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Die verzweifelte Suche einer Mutter nach der Wahrheit Mit ihrem Thriller »Die letzte Wahrheit« schreibt die New York Times-Bestseller-Autorin Kimberly McCreight raffinierte psychologische Spannung vom Feinsten! Als Kate den Anruf von der Schule ihrer Tochter bekommt, ist sie mitten in einem der wichtigsten Meetings ihrer Karriere als Anwältin. Amelia, die bisher nie negativ aufgefallen ist, sei von der Schule verwiesen worden. Gleich hat Kate ein ungutes Gefühl und macht sich voller Sorge auf den Weg. Schon von weitem sieht sie das Blaulicht, ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals. Ihre schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden: Amelia ist vom Dach der Schule gestürzt und hat nicht überlebt. Kate versinkt in Trauer und kann erst wieder einen klaren Gedanken fassen, als sie eine anonyme Nachricht bekommt: "Sie ist nicht gesprungen." Von da an versucht Kate herauszufinden, was in den letzten Stunden ihrer Tochter geschehen ist. Wer hat Schuld am Tod von Amelia? Und was ist auf dem Dach tatsächlich passiert? Hochkarätiger Pageturner mit mehr als einem überraschenden Dreh – perfekte Unterhaltung für Fans von Freida McFadden, Julie Clark, Alex Michaelides oder Claire Douglas. Mit ihren wendungsreichenPsychothrillern erobert Kimberly McCreight nicht nur regelmäßig die New York Times-Bestsellerliste: Nicole Kidman beteiligt sich an der Verfilmung der Thriller und wird selbst eine Hauptrolle spielen. "Kimberly McCreight setzt ein schwieriges Thema brillant um." www.belletristik-couch.de Entdecke noch mehr Nervenkitzel von Kimberly McCreight, bei dem nichts so ist, wie es scheint: - Eine perfekte Ehe - Freunde. Für immer - Die perfekte Mutter - Tochterliebe
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 599
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kimberly McCreight
Thriller
Aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Als Kate den Anruf von der Schule ihrer Tochter bekommt, ist sie mitten in einem der wichtigsten Meetings ihrer Karriere als Anwältin. Amelia, die bisher nie negativ aufgefallen ist, sei von der Schule verwiesen worden. Gleich hat Kate ein ungutes Gefühl und macht sich voller Sorge auf den Weg. Schon von Weitem sieht sie das Blaulicht, ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals. Ihre schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden: Amelia ist vom Dach der Schule gestürzt und hat nicht überlebt. Kate versinkt in Trauer und kann erst wieder einen klaren Gedanken fassen, als sie eine anonyme Nachricht bekommt: »Amelia ist nicht gesprungen.« Von da an versucht Kate herauszufinden, was in den letzten Stunden ihrer Tochter geschehen ist. Wer hat Schuld am Tod von Amelia? Und was ist auf dem Dach tatsächlich passiert?
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Motto
gRaCeFULLY
Amelia
Kate
gRaCeFULLY
Amelia
Kate
Kate
Amelia
Amelia
Amelia
Kate
gRaCeFULLY
gRaCeFULLY
Amelia
Amelia
Kate
Kate
Kate
gRaCeFULLY
Amelia
Amelia
Kate
gRaCeFULLY
Amelia
Amelia
Amelia
Kate
Kate
Amelia
Amelia
gRaCeFULLY
Kate
Kate
Kate
Kate
Amelia
Amelia
gRaCeFULLY
Kate
Amelia
Kate
Amelia
Amelia
Kate
Kate
Amelia
Amelia
Kate
Amelia
Epilog
Danksagung
Leseprobe »Tochterliebe«
Für Tony,
meinen Leuchtturm
Nehmen wir wieder an, das Leben wäre eine feste Substanz in der Form einer Kugel, die wir in unseren Fingern hin- und herrollen. Nehmen wir an, wir würden eine einfache und logische Geschichte erkennen …
Virginia Woolf, Die Wellen
Weil es auf urbandictionary.com 176 Definitionen für das Wort Versager gibt. Wer will schon stinknormal sein?
Hey, Mädels!
Ein neues Schuljahr fängt an. Und ich melde mich wieder mit all dem Scheiß, den man nicht drucken kann …
Während ihr den Sommer in Southampton oder auf Nantucket oder in Südfrankreich verbracht habt, um Tennis zu üben, den Pas de deux zu perfektionieren, für den nächsten Marathon zu trainieren oder an einem Schachturnier teilzunehmen, hab ich das Treiben unserer netten Lehrer verfolgt. Mr Zaritski, unser lieber Chemie- und Biolehrer, hat an der Uni in Berkeley einen Sommerkurs für Streber gegeben. Es wird gemunkelt, die Eltern der Studenten hätten nach der zweiten Woche dafür gesorgt, dass er gefeuert wurde. Und zwar, weil er STANK! Mrs Pearl hat sich in Miami einen Latin Lover geangelt und Pole Dancing gelernt. Nein, war ein Scherz. Sie hat natürlich überhaupt keinen Lover. Wer würde schon mit der ins Bett gehen?
Ah, und unser süßer Mr Woodhouse. Wer hätte den nicht mal gern in der Badehose gesehen? Leider ist nichts darüber bekannt, wo er sich in dieser schwülheißen Jahreszeit aufhält. Allerdings weiß ich aus zuverlässiger Quelle, dass er mindestens ein langes Wochenende mit unserer allseits verehrten Englischlehrerin Liv gekuschelt hat. Dazu kann ich nur sagen: Bravo!
Was euch angeht, werde ich eine Zusammenfassung sämtlicher Neuigkeiten posten, sobald die Updates in den nächsten Tagen eintrudeln – schickt sie bitte an [email protected]. Schließlich liegt ein neues Schuljahr vor uns, in dem jeder Versager die Chance bekommt, endlich cool zu sein, und die Dicken vielleicht auf einmal dünn werden.
Natürlich wird es auch um so interessante Fragen gehen wie: Wird die hübsche kleine Dylan endlich auspacken, mit wem sie alles ins Bett gegangen ist? Werden Heather und Rachel je zugeben, dass sie was miteinander haben? Wird Zadie ihren Schulabschluss schaffen, ohne vorher im Knast zu landen? Welches Mädchen aus der Zwölften wird unser Schönling aus der Zehnten als Erstes flachlegen? Und wer ist dieser Ian Greene überhaupt, und ist er wirklich so heiß, wie er auf den Fotos auf Meetbook aussieht? Ich wage es zu bezweifeln. Aber ihr seid die Ersten, die’s erfahrn.
Also, immer schön dranbleiben und nett lächeln! Und schnallt euch an. Denn es wird so richtig zur Sache gehen …
Amelia
seit wann weißt dus?
Ben
was?
Amelia
dass du auf jungs stehst
Ben
kA, glaub schon immer
Amelia
echt?
Ben
100 pro
Amelia
und du hast es einfach allen erzählt
Ben
so ungefähr … mir doch egal was die leute denken
Amelia
ich könnt nie so sicher sein … oder so mutig.
Ben
mach einfach
Amelia
nee
Ben
du bist stärker als du glaubst
Amelia
danke!! was würd ich ohne dich tun
Ben
sterben? cool!! ein leben hängt von mir ab
Amelia
haha, wann treffen wir uns mal in echt?
Ben
IST DAS NICHT ECHT?
Amelia
du weißt was ich mein
Ben
in ein paar wochen vllt. mein dad hat in NY zu tun …
Amelia
können wir uns dann sehen?
Ben
klar
Amelia
OMG!! echt?! ich kanns kaum erwarten!
Kate wusste, dass Victor sauer war, noch ehe sie von ihren Notizen aufblickte und die Wut sah, die sich in seinem Gesicht wie eine dunkle Wolke zusammenbraute. Im Konferenzzimmer herrschte Stille. Alle – fünf Anwälte der Kanzlei Slone & Thayer, zehn von Associated Mutual Bank – warteten darauf, dass er etwas sagte. Stattdessen lehnte Victor sich in seinem Konferenzsessel zurück und faltete die Hände auf seinem Schoß. Mit seinem grau melierten Haar und seinem maßgeschneiderten Anzug wirkte er trotz seines offensichtlichen Zorns attraktiv und würdevoll.
Mitten in dem peinlichen Schweigen knurrte Kates Magen. Sie räusperte sich und veränderte ihre Sitzposition, hoffte, dass niemand es gehört hatte. Sie war am Morgen zu nervös gewesen, um etwas zu essen. Sie hatte die Sitzung vor sich gehabt und vor allem die Auseinandersetzung mit Amelia, für die sie sich wappnen musste. Zu der Auseinandersetzung war es dann doch nicht gekommen. Amelia war mit einem Lächeln und einem freundlichen Winken zur Schule gefahren, und Kate war mit einer Menge unverbrauchten Adrenalins zu spät zur Arbeit aufgebrochen.
Kate schaute sehnsüchtig zu den Bergen von Bagels und Obst und süßem Gebäck hinüber, die sich auf der Anrichte türmten. Aber wenn man in Vertretung seines Chefs, des allseits beliebten Jeremy Firth, eine Sitzung mit Mandanten leitete, stand man nicht mittendrin auf, um einen Happen zu essen.
»Ihnen ist doch wohl bewusst«, sagte Victor und zeigte auf Kate, »dass jeder spätere Widerspruch hinfällig ist, wenn wir dem richterlichen Beschluss nachkommen.«
»Ich verstehe Ihren Ärger, Victor«, entgegnete Kate ruhig. »Aber die Kartellbehörde hat das Recht …«
»Hat das Recht?«, fauchte Victor. »Ich würde eher sagen, dass diese Leute übers Ziel hinausschießen.«
Kate hielt Victors wütendem Blick stand. Ein Schwanken, und wäre es auch noch so gering, wäre fatal. Dann würde Victor verlangen, Jeremy zu sprechen, denn Kate war zwar Partnerin, aber immer noch Juniorpartnerin. Sie musste in der Lage sein, das hier allein zu regeln.
»Und was ist mit der Beschwerde? Spielt das nicht …« Ehe er seinen Satz beenden konnte, klingelte das Telefon, und alle zuckten zusammen. Rebecca, eine der jüngeren Kollegen, beeilte sich pflichtschuldigst, das Gespräch anzunehmen, während Victor sich wieder Kate zuwandte. »Ich möchte, dass Ihre Einwände offiziell ins Protokoll aufgenommen werden, und ich will einen Kostenrahmen für dieses Chaos, bevor irgendeiner einen Archivkarton anfasst. Dann rücken wir die Dokumente raus, alles klar?«
Als würden die zusätzlichen Einnahmen der Kanzlei in Kates Tasche wandern. In Wirklichkeit würde Jeremys Anerkennung das Einzige sein, was für sie dabei heraussprang. Was natürlich durchaus seinen Wert hatte. Zu Jeremys Lieblingsschülern zu gehören, war sehr wichtig.
»Selbstverständlich, Victor«, sagte Kate. »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um …«
»Kate«, flüsterte eine Stimme in ihr Ohr. Als Kate aufblickte, schaute Rebecca sie Entschuldigung heischend an. »Verzeihen Sie, aber das war gerade Ihre Sekretärin. Sie sagt, es ist ein wichtiger Anruf, den Sie unbedingt entgegennehmen müssen.«
Kate spürte, wie ihr heiß wurde. Mitten in einer Sitzung mit Victor Starke einen Anruf entgegenzunehmen, war noch schlimmer, als sich einen Bagel vom Büfett zu holen. Kates Sekretärin Beatrice hätte eine derartige Besprechung niemals unterbrochen, aber die war krankgeschrieben. Kate hatte die Aushilfskraft angewiesen, sie auf keinen Fall zu stören, es sei denn, es handelte sich um einen Notfall, doch die junge Frau hatte sie dabei so ausdruckslos angesehen, als wäre sie bekifft. Dummerweise konnte sie sich andererseits auch nicht weigern, ans Telefon zu gehen. Kate erwartete einen Anruf vom Gericht und musste dringend wissen, ob ihr Antrag auf eine einstweilige Verfügung für einen anderen Mandanten angenommen worden war oder nicht.
»Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment«, sagte Kate, bemüht, es so aussehen zu lassen, als hätte sie mit der Unterbrechung gerechnet. »Ich bin gleich wieder zurück.«
Stille herrschte im Konferenzraum, als Kate aufstand und zum Telefon ging. Sie spürte die Blicke aller auf sich. Zum Glück wurden die Gespräche wieder aufgenommen, als sie auf den rot blinkenden Knopf drückte. Dann lachten Victors Kollegen gehorsam, wahrscheinlich über irgendeinen Witz, den er gemacht hatte.
»Kate Baron«, meldete sie sich.
»Guten Tag, Ms Baron«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung. »Hier spricht Mrs Pearl, die Sekretärin des Direktors von Grace Hall.«
Ein wichtiger Anruf. Wie war es möglich, dass ihre Tochter ihr gar nicht in den Sinn gekommen war?
»Alles in Ordnung mit Amelia?«, fragte Kate mit klopfendem Herzen.
»Ja, ja, es geht ihr gut«, antwortete Mrs Pearl leicht gereizt. »Aber es hat einen Vorfall gegeben. Amelia wurde für drei Tage vom Unterricht suspendiert, und zwar ab sofort. Sie müssen herkommen und unterschreiben, dass Sie das zur Kenntnis genommen haben. Und Sie müssen sie abholen.«
»Suspendiert? Was soll das heißen?«
Amelia war in ihrem ganzen Leben noch nie in Schwierigkeiten geraten. Ihre Lehrer waren sich einig, dass es eine Freude war, sie zu unterrichten, sie bezeichneten sie als aufgeweckt, kreativ, gewissenhaft, konzentriert. Sie war eine hervorragende Sportlerin und Mitglied in fast jeder AG, die die Schule zu bieten hatte. Sie arbeitete einmal im Monat ehrenamtlich in der örtlichen Suppenküche und half bei allen schulischen Veranstaltungen. Vom Unterricht suspendiert? Nein, nicht Amelia. Obwohl Kate viel zu viel arbeitete, kannte sie ihre Tochter. Sie kannte sie wirklich. Da musste ein Irrtum vorliegen.
»Ja, Amelia wurde für drei Tage vom Unterricht suspendiert«, wiederholte Mrs Pearl, als wäre das die Antwort auf die Frage nach dem Grund. »Selbstverständlich können wir sie nur an einen Elternteil oder einen anderen Erziehungsberechtigten übergeben. Stellt es für Sie ein Problem dar, herzukommen und sie abzuholen, Ms Baron? Wir wissen, dass Sie in Manhattan arbeiten und dass Amelias Vater nicht zur Verfügung steht. Aber so lauten nun mal unsere Vorschriften.«
Kate bemühte sich, nicht in die Defensive zu gehen. Sie war sich nicht einmal sicher, dass etwas Vorwurfsvolles in Mrs Pearls Stimme mitschwang. Kate hatte über die Jahre eine Menge unangenehme Fragen, neugierige Blicke und kaum verhohlene Missbilligung über sich ergehen lassen müssen. Selbst ihre eigenen Eltern schienen ihre Entscheidung, die ungeplante Schwangerschaft nicht abzubrechen und das Kind auszutragen, nach wie vor für die unverständliche Tat einer Wahnsinnigen zu halten. Sicher, die Entscheidung war untypisch für sie gewesen. Ihr Leben lang hatte Kate stets zum richtigen Zeitpunkt das Richtige getan. Außer wenn es um Männer ging. Irgendwie hatte Kate sich immer die falschen Männer ausgesucht. Die Entscheidung jedoch, das Kind zu behalten, hatte Kate sich nicht leicht gemacht, und sie hatte sie nie bereut.
»Ich komme sofort. Können Sie mir wenigstens sagen, was …« Kate unterbrach sich. Die Anwältin in ihr sagte ihr, dass sie sich ihre Worte gut überlegen sollte. Auf keinen Fall durfte sie die Möglichkeit einräumen, dass ihre Tochter sich etwas hatte zuschulden kommen lassen. »Was genau wird Amelia vorgeworfen?«, fragte sie.
»Tut mir leid, aber disziplinarische Angelegenheiten dürfen wir nicht am Telefon besprechen«, sagte Mrs Pearl. »Wir sind an die Schweigepflicht gebunden. Das werden Sie sicher verstehen. Sobald Sie hier eintreffen, wird Direktor Woodhouse Ihnen die Einzelheiten unterbreiten. Wie schnell können Sie hier sein?«
Kate warf einen Blick auf ihre Uhr. »In zwanzig Minuten.«
»Wenn es nicht schneller geht«, sagte Mrs Pearl in einem Ton, der erkennen ließ, dass sie sich beherrschen musste, »dann ist das in Ordnung.«
Zwanzig Minuten waren eine sehr gewagte Ansage gewesen. Victor hatte lautstark protestiert, als Kate die Sitzung beenden wollte. Schließlich war ihr nichts anderes übrig geblieben, als Jeremy zu rufen.
»Es ist mir wahnsinnig unangenehm, dass ich die Sitzung unterbrechen muss«, sagte sie zu ihm im Flur vor dem Konferenzzimmer. Und das war die Wahrheit. Es war etwas, das der kinderlose und seit Langem geschiedene Daniel – ihr superehrgeiziger Studienkollege, der inzwischen ebenfalls Juniorpartner bei Slone & Thayer war – nie getan hätte. Nicht einmal, wenn er einen Herzinfarkt erlitten hätte. »Aber Amelias Schule hat gerade angerufen. Ich muss hinfahren und sie abholen.«
»Kein Problem. Ehrlich gesagt, ersparst du es mir dadurch, mich mit Vera und den Handwerkern in der neuen Wohnung zu treffen. Lieber gehe ich in eine Besprechung mit dem Hunnenkönig Attila, als mich über tragende Wände zu unterhalten«, sagte Jeremy mit seinem typischen Lächeln. Er fuhr sich mit einer Hand durch das früh ergraute Haar. Er war groß und attraktiv und sah in seinem rosa gestreiften Hemd wie immer äußerst elegant aus. »Alles in Ordnung?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Kate. »Anscheinend hat Amelia irgendwas angestellt, was ich überhaupt nicht verstehe. So was ist bei ihr noch nie vorgekommen.«
»Amelia? Nie im Leben. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.« Jeremy legte Kate mitfühlend eine Hand auf die Schulter und lächelte sie an. »Du weißt doch, wie diese Privatschulen sind. Die brauchen erst mal einen Sündenbock, bevor sie der Sache richtig nachgehen. Bestimmt gibt es für alles eine Erklärung.«
Sofort fühlte Kate sich besser. So war Jeremy, er fand immer die richtigen Worte, um einen aufzubauen. Und es klang sogar überzeugend, selbst für Kate, die es hätte besser wissen müssen.
»Victor ist ziemlich sauer«, sagte sie und zeigte auf die geschlossene Tür zum Konferenzzimmer. »Ich komme mir ein bisschen so vor, als würde ich dich den Wölfen zum Fraß vorwerfen.«
»Keine Sorge.« Jeremy machte eine wegwerfende Handbewegung. Er konnte bis zum Morgengrauen durcharbeiten, anschließend in einem aussichtslosen Fall vor Gericht erscheinen, sich mit einem aufgebrachten Prozessgegner und einem unzufriedenen Mandanten herumschlagen und trotzdem immer noch gute Laune verbreiten. »Mit Victor Starke komme ich schon zurecht. Fahr du los und kümmere dich um Amelia.«
Kate nahm die U-Bahn, um das Verkehrschaos zu vermeiden, aber sie war schon fünfundvierzig Minuten über die Zeit, als der Zug der Linie 2 kurz vor der Haltestelle Nevins Street aus unerfindlichen Gründen stehen blieb. Sie würde fünfzig, fünfundfünfzig Minuten zu spät kommen. Wenn sie Glück hatte. Wahrscheinlich würde man das wieder als Beweis dafür ansehen, dass sie eine schlechte Mutter war. Mutter unpünktlich, Kind verwahrlost. Eine naheliegende Schlussfolgerung.
Je länger Kate darüber nachdachte, umso mehr war sie davon überzeugt, dass es etwas Schlimmes sein musste, was Amelia vorgeworfen wurde. Die Schule hielt sich zugute, besonders liberal zu sein, weltoffen und auf das Wohl der Schüler bedacht. Grace Hall, vor zweihundert Jahren von einer Gruppe New Yorker Intellektueller gegründet – Dramatiker, Künstler, Politiker –, genoss einen guten Ruf wegen ihres hohen akademischen Niveaus und ihres unvergleichlichen künstlerisch-musischen Angebots. Zwar wurde die Schule häufig in einem Atemzug mit den alten Eliteschulen in Manhattan genannt – Dalton, Collegiate, Trinity –, sie galt jedoch, da sie in Brooklyn lag, als eher unkonventionell. Grace Hall lehnte Lehrbücher und standardisierte Testverfahren ab und setzte stattdessen auf Erlebnispädagogik. In Anbetracht des Fehlens formeller Regeln konnte Kate sich nicht vorstellen, was dazu führen konnte, dass eine Schülerin vom Unterricht ausgeschlossen wurde.
Plötzlich machte der Zug zischend und stotternd einen Satz, dann blieb er wieder stehen. Kate schaute auf ihre Uhr. Eine Stunde und fünf Minuten über die Zeit, mindestens. Noch vier Stationen. Verdammt. Dauernd kam sie zu spät. Überall. Sie stand auf und blieb neben der Tür stehen. Ihre innere Unruhe wuchs.
In letzter Zeit hatte Amelia ziemlich abwesend gewirkt, fast ein bisschen launisch. Sie war fünfzehn, Launen gehörten zum Leben eines Teenagers. Aber es schien mehr als das zu sein. Zum Beispiel hatte Amelia neuerdings angefangen, nach ihrem Vater zu fragen. Anscheinend reichte Kates Standarderklärung, warum Amelia keinen Daddy hatte, nicht mehr aus – dass er nach einer einzigen flüchtigen Begegnung als Lehrer nach Ghana gegangen und nie zurückgekehrt war. Erst gestern Morgen hatte Amelia den Wunsch geäußert, an diesem absurden Auslandsaustauschprogramm teilzunehmen.
»Mom, hörst du mir überhaupt zu?«
Amelia hatte in ihrem kleinen Haus mit vor der Brust verschränkten Armen am Küchentresen gelehnt. Mit ihren langen, blonden Haaren, die ihr in Wellen über die Schultern fielen, und ihren wundersamen Augen – eins blau, eins braun –, die im warmen Morgenlicht leuchteten, hatte sie so viel erwachsener, so viel größer gewirkt als noch am Tag zuvor. Sie hatte Kates hohe Wangenknochen und das herzförmige Gesicht geerbt und war ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Und sexy in ihren tiefsitzenden Jeans und dem engen Oberteil mit Spaghettiträgern. Zum Glück war sie auch immer noch ein bisschen burschikos.
»Ja, Amelia, ich höre dir zu«, hatte Kate geantwortet, bemüht, nicht die Geduld zu verlieren. Sie hatte gerade vorgeschlagen, das Thanksgiving-Wochenende auf den Bermudas zu verbringen, aber so finster, wie ihre Tochter dreinblickte, hätte man meinen können, sie hätte ihr ein Wochenende in einer Zahnklinik angeboten. »Ich höre dir immer zu.«
»Ich will für ein halbes Jahr nach Paris«, sagte Amelia.
»Paris?« Kate stopfte ihren Laptop und ein paar Akten in ihre Tasche und sah sich nach ihrem Handy um, von dem sie glaubte, sie hätte es auf dem Küchentresen abgelegt. Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, während Amelia sie durchdringend ansah. Es war noch nass, dabei hätte sie schwören können, sie hätte es trocken geföhnt. »Das ist so weit weg.«
Entgegen ihren guten Vorsätzen begann Kate sich zu ärgern. Es war offensichtlich, dass Amelia die Auseinandersetzung ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt suchte, wo Kate zur Arbeit musste und spät dran war. Manchmal fragte sich Kate, ob Amelia berechnender war, als sie es ihr zutraute. Sie kam ihren Wünschen häufig nur deshalb nach – lange ausbleiben, bei einer Freundin übernachten, zu einer Party gehen –, weil sie gestresst oder in Eile war. Aber ein Schulhalbjahr in Europa war etwas anderes. In diesem Fall hatte sie nicht vor nachzugeben, bloß weil es das Einfachste war. Auch wenn es wirklich viel, viel einfacher gewesen wäre.
»Was spielt das schon für eine Rolle?« Amelia schnaubte verächtlich. »Du bist doch sowieso nie da.«
Normalerweise beklagte sich Amelia nicht über Kates lange Arbeitstage. Kate hatte immer angenommen – oder eher gehofft –, der Grund dafür sei die Tatsache, dass Amelia nichts anderes kannte als das Leben mit einer alleinerziehenden Mutter, deren Beruf sie stark beanspruchte. Trotzdem musste Kate damit rechnen, dass es Leerräume in Amelias Leben gab, egal, wie sehr sie sich bemühte, sie mit Liebe zu füllen.
»Amelia, das ist nicht fair. Außerdem macht man ein Auslandssemester, wenn man auf dem College ist. Du gehst immer noch auf die Highschool.«
»Da lerne ich bestimmt eine ganze Menge.«
Kate schaute ihre Tochter an in der Hoffnung, ein verschmitztes Lächeln in ihren Augen entdecken zu können. Aber da war nichts. Sie meinte es vollkommen ernst.
»Amelia, ich wünschte wirklich, ich könnte meine Besprechung einfach absagen und hierbleiben, um das auszudiskutieren«, hatte Kate gesagt, und sie hatte es ernst gemeint. »Aber das geht leider nicht, ehrlich. Können wir uns bitte weiter darüber unterhalten, wenn ich heute Abend nach Hause komme?«
»Sag einfach Ja, Mom!«, hatte Amelia zu Kates Verblüffung plötzlich geschrien. Amelia war kein Typ, der andere Leute anschrie, erst recht nicht ihre Mutter. »Es ist gar nicht schwer: Ja. Einfach so.«
Es ist so weit, hatte Kate gedacht. Jetzt ist sie offiziell ein Teenager. Von jetzt an heißt es, sie gegen mich, nicht mehr wir gegen den Rest der Welt.
Das Schlimmste war, dass Kate am Abend zu spät nach Hause gekommen war – schon wieder, wie immer –, um noch über das Auslandssemester zu reden. Aber am nächsten Morgen – diesem Morgen – war sie zu dem Gespräch bereit gewesen. Sie war sogar extra ein bisschen früher aufgestanden – obwohl die Sitzung mit Victor überaus anstrengend zu werden versprach –, um mit Amelia in aller Ruhe über Paris sprechen zu können. Sie hatte sich vorgenommen, bei ihrem Nein zu bleiben, dafür aber anzubieten, über Weihnachten mit ihrer Tochter nach Paris zu fliegen. Sie hatte sich vorgenommen, sich dafür zu entschuldigen, dass sie so wenig zu Hause war, vor allem in letzter Zeit. Das gemeinsame Abendessen jeden Freitag und den sonntagabendlichen gemeinsamen Filmabend versuchte sie nach wie vor beizubehalten, aber gemeinsame Wochenendausfüge gab es leider immer weniger.
Schon seit Amelia klein war, hatte Kate Wert darauf gelegt, jedes Wochenende etwas Besonderes zu unternehmen – ein Broadway-Musical, eine Ausstellung im Metropolitan Museum, das Kirschblütenfest im Botanischen Garten von Brooklyn oder die Mermaid Parade auf Coney Island. Aber es wurde immer schwieriger, seit Kate an dem komplizierten Fall der Associated Mutual Bank arbeitete und Amelia zunehmend eigene Verpflichtungen hatte – die Feldhockeymannschaft der Schule, die Französisch-AG, die ehrenamtliche Arbeit in der Suppenküche, Verabredungen mit Freunden. Sie schien dauernd irgendwohin unterwegs zu sein.
Kate stand an der Waggontür und betrachtete ihr müdes Gesicht, das sich in dem langen, schmalen Fenster spiegelte, als aus den Lautsprechern über ihr eine Durchsage kam.
»Bitte haben Sie noch etwas Geduld«, sagte die Computerstimme. »Die Fahrt wird in Kürze fortgesetzt.«
Am Ende hatte an dem Morgen gar kein Gespräch mit Amelia stattgefunden, weder über ihre Arbeit noch über Paris noch über irgendein anderes Thema. Amelia war einfach gut gelaunt die Treppe heruntergekommen und hatte verkündet, sie habe sich das mit Paris anders überlegt. Jetzt kam der plötzliche Sinneswandel Kate natürlich verdächtig vor. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass Amelia etwas angestellt haben sollte, was eine Suspendierung rechtfertigte. Aber so launenhaft, wie sie sich in den vergangenen Tagen aufgeführt hatte, schien es immerhin möglich zu sein, dass sie etwas getan hatte, was nicht ganz in Ordnung war.
Kate schaute noch einmal auf ihre Uhr. Eine Stunde und zehn Minuten über die Zeit. Mist. Sie war eine schreckliche Mutter. Es war einfach zu viel. Sie musste ihren stressigen Job mit den Pflichten als alleinerziehende Mutter in Einklang bringen und durfte sich nicht den geringsten Fehler leisten. Es gab auch andere Jobs für Juristen, die ihr mehr Flexibilität ermöglicht hätten, wo sie aber auch weniger verdient hätte. Geld war jedoch nicht der eigentliche Grund, warum Kate in der Kanzlei blieb. Ihre Arbeit gefiel ihr, sie war erfolgreich, und das gab ihr Sicherheit und Selbstvertrauen. Erfolg – zuerst im Studium, später als Anwältin – hatte ihr schon immer ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Und das war ein nicht zu unterschätzender Faktor in Anbetracht der Tatsache, dass kein Ritter auf einem edlen Schimmel in Sichtweite war.
Nicht, dass Kate auf der Suche nach einem Retter gewesen wäre. Sie war über die Jahre hin und wieder mit Männern ausgegangen, hauptsächlich, weil sie fand, dass sie das mal wieder tun sollte. Häufig hatten Freundinnen sie auch dazu gedrängt. Aber Kate hatte noch nie viel Glück mit Beziehungen gehabt, weder in der Highschool noch auf dem College noch an der Uni. Am besten war sie noch mit Seth klargekommen, dem sie zu der Erkenntnis verholfen hatte, dass er eigentlich schwul war. Die Freunde, die Kate vor Seth gehabt hatte, waren gefühlsmäßig eher distanziert gewesen. Zumindest war sie inzwischen alt genug, um einzusehen, dass ihre törichte Partnerwahl mit ihrer eigenen Kindheit zu tun hatte, was allerdings nicht bedeutete, dass sie sich in der Lage fühlte, daran etwas zu ändern.
Es war schwer zu sagen, ob die Männer, mit denen sie in letzter Zeit ausgegangen war, die falschen gewesen waren oder ob sie neben ihrer Arbeit und Amelia einfach keinen Platz für einen Mann in ihrem Leben hatte. Wie auch immer, es hatte sich nie etwas entwickelt. In gewisser Weise machte ihr das das Leben sogar leichter. Außer dass sie jetzt, mit achtunddreißig, allmählich der Tatsache ins Auge blicken musste, dass ihr Zufallskind – wie ihre Mutter sich bevorzugt ausdrückte, selbst in Amelias Gegenwart – wohl ihr einziges Kind bleiben würde.
Als der Zug endlich in der Station Grand Army Plaza einlief, war Kate schon eine Stunde und fünfzehn Minuten zu spät dran. Sie sprang aus dem Zug, als die Türen mit einem Zischen aufglitten, und lief mit klopfendem Herzen zur Rolltreppe.
Draußen angekommen, blinzelte sie in das helle Licht. Eine Hand schützend vor den Augen eilte sie die Prospect Park West hinunter. Die zweispurige Einbahnstraße war um die Uhrzeit kaum befahren, und Kates elegante High Heels, die sie immer zu Mandantengesprächen trug, klapperten laut auf dem Gehweg. Hinter der Mauer auf der anderen Straßenseite, zu Kates Linken, lag der Park mit seinen in bunten Herbstfarben leuchtenden Ahornbäumen. Die Blätter begannen bereits zu fallen und sammelten sich entlang der Mauer zu Haufen. Kate war schon seit Jahren nicht mehr in dem Park gewesen.
Obwohl sie schon seit fünfzehn Jahren in Park Slope wohnte, fühlte Kate sich in der Kanzlei immer noch mehr zu Hause als in ihrer Straße in Brooklyn. Sie hatte nach einem ruhigen, freundlichen Viertel mit netten Nachbarn gesucht, um Amelia großzuziehen, und Park Slope erfüllte all die gewünschten Kriterien. Doch die Leute von der Food Coop, die ausrangierten Sachen am Straßenrand, die man einfach so mitnehmen konnte, oder die bewusst lässig gekleideten Familien, die sich auf den Spielplätzen trafen, gleich neben ihren millionenschweren Stadthäusern, kamen ihr immer noch vor, als gehörten sie zum Leben von jemand anderem.
Weiter vorne sah Kate zwei typische Park-Slope-Mütter, attraktiv und urban, ohne übertrieben hip zu wirken, die gerade aus dem Park kamen. Beide schoben einen schnittigen Jogging-Kinderwagen, an der freien Hand ein Kind und eine umweltfreundliche Wasserfasche im Flaschenhalter. Sie plauderten und lachten, unbeirrt von ihren Sprösslingen, die an ihnen herumzerrten. Während sie die beiden Frauen beobachtete, fühlte Kate sich, als hätte sie selbst nie ein Kind gehabt.
Sie hatte immer vorgehabt, eine Familie zu gründen. Mindestens zwei Kinder, vielleicht sogar drei. Aufgrund ihrer eigenen unglücklichen Kindheit hatte sie nie ein Einzelkind großziehen wollen. Inzwischen hatte sie gelernt, dass man ein Einzelkind nicht notwendigerweise von Anfang an wie einen kleinen Erwachsenen behandeln musste. Aber eigentlich war sie immer davon ausgegangen, dass sie erst später im Leben Kinder bekommen würde, wie viele auch immer es sein würden. Viel, viel später. Sie hatte sich zuerst auf ihren Beruf konzentrieren und Karriere machen wollen, so wie ihre Mutter Gretchen – emeritierte Professorin für Neurologie an der medizinischen Fakultät der University of Chicago. Zuerst die Karriere, Kinder nur, falls dafür die Zeit reichte.
Aber ihr Leben hatte sich anders entwickelt. Und am Ende hatte sie keinen der »Lösungsvorschläge« angenommen, die Gretchen ihr aufgedrängt hatte, um ihre »bedauerliche Situation« zu »regeln«. Zwar bewunderte Kate den beruflichen Erfolg ihrer Mutter, doch abgesehen davon gab es nichts an Gretchen, das sie für nachahmenswert hielt. Im Gegenteil, Kate betrachtete ihre Schwangerschaft als Zeichen und als Chance.
Mutter zu sein war natürlich anstrengend gewesen, vor allem als Alleinerziehende mit vierundzwanzig mitten im Jurastudium. Aber sie und Amelia hatten überlebt. Ihre Rettung war Leelah gewesen, die Kinderfrau, die sich fünfzehn Jahre lang um Amelia gekümmert hatte. Ihre Warmherzigkeit und ihre herausragenden Kochkünste hatten ihnen geholfen, den Alltag zu meistern. Mit großem Bedauern hatte Kate Leelahs Stunden gekürzt, sodass sie jetzt nur noch zum Kochen und Putzen kam, während Amelia in der Schule war. Schon seit dem vergangenen Herbst hatte Amelia ihr damit in den Ohren gelegen, sie brauche keine Kinderfrau mehr, und schließlich hatte Kate ihrer Tochter nichts mehr entgegensetzen können. Doch Leelah fehlte ihnen beiden. Amelia mehr, als sie zugeben wollte, und Kate manchmal so sehr, dass sie es kaum ertragen konnte.
Kate blieb stehen, als die beiden Frauen vor ihr die Straße überquerten, dann folgte sie ihnen die Garfield Street hinunter. Sie betrachtete die schlanken Hüften der Frauen, die beide Leggins trugen, und die im Rhythmus schwingenden Pferdeschwänze.
»Sieh mal da, die ganzen Feuerwehrwagen!«, rief eine der beiden Frauen aus und blieb so plötzlich stehen, dass Kate beinahe mit ihrem perfekt gestylten Hintern kollidiert wäre. »Stehen die vor der Schule?«
»Gott, hoffentlich nicht«, sagte die andere und stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. »Auf jeden Fall scheinen sie’s nicht eilig zu haben. Vielleicht war es ja ein falscher Alarm.«
Kate sah die Feuerwehrwagen, die die halbe Garfield Street blockierten – direkt vor dem Eingang der Grace-Hall-Highschool, einer alten, herrschaftlichen Villa, die aussah wie eine öffentliche Bibliothek. Mehrere Polizeiwagen parkten vor der angrenzenden Grundschule. Die Feuerwehrleute standen in Grüppchen auf dem Gehweg, einige an ihre Fahrzeuge gelehnt, und plauderten entspannt.
Auch ein Krankenwagen stand da, mit ausgeschaltetem Blaulicht und geschlossenen Türen. Falls es einen Brand oder einen Notfall gegeben hatte, war jetzt alles vorbei. Oder es war einfach nur falscher Alarm gewesen.
Es konnte doch nicht sein, dass Amelia den Feueralarm ausgelöst hatte, oder? Nein, so etwas machten nur Kriminelle. Egal, was Amelias Launenhaftigkeit in letzter Zeit verursacht hatte, egal, was sie auf die Schnapsidee gebracht hatte, als Austauschschülerin für ein halbes Jahr nach Paris zu gehen, und egal, in welche Existenzkrise sie die Frage nach ihrem Vater gestürzt hatte, sie würde sich nie, niemals zu einer Straftat hinreißen lassen.
Kate holte tief Luft und atmete hörbar aus, worauf die große Frau, die vor ihr stand, zusammenzuckte und sich umdrehte. Sie zog ihre engelsgesichtige kleine Tochter in der pinkfarbenen Daunenweste dichter an sich. Kate lächelte die Frau verlegen an und machte einen Schritt zur Seite. Sie reckte den Hals, um an dem Krankenwagen vorbeizulugen. Sie sah einen uniformierten Polizisten, der sich mit einer älteren, grauhaarigen Frau in einem langen braunen Pullover unterhielt. Die Frau hielt einen winzigen zitternden Hund an der Leine und hatte sich fest mit den Armen umschlungen.
Wegen eines Feueralarms führte die Polizei keine Befragungen durch. Kate schaute zu den Fenstern der Klassenzimmer hoch. Wo waren die Schüler überhaupt? Die müssten sich doch alle an den Fenstern drängeln, um zu sehen, was da unten vor sich ging. Kate näherte sich wie magisch angezogen.
»Sie haben also als Erstes den Schrei gehört?«, fragte der Polizist die grauhaarige Frau. »Oder war es das Geräusch?«
Schrei. Geräusch. Zwei Polizisten kamen aus dem Haupteingang der Schule, gingen die Stufen hinunter und bogen in den Hof ein. Als Kate ihnen nachschaute, erkannte sie, dass sich dort offenbar das eigentliche Geschehen abspielte. Mindestens ein Dutzend Polizisten stand dicht gedrängt zusammen. Aber auch dort schien niemand es eilig zu haben. Was ihr plötzlich nicht mehr als gutes, sondern als beängstigendes Zeichen erschien.
»Ma’am«, sagte eine laute Stimme zu Kates Rechten. »Ich muss Sie auffordern, auf die andere Straßenseite zu gehen. Dieser Bereich hier muss frei bleiben.«
Sie spürte eine Hand an ihrem Arm, fest und rau. Kate drehte sich um. Es war ein großer, kräftiger Polizist, der sie um Haupteslänge überragte. Er hatte ein teigiges, jungenhaftes Gesicht.
»Tut mir leid, Ma’am«, sagte er ein kleines bisschen freundlicher. »Aber auf dieser Straßenseite dürfen Sie nicht stehen.«
»Meine Tochter ist in der Schule.« Kate wandte sich wieder dem Gebäude zu. Eine Bombendrohung, ein Anthraxangriff, eine Schießerei in der Schule – wo waren die Schüler alle? Kates Herz begann zu pochen. »Ich muss zu meiner Tochter. Ich werde erwartet. Man hat mich angerufen. Ich habe mich verspätet.«
Der Polizist sah sie eine ganze Weile mit zusammengekniffenen Augen an, als hoffte er, sie würde verschwinden.
»Also gut, ich werde das überprüfen«, sagte er schließlich. »Aber Sie müssen trotzdem da drüben warten.« Er zeigte auf die andere Straßenseite. »Wie heißt Ihre Tochter?«
»Amelia. Amelia Baron. Die Sekretärin des Direktors hat mir telefonisch mitgeteilt, dass meine Tochter vom Unterricht suspendiert wurde. Ich wurde gebeten herzukommen und sie abzuholen.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, bereute sie sie auch schon. Wenn der Polizist Amelia für eine Unruhestifterin – oder sogar die Unruhestifterin – hielt, würde er vielleicht weniger hilfsbereit sein. »Warten Sie«, rief Kate ihm nach. »Können Sie mir wenigstens sagen, was passiert ist?«
»Das versuchen wir gerade herauszufinden.« Er schaute zu dem Gebäude hoch und betrachtete es einen Moment lang. Dann drehte er sich wieder zu Kate um und zeigte auf die andere Straßenseite. »Gehen Sie da rüber. Ich bin gleich wieder da.«
Kate ging nicht auf die andere Seite. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals in der Hoffnung, mehr zu sehen. Sie stellte fest, dass es weit mehr als ein Dutzend Polizisten waren, teils in Uniform, teils in Zivil, die an der Seite des Gebäudes einen Halbkreis gebildet hatten, wie um etwas vor neugierigen Blicken zu schützen. Etwas Entsetzliches.
Jemand war verletzt. Oder schlimmer. Dessen war Kate sich plötzlich ganz sicher. Hatte es einen Kampf gegeben? Vielleicht eine verirrte Kugel? Die Schule lag im vornehmenTeil Brooklyns, aber eben doch in Brooklyn. Da gab es schon mal Zwischenfälle.
Nachdem der Polizist, der Kate aufgehalten hatte, in der Schule verschwunden war, lief sie zum Zaun hinüber. Polizisten schauten, eine Hand schützend über den Augen, zum Dach des Gebäudes hoch. Kate folgte ihren Blicken. Sie sah nichts außer der tadellosen Fassade des alten Gebäudes.
Als sie den Blick wieder senkte, hatten die Polizisten sich bewegt. Dort, in der Mitte des schützenden Halbkreises, lag ein Stiefel. Schwarz, mit flachem Absatz, robust, lag er auf der Seite wie ein angeschossenes Tier. Aber da lag noch etwas, etwas viel Größeres. Etwas, das mit einem Tuch bedeckt war.
Mit pochendem Herzen klammerte Kate sich an die schmiedeeisernen Gitterstäbe des Zauns. Sie betrachtete noch einmal den Stiefel. Viele Mädchen trugen solche Stiefel zu ihren engen Röhrenjeans oder Leggins. Amelias waren braun, oder? Das müsste Kate eigentlich wissen. Sie müsste doch wissen, welche Farbe die Stiefel ihrer Tochter hatten.
»Mrs Baron?«, ertönte eine männliche Stimme.
Kate fuhr herum, darauf gefasst, dass der Polizist mit dem Milchgesicht ihr erklärte, dass sie da nicht stehen dürfe. Aber vor ihr stand ein attraktiver, wenn auch knallhart wirkender Mann in Jeans und Kapuzensweatshirt. Er war etwa in Kates Alter, mit kantigem Gesicht, kahl rasiertem Schädel und der geballten Energie eines Boxers oder vielleicht eines Kriminellen kurz vor einem Ausbruchsversuch. Er trug eine Polizeimarke an einer Kette um den Hals.
»Sie sind Kate Baron?«, fragte er und trat einen Schritt näher.
Er sprach mit einem starken Brooklyneinschlag, der zu seinem Äußeren passte. Aber er bemühte sich, sanft mit ihr umzugehen. Das machte sie nervös. Hinter ihm sah Kate den uniformierten Polizisten, mit dem sie vorher gesprochen hatte. Er stand mit einer grauhaarigen Frau mit Lesebrille auf den Stufen vor dem Eingang der Schule. Die beiden schauten zu ihr herüber.
»Wo ist Amelia?«, hörte Kate sich schreien. Oder war es jemand anders gewesen? Es hatte geklungen wie ihre Stimme, doch sie hatte nicht gemerkt, wie die Worte aus ihrem Mund gekommen waren. »Was ist passiert?«
»Ich bin Detective Molina.« Er streckte eine Hand aus, hielt jedoch inne, bevor seine Hand ihren Arm erreichte. Er hatte eine Tätowierung auf dem Unterarm – ein Kreuz –, die aus seinem Ärmel hervorlugte. »Würden Sie bitte mit mir kommen, Ma’am?«
Das gefiel ihr nicht. Sie wollte mit diesem Detective nirgendwo hingehen. Sie wollte weggeschickt werden. Dahin, wo alle anderen unwichtigen Gaffer standen.
»Nein.« Kate wich vor dem Mann zurück. Ihr Herz raste. »Warum?«
»Kommen Sie, Ma’am«, sagte er, fasste sie mit seiner starken Hand am Ellbogen und zog sie zu sich hin. Er sprach jetzt noch leiser, noch vorsichtiger, als hätte Kate eine schreckliche Kopfverletzung erlitten, ohne dass sie es bemerkt hatte. »Kommen Sie einfach mit mir hier herüber und setzen sich.«
Kate schloss die Augen und versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wie Amelias Füße am Morgen ausgesehen hatten, als sie gut gelaunt aus dem Haus gegangen war. Eine Mutter sollte eigentlich wissen, was für Schuhe ihre Kinder trugen. Über solche Dinge sollte sie im Bilde sein. Kate war schwindlig.
»Ich will mich nicht setzen«, entgegnete sie fast panisch. »Sagen Sie mir einfach, was passiert ist! Jetzt sofort!«
»Okay, Mrs Baron, okay«, sagte Detective Molina ruhig. »Es hat einen Unfall gegeben.«
»Aber Amelia ist doch nichts passiert, oder?«, stieß Kate hervor und lehnte sich gegen den Zaun. Warum hatte niemand es eilig? Warum stand der Krankenwagen nur da herum? Wieso blinkte kein Blaulicht? »Bestimmt geht es ihr gut. Ich muss sie sehen. Ich muss unbedingt zu ihr. Wo ist sie?«
Kate wollte weglaufen. Weit weg. Irgendwohin, wo niemand ihr etwas erzählen konnte. Stattdessen sank sie an dem Zaun hinunter bis auf den kalten Gehweg. Bis sie auf dem Boden saß, die Knie angezogen, den Mund gegen die Knie gepresst, als bereitete sie sich auf eine Bruchlandung vor.
Lauf, sagte sie sich, lauf. Aber es war zu spät.
Einen letzten langen Moment hörte sie nur ihren eigenen Herzschlag. Spürte den Druck ihrer engen, dünnen Hose.
»Ihre Tochter Amelia.« Der Detective hockte jetzt neben ihr. »Sie ist vom Dach gefallen, Mrs Baron. Bedauerlicherweise hat sie – den Sturz nicht überlebt. Es tut mir leid, Mrs Baron. Ihre Tochter Amelia ist tot.«
Weil es auf urbandictionary.com 176 Definitionen für das Wort Versager gibt. Wer will schon stinknormal sein?
Hey, Mädels!
Hier kommt der neueste Scheiß, den man nicht drucken kann …
Ja, ja, die Clubs. Wo all ihr verzweifelten Streber vielleicht endlich mit euren verschwitzten Händen an die nächsthöhere Sprosse der Karriereleiter kommt. Aber vergesst nicht, dass es nicht besonders ruhmreich ist, eure Titten oder euren Schwanz an denen eurer Mitkletterer messen zu lassen, egal seit wie viel hundert Jahren dasschon praktiziert wird.
Andererseits denke ich das vielleicht auch nur, weil ich immer noch darauf warte, flachgelegt zu werden.
Angeblich haben die Tudors und die Devonkill vor, sich mehr Respekt zu verschaffen, indem sie die Aufnahmerituale verschärfen. Die Magpies sollen diesmal vorhaben, außerhalb des üblichen Sumpfs – haha – Einladungen zu verschicken, und die Leute von Wolf’s Gate beobachten eine britische Invasion.
Apropos britische Invasion – wie viele Mädchen will Ian Greene eigentlich noch abschleppen? Die Schule hat erst vor zwei Wochen angefangen, und wie ich höre, ist seine Erfolgsliste schon zweistellig. Die Mädels stehen Schlange – unter anderem unsere schuleigenenNutten Sylvia Golde, Susan Dolan und Kendall Valen, um nur ein paar zu nennen.
Und Dylan Crosby? Die liebe, wunderbare, geheimnisvolle Dylan? Nein, sie gehört nicht dazu. Keine Ahnung, mit wem sie’s derzeit treibt, aber sie ist keine, die bereit wäre, für irgendetwas Schlange zu stehen.
Es heißt, George McDonnell und Hannah Albert hätten nach jahrzehntelangem Schmachten endlich zueinandergefunden. Und Carter Rose sei scharf auf eine verklemmte Zehntklässlerin. Carter, Alter, vergiss es. Die legt den Keuschheitsgürtel für keinen ab.
Und bleibt schön dran, ihr alle! Ich hab geile Neuigkeiten über die Liste derjenigen, die wegen schwacher Leistungen mit einer Verwarnung zu rechnen haben. Ich glaub, ich stelle sie einfach beim nächsten Mal komplett ins Netz. Echt – wer nicht mal bei so einem Saftladen wie Grace Hall durchkommt, der hat es nicht anders verdient.
Amelia Baron
Kann es nicht fassen, dass sie sich von ihrer besten Freundin hat breitschlagen lassen, bei der Hitze in Röhrenjeans rumzulaufen
George McDonnell und 2 anderen gefällt das
Sylvia Golde kann es nicht fassen, dass ihre beste Freundin nichts von Mode versteht … du solltest mir dankbar sein …
Als ich aus der Tür kam, sah ich Sylvia schon an der üblichen Stelle warten – an der Ecke Garfield Street und Eighth Avenue. Sylvia wohnte in der Berkeley Street zwischen der Seventh und der Eighth Avenue, gleich um die Ecke von Mr Wonton und einen Block von Ozzie’s entfernt, dem Café, wo sie einem manchmal heißen Kakao kostenlos nachschenkten und wo sie fast jeden Tag jede Menge Cookies zum Probieren hatten. Seit drei Jahren trafen Sylvia und ich uns jeden Tag an der Ecke, um zusammen zur Schule zu gehen. Vor drei Jahren – als wir elf waren – hatte Sylvias Mom ihr zum ersten Mal erlaubt, allein zur Schule zu gehen. Vorher musste sie alle möglichen Tests bestehen, um zu beweisen, dass sie wusste, was sie in einem Notfall zu tun hatte – an wen sie sich wenden sollte, wenn sie Hilfe brauchte, und was sie tun musste, falls jemand versuchte, sie zu entführen.
Meine Mom sagte irgendwann, ich dürfe auch mit elf allein zur Schule gehen. Sie hatte ihre eigenen Tests. Aber ich glaube, sie hatte sie von Sylvias Mom. Ich liebe meine Mom, doch so was guckte sie sich meist von anderen Müttern ab. Fast alles, was Sylvia durfte, durfte ich auch.
Sylvia hatte nie eine Kinderfrau gehabt, und deswegen musste ich selbst zusehen, wie ich Leelah loswurde. Ich mochte Leelah, keine Frage, aber welche Zehntklässlerin auf der Highschool hat denn eine Kinderfrau? Das war mein Hauptargument. Und ich war völlig aus dem Häuschen, als meine Mom endlich Ja gesagt hat. Nachdem die Schule wieder angefangen hatte, fehlte sie mir dann doch. Das würde ich natürlich nie meiner Mom erzählen – nicht, dass sie am Ende noch ein schlechtes Gewissen bekommt –, aber die ganze Zeit allein zu sein war irgendwie komisch.
Ich winkte Sylvia zu, und sie, obercool wie immer, hob zwei Finger zum Gruß. Es war die zweite Septemberwoche, aber wir hatten immer noch diese ekelhafte New Yorker Hitze, die reinste Sauna, und überall stank es nach Müll und nach Pisse. Aber wegen ein bisschen Hitze ließ Sylvia sich natürlich nicht davon abhalten, ihre neuen Herbstklamotten vorzuführen. Klamotten waren für Sylvia, was für mich Bücher waren: das Einzige, was zählte. Und jetzt stand sie da an der Ecke, in Röhrenjeans, Plateausandaletten und einem langen, ärmellosen Pullover. Ärmellos, okay, aber ein Pullover. Sie hatte ihn mir am Nachmittag zuvor gezeigt – cooles Teil, auberginefarben mit Wasserfallkragen. Ausgefallen und ein bisschen schräg, ein Teil, in dem ich total bescheuert ausgesehen hätte. Aber Sylvia sah super aus.
Ich steckte Der Report der Magd in meine Tasche, ich wollte es in der Mittagspause zu Ende lesen. Zum allerersten Mal hatten Sylvia und ich nur freitags zur selben Zeit Mittagspause. Nicht, dass ich keine anderen Freundinnen gehabt hätte – ich konnte mich immer mit Chloe oder Ainsley oder einem von den Mädchen aus dem Feldhockeyteam zusammensetzen. Ich war auch nicht Sylvias einzige Freundin, doch wir gehörten – im Gegensatz zu den meisten anderen – keiner Clique an. Es würde auch nie einer auf die Idee kommen, uns einzuladen, Mitglied in einem von diesen Clubs zu werden. Nicht, dass wir daran interessiert gewesen wären. Die Clubs mit ihrer Geheimnistuerei und ihren Scheißaufnahmeritualen waren total bescheuert. An der Grace-Hall-Schule hatte es sie von ungefähr 1920 an bis in die Achtzigerjahre gegeben, als ein Neuntklässler, der in den Jungsclub aufgenommen werden wollte, versucht hat, betrunken auf dem Zug zu surfen, wobei ihm der Kopf abgerissen wurde. Daraufhin hat die Schule die Clubs verboten.
Aber vor ein paar Jahren haben irgendwelche Leute die Clubs wieder eingeführt. Woodhouse, der neue Direktor, ist anfangs völlig ausgeflippt und hat damit gedroht, die Leute von der Schule zu werfen und was nicht alles. Dann war plötzlich Funkstille. Es hieß, die Eltern von ein paar Schülern, die in den Clubs waren, hätten ihn dafür bezahlt, dass er die Klappe hält, weil sie fürchteten, ihre Sprösslinge könnten Schwierigkeiten bei der Bewerbung am College bekommen.
Sylvia und ich hatten uns geschworen, keinem Club beizutreten, es sei denn, wir würden beide gleichzeitig eingeladen, und auch dann würden wir es wahrscheinlich nicht tun. Wir hatten andere Prioritäten. Sylvia hatte ihre Jungs, und ich hatte meine Bücher und meinen neuen Freund Ben. Aber vor allem hatten wir einander. So war es immer gewesen. Manche fanden es vielleicht merkwürdig, dass ausgerechnet wir beide beste Freundinnen waren – ich eine brave, strebsame Sportlerin, sie eine nuttige Modeprinzessin –, aber wir waren uns ähnlich in Punkten, die im Leben eine wichtige Rolle spielen, und zwar ganz besonders, wenn man erst fünf Jahre alt ist, denn da hatten wir uns angefreundet, weil wir in der Vorschule beide überhaupt keine Lust gehabt hatten, Verkleiden zu spielen. Ich, weil ich diese Mädchenspiele einfach doof fand, und Sylvia, weil sie die Klamotten in der Verkleidekiste zum Kotzen fand. So waren wir. Wir landeten immer im selben Lager, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Außerdem kannten wir uns schon ewig.
An der Ecke zupfte Sylvia an ihrem Wasserfallkragen, tat so, als würde sie auf die Uhr gucken, die sie gar nicht trug, und bedeutete mir, ich solle mich beeilen. Wahrscheinlich schwitzte sie sich halb tot in dem blöden Pullover. Aber sie wäre total eingeschnappt, wenn ich ihr gesagt hätte, dass sie in der Affenhitze ziemlich albern aussah in dem Teil. Und dann würde sie irgendeine Gemeinheit loslassen. In der Hinsicht war Sylvia wie ein Krebs: Wenn man sie an der falschen Stelle piekste, riss sie einem gleich den Finger ab.
Außerdem sah Sylvia trotzdem gut aus. Sie kleidete sich vielleicht nicht immer praktisch, aber immer stylisch. Sylvia las die britische Vogue und Mode-Blogs wie Style Rookie und träumte davon, das nächste fünfzehnjährige Supermodel zu werden. Mir ging dieser ganze Modezirkus einfach nur auf den Keks. Dafür fand Sylvia meine Bücherauswahl großkotzig, womit sie nicht ganz danebenlag. Alles in allem tat ich gut daran, in meinem Glashaus die Klappe zu halten.
Ich beeilte mich, damit Sylvia keinen Herzinfarkt bekam, aber so bepackt, wie ich war, mit Schulrucksack und Sporttasche voller Feldhockeysachen, und so wie mir meine Röhrenjeans an den verschwitzten Beinen klebte, war es ziemlich schwierig, schnell zu laufen.
»Gott, bist du langsam«, sagte Sylvia, als ich endlich bei ihr war.
»Das ist diese blöde Jeans«, sagte ich und zupfte an dem feuchten Stoff. »Die ich mir auf deinen Rat hin gekauft habe, falls du das vergessen hast.«
Sylvia lächelte. »Auf jeden Fall siehst du scharf aus in dem Teil, auch wenn du dich nur im Schneckentempo darin bewegen kannst.« Dann zeigte sie stirnrunzelnd auf mein T-Shirt. »Aber was soll dieses scheußliche Top? Das hab ich dir nicht dazu ausgesucht.«
»Das andere saß irgendwie nicht.« Das war gelogen. Ich hatte es nicht mal anprobiert. Als Sylvia es mir mitgebracht hatte, war mir sofort klar gewesen, dass ich in dem Teil nicht mal aufs Klo gehen würde. »Mit diesen Puffärmeln sah ich aus wie – ich weiß nicht …«
»Etwa wie ein Mädchen?« Sylvia verschränkte die Arme vor der Brust.
»Nein, ich wollte sagen, wie ein Törtchen.«
»Dein Problem ist, dass du feministisch mit trutschig verwechselst. Hast du schon mal Fotos von Betty Friedan gesehen? Die war auf jeden Fall kein Mauerblümchen.«
»Woher weißt du denn, wer Betty Friedan ist?«
»Ich bin schließlich nicht blöd.« Sylvia verdrehte die Augen, während wir uns in Bewegung setzten. »Ich finde einfach, ein bisschen Stil kann nicht schaden, auch wenn man sich für eine gute Sache einsetzt.«
Sylvia rückte ihre Bücher zurecht, die sie unter dem Arm trug. Sie hatte sie wie üblich mit einem braunen Satinband zusammengebunden. Um ihr Outfit nicht zu ruinieren, weigerte Sylvia sich standhaft, ihre Bücher in einer Tasche zu transportieren. Ich glaube, insgeheim hatte sie gehofft, einen Modetrend anzustoßen. Bisher war keiner darauf angesprungen. Andererseits machte sich auch niemand über Sylvias schräge Modeticks lustig – weder über ihre komischen Mützen und Hüte noch über ihre riesigen Sonnenbrillen oder ihre Handtaschen aus M&M-Tüten –, was auch ein Sieg war, Punkt, aus. Ich war vielleicht eine bessere Schülerin und bessere Sportlerin, aber Sylvia war schon immer viel besser darin gewesen, sie selbst zu sein.
Als wir in die Prospect Park West einbogen, war der Gehweg rappelvoll. So war es jeden Morgen, wenn wir zur Schule gingen. Und sich jeden Morgen durch das Gewühl kämpfen zu müssen, war megabeschissen. Gestresste Eltern von Grundschülern rammten einem ihre Kinderwagen in die Hacken und keuchten einem in den Nacken, während sie ihre Kinder zur Schule zerrten. Sechst- und Siebtklässler rempelten einen auf ihren Scootern an, und die älteren Jungs von der Highschool machten mit ihren gegenseitigen Beschimpfungen einen auf cool. Als könnten die reichen Privatschulkids sich dadurch in die Gangster aus Brooklyn verwandeln, die sie gern wären.
Auf diesem Teil der Prospect Park West spielte sich ein Großteil der Highschooldramen ab. Leute trennten sich, stritten sich, taten sich wieder zusammen. Und jedes Mal, wenn etwas richtig Schlimmes passierte – wie einmal, als George McDonnell einer Erstklässlerin aus Versehen mit seinem Rucksack die Nase blutig schlug, weil er auf dem überfüllten Gehweg hinter irgendeinem Idioten herrannte –, meldete Mrs Pearl sich als Allererstes über die Lautsprecheranlage, als hätte sie nur auf eine Gelegenheit gewartet, alle zusammenzuscheißen.
»Fehlverhalten auf dem Weg zur Schule ist gleichbedeutend mit Fehlverhalten auf dem Schulgelände«, kreischte sie, als würde das uns alle dazu bringen, dass wir ihr zuhörten. »Sobald ihr euer Elternhaus verlasst, steht ihr unter der Aufsicht der Schule. Es werden keine Prügeleien geduldet, ebenso wenig grober Unfug mit Körperkontakt. Solches Verhalten wird gemäß der Grace-Hall-Schulordnung bestraft.«
Ich war zwar keine Expertin, aber für mich klang das schon fast so, als würde es gegen die Verfassung verstoßen. An dem Abend, nachdem ich das zum ersten Mal aus dem Mund von Mrs Pearl gehört hatte, habe ich versucht, wach zu bleiben, und auf meine Mom gewartet, um sie um ihre Meinung als Juristin zu bitten, doch als sie kam, war ich schon eingeschlafen.
»Aua!«, schrie ich, als wir noch einen Block von der Schule entfernt waren, und fasste mir an den Hinterkopf, wo mich etwas getroffen hatte.
Als ich aufblickte, lächelte Carter Rose mich an. Er zeigte mit dem Finger auf mich, dann rannte er in Richtung Schule. So flirten die Zehntklässler – indem sie einem eins überbraten.
»Hat Carter mir gerade echt ’ne Kopfnuss verpasst?«, fragte ich mit klingelnden Ohren.
»Er steht auf dich.« Sylvia grinste, als wir zusahen, wie er zwischen den Leuten verschwand, die sich vor uns knubbelten. »Du solltest ihm eine Chance geben. Er ist total süß, und außerdem spielt er Lacrosse. Ihr zwei habt richtig viel gemeinsam.«
»Ich spiele Feldhockey. Das sind zwei total unterschiedliche Sportarten. Das weißt du doch, oder?«, sagte ich leicht genervt. Sylvia versuchte dauernd, mich mit irgendwelchen Typen zu verkuppeln, egal mit wem. »Carter ist wie ein überdrehter Hund – vielen Dank.«
»Ja, aber wie ein süßer überdrehter Hund.«
In den schlaksigen Jungen mit dem blonden Wuschelkopf und den hohen Wangenknochen waren alle Mädchen verknallt. Nur ich nicht. Ich wusste noch nicht so richtig, wer genau mein Typ war, aber Carter war es jedenfalls nicht.
»Nein, danke«, murmelte ich. »Wenn ich ’ne Kupplerin brauch, sag ich dir Bescheid.«
»Tu dir keinen Zwang an.« Sylvia zuckte die Achseln. Wir näherten uns den Stufen des Haupteingangs der Schule, vor denen die Leute in Trauben herumstanden.
Auf der obersten Stufe stand Will, der Wachmann, und winkte alle rein mit seinen dicken Händen. Als wir vor dem Pulk stehen blieben, packte Sylvia mich am Arm und zerrte mich zu den Sträuchern.
»Aua! Was soll das?«
»Tut mir leid«, sagte sie. Ihre Stimme klang plötzlich ganz komisch, und sie sah sich in alle Richtungen um, als wollte sie sich vergewissern, dass uns niemand hörte. »Eigentlich wollte ich das geheim halten, aber ich halt’s nicht mehr aus. Ich muss es dir unbedingt erzählen.«
»Was musst du mir erzählen?« Eins musste ich ihr lassen, das war eine gekonnte Einleitung. Andererseits kannte ich Sylvia gut genug, um nicht zu viel zu erwarten. Sie konnte noch ein Drama daraus machen, wie einer sich die Schuhe schnürte.
»Ich hab ihn gestern gegrüßt.« Sie beugte sich noch dichter vor. »Und du rätst nicht, was passiert ist.«
»Von wem redest du überhaupt?«, fragte ich. Offenbar ging sie davon aus, dass ich wusste, wen sie meinte. Aber dann wurde ich misstrauisch. Sylvia führte sich plötzlich auf, als wäre sie völlig durchgeknallt. Als ich sie das letzte Mal so erlebt hatte, war das ziemlich übel ausgegangen. »Du hast doch nicht schon wieder eine Ativan von deiner Mutter geschluckt, oder? Wenn ja, gehst du am besten gleich wieder nach Hause …«
»Ich hab nichts geschluckt!«, schrie Sylvia so laut, dass alle möglichen Leute, vor allem Mütter, sich nach uns umdrehten.
»Egal – tut mir leid«, murmelte ich. Ich verschränkte die Arme hinter dem Rücken, damit sie mich nicht wieder irgendwo hinzerren konnte. »Ich wollte dir nur helfen.«
»Ich brauch deine Hilfe nicht, okay?«, sagte sie. »Ich hab schon eine Mutter, hast du das vergessen?«
»Alles klar.«
So war Sylvia. Sie nahm kein Blatt vor den Mund. Sie sagte richtig gemeine Sachen über meinen nicht existenten Vater, über meine ewig abwesende Mutter. Kleine Waise Amelia hatte sie mich sogar einmal genannt. So was machte sie immer dann, wenn sie das Gefühl hatte, man könnte sie verletzen. Es war nicht ihre beste Seite. Und manchmal schrie ich sie an, wenn sie so drauf war. Aber ich versuchte, ihr nicht übelzunehmen, was sie über meine Mutter sagte, weil ich insgeheim glaubte, dass sie neidisch war. Meine Mom war alles, was ich hatte, und sie war tatsächlich nicht viel zu Hause, doch wir verstanden uns echt super. Und ich wusste, dass sie, wenn sie in der Arbeit war, eigentlich viel lieber bei mir gewesen wäre. Manchmal stritten wir uns wegen Blödsinn, aber ich spürte, dass sie mich liebte. Ganz tief drinnen. Sylvias Mutter, Julia, fand ich ziemlich cool. Trotzdem konnte Sylvia sie irgendwie nicht ausstehen. Ich hab eigentlich nie verstanden, warum.
»Ich wollte dir gerade was Wichtiges erzählen.« Sylvia war eingeschnappt. »Aber wenn’s dich nicht interessiert …«
»Doch, es interessiert mich«, sagte ich und ignorierte die Stichelei gegen meine Mutter. Sylvia war einfach so, sie konnte nichts dafür. »Los, erzähl schon. Bin ganz Ohr.«
Einen Moment lang schaute Sylvia sich mit zusammengezogenen Brauen um, als bestünde überhaupt keine Chance, dass sie mir ihr Geheimnis anvertrauen würde. Aber wem sonst sollte sie es erzählen?
»Also gut«, sagte sie schließlich und grinste mich verschmitzt an. »Ian Greene«, flüsterte sie. »Ich hab ihn gestern gegrüßt und rat mal, was passiert ist?«
Sylvia war noch nie so scharf auf einen Typen gewesen wie auf diesen Ian Greene, und das wollte was heißen.
Eine Woche bevor die Schule anfing, hatten wir ihn zum ersten Mal gesehen. Wir lagen nebeneinander auf meinem Bett, mein Laptop auf meinen Knien, und gingen das Meetbook von Grace Hall durch, das gerade ins Internet gestellt worden war. Ian Greene war neu. Und mit seinen unordentlichen Haaren und seinen dunklen, launischen Augen war er ein cooler Typ, keine Frage. Das sah sogar ich. Außerdem stand unter seinem Namen HAMPSTEAD HEATH, UK, was bedeutete, dass er einen britischen Akzent hatte. Und Hampstead Heath klang ziemlich vornehm. Richtig nobel. Womöglich war dieser Greene ein Spross der Königsfamilie.
»Red keinen Stuss«, hatte Sylvia gesagt, als ich entsprechende Vermutungen anstellte. Sie war schon mehrmals in England gewesen. »Hampstead Heath ist so was wie das Brooklyn von London, außer dass die da alle in megateuren Minischlössern wohnen.« Dann hatte sie mich angelächelt. »Aber man kann nie wissen, vielleicht ist er ja ein Graf oder so.«
Sylvia war nicht die Einzige, die wegen Ian Greene aus dem Häuschen geriet. Die Hälfte der Mädchen hatte ihn schon vor dem ersten Schultag im Visier. Und nachdem ich ihn leibhaftig gesehen hatte, musste sogar ich zugeben, dass er eine Menge zu bieten hatte. Er besaß eine natürliche Ausstrahlung, ein bisschen bad boy-mäßig, und ein schiefes Grinsen, dem man sich kaum entziehen konnte. Er spielte Gitarre und komponierte selber, sein eigentliches Talent war aber das Fotografieren; da kam er nach seinem Vater, dessen Bilder angeblich im MOMA hingen. Die Greenes waren hergezogen, weil Ians Mutter den Posten der Chefkuratorin des Brooklyn Museum übernommen hatte.
Ian hatte sich natürlich nicht lange lumpen lassen und die ganze Bewunderung, die ihm entgegenschlug, weidlich ausgenutzt. Andererseits wirkte die vollkommen selbstverständliche Art, mit der er jedes Mädchen flachlegte, irgendwie ziemlich zivilisiert.
»Willst du mich noch nicht mal fragen?«, drängte Sylvia, während ihr Blick zum Schuleingang wanderte.
»Was denn fragen?« Ich hatte vollkommen den Faden verloren.
»Was passiert ist, als ich ihn gegrüßt hab!«, schnaubte Sylvia und stampfte mit dem Fuß auf.
»Ach so, ja, klar. Was ist passiert?«
Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Er hat mich nach Hause begleitet«, stieß sie schließlich hervor. »Und …« Sie schaute sich noch einmal um, aber der Aufauf vor den Stufen löste sich allmählich auf, weil die Leute – die, die pünktlich waren – angefangen hatten, ins Schulgebäude zu gehen. Sylvias Augen weiteten sich. Sie hielt sich eine Hand an den Mund. »Wir haben wie blöd geknutscht.«
»Echt?«, sagte ich, bemüht, beeindruckt zu klingen. In Wirklichkeit war ich irgendwie geknickt. Ich wusste nicht mal, warum. »Ist ja ein Ding!«
Eins musste ich Sylvia lassen. Sie übertrieb gern, doch das war wirklich der Hammer. Ian Greene hatte ein Mädchen an jedem Finger, aber er hatte sich für Sylvia entschieden, zumindest für einen Nachmittag und einen Kuss. Eigentlich wunderte es mich nicht, dass sie seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Die Jungs hatten schon immer auf Sylvia gestanden. Sie war hübsch und hatte die richtigen Kurven an den richtigen Stellen – aber das hatten viele Mädchen an der Schule. Sylvia hatte noch etwas anderes. Etwas Wildes. Das machte sie interessant und unberechenbar und sogar ein bisschen gefährlich. Genau das stieß die Jungs natürlich auch irgendwann ab. Schließlich besteht ein feiner Unterschied zwischen wild und durchgeknallt.
Wenn die Sache mit Ian also wichtig war, warum nervte es mich dann dermaßen, dass Sylvia so einen Affen darum machte? Gott, war ich etwa eifersüchtig? Nicht eifersüchtig darauf, dass sie Ian Greene geküsst hatte. Ich war eifersüchtig darauf, dass Sylvia Ian unbedingt hatte küssen wollen und es ihr gelungen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, für jemanden solche Gefühle zu entwickeln, und erst recht nicht, dass ich so was tatsächlich durchzog.
»Verrückt, oder?« Sylvia nickte und biss sich auf die Lippe. Sie wirkte richtig nervös. »Das Problem ist nur, dass ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll, wenn ich ihm das nächste Mal über den Weg laufe. Soll ich so tun, als wäre nichts passiert? Wenn ich zu nett bin, denkt er, dass ich’s nötig hab. Aber ich will auch nicht, dass er mich für eine Zicke hält.« Es schien sie wirklich zu quälen. »Ich weiß ja, dass du eigentlich keinen Schimmer von so was hast, aber was meinst du – soll ich ihn anquatschen?«
»Hm. Du solltest ihm auf keinen Fall nachlaufen«, sagte ich. »Aber du solltest ihn auch nicht ignorieren. Ein Typ wie Ian würde das bestimmt bescheuert finden.«
»Also, das hilft mir kein bisschen, Amelia. Ich brauch genaue Anweisungen.« Ich wich zurück, als sie näher kam, weil ich Schiss hatte, sie würde mich wieder am Arm packen und herumzerren. »Du musst mir ganz genau sagen, was ich tun soll.«
»Du könntest schon mal damit anfangen, dass du tief durchatmest«, sagte ich. Der merkwürdige Eifersuchtsanfall war so schnell vorbeigegangen, wie er gekommen war. Jetzt musste ich Sylvia helfen, und zwar hundertpro. Ich legte ihr die Hände auf die Schultern, bis sie ein-, zweimal tief Luft geholt hatte. »Gut. Und vergiss eins nicht: Ian hätte dich nicht geküsst, wenn er dich nicht mögen würde.«
Sylvia schaute auf den Boden und trat von einem Fuß auf den anderen. Es wurde allmählich spät. Auf dem Gehweg trödelten nur noch ein paar Leute herum. Will stand immer noch vor der offenen Eingangstür, die er jeden Augenblick schließen würde. Und wenn sie einmal zu war, würden wir offiziell zu spät kommen. Ich könnte wahrscheinlich sechs Wochen lang am Stück zu spät kommen, ehe die Schule etwas unternehmen würde. Also versuchte ich so zu tun, als wäre es mir egal. Es war mir aber alles andere als egal. Vor allem, wo ich kein bisschen zu spät gekommen war.
»Aber was ist, wenn ich ihn geküsst hab?«, fragte Sylvia. »Ich meine, er hat mich nach Hause begleitet, und wir haben uns über Fotografie unterhalten, und dann haben wir noch eine Weile auf der Stufe vor unserer Haustür gesessen und über Musik und Mode geredet, und dann hab ich – einfach …« Sie schlug sich die Hand vor den Mund und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. »O Gott, ich glaub, ich hab’s tatsächlich getan. Ich hab ihn geküsst.«
»Aber er hat doch mitgemacht, oder?«
»Und wenn nicht in echt?« Sylvias Stimme klang schrill.
»Also, das hättest du doch wohl gemerkt.«
»Woher willst du das denn wissen?«, fauchte sie mich an. Dann ließ sie den Kopf hängen. »Tut mir leid, aber stimmt doch. Und wenn es nicht echt war, hat er mich vielleicht bloß aus Höfichkeit geküsst.«