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Jasna Brandič, Topermittlerin des Tribunals in Den Haag, überlebt als Einzige ein brutales Attentat auf ihren Kronzeugen. Ohne diesen droht das Verfahren gegen den Massenmörder Kovać endgültig zu scheitern. Da erreicht Jasna die Nachricht, dass ein international gesuchter Kriegsverbrecher bereit ist, gegen Kovać auszusagen – vorausgesetzt, sie schafft es, ihn vor seinen eigenen Leuten zu schützen und lebend nach Den Haag zu bringen. Jasna setzt auf eigene Faust alles daran, den Mann zu finden. Sie ahnt nicht, dass sie Teil eines perfiden Spiels ist – eine Jagd auf Leben und Tod beginnt. Den Haag: Kovać, ehemaliger Kommandant einer Elitetruppe der serbischen Armee, ist wegen Massenmordes angeklagt. Jasna Brandič, Topermittlerin einer internationalen Spezialeinheit, hat endlich einen Kronzeugen aufgespürt, der Kovaćʼ Schuld eindeutig belegen kann. Am Tag der Verhandlung bringt ein Attentat alles zum Scheitern. Jasna steht vor einem Scherbenhaufen. Da erreicht sie die Nachricht, dass jemand aus Kovaćʼ engstem Kreis bereit ist, gegen seinen ehemaligen Weggefährten auszusagen – vorausgesetzt, Jasna schafft es, ihn lebend aus Serbien herauszubekommen. Sofort reist Jasna nach Belgrad. Gegen den Willen ihrer Vorgesetzten und verfolgt von Kovaćʼ Anhängern versucht sie, den Mann zu finden und vor das Tribunal zu bringen. Noch ahnt sie nicht, dass sie Teil eines perfiden Spiels ist.
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Seitenzahl: 408
Veröffentlichungsjahr: 2014
André Georgi
TRIBUNAL
Thriller
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4515
Originalausgabe
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
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Umschlagfoto: FinePic®, München
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
eISBN 978-3-518-73722-4
www.suhrkamp.de
Cover
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Anfang des Buches
[Cover]
[Impressum]
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für Angelika
Ihr Atem verheddert sich, der Puls spielt Bebop, Metronom auf 220 – und ab geht’s, Charlie.
Jasna ist verschwitzt. Sie hasst das. Ihr T-Shirt. Das Kissen. Die Decke.
Zu häufig in letzter Zeit, das ist neu, das kennt sie nicht von sich. Schlafen konnte sie immer, sogar in Albanien vor zwei Monaten. Hinlegen, abschalten, weg. Traumlos, entspannend. Aber seit zehn Tagen ständig diese Träume. Immer irgendwas mit Tod, Gestank. Meistens rennen. Immer verlieren.
Einen Moment braucht sie noch, um den Traum loszuwerden, dann erst begreift sie, wo sie hier eigentlich ist. Jasna steht auf, öffnet eines der vergitterten Fenster. Die Welt da draußen ist ein einziges Geschmiere irgendwo zwischen Dunkelgrau und Dunkeldunkelgrau. Die Nordsee murmelt vor sich hin und spielt Ewigkeit. Und unten am Strand quengeln Möwen wegen eines zerrissenen Fischs. 5Uhr7. Guten Morgen Holland. Guten Morgen Scheveningen.
Draußen dreht – wer ist das? Jetzt wahrscheinlich Hilken –, draußen dreht also wahrscheinlich Hilken seine Runden um das Sommerhaus, die Maschinenpistole umgehängt. Oreskovič schläft nebenan, seine Träume will Jasna gar nicht kennen. Hat er welche? Wahrscheinlich pennt das Arschloch besser als ich. Zwei Räume weiter schläft die Tagschicht auf den Feldbetten, Hilkens Leute. Zehn Mann, zehn Maschinenpistolen. Hier ist er sicher, Oreskovič, der Kronzeuge. Bis zu seinem großen Auftritt, heute im Tribunal, Den Haag, Churchillplein1, Raum 3.112.
Jasna zieht das nasse T-Shirt aus und holt einen Pulli aus dem Schrank. Schnappt sich dann ihren roten Bademantel – wenigstens ein bisschen Farbe hier.
Die Kippen noch. Feuerzeug. Und raus.
Das Metronom steht jetzt auf 180.
5Uhr39. Charlie Parker kriegt sich allmählich wieder ein.
Alles wird gut, du wirst sehen, denkt Jasna, es wird schon. Du hast Oreskovič hergebracht, aus Tirana, Albanien, hierher nach Den Haag, Niederlande. Der Preis: Augenringe, ein paar schlaflose Nächte – und? Mein Leben war richtig in den letzten Monaten. Der Preis, den ich zahle, ist nicht zu hoch. Es hat sich gelohnt. Mein Leben ist richtig.
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Allmählich kommt auch Coleman Hawkins mit.
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Es ist alles okay. Hör auf, dich fertigzumachen.
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Ich werde ihn abliefern.
Jovan Oreskovič, den Kronzeugen.
Am Churchillplein1.
Im Raum 3.112.
Heute um zehn Uhr.
Er wird aussagen, und ich hab gewonnen. Mein Leben ist richtig.
Hilken luchst dem frühen Morgen seine finstersten Geheimnisse ab. Mit Nachtsichtgerät und Maschinenpistole. Schlecht gelaunt, weil er sich den Arsch abfriert und die Nachtschicht immer noch nicht hinter sich hat. Weil er übermüdet ist und deshalb die sieben Komma vier Grad plus als fünf Grad minus und persönliche Beleidigung empfindet. Viel zu kalt für die Jahreszeit, ungewöhnlich.
Drüben kommt Jasna aus dem Sommerhaus. Und geht runter zum Wasser. In ihrem roten Bademantel, viel zu dünn angezogen.
Was ist los mit ihr?, denkt Hilken und schaut ihr hinterher.
Sie ist viel zu früh dran, Abfahrt ist erst um acht Uhr dreißig, was macht sie jetzt schon hier?
Er geht zum Haus zurück. Holt eine Thermosflasche. Eine Decke. Und folgt ihr. Er erreicht sie vorne am Strand, an dem die Flut herumleckt, hundert Meter vor dem diskret abgeschirmten Sommerhaus.
Hilken stellt sich neben Jasna. Legt ihr die Decke um die Schultern. Dafür bekommt er ein Lächeln. Wogegen er nichts hat. Jasna gibt ihm eine Kippe. Danke, murmelt er, sie gibt ihm Feuer. Steckt sich selbst eine an.
Seit knapp zwei Wochen hängen sie hier zusammen rum. Und seit knapp zwei Wochen macht Jasna einen immer verschlosseneren Eindruck. Ständig angespannt, abgespannt. Ihr Vertrauen in die Welt scheint angekratzt. Vielleicht hat sie sich übernommen in den letzten Monaten. Aber sie hat es geschafft. Sie hat Oreskovič hergebracht. Ein Job, der sie siebzehn Monate gekostet hat. Siebzehn verschissene Monate meines Lebens – O-Ton Jasna Brandič vor einer Woche.
Wissen M’Penza und Peneguy eigentlich, was sie an ihr haben?, denkt Hilken. Und schraubt die Thermosflasche auf. Schenkt ihr Kaffee ein.
Ich muss weg hier, sagt sie. Jede Nacht die gleiche Scheiße, ich muss hier raus.
Paar Tage noch, dann bist du ihn los, sagt Hilken.
Jasna trinkt. Und schaut zurück zum Haus. Die meisten Fenster sind noch dunkel. Nur im Mannschaftsraum brennt schon Licht. Und daneben auch. Daneben ist Oreskovič’ Zimmer.
Was ist mit ihm?, fragt Jasna. Ist er auch schon wach?
Seit vier.
Seit vier?
Jasna tritt den Zigarettenstummel in den Sand. Warum soll es Oreskovič besser gehen als mir?
Hoffentlich packt der das mit der Aussage, sagt sie. Hoffentlich klappt er nicht im letzten Moment zusammen.
Lass uns reingehen, ist viel zu kalt hier draußen, sagt Hilken. Nicht dass du nachher zusammenklappst!
Jasna folgt Hilken zurück zum Haus und schaut auf Oreskovič’ Fenster.
Siebzehn verschissene Monate für diese zwei Stunden heute, denkt sie und merkt, wie die Nervosität wieder nach ihr krallt.
Zwei Stunden sind für Oreskovič’ Aussage eingeplant. Am frühen Nachmittag wird er wieder hier sein. Das ganze Drumherum kostet etwa 20000 Euro. Pro Tag. Das ist es dem Tribunal wert, Kovać vor seinen Richter zu bringen.
Oreskovič muss das schaffen.
Oder alles war umsonst.
Ein Riesen-Tamtam, draußen vor dem Tribunal am Churchillplein1, Den Haags Polizei hat zu tun heute Morgen. Vor den Absperrungen stehen an die zwanzig Einsatzwagen. Die Polizisten tragen schusssichere Westen, dazwischen patrouillieren ein paar Jungs einer Eliteeinheit mit Maschinenpistolen. Hinter den Absperrungen versammeln sich die Demonstranten mit Plakaten gegen Kovać und wärmen sich mit Sprechchören auf. Niemand hat damit gerechnet, was hier los sein würde. Erstens wegen der Kälte. Zweitens ist Kovać nicht der Erste, dem vor dem Tribunal der Prozess gemacht wird. Und es war auch nicht zu erwarten, dass die Demonstration ausgerechnet am dreiundfünfzigsten Prozesstag eskalieren würde. Schon gar nicht am frühen Morgen!
Huysman wird angesichts der immer aggressiver werdenden Sprechchöre jetzt endgültig klar, dass er Verstärkung anfordern muss. Er hat zu wenig Personal. Und die Absperrungen kommen ihm viel zu fragil vor. Wenn die Demonstranten durchbrechen wollen, werden weder die paar Gitterzäune noch die Betonpfosten sie davon abhalten können. Und erst recht nicht meine Leute, denkt Huysman und eilt an den Absperrungen vorbei zum Kommandowagen, von dem aus er den Einsatz koordiniert.
Er ärgert sich über sich selbst, weil er unterschätzt hat, was passieren würde. Huysman kannte natürlich die Aufrufe, denn die Demonstration war genehmigt, aber mit diesem Ausmaß hat er nicht gerechnet, ein grober Fehler. Dabei hat er schon gestern Abend, als er sich zu Hause die Facebook-Gruppe der Demonstranten nochmals anschaute, eine erste Ahnung bekommen, welche Dimensionen das heute Morgen annehmen würde. Innerhalb von Stunden hatte sich die Zahl der »Likes« verzehnfacht, weil plötzlich überall auf die Seite mit dem Demonstrationsaufruf verlinkt worden war.
Spätestens da hätte ich reagieren müssen, denkt Huysman.
Das Tribunal klagt seit neun Jahren insgesamt 161 ehemalige Soldaten, Mitglieder paramilitärischer Einheiten und Politiker aus dem ehemaligen Jugoslawien wegen Kriegsverbrechen an – aber niemand, selbst Milošević höchstpersönlich nicht, regt die Leute so sehr auf wie Marko Kovać.
Huysman geht es nicht anders. Er hat eine dreiundzwanzigjährige Tochter, Margret, die in Amsterdam Chemie studiert. Gestern beim Abendessen, als er seiner Frau von dem Facebook-Aufruf mit den unverhohlenen Drohungen gegen Kovać erzählt hat, hat sie ihn gefragt, was er machen würde, wenn Margret zu Kovać’ Opfern gehört hätte? Wenn Kovać seinen Leuten befohlen hätte, sie zu vergewaltigen? Und wenn Huysman jetzt dabei zusehen müsste, wie Kovać das Gericht seit zweiundfünfzig Prozesstagen mit juristischer Taktiererei vorführte? Warum man dieses ganze Geld überhaupt in einen Prozess gegen jemanden steckt, den man eigentlich an die Wand stellen will, wenn man ehrlich ist?
Will ich das?, denkt Huysman. Kovać an die Wand stellen?
Er steigt in den Kommandowagen. Vor vielen Jahren schon hatte er sich ein Denkverbot zum Thema »warum« auferlegt. Er ist zum Schutz hier, er darf nicht fragen, wen er beschützt oder warum, oder was er tun würde, wenn er entscheiden dürfte. Er beschützt, egal wen, egal warum, das ist sein Job.
Huysman schließt die Tür hinter sich und setzt sich an den kleinen Tisch, auf dem sein abhörsicheres Funkgerät steht. Während er durch die schwarz getönten, schusssicheren Fensterscheiben des Kommandowagens auf die Demonstranten schaut, gibt er durch: Es ist kurz nach acht. Wir haben weitaus mehr Demonstranten als erwartet. Wir brauchen Verstärkung. Schickt jemanden. Ist mir egal woher, dieser Andrang war nicht zu erwarten, ich brauche mehr Leute!
Draußen vor dem Wagen drücken die Demonstranten gegen die Gitterzäune. Alle in Schwarz gekleidet. In Trauer. Mit Plakaten auf Holländisch, auf Englisch und auf Serbokroatisch, in lateinischen und in kyrillischen Buchstaben.
Huysman legt auf und sieht die Fotos der Frauen und Mädchen, die die Demonstranten hochhalten. Die mit Photoshop bearbeiteten Aufnahmen der Brücke: Višegrad im Frühsommer 1992, elf Brückenpfeiler waten durch einen Fluss aus Blut, die Drina. Zu fett aufgetragen für Huysmans Geschmack.
Er denkt an Margret, seine Tochter, aber er kann sich jetzt keine Ablenkung leisten und zwingt sich zur Konzentration.
Was ist, wenn die Demonstranten durchbrechen? Ich muss die Sicherheitszone erweitern. Aber wie soll ich das durchsetzen? Zumindest muss ich die Gitterzäune verstärken lassen. Aber genau das wird die Demonstranten ihre Macht spüren lassen und sie erst recht ermutigen, die Absperrungen zu durchbrechen.
Ist es schon zu spät? Warum habe ich nicht gestern Abend reagiert? Habe ich zu viel Sympathie für diese Demonstranten? Würde ich Kovać an die Wand stellen?
Zwei Polizisten suchen mit Bombenhunden den Raum ab. Routine.
Der letzte Check. Durch die Fenster hören sie die gedämpften Rufe der Demonstranten. Außer den beiden ist niemand hier im Raum 3.112, denn die Bombenhunde – Kastor und Pollux – sollen nicht unnötig abgelenkt werden.
Kastor schnüffelt an den Plätzen des Richters, des Staatsanwalts und dem des Anwalts herum, Pollux an den zehn Stuhlreihen mit jeweils zehn Plätzen für die Zuschauer. Die letzte Reihe ist für Journalisten reserviert, bleiben nur neunzig Plätze für das Publikum, sehr wenig angesichts der Brisanz dieses Prozesstages. Huysman aber hatte sich vehement geweigert, mehr Publikum zuzulassen.
Schließlich führen die beiden Polizisten ihre Hunde an die Stirnseite des Raums, zu dem Käfig aus schusssicherem Glas, der eine Maschinengewehrsalve aushalten würde und in dem Kovać sitzen wird. Auch hier finden die Hunde nichts, der Raum ist sauber.
Wir sind fertig, sagt einer der beiden Polizisten in sein Funkgerät, und die beiden führen Kastor und Pollux hinaus zum Wagen, der sie zurück in die Kaserne bringen wird. Ein Gerichtsdiener kommt herein. Und stellt ein Schild auf: »Dr. Peneguy. Prosecutor«. Und die Schilder für Kovać und seinen Anwalt.
Viel Zeit ist nicht mehr. Die Securityleute in schusssicheren Westen und mit Pistolen bewaffnet verteilen sich im Raum. Heute soll es endlich gelingen, den Nachweis von Kovać’ Schuld zu führen.
Die Vorwürfe: Mord und Anstiftung zum Mord in 3953 Fällen. Vergewaltigung und Anstiftung zur Vergewaltigung von Mädchen und Frauen im Alter zwischen 12 und 72.
Der Tatort: Višegrad an der Drina, an der Grenze zwischen Serbien und Bosnien-Herzegowina. Genauer: Die Brücke über die Drina und das höher gelegene Vilina Vlas Hotel, in dem sich Kovać’ »Wölfe« ein paar Monate lang einquartiert hatten. Von der Hochzeitssuite aus, Kovać’ Unterkunft, hatte man den besten Blick auf die Brücke, auf der Kovać und seine »Wölfe« 3953 Moslems, zumeist Männer, hingerichtet und in die Drina geworfen haben. Elf Pfeiler waten durch einen Fluss aus Blut.
Die Zeit: Frühsommer bis Herbst 1992.
Bislang ist es Peneguy, dem Staatsanwalt, nicht gelungen, Kovać nachzuweisen, dass er am Anfang der Befehlskette gestanden hat.
Heute aber, nach zweiundfünfzig Prozesstagen, soll genau das gelingen – wenn Oreskovič, der Kronzeuge, nicht einknickt. Heute wird er seine Aussage, die bisher nur schriftlich vorliegt, vor Gericht wiederholen und sich den Fragen von Kovać’ Anwalt und möglicherweise von Kovać selbst stellen müssen. Die Luft vibriert schon jetzt vor Nervosität.
Vier Männer der Security setzen sich um den ebenfalls mit Panzerglas abgeschirmten Platz des Kronzeugen herum. Oreskovič ist hochgradig gefährdet, denn er ist nicht irgendjemand. Er war – nach Branko – Kovać’ Stellvertreter in der Hierarchie der »Wölfe«. Während des Bosnienkrieges war Oreskovič in sämtliche Entscheidungen von Kovać eingeweiht.
Der Einsatzleiter der Security checkt den Raum ein letztes Mal. Seine Männer haben sich im Raum verteilt. Der Platz des Kronzeugen ist gesichert. Huysman hatte das Sicherheitspersonal am frühen Morgen kurzfristig nochmals verdoppelt. Auf die einhundert Plätze im Publikum kommen fünfzehn bewaffnete Männer der Security.
Wir sind so weit, sagt der Einsatzleiter über Funk zu einem Kollegen, der unten in der Halle darauf wartet, dass er das Publikum hereinlassen kann. Die Journalisten bitte zuerst.
Eigentlich hätte sich Peneguy genauso gut eine Studentenbude irgendwo in Den Haag nehmen können, denn wo er übernachtet, ist eigentlich egal. Er ist eh immer im Büro.
Peneguy ist viel zu spät dran. Gestern konnte er auch nicht schlafen. Gegen zwei Uhr nachts hat er angefangen, sich aufzuregen, über sich selbst. Heute ist der Tag, auf den sie hingearbeitet haben, seit Monaten, und er hat nicht schlafen können. Ein Whisky – er hatte ihn von M’Penza zum Zweiundvierzigsten geschenkt bekommen. Noch einer. Und noch einer. Eine Schlaftablette obendrauf. Dann war es halb drei.
Jetzt sitzt diese Scheiß-Schlaftablette immer noch in meiner Birne und verklebt mir den Kortex, oder wie das heißt. Da, wo das Denken sitzt. Und am besten auch heute sitzen sollte.
Rasierschaum auf die Hände. Einreiben. In den Spiegel schauen. Jetzt komm schon, Junge, fängt er an, sich selbst anzufeuern. Komm in Schwung, Kollege. Du wirst das nicht vermasseln. 70 Prozent sind Akten. Du bist auf der sicheren Seite. Oder hast du Angst vor Kovać? Bullshit, Kovać kenn ich doch in- und auswendig. Aber was wird Kovać mit Oreskovič anstellen?
Peneguy weiß, dass Kovać eine Vorliebe dafür hat, Zeugen selbst zu befragen, wenn es eng für ihn wird. Das darf er, denn er hat sich als sein eigener Verteidiger eintragen lassen. Und Kovać ist das, was man einen »Charismatiker« nennt. Selbst in seinem Glaskäfig, selbst als Angeklagter schafft er es, die Zeugen einzuschüchtern. Und sie extrem geschickt zu verhöhnen, so dass man ihm nicht wirklich in die Parade fahren kann. »Man« ist in diesem Fall ich, denkt Peneguy.
Ja?
Es hat an der Badezimmertür geklopft.
Wir müssen so langsam, sagt Caflish hinter der Tür.
Ja.
Peneguy wirft eine Kopfschmerztablette ein. Rasiert sich weiter. Schneidet sich natürlich. Das Blut vermischt sich mit dem Rasierschaum.
Idiot. Wie kann man nur so blöd sein, Kollege? Jetzt reiß dich zusammen.
Tut mir leid, Sir, sagt Caflish wieder. Das muss er machen, das ist sein Job. Ich muss Sie wirklich bitten, dass Sie sich beeilen.
Und Peneguy brüllt ihn durch die Tür an, er soll ihn wenigstens hier auf dem Klo mal kurz alleine lassen.
Und dann: Entschuldigung. Ich beeile mich. Zwei Minuten. Dann bin ich auf Flughöhe.
Das Blut auf seiner Wange gibt sich alle Mühe, theatralisch auszusehen.
Peneguy löst manche Probleme am liebsten, indem er sie ignoriert. Verständlich, wenn man seinen Schreibtisch kennt. Er zieht den Rasierer durch den Schaum. Wasser drüber. Anschauen. Kleine Wunde nur, ein Stück Toilettenpapier drauf.
Caflish klopft. Sie haben mich selbst drum gebeten, Sir.
Ja, ja, ja.
Kovać wird das nicht gewinnen. So jemanden wie Oreskovič hatten wir noch nie im Zeugenstand. Seine Aussage wird Kovać das Genick brechen. Damit werde ich ihn kriegen.
Sir?
Peneguy weiß, dass er eine Rampensau ist. Wenn er nachher performen muss, vor Kovać, dem Richter, der Presse und dem Publikum, wird er sicher sein. Er wird wissen, welches Gesicht er aufsetzen muss, er kennt seine Wirkung. Und wenn das Adrenalin dazukommt – was soll da noch schiefgehen? Ich muss mich einfach drauf verlassen, dass klappt, was immer klappt. Du kennst dich doch inzwischen, Kollege.
Fünf Minuten, ruft Peneguy Richtung Tür. Setzen Sie mir bitte einen Kaffee auf.
Nee, nee, von Kovać wird er sich nicht kleinkriegen lassen.
Peneguy schaut sich nochmals im leicht getönten Spiegel seines Luxusbads in der Luxuswohnung im Herzen von Den Haag an, die er sich leistet, weil er ein Refugium braucht, und sein Refugium ist Luxus. Eine Macke, die er von seinem Vater geerbt hat, einem New Yorker Steueranwalt mit einem Haus in den Hamptons. Nach New York will Peneguy auch wieder zurück, doch vorher hat er sich ein Sabbatical verordnet. Fünf Jahre schenkt er dem Tribunal, um etwas zu bewegen.
Und? Hab ich was bewegt?
Der Spiegel ist beunruhigt. Denn noch ist Peneguy definitiv keine Rampensau. Sein Lächeln sieht nach Verlierer aus. Und die kleine Wunde blutet durch das Toilettenpapier. Ein paar rote Tröpfchen nur, aber Kovać wird genau sehen, was mit ihm los ist. Es gibt Gründe, warum Kovać es an die Spitze der »Wölfe« gebracht hat.
Kovać kann Menschen lesen.
Und Peneguy fühlt sich wie ein offenes Buch.
Fuck.
Vor dem Sommerhaus stehen drei Limousinen. Identische Marke, Lexus, tiefergelegt, breite Felgen, schmale Reifen, damit sie durch einen Schützen schwerer zu treffen sind, die Fenster getönt, undurchlässig für jeden Blick von außen, kugelsicher, was nicht heißt, dass sie dem Dauerbeschuss mit einer Maschinenpistole standhalten könnten, aber ein Scharfschütze würde mit einem einzigen Schuss die Scheibe nicht durchschlagen können. Jedenfalls mit den meisten Kalibern nicht.
Die Fahrer warten in ihren schwarzen Anzügen neben den Wagen. Alle drei sind durchtrainiert, die kugelsicheren Westen unter ihren Jacketts bemerkt man kaum. Irgendwie liegt über diesem Morgen, der beleuchtungstechnisch Schwierigkeiten hat, in die Puschen zu kommen, eine Stimmung von Nervosität und Anspannung, die auf die Fahrer übergesprungen ist. Sie rauchen, reden kein Wort und frieren sich den Arsch ab, während das Meer lustlos vor sich hinmurmelt.
Obwohl der offizielle Abfahrttermin erst auf acht Uhr dreißig angesetzt ist, müssen die drei seit sieben hier warten, denn Jasna ist sprunghaft, hält sich alle Optionen offen und erwartet, dass die Fahrer sofort einsatzbereit sind. Die drei haben sich bei Hilken erkundigt, was da drin im Sommerhaus, zu dem sie keinen Zutritt haben, vorgeht, ob die genaue Abfahrtszeit inzwischen festgelegt ist. Natürlich weiß Hilken gar nichts, denn Jasna hat das Kommando, und Jasna ist notorisch maulfaul und in Zeiten wie diesen noch misstrauischer als ohnehin schon. Klar wissen die Fahrer, warum. Wenn es darum geht, jemanden wie Oreskovič zu befördern, besteht immer die Gefahr eines Scharfschützenangriffs. Klar haben sie trainiert, was in einem solchen Fall zu tun ist. Hoch mit dem Tempo, raus aus der Gefahrenzone, keine klaren Linien fahren, es dem Schützen so schwer machen, wie es irgend geht.
Und dennoch: Der Transport ist die Schwachstelle. Eine Limousine ist verwundbar, trotz allem. Da sind Geheimnisse der beste Schutz, fehlende Informationen bieten mehr Sicherheit als kugelsicheres Glas oder die Maschinenpistole von Hilken.
Jasna eilt aus dem Haus zu den Fahrern. Sie trägt einen Hosenanzug, schwarz, und sieht nach Business aus. Wenn ihre Schuhe nicht wären – schwarze Sneakers und keine Pumps, damit sie laufen kann, wenn es sein muss. Die Dusche vorhin hat den Traum endgültig vertrieben, der Adrenalinkick ist bereits zu spüren und macht die Nervosität auch nicht unbedingt besser. Jasna hat von den Demonstranten vor dem Tribunal erfahren, der Andrang ist größer als erwartet. Huysman hatte sich offenbar verschätzt und Jasna muss sich Gedanken machen, welchen Zugang zum Tribunal sie gleich wählen soll. Vielleicht sollte sie früher losfahren, bevor die immer weiter anwachsende Menschenmenge die Straßen vollends versperrt. Peneguy hatte vorgeschlagen, Oreskovič mit einem Hubschrauber einzufliegen, aber Jasna war dagegen gewesen. Ein Hubschrauber bot mehr Angriffsfläche, und die Dienste hatten Nachricht von einer Stinger, die in die Stadt gebracht worden war. Also lieber die Limousinen, das ist besser. Peneguy hat mit der Security nichts zu schaffen, das ist Jasnas Bier, und M’Penza vertraut ihr, erst recht, seit sie Oreskovič hierher gebracht hat.
Kommen Sie bitte rein, sagt Jasna.
Die Fahrer werfen ihre Zigaretten auf den Boden und gehen zu ihr. Die Sicherheitsleute wollen ihnen folgen.
Nur die Fahrer, sagt sie.
Das mögen die Sicherheitsleute nicht. Misstrauen hin oder her. Will sie uns sagen, dass einer von uns ein Leck sein könnte, oder was soll das?
Gibt’s überhaupt noch jemanden, dem du vertraust?, fragt Hilken.
Aber Jasna hat keinen Bock auf Diskussionen, sie gibt Befehle und gut ist. Es ist ihr Job, Oreskovič heute um zehn vor den Richter zu bringen. Alles andere ist ihr so was von scheißegal.
Nur die Fahrer bitte.
Und die Fahrer gehen an ihr vorbei ins Sommerhaus.
Vertrauen ist etwas, was ich mir morgen wieder leiste, will sie zu Hilken sagen.
Aber Hilken ist schon verschwunden. An den Limousinen vorbei, Richtung Strand. Von Jasnas Misstrauen und Unzugänglichkeit genervt, übermüdet. Zwei Stunden noch, dann wird er abgelöst, dann kann er endlich ins Bett gehen. Wird wieder nicht einschlafen können – zu viel Kaffee, zu viele Zigaretten. Wird ein bisschen fernsehen, sich herumwälzen. Die Ohrstöpsel rein, ein bisschen Chopin. Irgendwann, gegen Mittag, wird er zwischen den Nocturnes endlich eindösen und nach fünf Stunden wieder aufwachen, das wird’s dann gewesen sein. Nächste Woche hat er frei.
Jasna schaut ihm einen Moment hinterher. Dann folgt sie den Fahrern ins Sommerhaus.
Das Tribunal hat vier Einfahrten. Jasna gibt jeder von ihnen einen Code:
Grün.
Gelb.
Blau.
Und Rot.
Die Fahrer kennen das Gebäude natürlich schon lange, Jasna hat die erfahrensten ausgesucht. Einer von ihnen hat Kovać dort hingebracht, mehrfach. Und so kommt es ihnen ein bisschen sehr lächerlich vor, in einem abgedunkelten, stickigen Raum zu sitzen und sich an die Wand gebeamte Google-Earth-Aufnahmen von Den Haag anzuschauen.
Welche Einfahrt wir nehmen, werde ich Ihnen im letzten Moment mitteilen, sagt Jasna.
Und so geht es weiter: Drei Limousinen, drei Routen. Der Stadtplan von Den Haag. Die Zugangsstraßen nach Den Haag.
Dann lässt sie die Fahrer die Routen wiederholen. Und sie müssen brav zeigen, was sie sich gemerkt haben. Dann nochmals Recap des Codes:
Grün.
Gelb.
Blau.
Rot.
Dieses Theater hat so noch niemand mitgemacht. Jasna hat etwas Herrisches, was den Männern so gar nicht gefällt.
Hat sich die Bedrohungslage denn nochmals verschärft?, will einer der Fahrer wissen.
Natürlich.
Das Tribunal ist gestern von den Diensten gewarnt worden. Semiprofessionell verschlüsselte E-Mails sind abgefangen worden, Aufrufe zu einem Attentat auf Oreskovič. Seiten voller Morddrohungen sind in Serbien plötzlich ins Netz gestellt und wieder gelöscht worden, bevor die Urheber entdeckt werden konnten. Ein paar Leute aus Kovać’ alter Einheit sollen sich auf den Weg nach Den Haag gemacht haben, vor Tagen schon. Ehemalige Elitekämpfer der jugoslawischen Armee, die es während des Bosnienkrieges zu den »Wölfen« verschlagen hatte. Kovać’ »Wölfen«. Jeder von ihnen mit einem Body Count, der größer ist als der von Huysmans gesamter Eliteeinheit. Und dann die Sache mit der Stinger.
Aber das sind nur Gerüchte. Präzise Informationen sind nicht zu bekommen. Die Hotels in Den Haag wurden verschärft überwacht, natürlich erfolglos. Aber irgendwo mussten die Jungs stecken. Und »irgendwo« war eher nicht der Campingplatz oder der Zeltplatz. Oder die kleine serbische Gemeinde in der Stadt.
Mit Oreskovič’ Aussage würde Peneguy Kovać endgültig an die Wand nageln. Das ist auch Kovać klar. Und deshalb hat Kovać schon im Vorfeld des Prozesses seine »Wölfe« nach Oreskovič’ Schwachstelle stöbern lassen. Die Suche war nicht so einfach. Oreskovič’ Frau war schon lange tot. An Krebs gestorben. Kinder haben sie nicht gehabt. Und in Belgrad lebten keine Verwandten von Oreskovič mehr.
Oreskovič’ Achillesferse war seine Schwester, die schon vor dreißig Jahren nach Frankfurt ausgewandert war und dort den »Jugoslawia«-Grill am Hauptbahnhof betrieb, der mit dem Wechseln von Frittieröl für die Pommes sehr lax war. Eigentlich hatte Oreskovič mit seiner Schwester seit Jahren nichts mehr zu tun und war daher auch überrascht, wie heftig seine Reaktion ausfiel, als ihn in Tirana die Nachricht erreichte, dass irgendjemand von Kovać’ Leuten – wahrscheinlich Begić oder Stavros – einen Ausflug nach Frankfurt am Main gemacht hatte. Keine Ahnung, wie sie an seine Handynummer gekommen waren. Auf jeden Fall konnte Oreskovič per Live-Schaltung auf seinem iPhone miterleben, wie die Hand seiner Schwester bei Idealtemperatur frittiert wurde und nun endgültig ein Ölwechsel fällig war, im »Jugoslawia«-Grill, der bei Ausbruch des Krieges in »Belgrad«-Grill umgetauft worden war.
Oreskovič musste flennen und hat sich daran erinnert, wie seine Schwester und er in den unschuldigen Zeiten ihrer unschuldigen Kindheit zusammen mit dem Fahrrad an den See rausgefahren waren, seine Schwester auf dem Sattel, er hintendrauf, schließlich war er vier Jahre jünger. Wie sie zusammen in den See gesprungen waren und seine Schwester ihn hinterher mit dem großen Badetuch, das frisch gewaschen war und deshalb kratzte, abgerieben hatte – überall. Er wusste schon, dass da was Verbotenes passierte, und sie wusste es, aber sie taten so, als würde sie ihn einfach nur abtrocknen.
Daran hat Oreskovič gedacht, nachdem seine Schwester noch bevor sie den »Wölfen« sagen konnte, wo Oreskovič sich aufhielt, getötet worden war – in Live-Schaltung auf seinem iPhone –, weil jemand in der Bahnhofsstraße die Schreie aus dem »Belgrad«-Grill gehört und die Polizei gerufen hat und Kovać’ Jungs nicht wollten, dass Oreskovič’ Schwester eine Aussage darüber machen konnte, wer diese Vorliebe für ungewöhnliche Frittierprodukte hatte.
Ein dummer Fehler, denn Oreskovič war jetzt allein mit seinen Erinnerungen.
Ohne Frau.
Ohne Kinder.
Ohne Verwandte.
Ohne Schwester.
Unverwundbar und zu einer Aussage bereit.
Es ist schon gut, wenn die Fahrer sich merken, welche Farbe welche Route bedeutet.
Grün.
Gelb.
Blau.
Rot.
Denn jemandem wie Kovać auf die Füße zu treten, bleibt nicht folgenlos, in der Frankfurter Bahnhofsstraße genauso wenig wie in Den Haag.
Nur dass wir vorne hinter dem Steuer sitzen werden, während Oreskovič hinten auf dem Rücksitz des Lexus seiner Aussage entgegenzittern wird. Und vielleicht nicht weiß, dass es diese Gerüchte von der Stinger gibt, die E-Mails, die Internetseiten, die irgendjemanden aus Kovać’ früherer Einheit durch Holland dirigieren. Von den »Wölfen«, die sich angeblich seit Tagen in der Stadt aufhalten, weil sie was dagegen haben, dass Oreskovič den Gerichtssaal um zehn Uhr erreicht. Vielleicht Stavros. Vielleicht Begić. Gerüchte.
Gibt’s noch Fragen?, fragt Jasna die Fahrer.
Der Einsatzleiter der Polizeischarfschützen stellt die Lampe an der Decke des Mannschaftswagens an und pegelt sie auf Tageslicht ein. Denn der Wagen hat keine Fenster, und es wäre ziemlich dämlich, wenn einer der acht Polizeischarfschützen, die hier drin sitzen, aus dem Wagen springen und dann geblendet erst mal in der Gegend rumblinzeln würde, exponiert und schutzlos, bevor er Tom-Cruise-mäßig in Deckung springt. Schließlich sind diese Männer Teil der militärischen Elite Hollands, zugegebenermaßen einer kleinen Elite, die aber immerhin in den USA trainiert wurde. Jeder von ihnen kostet den Staat Holland inklusive Ausbildung und acht Jahre Gehalt über den Daumen gepeilt eine Million Euro, und heute müssen sie den Beweis antreten, dass die 0,05 Prozent der Steuereinnahmen aus Gouda und Edamer gut investiert sind.
Der Mannschaftswagen hält. Gedämpft dringen die Rufe der Demonstranten herein. Der Einsatzleiter gibt einem der Polizeischarfschützen ein Zeichen. Der Mann steht auf. Geht zur Seitentür. Wartet.
Kurzes Aufblinken eines roten Lichts an der Decke des Wagens. Dann öffnet der Schütze die Tür. Springt raus. Geht Tom-Cruise-mäßig in Deckung, ohne dass er blinzeln muss. Niemand wird ihn sehen, denn der Platz, wo der Fahrer ihn rausgelassen hat, liegt in der abgeschirmten Schutzzone des Tribunals. Der Mannschaftswagen fährt weiter. Der Polizeischarfschütze nimmt seine Position ein. Was heißt, dass er sein Gewehr aufbaut und durch das Zielfernrohr die Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Tribunals beobachtet. Natürlich hängen da drüben jetzt ein paar Spätaufsteher an den Fenstern, wobei Ausschlafen wegen der Demonstration wohl auch keine echte Option gewesen ist.
Auf Position, sagt der Polizeischarfschütze in sein Headset.
Er hat gelernt, stundenlang hocken zu bleiben, auch wenn die Füße anfangen zu kribbeln. Sich nicht ablenken zu lassen, auch wenn die Demonstration eskaliert. Konzentriert die Fensterreihen gegenüber immer wieder abzusuchen, auch wenn er müde wird.
Knapp eine Million Euro für diesen Mann.
An diesem Morgen braucht Huysman acht von ihnen, der zweite, dritte und vierte sind bereits aus dem Wagen gesprungen, haben Position bezogen, ihrem Einsatzleiter kurz Bescheid gegeben und halten jetzt Funkstille.
Und warten.
Noch ist unklar, wann Oreskovič kommen wird.
Oreskovič ist dreiundfünfzig. Für jemanden seines Kalibers ein biblisches Alter, eigentlich ein Wunder, dass er es so lange geschafft hat, sich in Tirana zu verstecken. Die meisten aus der Führungsetage sind entweder tot oder sitzen im Gefängnis, draußen in Scheveningen, nicht allzu weit von diesem Sommerhaus entfernt, aus dem heraus Oreskovič durch ein vergittertes Fenster auf die dunkle Nordsee starrt.
Sogar Kovać war gestellt worden, was Oreskovič überrascht hat, denn Kovać war Vorsicht und Paranoia in Person. Hielt die »Wölfe« immer bei Laune. Branko, Stavros, Begić, Zoran. Kovać’ »Wölfe« waren äußerst loyal, immer, weil sie wussten, was sie von ihm zu erwarten hatten. Und weil es von jedem von ihnen Videos gab, mit denen Kovać sie in der Hand hatte, eine kleine die Loyalität unterstützende Maßnahme. Nette Erinnerungsvideos von Višegrad im heißen Sommer 1992, von der Brücke über die Drina. Jeder von ihnen hatte ein Lächeln auf den Lippen, ein Messer in der Hand oder eine Kalaschnikow. Fünfzehn »Wölfe«, 3953 Moslems. Elf Pfeiler waten durch einen Fluss aus Blut.
Oreskovič ist müde, nicht nur an diesem Morgen. Die ewige Flucht hat an ihm gezerrt. Als Jasna ihn in Tirana aufgespürt hat, war er fast froh. Er hatte seine Überzeugungen gehabt, hat sie eigentlich immer noch. Aber die Überzeugungen sind nicht mehr opportun. Ein paar gute Jahre waren es gewesen. Und wenn alles anders ausgegangen wäre, wäre er heute vermutlich Minister. Es hatte diesen Abend gegeben, mit Kovać und Branko und diesen zwei Flaschen: 55 Prozent Alkohol die eine, 45 die andere. Sie hatten Pläne gemacht für die Zeit danach. Es wurden Versprechen abgegeben, natürlich würde man niemanden vergessen, der hier mitkämpfte. Und man würde sich das Heft nicht mehr aus der Hand nehmen lassen. Das war um die Zeit von Srebrenica herum. Als sie die Nato tanzen lassen konnten, wann und wie sie wollten. Als ihre Kleidung immer nach Feuer stank und sie alle zwei Tage woanders schlafen mussten. Jäger und Gejagte gleichzeitig. Tito war Partisan gewesen, Mao, Stalin. Deren Schriften waren ihre Schullektüre im kommunistischen Belgrad gewesen. Es war schon so, dass sie wussten, was Partisanen erwarten würde, jedenfalls theoretisch: Gewinnen oder an die Wand gestellt werden.
Das Bett hinter Oreskovič ist abgezogen, Laken und Decke hat er penibel zusammengefaltet. Auch der Koffer ist gepackt.
In Scheveningen würde ihn wahrscheinlich eine Zelle ähnlich diesem Zimmer erwarten. Vergittert, sicher. Oreskovič hat mit Peneguy besprochen, dass er nicht zu Milošević und den Serben kommen wird, aus Angst, dass er, der Verräter, unter ihnen nicht lange überleben würde. Eine realistische Einschätzung. Denn Oreskovič wird heute aussagen, in ein paar Stunden, und mit der Aussage sein Todesurteil unterschreiben.
Oreskovič ist müde. Die Kraft für den Kampf ist weg. Und die Kraft, die er noch hat, braucht er, um seine Erinnerungen in den Griff zu bekommen, was leider nicht gut funktioniert. Er versucht, immer weiter zurückzugehen in der Zeit, bis an den Punkt, wo er über die eigene Unschuld lächeln kann. Und er findet den zehnjährigen Jungen, der mit seiner Schwester am See baden geht und sich von ihr trockenreiben lässt an allen Stellen. Das Biest, denkt er, wie konnte sie nur.
Oreskovič hört nicht mehr gut. Deshalb bekommt er einen Schreck, als Jasna plötzlich neben ihm steht und darüber verwundert ist, dass er das Bett abgezogen und den Koffer gepackt hat.
Nach Ihrer Aussage werden Sie wieder hierher kommen, sagt sie. Heute Nachmittag sind Sie wieder hier!
Sie schaut ihn an. Heute wird er Kovać gegenübertreten. Sie weiß, dass er Angst hat, dass er sich verachtet für seine Aussage, dass er keine Zukunft mehr für sich sieht. Als sie ihn in Albanien gefunden hatte, war er ziemlich abgemagert. Er hatte seine Wohnung – etwa vierzig Quadratmeter – seit Wochen nicht verlassen, hatte sich, dem Geruch nach zu urteilen, ebenso lange nicht mehr gewaschen, und die Bettwäsche war in der ganzen Zeit wohl auch nicht gewechselt worden. Alle paar Tage war ein Junge aus der Nachbarschaft gekommen und hatte ihm zwei Einkaufstüten mit Milch und Wasser, Brot und Ziegenkäse vorbeigebracht. Als wäre er immer noch in den Bergen irgendwo oberhalb von Višegrad. Oreskovič war genauso ein Schlächter gewesen wie Kovać, nicht ganz so brutal, nicht ganz so gewissenlos wie Branko. Dann aber hatte er sich in die Rolle des Opfers geflüchtet, in die Rolle des alten Mannes, der sein Gehör verliert und sein Gedächtnis. Und der von den eigenen Leuten im Stich gelassen worden war.
Das hier ist Westeuropa! Wir werden Sie schützen, machen Sie sich keine Sorgen, sagt Jasna.
Und reicht ihm die kugelsichere Weste. Sie wird ihm beim Anziehen helfen müssen. Oreskovič gibt sich so hinfällig, als wäre er nicht imstande, sich die Weste alleine überzustreifen. Was eigentlich wartet noch auf diesen Mann? Diese eine Aussage, denkt Jasna. Das musst du schaffen. Das bist du der Welt schuldig.
Wir brauchen Sie!
Sie lächelt und fühlt sich scheiße dabei, weil sie diesen Mann benutzt, weil sie ihm gegenüber falsch ist. Denn eigentlich will sie ihm keine Zuversicht geben, aber sie braucht ihn für diese Aussage gegen Kovać. Dann soll er in den Knast, natürlich. Jasna kennt die Zeugenaussagen der Opfer.
Sie hilft Oreskovič in die Weste. Knöpft sie zu. Schaut ihn an. Lächelt.
Wir haben alles im Griff, sagt sie. Sie sind sicher! Und jetzt kommen Sie bitte. Wir müssen los.
Huysman ist froh, als die angeforderte Verstärkung endlich eintrifft, sogar aus Groningen wurden drei Wagen geschickt. Die Atmosphäre draußen heizt sich immer mehr auf. Im Fünf-Minuten-Takt – dem Rhythmus der U-Bahn – schwappen neue Demonstrantenwellen auf das Tribunal zu. Dazu Busse voller Demo-Touristen, aus Amsterdam und sonst wo her.
Huysman versteht die Leute – obwohl er ein ultrakonservatives Arschloch ist (O-Ton seiner Tochter Margret). Auch er weiß, was Kovać getan hat, die Zeitungen sind voll von Berichten aus Višegrad. Marko Kovać, der Warlord, Kommandant der »Wölfe«, der größte Verbrecher des Jugoslawien-Kriegs, der hier jemals angeklagt wurde.
Huysman wirft seinen Leuten einen Blick zu: Die Verschiebung der Sicherheitszone durchzusetzen ist unmöglich, das wird Huysman jetzt klar. Die Demonstranten drängen heran, erzeugen einen Druck, gegen den seine Leute nicht ankönnen. Er wird froh sein müssen, wenn sie die aktuellen Linien halten können.
Er spricht in sein Funkgerät, nimmt den vorherigen Befehl zurück. Als er zu den Absperrungen kommt, muss er gegen die Rufe der Demonstranten – »Kovać – Murderer«, »No Revenge but Justice!« – anbrüllen, um verstanden zu werden. Huysman ist neunundfünfzig, und er spürt, dass er diesem Job hier allmählich nicht mehr gewachsen ist.
Hinter dem Zaun steht eine junge Frau und hält ihm einen Zettel hin. Erst will Huysman nicht lesen. Aber irgendetwas an dieser Frau ist anders als an den übrigen Demonstranten, und er wirft einen Blick auf den Zettel, erschrickt und lässt seine Leute den Zaun öffnen, schnell, um die Frau durchzulassen, was schwierig ist, denn ein Haufen Jugendlicher aus Amsterdam will die Chance nutzen, um die Barriere zu durchbrechen, und Huysman muss all seine Autorität und Kraft einsetzen, um die Lücke im Sicherheitszaun wieder zu schließen.
Eilig und so schnell er kann führt er die junge Frau vom Sicherheitszaun weg zum Seiteneingang des Tribunals. Zieht sie eng an sich, schirmt sie vor den Blicken der Leute ab, die sich aus den Fenstern der gegenüberliegenden Gebäude lehnen. Und sorgt so dafür, dass ein Schuss von dort drüben sie nicht treffen würde.
Warum sind Sie ohne Polizeischutz hierher gekommen?, fragt er sie. Und muss immer noch brüllen, damit sie ihn versteht.
Weil ich der Polizei nicht vertraue, sagt sie.
Huysman zieht sie an einem Kollegen vorbei ins Gebäude, wo, nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hat, plötzlich Ruhe herrscht. So dass Huysman viel zu laut spricht, als er sich an einen Saaldiener wendet.
Bringen Sie sie bitte zu Staatsanwalt Peneguy, Raum 3.112.
Der Saaldiener kontrolliert das Papier, das die Frau ihm hinhält, und schaut sie an. Sie ist eine Zeugin. Auf dem Papier ist ausschließlich ihr Codename vermerkt, eine Schutzmaßnahme für Kronzeugen.
Slavenka 378.
Caflish wartet vor der Tür zu Peneguys Büro im Tribunal. Sein Smartphone klingelt. Der Saaldiener meldet ihm die Ankunft der Zeugin.
Caflish klopft an die Bürotür und tritt ein.
Peneguy sitzt an seinem Schreibtisch und surft ein letztes Mal durch die Akten. Auf der Wange klebt ein Pflaster.
Caflish kennt Peneguy inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er seiner Form heute Morgen hinterherläuft und dass er da hinter seinem Schreibtisch ein Sicherheitsprogramm fährt. Zwei Jahre Aktenstudium im Fall Kovać, was genau will er sich jetzt – zehn Minuten vor Verhandlungsbeginn – noch in die Birne prügeln? Peneguy hat Angst, weiß Caflish, und es wäre angemessen, wenn Peneguy seine Angst besser verstecken würde, als er es jetzt offensichtlich tut.
Seit dem Anschlag vor acht Monaten hat Peneguy seinen Ivy-League-Charme verloren, diese Mischung aus Alphatier-Gehabe, morgendlichen Sit-ups, Burlington-Socken und Gewinnerlächeln, mit dem Peneguy es schon in das Herausgebergremium des Harvard Law Journal gebracht hat. Das kann man lieben oder – wie Caflish – eher nicht.
Nichts war Peneguy bei dem Anschlag damals passiert, denn Bliekendaal, Caflishs Vorgänger, hatte schnell reagiert und genau das getan, wofür er neun Jahre lang vom Tribunal bezahlt worden war: Peneguy geschützt. Die Kugel hatte Bliekendaals Halsschlagader zerfetzt, die Blutung war nicht zu stoppen gewesen, die Versorgung des Gehirns hatte ausgesetzt, und wahrscheinlich war es besser gewesen, dass die Ärzte ihn im Krankenwagen nicht hatten reanimieren können. Bliekendaal war für Peneguy gestorben.
Peneguy hat sich niemals damit auseinandergesetzt, dass so etwas passieren könnte. Seinen eigenen Tod hatte er immer in Kauf genommen, aber nicht die Möglichkeit, dass sein Personenschützer dafür starb, dass Peneguy den mutmaßlichen Auftraggeber des Attentats, Kovać, Monate später an die Wand nageln konnte. Peneguy hatte sich mitschuldig gefühlt, Bliekendaals Witwe gegenüber und dessen heute 14-jährigem Sohn.
Allerdings ist Peneguy, wie die meisten hier, außerordentlich gut im Verdrängen. Aber heute Morgen, als er hinter seinen Akten zu Caflish, Bliekendaals Nachfolger, aufschaut, das Pflaster auf der Wange, die schlaflose Nacht noch in den Augen, sieht er einfach nur geprügelt aus.
Jasna ist mit Oreskovič auf dem Weg, sagt Caflish.
Danke, sagt Peneguy. Und nickt. Und versteckt sich wieder hinter den Akten.
Caflish sollte jetzt gehen und ihn die letzten Minuten alleine lassen, aber Caflish bleibt stehen. Und Peneguy schaut zu ihm auf.
Was ist noch?
Caflish geht zu Peneguy. Entschuldigung, Sir. Eine kleine Grenzüberschreitung, die ihm schwer über die Lippen geht. Caflish deutet auf das Pflaster auf Peneguys Wange. Es sieht nicht gut aus, wenn Sie mit einer Verletzung in die Schlacht gehen. Caflish schmunzelt. Zumindest sollten Sie es nicht zeigen.
Nicht vor den Kameras im Gerichtssaal 3.112, die heute Abend in die Welt hinausposaunen könnten, dass der Staatsanwalt sich seinem Gegner offenbar nicht gewachsen fühlt.
Peneguy schaut Caflish an. So richtig warm geworden ist er nicht mit diesem Mann aus Aberdeen. Es gibt auch kaum etwas, das den Anwaltssohn aus New York und das Stahlarbeiterkind aus Schottland verbindet. Ich will mir das eigentlich nicht sagen lassen, denkt Peneguy, unwillig, und schon gar nicht von ihm. Aber Peneguy ist klar, dass Caflish recht hat.
Noch was?, sagt Peneguy.
Kovać wird gerade in den Gerichtssaal gebracht, sagt Caflish.
Und irgendwie erwacht in Peneguy jetzt doch die Rampensau, die sich bisher gut versteckt gehalten hat. Er lächelt sein Harvard-Law-Journal-Lächeln, das Caflish – eigentlich – nicht abkann. Und sagt, dass Kovać noch einen Moment warten soll.
Sagen Sie ihm, sagt Peneguy und deutet auf das Pflaster auf seiner Wange, ich bin immer noch im Militärhospital. Kleiner Unfall mit meiner Waffe.
Und Caflish lächelt zurück. Geht zur Tür und schließt sie hinter sich.
Peneguy zieht das Pflaster von der Wange und schaut sich im Rasierspiegel an.
Kein Blut, nichts zu sehen. Alles gut.
Er klappt die Akten zu. Scheiß drauf, jetzt ist der Moment, rauszugehen und das Spiel zu spielen. Peneguy steht auf, zieht sein Jackett über. Bliekendaal hat er gemocht, sehr sogar. Dass er Caflish von sich fernhält, muss irgendetwas damit zu tun haben, dass ihm Bliekendaals Tod so naheging. Ab einer gewissen Etage lässt jeder hier niemanden an sich ran und zieht Mauern auf. Da draußen im Gefechtsstand – im Gerichtssaal – sind Emotionen gefährlich, weil sie einen mitreißen können und Fehler provozieren, die Peneguy heute nicht machen wird.
Und sei es nur für Bliekendaal. Oder Bliekendaals Sohn, der ohne Vater aufwachsen muss. Oder für Bliekendaals Witwe, die mich nicht anschauen konnte am Grab ihres Mannes, denkt Peneguy und schnappt sich die Akten.
Er ist gewappnet für den Kampf.
Die alte Frau sitzt am Fenster im vierten Stock, die Unterarme auf ein Kissen gestützt, und schaut hinaus. Der Platz vor dem Tribunal ist voller Demonstranten, alle in Schwarz. Dazu ein Auflauf der Polizei, wie die alte Frau ihn hier noch nie erlebt hat. Kalt ist es heute Morgen, an diesem 3.Dezember 2005. Sie hasst den Winter, das hat mit dem Rheuma zu tun und dem grauen Himmel und ihrer Depression.
Als es das erste Mal an der Tür klingelt, bekommt sie es nicht mit. Sie hört nicht mehr so gut. Und erst recht hört sie nicht gut, wenn draußen rumgebrüllt wird. Jetzt gerade besonders laut, denn eine Frau mit Kopftuch, ebenfalls schwarz gekleidet und – soweit die alte Frau es von hier oben einschätzen kann – in ihren Fünfzigern, verbrennt die überlebensgroße Fotografie eines Mannes. Die alte Frau hat das Bild des Mannes gestern in der Zeitung gesehen. Er heißt Kovać.
Und erst jetzt, als es noch einmal an ihrer Tür klingelt, hört sie es. Und ist erstaunt. Um diese Zeit bekommt sie eigentlich nie Besuch. Erst mittags kommt Marieke und bringt ihr das Essen, weil sie nicht mehr kochen kann oder will.
Es klingelt ein drittes Mal, die alte Frau wendet sich zur Tür um, einen Moment unaufmerksam, und das Kissen fällt hinunter auf die Straße – wie ein böses Omen.
Auch der Polizeischarfschütze drüben auf dem Dach des Tribunals sieht das Kissen fallen, bereits einen Moment, nachdem sie es losgelassen hat. Er kann das Gesicht der alten Frau erkennen, bevor sie sich abwendet und im Inneren der Wohnung verschwindet, wo der Polizeischarfschütze sie nicht mehr sehen kann. Also schaut er wieder auf das brennende Foto da unten. Sechs Polizisten, einer mit Feuerlöscher, haben sich sofort einen Weg durch die Demonstranten gebahnt, und das kleine Feuer – gefährlich im dichten Gedränge – ist schnell gelöscht.
Die alte Frau geht zur Tür, verärgert über den Verlust des Kissens – es war ein Geschenk ihrer Enkelin. Vielleicht kann sie Marieke, die heute offenbar aus welchen Gründen auch immer viel zu früh dran ist, ja bitten, ihr das Kissen heraufzuholen. Hoffentlich trampelt niemand darauf herum, denn sie wird es nicht waschen können, und ihre Enkelin hat an diesem Kissen doch den Kreuzstich gelernt.
Es klingelt nochmals. Was ist heute nur los mit Marieke? Sie drängelt doch sonst nicht so.
Dann steht die alte Frau an der Tür und öffnet.
Zum ersten Mal hatte sie ihn in Tirana danach gefragt. In Tirana, wo er sich in einem neunstöckigen Hochhaus versteckt hielt, das Jasna an Marzahn erinnerte und in dem die Klingelschilder Nummern trugen und keine Namen. 503 war seine Nummer. Fünfte Etage, Wohnung drei, links. Gleich neben dem Aufzug, der Oreskovič morgens zwischen sechs und acht, wenn die Leute sich auf den Weg zur Arbeit machten, ständig weckte. Während er in seinem Rentnerdasein, das er hier vier Jahre führen konnte, allmählich verlotterte, innerlich und äußerlich.
Wo ist das Kovać-Feld?, fragt Jasna.
Die Leichen der 3953 muslimischen Männer, die die »Wölfe« auf der Brücke in Višegrad erschossen und in die Drina geworfen hatten, haben den Fluss so sehr verstopft, dass die Trinkwasserversorgung im siebzig Kilometer entfernten Bajina Bašta zusammengebrochen ist und die »Wölfe« die Leichen ein paar Kilometer von der Brücke entfernt wieder aus der Drina fischen und irgendwo verscharren mussten, auf dem Kovać-Feld, einem Massengrab, das bislang nicht gefunden wurde, genauso wenig wie die Videos, die die »Wölfe« von den Massakern auf der Brücke gemacht haben.
Oreskovič schweigt. Er sitzt neben Jasna, auf dem Rücksitz des Lexus mit den getönten Fenstern. Die Schutzweste drückt, fett ist er geworden, seit er in U