

Er wirft noch einen Blick auf die Fassade gegenüber. Die Fenster sind zum größten Teil noch dunkel, ein Bürohochhaus. Unten, im Erdgeschoss: Döner, Pommes, Burger. Daneben grölt jetzt schon die Werbung für den kleinen Mittagsfick zum Nachtisch: Fünfundzwanzig DeutschMark für PolnischSchlampe, Alter, vergiss den Gummi, hier ist gefühlsecht.

Gereon zieht den Vorhang zu. Geht zu seiner Tasche, nervös und hibbelig, schnappt sich seine Pistole, steckt sie sich hinten in den Hosenbund. Checkt die Kohle in der Tasche – drei Groschen für den Anruf, alles da. Er will zur Wohnungstür gehen, aber er ist so fickrig und zappelig, dass sogar ihm – Mr. Maniac himself – klar ist, dass er sofort auffallen wird. Es sind nur dreihundert Meter zu dieser scheiß Telefonzelle, aber ich werde das nicht fertigbringen, wenn ich nicht ruhiger bin. Wann habe ich etwas gegessen? Ich muss was essen. Irgendwas.

Der Kühlschrank ist ausgeschaltet. Auf dem Tisch steht die Raviolidose, die er gestern Abend geöffnet hat. Drei Löffel kalte Ravioli, das hat gereicht. Gereon, der Mann mit der Junkie-Figur, braucht nichts. Aber jetzt essen. Gereon schnappt sich den Löffel und schaufelt den Rest in sich hinein. Ein Glas Wasser. Wieder an Kawert denken. Kawert. Kawert. Kawert. Die drei Groschen noch da? Okay ...

Und dann raus hier. Auf der Straße schaut er misstrauisch und übervorsichtig auf die Passanten. Zwei ältere Männer. Eine Frau mit einem Kinderwagen. Zwei Schulkinder. Drüben, am Eingang des Bordells, noch halb im Warmen, steht eine Prostituierte im Feierabendjogginganzug und kifft dem Moment entgegen, in dem der Zuhälter sie hier vertreiben wird. Überbleibsel einer beschissenen Nacht, Ende Nachtschicht, lieber Tag, ich komme.

Gereon flattert los zur Telefonzelle am Ende der Straße. Und immer wieder umschauen. Rechts kotzt das Sasha einen Kunden aus, links ziehen sich Schulkinder Kirschkaugummis für die Pause aus dem Automaten. Weitere hundert Meter. Gereon tastet nach seiner Pistole, immer noch zittrig, trotz der Ravioli, fahrige Sinneseindrücke, eine angstzerrissene Welt um ihn herum. Er kramt die drei Groschen aus der Hosentasche, die er gestern Nacht extra hineingesteckt hat.

In der Telefonzelle steht ein Schulkind – ein Junge mit Zahnspange, neue Jeans – und telefoniert und lacht und quatscht und quatscht. Gereon klopft gegen die Scheibe. Die Levi’s 501 mit Zahnspange, der kleine Wichser, wendet sich von Gereon ab. Der Penner hat sie wohl nicht alle! Gereon reißt die Tür auf, zerrt das Bürschlein aus der Telefonzelle und wirft den Hörer auf die Gabel. Der Junge, zehn oder elf Lenze Lebenserfahrung auf dem noch wachsenden Buckel, will etwas sagen, denn er spürt genau, wie verwundbar Gereon ist, ein Typ, den man nicht ernst nimmt – dürr, Sackgesicht, instabil, wie auf Drogen. Doch Gereon dreht sich um, verpasst dem Jungen eine Ohrfeige und brüllt ihn an, er solle abhauen. Der Junge trollt sich, Gereon schließt die Tür der Telefonzelle. Wirft das Geld ein, ein Groschen, zwei Groschen, drei Groschen. Und wählt die Nummer, die einzige Nummer, die er auswendig kann, seine Lebensversicherung, Exit in ein Leben, den Kawert ihm versprochen und den er sich jetzt verdient hat.

Der Himmel ist immer noch schwarz, durchschossen mit frühmorgendlichem Purpurrot und siegesgewiss stichelndem Gelb in Bodennähe – der Abspann eines Jahrhunderts, das immer noch an Deutschland herumkaut. Ein paar verspätete Schneeflöckchen rieseln über das Land. Es ist Ende März, und da draußen riecht es immer noch nach Kohlenrauch, denkt Hess, lässt das Fenster des Wagens hochfahren und wundert sich, denn niemand in diesem Viertel heizt mehr mit Kohle, schon lange nicht mehr. Wahrscheinlich Ostwind, der drückt diese Drecksluft manchmal über den Main und stinkt den Villen hier drüben ein bisschen soziale Realität in die mango-vanille- oder zitronengrasbedufteten Marmorklos hinein.

Hess schnappt sich seine Zigaretten und steigt aus. Er hat keinen Bock, wieder eins auf’s Maul zu kriegen, weil er den Wagen nachher nach Nikotin müffelnd übergibt. Die letzte Nachtschicht, zwei Stunden noch, dann drei Tage frei, dann wieder früh raus, Schichtwechsel, Briefing im BKA, dann sechzehn Jahre so weiter. Es ist der 28. März 1991, der sich hier verkatert in den Tag mault, morgens, 7 Uhr 27, Königstein bei Frankfurt, kurz vor Ostern. Seit anderthalb Jahren feiert das Land rotkäppchenberauscht seine Wiederauferstehung: Ein brauner heißer Krieg, ein roter Kalter Krieg und jetzt – jetzt! – blättert die Zeit ein weiteres Kapitel auf und stanzt eine güldene Freudendämmerung ins Neue Testament der Historiker: Geschichte ward gemacht. Und sie ward gut gemacht.

Aus dem Wagen hinter ihm steigt der Fahrer aus und kommt frierend zu Hess. Blick auf die Uhr, zehn Minuten noch, ungefähr, dann geht’s los, hast du eine für mich? Hess bietet ihm eine Zigarette an. Sie rauchen, quatschen dusseliges Zeugs und amüsieren sich über den Fahrer, der den Wagen vor ihnen – den dritten Wagen der Kolonne, Wegners Begleitschutz – poliert. Putzzeug, Lappen, immer hat er alles schön dabei.

7 Uhr 38. Die Zigaretten sind geraucht, die Themen erschöpfen sich, und für überfrorenen Raureif im Morgenrot fehlt Hess jetzt der Sinn. Vor einer Minute schon hätte Wegner auf dem Rücksitz seines Wagens Platz nehmen und die Akte für die heutige Vorstandssitzung studieren sollen. Erst am vorletzten Wochenende hatte Kawert Hess und die anderen Personenschützer zu sich nach Wiesbaden bestellt und ihnen die neue, nochmals gewachsene Gefahr für Wegner und acht weitere höchstgefährdete Bewohner der Bundesrepublik Deutschland erläutert. Das V-Leute-Programm des BKA hatte Ergebnisse produziert, Gerüchte eines bevorstehenden Anschlags der RAF hatten Kawert von verschiedenen Enden der Republik aus erreicht. Er hatte sämtlichen Personenschützern eingebläut, sich unbedingt an die vereinbarten Abläufe zu halten.

Hess wird allmählich unruhig, denn die Grünphasenschaltung im Frankfurter Zentrum ist für einen Korridor von nur fünfzehn Minuten freigehalten, innerhalb derer Hess von seinem Wagen aus die Ampeln umschalten kann – denn das BKA hat das Frankfurter Bankenviertel als eine der höchstwahrscheinlichen, weil symbolträchtigen Anschlagszonen ausgemacht. Fünfzehn Minuten, innerhalb derer die Ampelschaltung beeinflussbar ist, mehr Entgegenkommen der Stadt war nicht möglich, denn der Bürgermeister musste dem Eindruck entgegenwirken, dass ein Bankenfürst wie Wegner den Verkehr nach seinem Belieben lahmlegen könnte. Die Zeit drängt also, von Wegner aber ist nichts zu sehen.

350 m² Glück. Achtzehn Zimmer, darunter vier Bäder, sogar die Gästetoilette in Spiegelmarmor aus Carrara. Die Köchin stammt aus Siena, das Kindermädchen aus Paris. Der Rauchersalon – kirschholzgetäfelt, schwarze Chesterfieldsessel aus Oxford – müffelt dezent nach 250-Euro-Havannas, gerollt von kubanischen Arbeiterinnen im Zustand höchster sozialistischer Zufriedenheit. Draußen tüpfeln Biedermeierwolken die letzten Schneeflöckchen, Weißröckchen des Jahres über den lächelnd erwachenden Taunus, sanft stirbt der Winter seinen wohlverdienten Tod unter dem leicht überfrierenden Raureif.

Das Leben in der Gründerzeit-Villa von Herrn Doktor Ernst Wegner könnte an diesem Morgen eine großbürgerliche Idylle sein. Leider aber sieht die Lage etwas anders, nämlich scheiße aus: Doktor Ernst Wegners Sohn – drei Jahre alt, eine Kaiserschnittgeburt und kaiserlich-bestimmend, doch eigentlich der Lichtblick der Familie – quengelt. Er hat schlecht geschlafen, hat Schnupfen, eine Nasen-Nebenhöhlen-Vereiterung, seit sechs Wochen schon. Statt den Vater zu erfreuen, quält er ihn und die Mutter seit Wochen mit gelblich-eiterndem Rotz.

Frau Doktor Wegner – westfälisch-ökologischer Herkunft, brillante Dissertation in Jura, allerdings schon ein paar Jahre her, die Frisur von Udo Walz kopiert, der Typ Frau, den man noch in zwanzig Jahren für die Schwester ihrer Tochter halten wird und der im Wirtschaftsteil und in den Klatschspalten eine gleichermaßen gute Figur macht, eine Traumfrau für Herrn Doktor Wegner – versagt sich, ständig das Pariser Kindermädchen um Hilfe zu rufen, denn es ist einfach wichtig, dass Kinder in diesem Alter einen festen Rhythmus haben, und vor allem eine Bezugsperson, die nicht ständig wechselt. Und außerdem ist Frau Doktor Wegner eine gute Mutter, gerade und erst recht in Krankheitszeiten.

Heute Morgen aber geht Frau Doktor Wegner der perfekt birnenförmige Arsch in Aubade auf Grundeis. Denn seit ihr Mann auf der Kill-List der RAF im Ranking auf Platz eins steht, spuckt die Nase der Kaiserschnittgeburt nur noch gelb vereiterten Rotz aus. Der Junge schläft nicht, die Mutter schläft nicht, die Schwester schläft nicht, die Noten sacken ab, das Leben an der Spitze des real existierenden Kapitalismus hat an Qualität verloren, der Taunus trübt sich ein, der Ton ihres Mannes wird immer zynischer und lakonischer, und in gefassten Momenten verbreitet er mit etwas gewollten Witzeleien Zuversicht in der Krise.

Alles so, wie er, Doktor Ernst Wegner, Mann an der Spitze der Bank mit dem höchsten und potentesten Turm Frankfurts, es in Krisenzeiten eben gewohnt ist. In ihm aber sieht es leer aus, er wird von Angst und Zweifeln geschüttelt, weiß nicht mehr, ob er seiner Frau und seinen Kindern zumuten kann, was er ihnen zumutet. Weiß nicht, was werden soll, wenn die RAF ihn wirklich erwischt. Doch er hat entschieden, dass er sich dieser Bande nicht beugen, sondern seiner Mission folgen wird.

Und Doktor Ernst Wegner lässt die Witzeleien, küsst seinen Thronfolger mit der Rotznase auf die Stirn, umarmt seine Frau, nimmt die Schultasche seiner Tochter, die er an der Schule absetzen soll, und folgt Hess, der in der Tür steht und drängelt, nach draußen.

7 Uhr 41, Wiesbaden, Thaerstraße 11, vierter Stock, Raum B 4.253. 12 m2 im Hauptgebäude des BKA: Das Büro hat sie wieder. Wasser in die Maschine, Filter, Kaffee, einschalten.

Marion Burckhardt hat Kopfschmerzen nach diesem unseligen Abend gestern. Ein endloses Gebabbel ihres dreiviertel-dementen Vaters am Telefon, seine Ratschläge ihr Leben betreffend. Ja, sie ist geschieden, ja, sie ist zum zweiten Mal geschieden, ja, sie ist achtunddreißig, ja, sie glaubt auch, dass sie kein gutes Händchen für Männer hat, nö, sie vermisst eigentlich nichts, im Bundeskriminalamt herrscht nicht grad Männermangel, und man trifft sich ganz gerne mal zum Feierabendstößchen in wechselnden Konstellationen, alles gut so. Seine penetranten Fragen, ihre provokanten Antworten, die im Nebel der Demenz nach dem letzten Rest des Verstandes ihres Vaters stocherten und auf Widerstand hofften. Vergeblich.

Neben dem Telefonat hatte sie den Fernseher laufen lassen, war in Gedanken durch den letzten Tag und ihr Gespräch mit Kawert geflattert und – böse Panne – darüber eingeschlafen. Kein Wunder bei ihren derzeitigen Dreizehn-Stunden-Arbeitstagen, von denen ein besonders schönes Exemplar vor genau fünf Minuten begonnen hat. Um sechs Uhr wurde sie vom Gong aus dem Fernseher geweckt – »Guten Morgen, hier ist die Frühausgabe der Tagesschau« –, den langgezogenen vorwurfsvollen Signalton aus dem Telefonhörer neben sich. Fernseher aus, Telefonhörer auflegen, raus aus den Klamotten, Dusche, Bäcker – »Nein, ein Brötchen reicht, danke!« –, lächeln, dann Singleleben mit einer Margarine und zwei Marmeladen und den Abend gestern verdrängen und los.

Hinter dem Seiteneingang des BKA im Tränkweg sah sie Kawerts Wagen auf demselben Parkplatz stehen wie gestern Abend. Wahrscheinlich hat ihr Chef wieder in seinem Büro übernachtet und statt eines geselligen Fernsehabends mit Papa einen Lektüreabend mit einem Konvolut RAF-Pamphlete verbracht, die ein V-Mann vor zehn Tagen in einem Depot in Siegen entdeckt hatte.

7 Uhr 42. Marion Burckhardt setzt sich an ihren Schreibtisch, hinter ihr gurgelt die Kaffeemaschine, das RAF-Emblem, eine Mesalliance aus Stern und Sturmgewehr, erscheint auf dem sich warmglühenden Computermonitor in der Größe ihres Fernsehers zu Hause. Vor ihr auf dem Schreibtisch liegt der Stapel mit den gesammelten Werken der RAF aus Siegen, die Kawert ihr offenbar heute Morgen schon auf den Schreibtisch gelegt hat, und Mikrofilme der abfotografierten und bis zum Hundertfachen vergrößerten Bekennerschreiben der RAF-Attentate der letzten Jahre.

7 Uhr 43. Marion Burckhardt zieht das Vergrößerungsglas aus der obersten Schublade ihres Schreibtischs und scannt ein vor ihr liegendes Pamphlet der RAF auf sämtliche T durch. Eines der beiden Telefone, die vor ihr stehen, klingelt. Sie schaut sofort auf. Anrufe, die auf diesem Telefon ankommen, sind etwas Besonderes. Es ist für das kleine Garderegiment von V-Männern reserviert, die es ins Zentrum der RAF geschafft haben: Kawerts Elite. Marion Burckhardt schaltet den Kassettenrekorder an, denn jeder Anruf, der auf diesem Telefon ankommt, wird aufgenommen und sorgfältig für die Nachwelt archiviert.

»Ja«, sagt sie ins Telefon, es ist ein striktes Tabu, den eigenen Namen zu nennen.

»Ich muss mit Kawert sprechen, es ist eilig.«

Es ist zwei oder drei Jahre her, dass sie das letzte Mal mit Gereon telefoniert hat. Er meldet sich fast nie telefonisch, misstrauisch, wie er ist. Und dennoch, vielleicht auch gerade deshalb, hält Kawert – im Gegensatz zu seinem Chef – große Stücke auf ihn. Für ihn ist Gereon der Informant, der am weitesten in den inneren Zirkel der RAF vorgedrungen ist. Und trotz der drei oder vier Jahre, die der letzte Anruf zurückliegt, erkennt Marion Burckhardt Gereons Stimme sofort, seine billige, etwas herablassende Art, ein Mann, der spricht, als wäre er auf Drogen, der leichte rheinische Singsang. Und trotzdem: Es gibt klare Anweisungen. Schließlich wäre es möglich, dass eine Stimme nicht identifizierbar ist oder imitiert wird, möglich auch, dass dem Sprecher eine Pistole an die Schläfe gehalten wird und dass der Code seine einzige Chance ist, eine Botschaft an das BKA zu senden.

»Ihren Code, bitte.«

»Hol mir Kawert! Und zwar sofort!«

»Den Code, oder ich lege auf, und dieser Anschluss wird sofort abgemeldet.«

7 Uhr 44, Königstein im Taunus kommt langsam in Bewegung. Doktor Ernst Wegner geht, seine Tochter an der Hand, hinter Hess die Einfahrt entlang zu den Wagen. Seine Frau folgt ihm mit dem kranken Jungen auf dem Arm.

Mit dem Sympathie heischenden Lächeln auf den Lippen, das zur Grundausstattung seiner Management-Persona gehört und das er aufsetzt, sobald er die Gründerzeit in Richtung Gegenwart verlässt, begrüßt Wegner die Sicherheitsleute. Obwohl die Eskorte nun schon seit Monaten zu seinem Leben gehört, hat sich Wegner immer noch nicht so ganz an sie gewöhnt und kann sie nicht als Teil seiner Privatsphäre ansehen.

»Wir haben heute einen blinden Passagier«, sagt er zu Hess und tätschelt seine Tochter am Kopf.

Hess lächelt pflichtgemäß, öffnet die Tür des mittleren Wagens, und das Mädchen steigt ein.

Er wendet sich seiner Frau und seinem Sohn zu, lächelt und gibt ihm einen Kuss. »Hättest du mich angesteckt, hätte ich heute schwänzen können.«

Seine Frau lächelt zurück, ebenfalls antrainiert, auch sie jenseits ihres eigenen Badezimmers eine öffentliche Maske mit sanfter Colgate-Ausstrahlung, die dem Aufstieg ihres Gatten die nötigen Sympathiepunkte einbringen soll, falls dieser genötigt sein sollte, sein strenges und strafendes Gesicht aufzusetzen – schließlich ist er Manager, schließlich muss er führen. Frau Doktor Wegner drückt Herrn Doktor Wegner einen Kuss auf die Wange, öffentlichkeitskompatibel und semiprivat, sei nicht zu nett zu deinem Aufsichtsrat, bisschen Peitsche, das brauchen die.

Er steigt in den Wagen. »Vor neun wird’s heute nicht«, ruft er seiner Frau zu, »tut mir leid.« Wegner setzt sich neben seine Tochter, Hess schließt die Wagentür, nickt Frau Wegner zu, erntet ein Lächeln, steigt ein, zieht die Tür zu, gibt das Zeichen, dass die Kohorte jetzt abfahren kann, raus ins Indianerland.

Und auch Wiesbaden, Ortsteil BKA, beginnt zu schwingen: Marion Burckhardt rennt aus ihrem Büro durch den Flur zum Computerraum, dem Herzstück und ganzen Stolz von Kawerts Chef. Die anhaltende terroristische Gefahr hat Siemens-Nixdorf einen Großauftrag beschert, der, vor einer Woche geliefert und installiert, an diesem Morgen endgültig in Betrieb genommen wurde und das alte Computernetzwerk ersetzen soll.

Der Computerraum ist stickig und müffelt nach Rasierwasser. Ein Techniker hält einen Vortrag vor Jacobi, dem Chef des BKA, Kawert und weiteren Mitarbeitern der Leitungsebene, als Marion Burckhardt hereinplatzt. Kawerts Chef ist nicht begeistert, aber sie wendet sich an Kawert: Ein Anruf von Gereon.

Der Name ist Sprengstoff: Alle werfen Kawert einen kurzen Blick zu, denn er ist der Human-Resources-Manager des BKA, zuständig für die V-Männer, Leiter eines Programms, das er seinem technikbegeisterten Chef abgerungen hat, ein Programm, das mindestens ebenso teuer ist wie Jacobis Computer, bisher aber längst nicht so effektiv. Die RAF der jüngeren Generation ist bis in ihre äußeren Kreise hinein immer vorsichtiger geworden und hat sich gegen jede Infiltration von außen bislang erfolgreich zur Wehr gesetzt. Wirklich fahndungsrelevante Hinweise hat Kawerts Programm bisher noch nicht ausgespuckt. Nun aber ist Zahltag.

»Es ist dringend«, sagt Marion Burckhardt. Kawert folgt ihr. Jacobi und Stentner, Kawerts Kollege, werfen sich einen Blick zu – Marion Burckhardt ist eigentlich nie allzu hektisch, wenn sie Druck macht, wird es einen Grund geben.

»Warum meldet er das so spät? Hat er das irgendwie erklärt?«, fragt Kawert, als er mit Marion Burckhardt durch den Gang eilt, Jacobi und Stentner im Schlepptau.

»Nein. Wir haben nicht mal zwanzig Sekunden gesprochen. Er hat seine Nachricht für Sie hinterlassen und musste dann abbrechen.«

»Von wo aus hat er angerufen?«

»Aus einer Telefonzelle, aber ich hab sie nicht lokalisieren können.«

»Der Code war korrekt?«, fragt Kawert.

»Code und Gegenprüfung, ja.«

Sie eilen in Marion Burckhardts Büro, um die Aufzeichnung von Gereons Telefonanruf abzuhören.

Gereon schließt die Tür zur Wohnung auf, geht hinein und schließt wieder ab, einmal, zweimal. Jetzt, wo er wieder hier ist, ist er ruhiger. Er muss nichts weiter tun als abwarten. Kawert hat seine Nachricht, Kawert wird jemanden schicken, Kawert wird ihn hier rausholen. Gereon weiß, dass er Wort halten wird. Auf Kawert ist Verlass, niemals hat er mich hängen lassen.

Als Gereon sich umdreht, steht eine Frau vor ihm. Schwarze Lederjacke, schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt, dunkelrotes Weltbild, und eine Pistole mit einem Schalldämpfer in der Hand. Gereon erschrickt, greift nach seiner Waffe, die immer noch hinten im Hosenbund steckt. Natürlich ist er viel zu langsam, weil er in den Gedanken an seine Rettung festhängt. Er spürt die Kälte des Metalls, als der Schalldämpfer ihm auf die Stirn gedrückt wird, will sich intuitiv zur Seite drehen, aber auch das geht zu langsam. Und während seine rechte Hand die Waffe in seinem Hosenbund noch nicht mal berührt hat, hämmert ein Projektil durch seinen Schädel und in die Wand hinter ihm. Leise rieselt der Putz, lauter als Gereons letzter Atem. Die Frau fängt seinen Körper ab, um den Aufprall zu verhindern. Und im letzten Moment seines Lebens sieht Gereon in ihre Augen, nah wie die einer Geliebten. Und in den Geruch ihres Parfüms mischt sich eine Note aus Adrenalin und noch etwas, das mit dem roten Stern und dem Maschinengewehr und den Manifesten in Kleinbuchstaben und großen Worthülsen und dem Klassenkampf und Benno Ohnesorg und Vietnam und Stammheim und dem Recht, einen Verräter hinzurichten, nichts zu tun hat: Eine tiefe Todesgeilheit, die sich von der Macht ernährt, ein Leben zu beenden, Ekel und Rausch zugleich, ein Gruß des Tieres in uns, etwas totzumachen und selbst weiterzuleben und satt zu werden.

Die Frau legt Gereon auf den Holzboden, schabt das Projektil aus der Wand, drapiert den Zettel mit dem roten Stern und dem Maschinengewehr unter dem Kopf der Leiche und ruft den Gedanken an die Richtigkeit ihres Tuns wieder und wieder wach – ein Verräter gehört hingerichtet, das hier ist Krieg, und so wird er gespielt –, und sie überspielt das Erschrecken über sich mit einem stammheim- und vietnamdurchtränkten Gefühl grenzenloser moralischer Überlegenheit.

Sie macht die Wohnungstür auf und raus hier.

7 Uhr 46. Quality Time! Doktor Ernst Wegner sitzt mit seiner Tochter auf dem Rücksitz der gepanzerten Limousine. Er hat ihr Matheheft in der Hand und lässt sich von ihr einen Rechenweg erklären. Morgen soll sie eine Mathearbeit schreiben, ihre Mutter hat zurzeit keine Geduld, sich mit den Hausaufgaben zu beschäftigen, und für Wegner ist Mathematik das männlichste aller Schulfächer, also sein Ressort.

Der Fahrer und Hess schweigen dezent im vorderen Teil des Wagens. Hess gleitet in Gedanken ab, beobachtet die Leute am Straßenrand: Schüler, die zur Schule trödeln, Mütter, die ihre Kinder zum Kindergarten schieben. Die Männer sind allesamt beschlipste Väter auf dem Weg zur Arbeit. Die Leute schauen den drei schwarzen Limousinen hinterher. Ein Aufgebot wie für einen ausländischen Staatsgast. Noch vor einer Woche ist Wegners Sicherheitsstufe heraufgesetzt worden, die Gefahr eines Attentats ist größer denn je.

Also muss Hess jetzt aufpassen, zwingt sich, aufmerksam zu sein, darf sich von dem Vater-Tochter-Gespräch über Mathematik auf dem Rücksitz nicht ablenken lassen. In den Szenarien, die sie im BKA durchgespielt haben, kam der vor ihnen liegenden Döblerstraße eine wichtige Rolle zu. Die Döblerstraße bietet eine Menge Fluchtwege und genügend Schutz für einen Attentäter – sie ist von den Analysten des BKA als einer der vier neuralgischen Punkte auf der Route von Wegners Wohnhaus in Königstein zu seinem Arbeitsplatz im Zentrum von Frankfurt identifiziert worden.

Hess konzentriert sich auf sein Headset. Der Personenschützer im Wagen vor ihm scannt die Gegend. Sollte von hinten ein Attentäter kommen, würde der Wagen hinter ihnen sich sofort quer stellen, um dem Wagen, in dem Hess mit Wegner sitzt, eine Fluchtmöglichkeit zu eröffnen. Alles zigmal geübt und durchgesprochen. Auf einem Großparkplatz hatten sie vor drei Monaten einen Parcours aufgebaut, um die Situation mit den drei Wagen noch einmal zu trainieren. Hess, die Fahrer und die Personenschützer in den anderen beiden Wagen wissen genau, wie sie sich im Ernstfall zu verhalten haben.

Und doch: Hess wird nervös. Er kann sich nicht erklären, warum.

»Kawert, du musst dich beeilen! Der Anschlag ist für heute Morgen geplant. Irgendwo auf dem Weg rein nach Frankfurt. Ich glaube, in der Döblerstraße. Ich muss auflegen, ich muss hier weg. Ich melde mich.«

Gereons Stimme auf dem Kassettenrekorder. Ein Attentat auf Ernst Wegner, lang erwartet und befürchtet. Ein Attentat mit Ansage. Alle hier wussten, dass Wegner auf der Kill-List der RAF steht. Fast eine Erleichterung, dass es jetzt losgeht, eine zweimonatige Ungewissheit geht zu Ende. Plötzlich vibriert der Raum vor Adrenalin.

»Verbinden Sie mich mit Hess, aber schnell«, sagt Kawert zu Marion Burckhardt.

Während sie zum Telefon eilt, tritt er mit Jacobi und den Mitarbeitern seines Stabs vor den großen Stadtplan an der Wand, auf dem verschiedene Markierungen zu sehen sind. Wegners Villa in Königstein, die Bank im Zentrum von Frankfurt. Dazwischen sind mögliche Routen eingezeichnet. Route A, Route B, Route C. Route A führt über die Döblerstraße. Kawert zieht mit der Hand einen Kreis auf dem Stadtplan.

»Irgendwo da verstecken sie sich«, sagt er zu Stentner. »Lassen Sie weiträumig absperren, und benachrichtigen Sie das SEK.«

Stentner eilt hinaus. Kawert ist unruhig, es geht ihm zu langsam, er muss Hess sprechen.

»Haben Sie ihn?«, fragt er Marion Burckhardt.

»Sofort«, sagt sie.

Jacobi deutet auf den Bereich des Stadtplans, um den Kawert den Kreis gezogen hat.

»Und wenn die nicht da sind? Gereon hat nicht gesagt, wie sie das Attentat verüben wollen, vielleicht mit einem Fernzünder, und sie sind längst geflohen.«

Jacobi hat schon immer am V-Mann-Programm gezweifelt. Denn auch ihm war klar, dass die RAF sich immer weiter gegen Einflüsse von außen abschottete.

»Mit der Panzerfaust aus der Air Base. Warum hätten sie das Ding sonst gestohlen? Das war ein extrem hohes Risiko, das wären sie sonst nie eingegangen«, sagt Kawert.

»Sind Sie wirklich sicher, dass Sie Gereon trauen können?«, fragt Jacobi.

Bevor Kawert ihm antworten kann, hat Marion Burckhardt die Verbindung mit Hess.

»Herr Kawert?«, sagt sie und reicht ihm den Telefonhörer.

»Wo seid ihr?«, fragt Kawert.

»Stapenhorststraße. Kurz vor der Grabold«, sagt Hess.

Auf der Rückbank spricht Wegner immer noch mit seiner Tochter über Mathematik, schaut aber nach vorne, weil er sofort gemerkt hat, dass etwas nicht stimmt.

»Wir haben eine Warnung vor einem Anschlag«, sagt Kawert. »Ihr müsst auf die B-Route ausweichen, auf jeden Fall sofort weg von der Döblerstraße! Ist das klar? Sofort!«

Hess legt auf.

»Route B, mach schnell!«, sagt er zum Fahrer neben sich und informiert die anderen Wagen über Funk.

Wegner beugt sich zu ihm nach vorne.

»Was ist passiert?«

Hess wendet sich zu ihm um, wirft einen demonstrativen Blick auf das Mädchen.

»Wir sollten das jetzt nicht diskutieren.«

»Halten Sie an!«, sagt Wegner zum Fahrer.

Hess protestiert.

»Ich sagte, halten Sie an!«, herrscht Wegner den Fahrer an.

Der Fahrer wirft Hess einen Blick zu. Hess hat ein Einsehen. »Okay, halt an.«

Sechzig, siebzig Meter entfernt halten die drei gepanzerten Limousinen an. Matthias Gelfert beobachtet sie durch ein als Messgerät getarntes Fernglas. Er trägt einen Bauarbeiterhelm und eine Verkehrsweste, die Straße hat er gerade mit Gittern abgesperrt. Zoom in die zweite Limousine auf Wegner. Gelfert sieht das Mädchen neben ihm. Er greift nach seinem Funkgerät.

»Hörst du mich?«

Bettina Polheim kommt gerade aus der Haustür von Gereons Mietshaus, als der Funkspruch sie erreicht.

»Ja«.

»Er hat seine Tochter dabei«, sagt Gelfert. »Wir müssen abbrechen.«

Bettina geht zur Fahrertür ihres Wagens und schließt auf. Sie schaut sich um, aber niemand kümmert sich um sie, alle sind mit sich selbst beschäftigt, die Besoffenen genauso wie die Schulkinder.

»Nein, das tun wir nicht. Wir ziehen das jetzt durch.«

»Ich bin kein Killer!«, sagt Gelfert.

Er beobachtet das Mädchen, das mit Wegner und Hess aus dem Wagen steigt. Hektik da drüben, Hess und die anderen BKA-Typen schirmen das Mädchen und Wegner so weit es geht ab. Gelferts Blick bleibt an dem Mädchen haften.

»Wir haben genau eine Chance, und die ist jetzt. Hast du mich verstanden?«, sagt Bettina und steigt in ihren Wagen. »Ob du mich verstanden hast!«

»Ja.«

»Halt Funkstille. Ich bin gleich bei dir.«

Gelfert schaltet das Funkgerät aus und beobachtet weiter die drei Wagen.

Der hintere Wagen hat sich quer gestellt, der vordere schirmt die Straße nach vorne hin ab. Alle um ihn herum sind in höchste Alarmbereitschaft versetzt, aber Wegner lässt es sich nicht nehmen, sich von seiner Tochter zu verabschieden.

Er sagt zum Fahrer des dritten Wagens: »Sie bringen meine Tochter nach Hause!«

Der Fahrer schaut Hess fragend an. Für ihn ist er der Chef, er folgt nur seinen Befehlen. Hess hat selbst einen sechsjährigen Sohn, er beugt sich Wegner und nickt dem Fahrer zu.

Wegner lächelt seine Tochter an. »Ich schreib dir heute Abend eine Entschuldigung.« Dann küsst er sie auf die Stirn, und sie steigt in den hinteren Wagen.

Hess schaut sich nervös um, mit sanftem Druck schiebt er Wegner zurück zum zweiten Wagen.

Als Gelfert sieht, dass Wegner in seinen Wagen steigt, ist das für ihn das Signal. Er öffnet das Batteriefach einer Baulaterne und aktiviert den Zünder.

Als er aufschaut, fährt der dritte Wagen, in dem Wegners Tochter sitzt, an ihm vorbei. Für einen Moment begegnet ihm der Blick des Mädchens und küsst die Skrupel wieder wach. Dann aber eilt Gelfert davon.

»In fünf Minuten ist die Döbler abgesperrt. Das SEK ist unterwegs.«

Stentner betritt das Büro. Jacobi und Kawert stehen immer noch vor dem Stadtplan.

»Wir brauchen eine Funkverbindung zum SEK-Leiter«, sagt Jacobi zu Marion Burckhardt.

Kawert betrachtet das Funktelefon in seiner Hand, mit dem er mit Hess gesprochen hat. Ein eigenartiges Gefühl beschleicht ihn. Irgendetwas ist komisch. Das Funktelefon klingelt. Sofort geht er ran.

»Ja, Kawert.«

Es ist Hess. »Wir sind jetzt in der Grabold. Ist die Baustelle regulär?«

Kawert zögert einen Moment. Dann dämmert ihm, dass da was nicht stimmt. »Umkehren! Ihr müsst da sofort raus!«

Im selben Moment sieht Wegner durch das Seitenfenster der Limousine, dass der Laser einer Lichtschranke am Wagen entlanggleitet.

Kawert, am Funktelefon, hört die Explosion.

Dann ist die Leitung tot.

Frau Dr. Wegner tritt mit ihrem Sohn vor die Tür der Villa. Gerade als sie ihm die Jacke überziehen will, damit sie zum Arzt gehen können, hört sie die Explosion.

Sie weiß sofort, was passiert ist. Und sie weiß sofort, dass ihr Mann tot ist. Aus irgendeinem Grund hat sie keinen einzigen Moment die Hoffnung, dass er überlebt haben könnte.

Wegners Tochter sieht im Rückspiegel, wie der Wagen explodiert, in dem ihr Vater sitzt. Sie wendet sich um und schaut in diese Licht- und Rauchwolke hinein.

Dann schließt sie die Augen und vergisst für vierzig Jahre diesen Moment, der ihren Vater getötet hat, der ihre Mutter zerfressen wird und – irgendwann – wieder in ihr Leben hereinplatzen wird, eine in ihr schlafende Zeitbombe, deren Ticken jeder um sie herum hören wird. Nur sie selbst nicht.

Sie wird später mehrfach befragt werden, wen oder was sie gesehen hat. Sie wird sich an nichts erinnern als den Kuss ihres Vaters auf ihrer Stirn, seine Unruhe und sein Drängeln. Und daran, dass sie in der Eile des Umsteigens ihren Lieblingsstift in seinem Wagen vergessen hat.

Vierzig Jahre später wird plötzlich Gelferts Blick erstmals in einem ihrer Träume auftauchen, sich wieder und wieder in ihre Träume drängeln, so dass sie Urlaub nehmen muss, weil die Angst- und Panikattacken trotz jahrelanger Therapie zurückkehren, weil sie sich schuldig fühlt, den Wagen verlassen zu haben. Nach einer weiteren Therapie – der letzten ihres Lebens – wird in Gelferts Blick nichts Bedrohliches mehr sein, sie wird wieder einkaufen gehen können. Gelferts Blick wird sich aber auch über das Lächeln ihres Vaters legen und allmählich all das zerfressen, was ihr über die vergangenen vierzig Jahre geholfen hat: das Gefühl seines letzten Kusses auf ihrer Stirn. Das Gefühl, dass er sie geschützt hat. Dass er wollte, dass sie lebt.

Weitere drei Jahre später wird bei ihr derselbe Krebs diagnostiziert werden, der auch ihre Mutter das Leben gekostet haben wird. Ein Krebs, der umso mehr wuchs, je stärker sie sich nach Vergessen gesehnt hat, eine plumpe Eins-zu-eins-Variante von Psychosomatik – plump, ja, aber offensichtlich auch wahr und quälend.

Kawert hat das Funktelefon immer noch am Ohr. Jacobi tritt zu ihm. »Gereon hat Sie verarscht!« Nur ein Moment, dann legt Kawert das Telefon zur Seite und rennt zur Tür.

Für einen Augenblick achtet die Frau mit dem Hund nicht auf den Mann mit dem Bauarbeiterhelm, ist zu gebannt von der Explosion und der Rauchwolke ungefähr dreihundert Meter vor ihr. Dann bemerkt sie ihn doch und ist irritiert, dass er sich überhaupt nicht um die Explosion hinter ihm kümmert und stattdessen in einen an der Straße parkenden Wagen steigt, der sofort abfährt.

Als sie eben mit ihrem Hund aus dem Haus getreten ist, hat sie sich noch gewundert, dass hier schon wieder ein Bauarbeiter zugange war. Die Straße war erst vor anderthalb Jahren neu geteert worden. Schon wieder eine Baustelle? Jetzt wird ihr klar, dass irgendetwas mit diesem Mann nicht stimmt. Bevor sie aber wirklich versteht, was hier vorgeht, ist der Wagen, in den der Bauarbeiter gestiegen ist, bereits verschwunden und viel zu weit weg, als dass die Frau das Nummernschild erkennen könnte. Alles, was sie noch erkennen kann, sind die Farbe und die Marke des Wagens. Plötzlich eine Polizeisirene und eine weitere und eine dritte. Polizeiwagen rasen an ihr vorbei zur Unglücksstelle.

Wegners explodierter Wagen steht quer auf der Straße. Die hintere Tür ist aufgerissen, Rauch quillt heraus, der Boden ist voller Scherben. Die Einsatzwagen eines SEK kommen näher, halten, spucken Männer in Kampfmontur und Helmen aus, die sofort den Tatort sichern – möglicherweise sind die Attentäter noch in der Nähe.

Dann ist der SEK-Führer an Wegners Wagen und spricht ins Helmmikrofon. Der Fahrer ist tot. Er war am weitesten vom Explosionsherd entfernt, und so ist immerhin sein Gesicht noch zu erkennen. Anders als bei dem Mann auf dem Beifahrersitz. Seiner Frau wird später jeder Blick auf die Leiche verwehrt, die Explosion hat Hess die Haut vom Gesicht gerissen, den Oberkörper und die Arme zerfetzt.

Wegner selbst liegt tot auf dem Rücksitz, sein Körper ist mit Scherben und Metall übersät – Stacheln, die die Explosion ihm durch die Haut bis tief in den Körper hineingetrieben hat. Sein Gesicht ist zur Unkenntlichkeit zerflossen wie Wachs, das man zu nahe ans Feuer gehalten hat.

Zwanzig Minuten später steht Kawert vor Wegners Wagen und schaut dessen Leiche an. Von irgendwoher blitzt eine Kamera. Er schaut auf und sieht am Straßenrand einen Pressefotografen. Eigentlich ist der Tatort inzwischen weiträumig abgesperrt, Polizisten drängen die Schaulustigen weg. Aber das Ereignis ist zu groß. Ein weiterer Fotograf drängelt sich, die Kamera in der Hand, an den Rand der Absperrung. Kawert zieht seinen Mantel aus und legt ihn über Wegner, das Letzte, was er für diesen Mann tun kann. Niemand, erst recht nicht er selbst, will die Bilder des toten Wegner in der Zeitung sehen.

»Andreas?«

Kawert dreht sich um. Keiner seiner Kollegen duzt ihn, und niemand nennt ihn beim Vornamen – mit einer Ausnahme: Hinter ihm steht seine Noch-Ehefrau, die Leiterin der Spurensicherung, Iris Kawert. Sie hat die Lichtschranke gefunden und zieht ihn mit sich. Knapp dreißig Meter hinter Wegners explodiertem Wagen beginnt die Absperrung der Baustelle. Im Batteriekasten einer der Baulampen steckt der Laser. Hinter dem Laser hat Iris einen Brief gefunden. Sie zieht ihn heraus und reicht ihn ihrem Noch-Ehemann.

Oben auf dem Brief prangen der rote Stern und das Sturmgewehr. Darunter bekennt sich das Kommando Holger Meins zu dem Attentat. Kawert lässt den Brief sinken und schaut zurück auf das Desaster hinter ihm, auf den völlig zerstörten Wagen, auf Wegners halb von Kawerts Mantel bedeckte Leiche.

Noch nie in seinem Leben – noch nie – hat Kawert sich so sehr wie ein Versager gefühlt wie heute.

II

1

»Lass uns einfach hier vorne raus, sonst wird es zu spät für dich.«

»Danke«, sagt Sandra Wellmann zu ihrer Schwester Miriam, die hinter ihr auf der Rückbank neben Sandras Sohn Markus sitzt.

Donnerstag, kurz vor acht. Golf, Polo, Audi, Ford – ein Stau vor der Schule in Berlin-Lichterfelde, die deutschen Mittelstandsmuttis tütteln den Nachwuchs im Zweitwagen zum Unterricht. Sandra fährt halb auf den Bürgersteig und hält an. Während Miriam und Markus aussteigen, zuppelt sie Max, das Familienmaskottchen, vom Rückspiegel und folgt den beiden.

Heute ist ein großer Tag für Mutter und Sohn: Sandra hat in einer Stunde ein Vorstellungsgespräch bei der Treuhand in Berlin-Mitte, und Markus schreibt gleich um acht eine Lateinarbeit, kurz vor Ostern häufen sich die Klassenarbeiten. Latein ist sein Krisenfach, und entsprechend ist die Laune.

»Toi, toi, toi, mein Schatz«, sagt Sandra. »Das wird schon. Du hast super gelernt.«

Und dann folgt der Mama-Super-GAU: Kuss auf die Wange des Sohnes, zehn. Golf, Polo, Audi, Ford, der ein oder andere Mercedes werden Zeuge. Nachher auf dem Schulhof wird Markus ein stellares Gelächter sämtlicher Kronprinzen erwarten. Woher soll Mama Sandra, siebenundzwanzig, das aber auch wissen? Schließlich lesen wir ja auch erst seit ein paar Jahren im Knigge, Kapitel »Vorpubertät«, Abschnitt »Betriebsunfälle in der Öffentlichkeit Komma schwere«. Und dann will Sandra ihrem Sohn auch noch Max, das Maskottchen, andrehen, vor vier Jahren von Markus in der Grundschule bei Frau Klein zwangsselbstgestickt, Pac-Man meets Ufo, das Grinsen im Kreuzstich ist leicht verrutscht, und schielen tut er eh.

»Willst du Max mitnehmen?«, fragt Sandra. »Der ist absolut super im Daumendrücken.«

Möglich. Aber vielleicht sollten wir das doch bitte schnell hinter uns bringen, oder anders gesagt, nämlich einen Tick pointierter: »Mama, lass es!«

Und Markus’ Tante Miriam, Lehrerin an der Schule da drüben und mit dem Pausenhofton unter Zehnjährigen besser vertraut als ihre Juristenschwester, hat einen Vorschlag: »Nimm du ihn mit«, sagt sie zu Sandra. »Du brauchst ihn heute dringender.«

Miriam legt ihre Hand auf Markus’ Schulter, zweihundert Meter zum Eingang sind es noch, und die Schulglocke kennt kein Pardon, für Lehrerinnen nicht und für Lateinarbeiten schreibende Schüler erst recht nicht.

»Komm«, sagt Miriam zu Markus.

»Danke für den Wagen«, sagt Sandra zu ihrer Schwester.

»Kein Thema!«

Zum Abschied verhuschelt Markus eine Umarmung. Wie alle Wellmanns neigt auch der jüngste von ihnen zur Harmoniesucht, und letztlich gelingen auch Lateinübersetzungen besser, wenn Mamas Lächeln wohlwollend über die Schulter geleuchtet hat, erst recht, wenn einem Herr Wörner, der Lehrer, gegenübersitzt und guckt, wie er eben guckt, eine Mischung aus Gnade und Hinrichtung, Religion und Latein eben, mit Betonung auf Latein.

Sandra geht zurück zum Wagen und setzt sich hinein. Sie hängt das Maskottchen zurück an den Rückspiegel, und plötzlich sieht sie, dass weit hinter ihr ein Auto parkt, zu weit weg von der Schule, als dass es etwas mit dem Almauftrieb der Schulkinder zu tun haben könnte. Sandra kennt den Wagen, aber sie kann nicht sehen, wer darin sitzt.

Sie wirft einen letzten Blick auf ihren Sohn und ihre Schwester, winkt ihnen zum Abschied, wendet und fährt los.

Eine knappe Viertelstunde später nähert sie sich auf der Wilhelmstraße der Treuhand. Das Gebäude ist mit Zäunen abgesperrt, Polizei kontrolliert die Zufahrt.

Sandra hält an und kurbelt das Fenster hinunter. »Komm ich hier zum Parkplatz der Treuhand?«

»Ja, aber heute nicht«, antwortet ihr ein Polizist.

Sandra zieht einen Brief aus ihrer Tasche und zeigt ihn dem Polizisten. »Ich bin angemeldet. Ich habe ein Vorstellungsgespräch.«

Der Polizist wirft einen Blick auf das Schreiben. Dann lässt er sich Sandras Ausweis zeigen, führt ein kurzes Telefonat mit dem Sekretariat von Dahlmann und reicht ihr schließlich die Einladung zur Bewerbung und ihren Personalausweis zurück.

»Sie können da hinten parken. Nehmen Sie den Seiteneingang. Hier vorne ist eine Demonstration angemeldet.«

»Danke.«

Der Polizist gibt seinem Kollegen ein Zeichen, der öffnet die Schranke, und Sandra fährt auf das Gebäude zu. Fünfstöckige Quader im schmucken Wehrmachtsuniformgrau, nebeneinandergeklotzt und mit einer Front, die so lang ist wie eine Landebahn. Kein Mensch weiß, warum ausgerechnet dieses Gebäude – Görings Luftfahrtministerium – den Krieg einigermaßen unbeschadet überstanden hat. In der DDR das Haus der Ministerien und jetzt die Residenz Dahlmanns und seiner Behörde – ein Ort, der zwei Mal vergessen musste, wer er ist, mit Innenhöfen, in denen man heute noch das faschistisch-stalinistische Stampfen von Militärstiefeln hört.

Der Parkplatz, zu dem der Polizist sie geschickt hat, ist für Mitarbeiter der Treuhand reserviert. Sandra stellt den Wagen ab, schnappt sich ihre Tasche und das Einladungsschreiben und steigt aus.

Auf dem Weg zum Eingang sieht sie die ersten Demonstranten, die sich neben dem Gebäude versammeln, Plakate schwenkend gegen die Treuhand und gegen Dahlmann selbst. Die ersten wütenden Parolen dröhnen, durch ein Megafon gegrölt, zu Sandra herüber.

Als sie das Gebäude betritt, wird sie ein weiteres Mal von einem Polizisten aufgehalten.

»Guten Morgen, ich möchte zu Herrn Dahlmann.«

Und sie muss nochmals die Einladung zum Bewerbungsgespräch und ihren Ausweis vorzeigen. Dann sucht der Polizist sie mit einem Metalldetektor ab, sogar ihre Schuhe werden untersucht. Im Hintergrund drei Polizisten mit schusssicheren Westen und umgehängten Maschinenpistolen. Die Treuhandanstalt ist besser gesichert als das Luftfahrtministerium und das Haus der Ministerien zusammen. Schließlich lässt der Polizist Sandra ins Innere des Gebäudes eintreten. Er deutet auf den Aufzug. »Ganz oben. Fünfter Stock.«

Spiegel an drei Wänden des Fahrstuhls, matt zwar, aber klar genug, um Sandra in unendliche Wiederholungen zu zwingen, die sich im immer schwärzer werdenden Irgendwo schließlich verlieren. Ihr Kopf, frontal, von der Seite, von hinten, unmöglich, sich hier drin selbst zu entkommen. Der Aufzug bremst ab und hält im ersten Stock. Ein leichtes Ruckeln, und die Tür öffnet sich, unerwartet langsam. Dahlmann betritt den Fahrstuhl zusammen mit einem anderen Mann. Die beiden sind ungefähr im selben Alter, Ende fünfzig. Dahlmann ist der ehemalige Manager sofort anzumerken, der andere wirkt auf Sandra wie ein Mann der zweiten Reihe, jemand, dem es eher um die korrekte Sachbearbeitung als um die Sache selbst geht.

Ein kurzes Lächeln huscht über Dahlmanns Gesicht, als er Sandra sieht, aber offensichtlich will er nicht zeigen, dass er sie kennt. Es ist fünf Jahre her, dass sie ihn das letzte Mal getroffen hat. Aber sein Gesicht, seine Art zu reden, sind ihr nach wie vor vertraut. Er hat etwas zugenommen, wirkt blasser, die Haare dünner, aber da ist immer noch das Lächeln in seinen Augen, das den leicht rechthaberischen Tonfall sofort aufwiegt. Etwas in Dahlmanns Blick lässt ihn so wirken, als würde er einen sofort durchschauen.

»Das müssen Sie mir schon selbst überlassen, wo ich nochmal draufschauen will, Herr Rautenbach«, sagt Dahlmann zu dem anderen Mann. »Ich bin kein Frühstücksdirektor!«

»Selbstverständlich. Ich sage Ihnen nur, was die Dezernenten denken.«

Der Mann drückt auf eine der Tasten neben der Tür.

»Die können denken, was sie wollen«, sagt Dahlmann. »Hier geht es nicht um Abwickeln, sondern um Gestalten. Und wer das nicht begreift, kann gehen.«

Die Tür schließt sich, und der Aufzug setzt sich in Bewegung. Der Mann schaut zu Boden, um Dahlmanns Blick auszuweichen. Für einen Moment herrscht völlige Ruhe, peinlich fast und drückend. Dann das laute Surren des Fahrstuhlmotors, ein veraltet und überfordert wirkendes Getriebe. Auch Sandra blickt zu Boden, alles ist viel zu nah hier drin, unangenehm indiskret.

»Ich wollte Sie nicht verärgern«, sagt der Mann schließlich.

»Das haben Sie nicht und können Sie auch gar nicht.«

Der Aufzug hält eine Etage höher.

»Ich spreche nochmal mit Ganter darüber.«

»Tun Sie das«, sagt Dahlmann.

Der Mann steigt aus, und als die Tür des Fahrstuhls wieder zu ist, lächelt Dahlmann Sandra an.

»Ich weiß nicht, wer er ist, aber Sie haben ihn eben verloren«, sagt sie.

»Es ist schön, Sie zu sehen, Sandra.« Dahlmann lächelt sie an. »Rauchen Sie immer noch?«

»Riecht man das?«, fragt sie.

»Na, wenn Sie kein Blatt vor den Mund nehmen, mach ich das auch nicht.«

Ein paar Minuten später stehen die beiden rauchend in der leeren Damentoilette am offenen Fenster. Fünf Stockwerke tiefer formiert sich die Demonstration. Dahlmann schaut auf die Plakate, und die Demonstranten sind nicht so weit weg, als dass Sandra und Dahlmann die Rufe und Parolen hier oben nicht hören würden.

»Macht Ihnen das nichts aus?«, fragt Sandra.

»Meine Aufgabe ist nicht, von den Leuten geliebt zu werden. Ich will ihnen eine Zukunft geben.«

Sandra schmunzelt. »Von der Toilette aus?«

»Das ist der einzige Ort, wo man hier mal seine Ruhe hat.«

Dahlmann wirft einen Blick auf die Uhr und stupft seine halb gerauchte Zigarette aus.

»Die Arbeitszeiten sind unterirdisch, und Sie müssen bereit sein zu reisen. Bezahlung geht so.«

»Wollen Sie meinen Lebenslauf nicht sehen? Zeugnisse?«

»Erstens kenne ich Sie und weiß, was Sie können. Und zweitens ist eh jeder, der hier eingeladen wird, hervorragend.«

»Danke«, sagt Sandra. »Ich freu mich sehr.«

»Aber ich sage Ihnen gleich: Ihre Vorgängerin hinterlässt große Spuren!«

»Warum ist sie nicht mehr bei Ihnen?«

»Sie hatte einen tödlichen Unfall.« Dahlmann bückt sich und schnappt sich seine Tasche. »Kommen Sie morgen um acht.«

Sandra nickt ihm zu, lächelt, das hier ging wesentlich einfacher, als sie erwartet hatte.

An der Tür wendet sich Dahlmann nochmal zu ihr um. »Und noch was: Ich bin seit zwanzig Jahren in Führungspositionen. Ich weiß, wann ich den Leuten schmeicheln muss, wann ich Druck machen und wann ich sie mit Arroganz von mir fernhalten muss. Verlieren kann man jemanden nur, wenn man geliebt werden will.«

Sandra hängt ihren Mantel an die Garderobe. Es ist früher Nachmittag, in der Küche hört sie Markus und ihre Mutter ein Gespräch über Zuckerguss führen, und es riecht nach Kuchen, vermutlich Schokoladenkuchen, der Geruch von Trost, der tief aus Sandras eigener Kindheit in diesem Haus in Berlin-Lichterfelde heraus duftet. Offenbar haben Markus und ihre Mutter sie gehört, denn sie kommen – beide mit umgebundener Schürze – in den Flur.

»Und?«, fragt Sandras Mutter. »Wie ist es gelaufen?«

Sandra lächelt, und ihre Mutter zieht die Schürze aus, kommt zu ihr und umarmt sie.

»Das ist ja mal eine gute Nachricht«, sagt sie. »Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke, Mama.« Sandra schaut ihren Sohn an. »Und wie war es bei dir?«

Ohne dass Markus es sehen kann, gibt ihre Mutter ihr ein Zeichen, dass die Lateinarbeit in die Hose ging.

»Das ist wurscht«, sagt Sandra zu ihrem Sohn. »Das macht nichts!« Sie lächelt und deutet in die Küche. »Schokoladenkuchen?«

Markus nickt.

»Auf keinen Fall mit Zuckerguss«, sagt Sandra. »Ich muss mal raus aus dieser Verkleidung. Ich komm gleich.«

»Miriam kommt später, die Zeugniskonferenz dauert noch«, sagt Sandras Mutter und geht mit Markus zurück in die Küche.

Sandra eilt die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie zieht das Kostüm aus, das sie beim Vorstellungsgespräch getragen hat. In der Tasche ihres Jacketts liegt der Pager, der eben kurz gebrummt hat; ein leises Vibrieren, für Sandras Mutter und für Markus nicht zu hören. Sandra zieht sich eine Jeans über, steckt den Pager ein. Sie schnappt sich das Telefon, das im Flur steht. Das Kabel ist lang genug, sie kann das Telefon mit ins Bad nehmen, schließt ab, setzt sich auf den Rand der Badewanne und wählt.

»Ich hab den Job«, spricht sie auf einen Anrufbeantworter und legt wieder auf.

Draußen im Flur ruft Markus nach ihr. Der Kaffee ist fertig, sie soll kommen. Und Sandra bittet noch um einen Moment, gleich wird sie hinuntergehen und mit ihrer Mutter und ihrem Sohn den Schokoladenkuchen essen, der sie an aufgeschürfte Knie, Liebeskummer und eine missratene Abiturklausur erinnert.

2

Eine Landschaft wie der Name der Stadt, die in ihrer Mitte haust wie eine fast verreckte Spinne inmitten ihres verrotteten Netzes: Bitterfeld. Eine weite, menschenleere Industriebrache, vergiftet bis in die Wurzelspitzen hinein: marode Chemiewerke, Rohre, Dampf, eine Industrialisierung, die irgendwann in den 1950er Jahren den Anschluss an die Gegenwart verloren hat.

Ein Fiepen, dann die Nachrichten, die Dahlmann immer hören will, wenn er unterwegs ist. Das Autoradio verkündet, dass Helmut Kohl sich in Berlin am späten Vormittag anlässlich einer Anhörung zur inneren Sicherheit auch zum Tod von Dr. Ernst Wegner vor zwei Wochen geäußert hat. Dahlmann, der hinten im Wagen sitzt, schaut von seinen Akten auf und hört seinem Kanzler zu.

»Mit Ernst Wegner hat die Bundesrepublik eine seiner größten Persönlichkeiten verloren«, aber der Rechtsstaat sei »wehrhaft«. Die RAF werde die »Härte des Gesetzes« zu spüren bekommen. Eine Vergeltungsandrohung des feisten Kanzlers, der den Kalten Krieg ausgesessen hat, die Sowjetunion und »Star Wars«. Der Kanzler doht im rhetorischen Autopiloten, grüß Gott, liebes Klischee, lass dich umarmen, wie wahr du bist, wie verständlich und anschlussfähig für die gesamte verwundete Republik.

Dahlmanns Blick gleitet nach draußen. Er schätzt Kohl, aber erst, seit er ihn persönlich kennt. Bis dahin war er für Dahlmann immer die Strickpulli-Variante des Christlichen und Demokratischen gewesen und Union nur insofern, als die Partei des Kanzlers, die nicht Dahlmanns Partei ist, sich von Kohl einschnüren ließ. Dahlmann kann diesen sabbernden Tonfall, in dem immer ein Bäuerchen aus Saumagen, Selbstzufriedenheit und beleidigter Anklage mitschwingt, nicht leiden. Im Vieraugengespräch aber, das Kohl mit Dahlmann vor sieben Monaten geführt hat, um ihm die Leitung der Treuhand anzutragen, war er eine völlig andere Person. Machtbewusst, ja. Aber Dahlmann hat auch die Intelligenz unter der feisten Oberfläche gespürt, die Provinz als Masche und Verstellung. Und hat die Mission, die diesen Mann umtreibt, begriffen. Und obwohl er ursprünglich ablehnen wollte, ließ er sich schließlich überzeugen, ohne recht zu wissen, wie es der Kanzler geschafft hatte, ihn umzudrehen.

Eine deprimierende Landschaft zwischen Grau und Dunkelgrau da draußen. Farben sind Chemie und gehören an Häuserwände, Eisenbahnwaggons oder Kraftwagen. Man nehme der Landschaft die Natur, mache sie vierzig Jahre lang zum Verbündeten des Sozialismus und lasse sie gegen einen übermächtigen kapitalistischen Konkurrenten antreten – Bitterfeld ist der finale Schlag, mit dem ein industrialisiertes 19. Jahrhundert aus Dampfmaschinen und glühendem Eisen auf die Ästhetik einprügelte, bis sie nicht mehr wusste, was schön ist, was erhaben oder hässlich. Dahlmann ist kein Öko, im Gegenteil, selbstgestrickte Pullover, Birkenstock und Zottelbärte sind nicht sein Ding, dann schon eher Saumagen, pfälzische Landjäger und Federweißer. Und trotzdem, denkt er, als er aus dem Fenster seiner Limousine schaut, die über Hitlers bleibendes Geschenk an Deutschland holpert, Bitterfeld braucht die Ökos noch nötiger als der Rest der DDR. Eine Stadt, die zwei Jahre nach der Wende immer noch nach Chemie stinkt und eine Industrialisierung bebildert, die – nach vierzig Jahren im real existierenden Sozialismus – dringend nach Reform schreit.

Dahlmanns Fahrer schaltet das Radio aus. Vor ihnen liegt jetzt das Ziel der Reise aus dem Berliner Zentrum in die Bitterfelder Peripherie. Die Straße ist schnurgerade, an ihrem Ende das Werksgelände der Raupach-Werke – der größten Chemiefirma der ehemaligen DDR. Davor stehen Demonstranten in Arbeiterkleidung, wie von Brecht erfunden, und skandieren wütende Parolen und schwenken Plakate und Schilder voller Rechtschreibfehler gegen die Treuhand, groß genug, dass Dahlmann, sein Fahrer und Sandra Wellmann, die hinten neben Dahlmann sitzt, lesen können, gegen wen sich der Zorn richtet, und vor allem, wer das Subjekt des Zorns ist, der Souverän höchstpersönlich nämlich sieht sich genötigt zu pöbeln: »Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!«

Dahlmanns Limousine ist gepanzert und deshalb lärmisoliert, doch als sie der Demonstration näher kommen, dringen die Rufe ins Innere des Wagens durch. So richtig klar wird Dahlmann nicht, welche Brücke von der Nikolaikirche in Leipzig oder dem Alexanderplatz in Berlin hierher vor das Werksgelände in Bitterfeld führt. Ja, sie sind das Volk, jedenfalls ein Teil des Volkes. Und das Volk ist mit der Gesamtsituation unzufrieden, und weil es schlecht gegen eine Gesamtsituation demonstrieren kann, braucht der Feind ein Gesicht. Das Gesicht sieht Dahlmann erstaunlich ähnlich, trägt eigenartigerweise aber einen Hitlerbart. Ich, denkt Dahlmann, Sozialdemokrat aus Nordrhein-Westfalen, geboren in Magdeburg, mein Vater Mitglied der bekennenden Kirche und Mitunterzeichner des Barmer Bekenntnisses, ich soll Hitlers williger Vollstrecker sein? Des Faschismus’ letzte Bastion?

Dahlmanns Fahrer bremst ab, sucht nach einem Seitenweg zum Hintereingang des Chemiewerks, aber vergeblich und zu spät. Denn das in achthundert Exemplaren repräsentierte Volk wendet sich vom Verwaltungsgebäude ab, kommt auf die schwarze Limousine zu, sämtliche Bilder gelungener Revolutionen vor dem inneren und Dahlmanns Mercedes vor dem äußeren Auge und getragen vom Hochgefühl, vor nicht einmal zwei Jahren einen ganzen Staat besiegt zu haben. Das achthundertköpfige Volk ist abermals einig, und wie viel wichtiger ist Einigkeit als Recht und Freiheit? Einig jedenfalls gegen die Treuhand, die ihren Staatsratsvorsitzenden Genosse Hitler zum Kontrollbesuch schickt.

»Haben Sie Herrn Friedrich gesagt, dass wir kommen?«, fragt Dahlmann.

»Nein«, sagt Sandra.

»Sonst jemandem?«

»Niemandem.«

Zu spät, um zu wenden. Die Limousine ist inzwischen von Demonstranten umzingelt. Der Fahrer muss anhalten, kann weder vor- noch zurücksetzen. Sandra wird nervös, der Fahrer wird nervös, beide werden von der Wucht der inbrünstigen Rufe des einigen Volkes zurück in die Sitze gedrückt. Dahlmann aber bleibt ruhig.

»Würden Sie jemandem, der nicht mal seinen eigenen Terminkalender geheim halten kann, sechshundert Milliarden D-Mark anvertrauen?«

Der Fahrer lächelt. Die beiden kennen sich gut. Dahlmann hat verhandelt, dass er, als er vor sieben Monaten der Leiter der Treuhand wurde, seinen Chauffeur, den die Hoesch AG ihm als Topmanager bereitgestellt hatte, mitnehmen konnte.

Die Atmosphäre draußen wird immer aufgeheizter. Die Demonstranten schlagen wütend mit der flachen Hand auf den Kofferraum und mit den Fäusten an die Scheiben. Außerdem beginnt das einige Volk – acht Mann links, acht Mann rechts – an der Limousine herumzurütteln.

»Soll ich den Werkschutz rufen?«, fragt der Fahrer.

Dahlmann selbst hatte insistiert, diese Reise ohne Polizeischutz zu machen. Wie übrigens viele seiner Reisen, die er vorher nicht angekündigt hat. Ein Risiko. Das BKA hatte ihm geraten, nicht mehr ohne Polizeischutz zu fahren, »high priority target«, das er nunmehr sei, Hassobjekt der RAF auf der einen und der Bevölkerung der ehemaligen DDR auf der anderen Seite.

»Nein«, sagt Dahlmann zum Fahrer. »Sie bringen Frau Wellmann zum Hintereingang.«

»Und Sie?«

»Ich geh raus und erkläre denen, dass die Landschaften zwar noch nicht blühen, aber überall schon Knospen zu sehen sind«, sagt Dahlmann mit schiefem Lächeln und zieht seine Strickkrawatte aus.

»Sind Sie sicher?«

Der Fahrer kennt Dahlmanns Eigenarten, seine Vorliebe für Alleingänge. Der Wagen ruckelt immer stärker hin und her, es ist alles andere als eine gute Idee, sich alleine achthundert Arbeitern, die sich an der Macht einer dreistelligen gegenüber einer einstelligen Zahl berauschen, auszuliefern.

»Meine Frau sagt, ich bin rhetorisch eine Niete, aber argumentativ ganz gut.«

Dahlmann ist seit mehr als fünfundzwanzig Jahren Topmanager. In Krisen wird er ruhig, wenn andere nervös werden, entwickelt er eine Neigung zum Witzeln, einer seiner wichtigsten Softskills.

Er zeigt Sandra die altmodische Strickkrawatte und lächelt. »Die hat Julia mir gestrickt, da war sie fünfzehn!« Er rollt die Krawatte ein und legt sie zur Seite. Dann zieht er sein Portemonnaie und seinen Terminkalender aus seinem Jackett und legt beides in die Mittelkonsole. Wie immer die Gangart da draußen wird – sein Terminkalender, in dem sich die Adressen und Telefonnummern sämtlicher Mitglieder des Kabinetts befinden, sollte nicht unbedingt in die Hände der Demonstranten fallen.

Dahlmann öffnet die Tür und steigt aus. Die Ruckelei hört sofort auf, die Demonstranten lassen den Wagen in Ruhe. Um ihn herum bildet sich eine kleine Gasse.

Sandra schaut ihm hinterher. Für einen Moment noch drückt der Protest aus den hinteren Reihen lautstark ins Innere des Wagens. Dahlmann lächelt ihr kurz zu, dann schließt er die Tür. Sie kann nicht hören, was er mit den Demonstranten da draußen bespricht. Sie sieht, dass er sich von ihnen ein Megafon geben lässt.

Die Demonstranten lassen von der Limousine ab und machen Platz, so dass der Wagen langsam zurücksetzen kann. Der Fahrer konzentriert sich auf den Außenspiegel und hat die Mittelkonsole des Wagens nicht im Blick. Sandra schnappt sich Dahlmanns Kalender und blättert ihn eilig durch, den Fahrer behält sie dabei im Auge.

Im Kalender ist eine Reise nach Görlitz eingetragen. Sandra ist jetzt zehn Tage bei Dahlmann, Bitterfeld ist ihre erste Dienstreise mit ihm. Von einer Fahrt nach Görlitz hat er ihr nichts mitgeteilt. Vermutlich eine weitere Inspektionsfahrt, wie diese hier. Nur dass er seine Referentin offenbar nicht dabeihaben will. Sandra merkt sich den Termin und blättert weiter. Treffen mit Rautenbach, Dahlmanns Stellvertreter im Vorsitz der Treuhand. Treffen mit dem Innenminister. Bericht beim Kanzler. In drei Wochen ist eine Rede im Bundestag geplant. Alles Termine, die Sandra kennt. Nur die Reise nach Görlitz hat Dahlmann bislang vor jedermann geheim gehalten.

»Vorsicht, links!«, ruft sie, als der Fahrer zu ihr zurückblickt. Ein durchschaubares Manöver, aber der Fahrer sieht sofort nach links, und Sandra legt den Kalender zurück in die Mittelkonsole, ohne dass er es bemerkt.

»Sind die Scheiben aus Panzerglas?«

»Machen Sie sich mal keine Sorgen. Eine höhere Sicherheitsstufe hat nur der Kanzler.«

Sandra blickt durch die Windschutzscheibe hinaus, während der Fahrer sich vorsichtig rückwärts durch die Demonstranten drängelt. Je weiter der Wagen zurücksetzt, umso verlorener wirkt Dahlmann mit seinem Megafon zwischen den Arbeitern und den Plakaten mit den Hassparolen und seinem Konterfei mit Hitlers Rotzbremse.