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Die Arzthelferin Aweiku Sammer führte die letzten Jahre ein unauffälliges und zurückgezogenes Leben, bis eines Nachts die Geister der Vergangenheit sie einzuholen drohen. Wieder auf der Flucht, muss sie sich entscheiden erneut abzutauchen, oder sich ihrer Vergangenheit endgültig zu stellen. Unterstützung findet sie bei der Polizistin Fiona, die dabei den Fall ihrer Karriere löst. Nebenbei mischt sich noch jemand in die Ermittlungen ein, der da nicht hingehört...
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Inhaltsverzeichnis
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
Epilog
Impressum
Für K.
Unbekannt
Ich packte die Kopfhörer und den Walkman in meinen Rucksack, anschließend stieg ich aus dem Auto. Meine Eltern unterhielten sich angeregt am Kofferraum.
Ich drehte mich einmal um die eigene Achse. Der Parkplatz war geschottert und die Schlaglöcher groß. Zudem standen einige Autos herum. Viele davon gehörten meinen Verwandten.
»Die anderen sind bestimmt schon da.«, bemerkte meine Mutter in die Richtung meines Vaters. »Kommst du?«
»Ja.«, antwortete ich lapidar und folgte meinen Eltern in das Restaurant. Meine Tante hatte uns auf dem Parkplatz scheinbar schon entdeckt, da sie mit ausgebreiteten Armen auf uns wartete und meiner Mutter freudig um den Hals fiel. Ich stahl mich an den zweien vorbei, meinem Vater hinterher, der meine Tante nicht mochte.
»Hey! Du hast mich noch gar nicht begrüßt!« Ich drehte mich kurz um und winkte meiner Tante. Anschließend folgte ich meinem Vater um die Ecke zu dem scheinbar für uns reservierten Tisch.
An dem Tisch angekommen, sah ich zuerst die mir bekannten Gesichter und konnte mich leider nicht vor einem begeisterten Schmatzer meiner Oma retten. Angewidert wischte ich mir mit dem Handrücken über die Wange. Wie ich diese Begrüßungsart hasste.
»Du bist aber groß geworden.«, bemerkte meine Oma stolz.
»Wir haben uns auch zwei Jahren nicht gesehen …« Etwas anderes zog meine Aufmerksamkeit an. Ich ignorierte die ausgestreckte Hand meines Onkels. Am Ende des Tisches saßen noch zwei Kinder über einen Block gebeugt. Die waren neu, ebenso wie der Mann, den mein Vater gerade begrüßte.
Bis jetzt hatte ich gedacht, neben meinem dreijährigen Cousin gäbe es nur noch mich. Dass es noch andere Kinder gab, hatte ich bereits vermutet, da meine Eltern darüber gesprochen hatten. Mit mir hatten sie darüber allerdings nicht gesprochen.
Ich zupfte meinen Vater am Pulli. »Was ist denn?«
»Wer sind die?«, fragte ich neugierig und zeigte auf die beiden.
»Das sind meine Kinder.«, beantwortete mir der Mann, mit dem sich mein Vater unterhalten hatte, meine Frage. Dabei beugte er sich nicht wie die meisten Erwachsenen zu mir herunter. Außerdem hatte er die Arme verschränkt.
Aus Erfahrung wusste ich, dass er mich einschüchtern wollte. Angst machte er mir keine. Aber bei meinen Eltern hatte ich festgestellt, dass ich etwas falsch gemacht hatte, wenn sie diesen Tonfall anschlugen. Bei meinen Klassenkameraden hatte ich gelernt, dass es in diesen Situationen hilfreich war, einen zerknirschten Gesichtsausdruck anzunehmen und eine Entschuldigung zu murmeln. Jetzt war aber nicht der Zeitpunkt sich anzupassen.
»Du warst aber noch nie zu Weihnachten da.«, stellte ich fest.
Ein kurzer Ausdruck des Ärgers huschte über sein Gesicht. Ich wahrte immer noch meinen neutralen leicht neugierigen Gesichtsausdruck. Es war mir bisher ein Rätsel wie Menschen plötzlich ihren Emotionen verfallen konnten. Aber es war sehr effektiv zu weinen, wenn einem etwas weggenommen wurde, man etwas nicht bekam oder sich wehtat.
»Gehe doch mal zu den beiden. Die spielen sicher mit dir.« Meine Begeisterung dafür hielt sich in Grenzen. Die beiden waren garantiert so langweilig wie meine Klassenkameraden.
Gespräche von Erwachsenen über Politik, Wirtschaft und das Weltgeschehen waren interessant. Trotzdem nickte ich. Die beiden zuckten erschrocken zusammen, als ich neben der Älteren den Stuhl quietschend über den Steinboden zurückzog. Da ich nicht ernsthaft Ambitionen hatte, mich mit den beiden anzufreunden, holte ich den Walkman aus meinem Rucksack und vertiefte mich in mein Buch.
Irgendwann tippte mir meine Mutter, die sich unbemerkt neben mir niedergelassen hatte, auf die Schulter und erkundigte sich bei mir, was ich den zu essen haben wollte.
Ich legte das Buch und den Walkman zur Seite. »Pommes.«
»Nur Pommes?«, hakte meine Mutter äußerst kritisch nach.
»Mit Schnitzel.«, fügte ich hinzu und wusste, das war nicht die Antwort, die sie hatte hören wollen.
»Mit Salat.«
»Ohne Salat.«, hielt ich dagegen.
Sie hatte bereits den Mund geöffnet, als sich mein Vater einmischte: »Ohne Salat.«
Und ich bekam mein Abendessen ohne Salat. Während dem Essen lauschte ich den mehr oder weniger interessanten Gesprächen meiner Verwandten. Die beiden Mädchen neben mir verhielten sich mucksmäuschenstill. Ihr Vater hingegen unterhielt sich sehr angeregt und mir fiel auf, dass Fragen zu seiner Familie und wo er die letzten Jahre abgeblieben war, sorgfältig vermieden wurden. Außerdem hatten die anderen Erwachsenen scheinbar Respekt vor ihm. Laut meinen Eltern besaß er eine Menge Geld, woher, wollten sie mir nicht sagen. Ich wäre noch zu jung.
Nach dem Essen fing ich doch an, mich zu langweilen. Da wir aber öfters hier waren, kannte ich mich in der Gegend aus. »Gehen wir raus?«, fragte ich das Mädchen neben mir.
Sie bedachte mich mit einem Blick, als hätte ich den Verstand verloren. »Ich darf nicht raus.« Ihre Antwort war so leise, dass sie fast im Gelächter der Erwachsenen untergegangen wäre.
»Macht nichts. Ich habe da eine Idee.« Ich stand auf und begab mich zu meinem Vater.
Bis jetzt hatte ich so gut wie keine Freunde gehabt. Menschen in meinem Alter waren langweilig und anspruchslos. Aber eine Freundin hatte ich. Mit ihr konnte ich mich sinnvoll unterhalten. Wir unternahmen gerne Dinge, die unsere Eltern uns eigentlich untersagt hatten.
Leider würde sie in absehbarer Zeit umziehen. Nichts Weltbewegendes. Mit dieser Freundin und meinem Vater gab es eine Art Code-Satz, wenn wir unbedingt unsere Ruhe haben wollten. »Wir suchen uns einen ruhigen Platz im Gebäude und wollen über Mädchenthemen reden.« Dabei umarmte ich meinen Vater und er drückte mir unter dem Tisch einen Fünfeuroschein in die Hand.
»Viel Spaß!«, wünschte er uns und ich zog meine wenig begeisterte Sitznachbarin in die Lobby des Hotels, das über dem Restaurant lag. Im Grunde gehörte beides zusammen und ein paar Verwandten hatten eine längere Anreise, weswegen sie hier übernachteten.
Bei dem Rezeptionisten schnorrte ich noch Gummibärchen. Vor der Tür, die man von unserem Tisch aus nicht im Blickfeld hatte, drückte ich dem Mädchen zwei der vier kleinen Packungen in die Hand.
Sie hatte die Schultern hochgezogen. »Wenn mein Papa mich sucht und mich nicht findet, wird er mich umbringen.«
Ich öffnete eine der Tütchen. »Und meiner wird dafür sorgen, dass deiner nicht nach uns suchen wird.« Darauf würde ich mich verlassen können.
»Du bist dir da ganz sicher?« Vor was hatte sie Angst?
»Hundertprozentig.«
Ich bog in die Straße ein, in der sich die Eisdiele befand.
»Was machen wir hier genau?« Sie entspannte sich nicht wirklich.
»Wir können Eis essen.«, schlug ich vor und wedelte mit dem Geldschein.
»Wo hast du den her?«
»Von meinem Papa. Er weiß, dass wir nicht im Gebäude sind, wird uns aber zuverlässig decken.«
Ihr blieb mehr oder weniger der Mund offenstehen. »Einfach so?«
»Wie, einfach so?«
Da sie stehengeblieben war, musste ich zwangsläufig ebenfalls stehen bleiben.
»Bei mir gibt es immer Ärger.« Ich ging nicht darauf ein.
»Also, kaufen wir uns ein Eis?«
Sie nickte und wir legten den Weg zur Eisdiele schweigend zurück. Aus meiner Klasse kannte ich Kinder, die sich nichts trauten, aber dass sie mich fragte, welche Eissorte sie nehmen durfte, war ein neuer Höhepunkt.
»Welches du willst.« Um sie zu ermutigen, entschied ich mich für zwei Kugeln und sie traute sich doch, ihr scheinbar geliebtes Schokoladeneis zu wählen. »Na, geht doch.«
»Daheim gibt es so etwas nicht.«
Wir setzten uns auf eine Mauer. Diese ging auf der anderen Seite sechs Meter nach unten und wir ließen unsere Füße baumeln. Die Straße am Fuße der Mauer führte in die Stadt, die etwas weiter unten am Abhang lag. Die Sonne ging direkt hinter uns unter.
Ich konnte das Mädchen nicht sonderlich lange dazu überreden mit mir draußen zu bleiben. Sie wollte um jeden Preis zurück in das Restaurant und da sie sich auch nicht traute alleine zu gehen, musste ich wohl oder übel mitgehen.
Gerade als wir in der Hotellobby angekommen waren, tauchte ihr Vater auf. Das war etwas ungünstig. Für den Fall der Fälle hatte ich aber damit gerechnet.
Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck musterte er uns. »Und, wo genau kommt ihr her?« Wieder verschränkte er die Arme und baute sich vor uns auf. Er war groß.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass das Mädchen etwas sagen wollte. Um die Katastrophe einzudämmen, kam ich ihr zuvor und blickte ihrem Vater in die Augen. »Wir waren oben. Dort gibt es eine Leseecke und in der Regel ist man dort alleine.«
»Ach ja?« Die leicht furchteinflößende Wirkung, die er scheinbar auf andere hatte, blieb bei mir aus.
Ich gab mir alle Mühe, einen möglichst unschuldigen Gesichtsausdruck anzunehmen. »Sollen wir hochgehen und ich zeige dir, wo wir waren?« Am Ende meiner Frage neigte ich meinen Kopf zur Seite.
»Nein, nicht nötig.« Er löste die Verschränkung seiner Arme. Entschlossen packte er seine Tochter am Arm und zog sie zu sich. »So, junge Dame, wir reden jetzt noch einmal miteinander.« Das Mädchen sah gerade eher aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Als der Ärmel ihrer Jacke hochrutschte, war mir klar, wovor sie Angst hatte. Mit einer Handbewegung sicherte ich mir die Aufmerksamkeit ihres Vaters. »Wenn du ihr wehtust, sage ich das meinen Eltern, dann wirst du nicht mehr an Familientreffen teilnehmen dürfen.«
»Und für dich wird es nie Weihnachtsgeschenke geben.«, knurrte er. Wenn Blicke töten könnten, hätten seine mich jetzt umgebracht. Aber ich hatte ihn.
»Ich brauche keine Geschenke. Was soll ich denn damit?«
Er ließ seine Tochter los. »Dieses eine Mal, nächstes Mal drehe ich dir den Hals mit um.«
Ich lächelte. »Das werden wir sehen.«
Aweiku Sammer
Um fünf vor acht sprintete ich durch das graue Treppenhaus in den dritten Stock hinauf. Ich hatte verschlafen und hatte noch fünf Minuten Zeit, um anzukommen. Das würde gerade so reichen.
Niva, eine Kollegin, stand im Pausenraum neben der Kaffeemaschine und tunkte einen Teebeutel in ihre Tasse, als ich an ihr vorbeihastete, um mir noch eine Flasche Wasser zu organisieren. Sie hatte nur Augen für ihren Tee. Sollte mir recht sein. Hin und wieder fühlte ich mich allerdings von ihr beobachtet.
Meine Lederjacke hängte ich über einen Stuhl.
Mit der Wasserflasche in der Hand quetschte ich mich an dem in der Tür stehenden Arzt vorbei. Niva kam keine zwei Minuten später. Im Schlepptau ihre gelangweilte Praktikantin mit den rotgefärbten Haaren, welche mich an reife Erdbeeren erinnerten.
Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, die Patientenakten, von denen man wusste, dass sie heute gebraucht wurden, in Nivas Reichweite zu legen. Unter anderem sortierte ich noch Post und heftete Rechnungen ab.
Das ein oder andere Mal war ich so freundlich und zeigte Patienten den Weg in eines der zwei Praxiszimmer. Stapelte die Zeitschriften im Wartezimmer neu, räumte gebrauchte Gläser in die Spülmaschine und stellte eine neue ungeöffnete Flasche Wasser dazu.
Es gab immer irgendetwas, das aufgeräumt werden musste und manchmal staubte ich sogar die Schreibtische ab. Das wurde zwar nicht ausdrücklich verlangt, aber einige Mitarbeiter waren erfreut. Die Reinigungskraft war ich allerdings nicht.
Irgendwann schickte mich Niva eine weitere Patientenakte für einen eingetroffenen Notfall zu holen. Als ich um die Ecke kam, sah ich gerade noch, wie die Praktikantin über den schwarzen Teppich stolperte. Doch es war schon zu spät. Die rote Brühe ergoss sich über meine weiße Jeans und meinen Pulli.
»Heiß!«, fauchte ich gereizt und wischte mir über die Oberschenkel. Verdammt heiß. Brennend heiß.
Zu allem Überfluss ließ die Praktikantin auch noch vor Schreck die Tasse fallen, die gnadenlos auf dem grauen Boden zerschellte.
Schlagartig wurde sie rot, passend zu ihrer Haarfarbe. Die nicht mehr so rot wirkende Teepfütze zu ihren Füßen.
»Ähh … tut mir wirklich leid.«, murmelte sie verlegen und bückte sich.
»Ich komme gleich wieder. Du kannst dich schon mal um die Scherben kümmern.«
Meine Geduld hatte ihr Ende erreicht. Hoffentlich war sie nicht auch noch so ungeschickt, sich an den Scherben zu schneiden.
Ich brachte Niva ihre gewünschte Akte und holte im Pausenraum noch einen Putzlappen. Sie hatte die Angewohnheit, ihre Praktikanten Kaffee oder Tee kochen zu lassen oder zum Bäcker zu schicken, um Brötchen zu holen. Wobei sie damit nicht die einzige Person hier im Haus war, die das tat.
Meine Jeans und meinen Pulli versuchte ich erst gar nicht mehr zu retten.
Der Praktikantin nahm ich die Scherben ab und drückte ihr den Putzlappen in die Hand. Kurz blickte sie auf.
»Ist etwas?« Sie sollte sich beeilen.
»Ich habe mich noch nicht vorgestellt.« Und das fiel ihr jetzt ein. »Leyla.« Damit gab sie mir den Putzlappen zurück.
»Besser hättest du den Zeitpunkt echt nicht wählen können. Sammer.«, stellte ich mich bissig vor.
Ich machte mir nicht die Mühe, auf ihre Reaktion zu warten. Im Pausenraum warf ich die Scherben in den Müll und den Putzlappen in die Spüle. Sollte ihn doch jemand anders auswaschen.
Meine Lederjacke nahm ich von der Stuhllehne und begab mich zu Niva.
»Ich gehe für heute. Und sag deiner Praktikantin, dass sie schauen soll wo sie hinläuft, wenn sie dir Tee holt.«
Nun hob sie den Blick von ihrem Bildschirm. Kurz musterte sie mich und nickte.
»Bis morgen.«
Genervt schloss ich vor der Tür den Reißverschluss meiner Lederjacke, mit dem Wissen, dass sie nur die Teeflecken auf meinem weißen Pulli verbarg und nicht die Flecken auf meiner Jeans. Heute war wirklich ein Scheißtag und kalt war es zu allem Überfluss auch noch.
Die Nacht hatte ich damit verbracht, in der Dunkelheit die Decke anzustarren. Irgendwann hatte ich doch noch Schlaf gefunden.
Zum Teufel mit der Welt.
Auf die Bitte meines Adoptivvaters René schlug ich zwei Tage nach dem Tee-Unglück, am Morgen kurz vor halb neun, bei ihm auf. Ich suchte ihn etwas unfreiwillig auf, da er mir nicht hatte sagen wollen, worum es gehen würde. Er wollte eine Diskussion meinerseits, ob ich wirklich kommen musste oder man die Sache nicht anders regeln konnte, vermeiden. Wir diskutierten häufig wegen irgendetwas herum. Das war von meinem Gemütszustand abhängig.
»Morgen!«, rief ich in die helle und stille Wohnung, als ich zur Wohnungstür hereinkam. Ein wenig zu fröhlich für meinen Geschmack, doch Fragen wollte ich heute Morgen tunlichst vermeiden.
Dass es mir nicht gut ging und ich erneut nicht besonders gut geschlafen hatte, würde ihm wahrscheinlich trotzdem auffallen. Von René kam keine Antwort. Er war auch nirgendwo zu sehen. Eine halbe Minute später ging die Badezimmertür auf und er kam mir mit nassen Haaren, T-Shirt und Jeans entgegen.
»Salut. Schön, dass du da bist.«
»Komm zum Punkt.«
Aus dem weißen Kühlschrank, am Rande der silberweißen Küchenzeile, holte er eine Flasche Milch.
»Heute mal wieder die Freundlichkeit in Person.« Ich hatte auch gute Tage, doch zurzeit ging immer irgendetwas schief.
»Immer wieder gern.« Egal wie unhöflich ich war, er würde sich von mir nicht die Laune verderben lassen.
Aus dem Regal neben dem Kühlschrank holte er eine blaue Frühstücksschüssel, aus einer Schublade noch eine Packung Cornflakes. Mit beidem bewaffnet setzte er sich an den weißen Esstisch. Hier war alles weiß, wie in einem Designerkatalog für Möbel und René hatte genug Geld. Wahrscheinlich war tatsächlich die Hälfte seiner Einrichtung von irgendwelchen Designern, von denen ich noch nie in meinem Leben etwas gehört hatte.
»Ich muss heute noch zur Arbeit, du kannst dir mit deinen Cornflakes nicht ewig Zeit lassen.«
Musste er unbedingt jetzt frühstücken?
»Dann such dir eine andere Beschäftigung, eine, bei der du aber das Haus verlässt.« Es war ihm wichtig, dass ich die Tage nicht in meinem Bett verbrachte. Leider hatte er damit recht, dass ich genau das am liebsten tun würde.
Ohne mich um seinen Kommentar zu kümmern, ließ ich mich gegenüber von ihm nieder.
»Also, was ist?«, fragte ich ungeduldig. Geduld gehörte eher weniger zu meinen Stärken.
Er kippte Cornflakes und Milch in die blaue Frühstücksschüssel. Die Milchpackung stellte er mir mehr oder weniger vor meine Nase. Ich mochte das Zeug nicht wirklich und stellte die Packung zur Seite.
»Ich habe ein kleines Problem. Von meinem Patenkind, dass siebzehn ist, ist nun der Vater ums Leben gekommen. Die Mutter ist schon bei der Geburt verstorben. Eigentlich sollte ich sie aufnehmen. Aus einigen Gründen, die ich nicht nennen möchte, ist mir das nicht möglich. Weshalb ich dich fragen will, ob sie bei dir wohnen kann?«
Das war keine Frage, ich hatte keine allzu große Möglichkeit abzulehnen, außer ich fand eine bessere Möglichkeit zum Unterkommen für sein Patenkind.
»Theoretisch geht das schon, beziehungsweise stellt sich mir die Frage, ob dies gesetzlich erlaubt ist.«
»Oui, ist es. Sie wohnt nur bei dir. Ich bin immer noch für sie verantwortlich, jedenfalls solange bis sie achtzehn ist.«
»Sollte ja nicht mehr allzu lange dauern. Wie heißt sie und wo ist sie gerade?«
»Leyla Clavell und zufälligerweise hat sie Schule.« Dabei lachte er.
»Leyla? Hat sie rote Haare?«, fragte ich leicht bestürzt.
»Ja, wieso?« Nun hatte ich ihn leicht verwirrt.
Ich stützte meinen Ellenbogen auf die Tischplatte und mein Kinn in meine Handfläche. Das war nicht sein Ernst, oder? Leider war die Chance, dass es sich hierbei um einen Scherz handelte, nicht besonders groß.
»Sie macht gerade ein Praktikum bei uns in der Praxis. Vor zwei Tagen hat sie mir Tee über die weiße Jeans und meinen Pulli gekippt.«
»Dann hat sie halt Praktikum und deswegen kannst du sie nicht ausstehen?«
Langsam nickte ich. Er schüttelte tadelnd den Kopf. Es war zwar nicht so, dass ich sie nicht ausstehen konnte, doch es gab Menschen, die ich lieber um mich herum hatte. Aktuell am liebsten niemanden.
»Dann freunde dich mit dem Gedanken an. Du weißt, dass sie bei mir nicht wohnen kann.«
Typisch René. Für ihn war nichts zu komplex. Ihm würde nicht einmal im Traum einfallen, dass es mich stören könnte, nicht mehr allein zu wohnen. Im Gegenteil, wahrscheinlich hielt er es auch noch für eine ausgezeichnete Idee. Für eine positive Abwechslung in meinem sonst doch recht grauen, trostlosen Leben, das eher einseitig war. Damit hatte er leider schon wieder recht.
Seine Idee war mir trotzdem nicht besonders sympathisch, allerdings hatte ich auch kein wirkliches Argument, um ihn davon abzubringen.
Kurz warf ich einen Blick auf die Uhr, die über der Küchenzeile an der Wand hing. Noch irgendein Designer-Modell.
Die meiste Zeit versuchte er fleißig, sein Privatleben aus seinem öffentlichen Leben herauszuhalten. Mit mir hatte es auch gut geklappt. Allerdings hatte ich auch kaum bei ihm gewohnt.
»Wenn es sein muss. Wie stellst du dir das vor? Wo soll sie schlafen?«
»Du hast ein Sofa, von mir aus kannst du aber auch umziehen.«
»Nein. Ich bleibe da wohnen, das ist mein Haus.«
Ich würde mein kleines Haus für nichts in der Welt hergeben. Dann musste sie sich eben mit dem Sofa zufriedengeben.
»Darf ich dich daran erinnern, dass ich es gekauft habe?«
Genervt verdrehte ich die Augen. Es war gerade kurz vor neun Uhr morgens und ich war bereit, mich für den Rest des Tages irgendwo zu verkriechen. Meine Laune war auf dem Weg nach unten. In den Keller. Vielleicht brachte sie mir eine vernünftige Flasche Wein mit, wenn sie wieder besser wurde und aus dem Keller kam.
»Wie ist dein Plan?«, überging ich seine Frage.
»Du nimmst sie heute Mittag mit.«
»Du kannst ihr auch einfach meine Adresse sagen.«
»Musst du mir ständig widersprechen?« Er konnte es nicht bleibenlassen zu grinsen.
»Oui, ich hole sie heute Nachmittag hier um 17 Uhr ab. Ich muss jetzt los.« Damit stand ich auf und griff nach meiner Lederjacke, die ich bei meinem Auftauchen über die Stuhllehne gehängt hatte. Theoretisch hätte Leyla auch einfach länger in der Praxis bleiben können, bis ich meine Zeit abgearbeitet hatte. Allerdings bezweifelte ich, dass sie davon begeistert gewesen wäre.
»Au revoir.«, antwortete er noch und ich verließ diese fast schon sterile Wohnung.
Die weiße Wohnungstür schlug ich schwungvoll hinter mir zu und zuckte dabei selbst zusammen.
Das konnte spaßig werden. Leyla und ich. Ob sie schon Bescheid wusste? So wie ich René kannte noch nicht. Die würde sich freuen.
Es gab durchaus Veränderungen, die ich begrüßen konnte. Diese gehörte definitiv nicht dazu. Ein Mitbewohner unter meinem Dach würde nichts außer weitere Komplikationen mit sich bringen.
Am späten Nachmittag, nach einem kaugummiartigen Arbeitstag, fuhr ich mit der U-Bahn zu Renés Wohnung, die am Rande der Stadt im 22. Stock lag.
Kurz nach 17 Uhr betrat ich die weitläufige Wohnung. Leyla – sie hatte früher gehen dürfen – saß an dem weißen Esstisch und als sie mich bemerkte, sah sie alles andere als erfreut aus. Sie wurde rot.
Im Gegensatz zu mir, hatte sie den kleinen Vorfall ganz offensichtlich noch nicht verdaut. Der Verlust der weißen Jeans und des weißen Pullis waren nicht sonderlich schlimm gewesen, denn in der Regel hing ich nicht wirklich an meinen Sachen.
»Ist René da?«, erkundigte ich mich.
»Nein. Er ist vor einer halben Stunde gegangen, er hatte es eilig. Irgendetwas mit einer Werkstatt.«
Also das Übliche, wenn er mal wieder verschwand.
»Okay. Gehen wir einfach. Ich heiße übrigens Aweiku.«
»Aha.« Wohl schien sie sich nicht zu fühlen. »Und du bist die Tochter von René?«
»Ja. Nein. Adoptiert.«
»Zu mir sagte er, du seist seine Tochter.«
»Ja, adoptiert.« Was war daran so schwer zu verstehen?
Mit der rechten Hand auf der silbernen Türklinke wartete ich darauf, dass wir endlich gehen konnten. Ich wollte gehen, wurde ungeduldig.
»Ihr verwirrt mich. Er sagt etwas anderes als du.«
»Können wir jetzt einfach gehen?« Oder sie konnte gleich hierbleiben.
»Ja, natürlich. Und das mit dem Tee tut mir immer noch furchtbar leid!«
»Schwamm drüber.«, mit diesen Worten öffnete ich die Wohnungstür, schloss diese hinter uns ab, und Leyla folgte mir kommentarlos zum Aufzug.
Sie hatte nur einen Rucksack und eine schwarze Sporttasche dabei.
»Ist das alles was du hast?«, erkundigte ich mich, während sich die schweren Türen hinter uns schlossen.
»Ja.«
Mit einem Nicken nahm ich ihre Antwort zur Kenntnis, für lange Reden war ich gerade sowieso nicht zu haben.
Fünfzehn Minuten später hatten wir die U-Bahn erreicht, zumindest fast. Die letzten Meter mussten wir sprinten. Ich sprang über einen Koffer, der im Weg stand, und hinter Leyla durch die sich schließende Tür in die U-Bahn.
»Geschafft.«, keuchte Leyla und ließ sich, mit der Sporttasche auf ihrem Schoß, auf einen Sitz fallen. Neben ihr saß ein älterer Herr, weshalb ich stand. »Ist es eigentlich okay … so wie es jetzt ist?«
»Ja, aber sonderlich erfreut bin ich nicht. Ich bin gerne alleine.«, gab ich unumwunden zu.
»Stören möchte ich natürlich nicht.«
»Wird schon werden. Hat René dir erklärt, wieso er nicht möchte, dass du bei ihm wohnst?«
»Mehr oder weniger.« Das war nicht meine erhoffte Antwort. »Bist du eigentlich auch aus Frankreich, wie René?«
Über ihren Themenwechsel war ich allerdings erfreut.
»Nein.« Das war nur zur Hälfte gelogen. Ich beherrschte teilweise die Sprache und hatte Verwandte in Frankreich, selbst war ich jedoch nie dort gewesen und ich hatte es auch nicht vor.
»Okay.«
»Wie bist du mit René verwandt?«, fragte ich Leyla.
»Er ist mein Onkel, ich hatte davor nicht viel mit ihm zu tun. Zum Geburtstag gab es von ihm meist eine Karte und Geld, mehr hab ich nicht von ihm gesehen. Mein Vater sagte immer, er wäre ein viel beschäftigter und wichtiger Mann.«
»Er ist viel unterwegs, war schon immer so.«
Sie nickte nur und als bei der nächsten Haltestelle ihr gegenüber ein Platz frei wurde, ließ ich mich dort nieder.
Da ich nichts weitersagte, vertiefte sie sich in Smartphone. Abwesend starrte ich aus dem Fenster in die Dunkelheit des Tunnels. Manchmal wurde es wieder hell und eine Bahnstation kam in Sicht. Die Leute stiegen ein und wieder aus, manche rannten, um ihre Bahn zu erwischen.
Anschließend wurde es wieder dunkel und einige Minuten später wieder hell. Wenn die Dunkelheit kam, wurde es schwarz, sobald die Bahnstation auftauchte wurde alles wieder bunt. Fast schon grellbunt.
Leyla Clavell
Ungefähr eine halbe Stunde später stand ich in Aweikus nicht allzu großem weißen Haus am Waldrand im Wohnzimmer. Es wirkte unscheinbar. Es war eines dieser Häuschen, an denen man jeden Tag vorbei lief, jedoch nie registrierte, dass es existierte.
Direkt hinter ihrem Garten, der verwildert war und nicht so wirkte, als würde er überhaupt gepflegt werden, begann der Wald. Um diese Waldstücke hier kümmerte sich niemand, weshalb es noch wilder aussah als in Aweikus Garten. Sich dort herumzutreiben war nicht wirklich empfehlenswert. Es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Wald nur auf eigene Gefahr zu betreten war. Wobei die Schilder auch nur an der Straße standen. Wer von der anderen Seite kam, hatte Pech gehabt.
Als ich in dem Gang meine Schuhe auszog, führte ein kurzer Flur mit rotem Teppich in das Wohnzimmer und in die Küche, die Küchenzeile war hauptsächlich in Weiß gehalten. In dem Flur standen viele bunte Turnschuhe durcheinander und an den Haken an der Wand hing eine Motorradjacke und die Lederjacke, die Aweiku gerade ausgezogen hatte.
Auf einer Ablage lag ein schwarzer Motorradhelm mit einem dunkel verspiegelten Visier. Mir war Motorradfahren zu gefährlich, aber der Helm sah gut aus.
Am Ende des kleinen Flurs führte eine Treppe nach oben, die ebenfalls mit dem roten Teppich überzogen war.
Neben der Treppe stand ein Sofa, hinter dem Sofa stand ein schwarzes Klavier und hinter dem Instrument stand ein Bücherregal. Vor dem Klavier war noch ein Zimmer. Die Tür stand einen Spalt weit offen und ich vermutete, dass dies das Badezimmer war. Mitten im Raum befand sich ein Esstisch mit einer Glasplatte, die in einem dunklen Holzrahmen eingefasst war und dahinter eine Balkontür. Treppenstufen führten in den nicht allzu ordentlichen Garten, am Ende war das Unkraut zwei Meter hoch. Rechts war die Küche.
Ich hängte meine Jacke ebenfalls an den Haken und stellte meine Turnschuhe zu ihren dazu. Im Gegensatz zu Aweiku hatte ich meine Jacke nicht angehabt. Draußen schien die Sonne.
»Du kannst dich in Ruhe umschauen. Oben ist noch ein Schlafzimmer und Badezimmer.«
Sie wartete nicht auf meine Antwort und verschwand in dem unteren Badezimmer. Ich stellte den schwarzen Rucksack, der mit bunten Noten bedruckt war, neben den Esstisch und nahm die Treppe nach oben.
Zwischen dem Badezimmer und Schlafzimmer stand noch ein Schreibtisch und mehr Zimmer gab es nicht. Das Haus war schön und ich hatte auch nicht erwartet, dass es für mich ein eigenes Zimmer gab, aber ein Bett ... für mich blieb wohl die Couch im Wohnzimmer? Ich hatte recht gehabt mit meiner Vermutung. Nachdem ich noch einen Blick in das obere Badezimmer geworfen hatte, begab ich mich wieder zu Aweiku, die gerade eine Decke in einen Bettbezug schüttelte und auf die Couch legte.
»Ich habe keine unendliche Wohnfläche zur Verfügung, weshalb du vorerst hier schlafen musst.« Sie klang etwas genervt und mein Gewissen meldete sich. Dabei hatte ich nicht einmal etwas falsch gemacht. Der Vorfall mit dem Tee war eine Ausnahme gewesen, aber dieser war für sie scheinbar schon längst abgehakt. Mir hingegen war es einfach nur unglaublich peinlich. Außerdem hatte René mich zu Aweiku geschickt und darauf hatte ich keinen Einfluss gehabt.
Ich nickte und ließ mich auf das graugrüne Sofa fallen, dessen Farbe sich etwas mit dem roten Teppichboden biss, andererseits passte es auch wieder gut zusammen. Dies war definitiv Geschmackssache.
Aweiku packte einige Sachen in der Küche zusammen, stand auf und lief wortlos die Treppe hinauf. Hinter ihr schwebte unbemerkt ein Blatt zu Boden. Ich streckte mich und hob das Blatt auf. Es war eine graue Bleistiftzeichnung mit vielen dünnen Bleistiftstrichen. Manche waren kaum zu sehen, andere hingegen in das Papier gedrückt, so dass eine kleine Vertiefung entstanden war. Scheinbar war die Zeichnung noch nicht fertig, denn es war erst die Hälfte eines Gesichts zu sehen.
So als wäre nichts gewesen, legte ich die Zeichnung auf die Glasplatte des Esstisches. Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie mir die Zeichnung überhaupt hatte zeigen wollen. Noch konnte ich Aweiku nicht wirklich einordnen. Sie wirkte affektiert.
Je später es wurde, desto schweigsamer wurde Aweiku und beim Abendessen, was aus Spagetti Bolognese bestand, sprach sie kein einziges Wort. Ihr Schweigen konnte ich mir schwer erklären. Nach dem Essen verschwand sie mit einem leisen Gute Nacht, bis morgen nach oben und tauchte auch nicht mehr auf.
Da sie ihren Teller auch nicht weggeräumt hatte, spülte ich die beiden kurz unter laufendem Wasser ab und stellte sie anschließend in die Spülmaschine.
Aus meinem Rucksack nahm ich mein Smartphone und die weißen Kopfhörer heraus und setzte mich mit dem Rücken gegen die Couch auf den roten Teppichboden.
Gegen Mitternacht begab ich mich in mein Bett. Eher auf die graugrüne Couch und kuschelte mich mit meiner Musik unter die Decke.
Ich wollte nicht hier sein. Aweiku war keine Person, die ich mochte. Sie war mir zu kalt. Es wäre mir lieber gewesen, noch bei René zu bleiben, andererseits wäre ich mir dort auch einsam vorgekommen. Ganz einfach, dort, wo ich zuhause war, wollte ich sein, auch wenn es dieses Zuhause nicht mehr so gab wie vor ein paar Wochen.
Mein Wecker akzeptierte meine Beziehung zu meinem Bett einfach nicht und wurde jeden Morgen eifersüchtig. Als ich mich herumdrehte, fiel ich fast von der Couch und erinnerte mich, dass ich nicht in meinem Bett lag. Dafür hatte ich aber erstaunlich gut geschlafen und mein Wecker konnte froh sein, dass er in meinem Smartphone lebte, sonst wäre er schon längst gestorben. Indem ich ihn gegen die Wand geworfen hätte.
Müde stand ich auf und tapste noch leicht benommen vom Schlaf zu dem Glas Wasser auf dem Esstisch.
Mein Hals war trocken.
Ich hatte das Glas schon in der Hand, als mir eine neongelbe Haftnotiz auffiel, die auf der Tischplatte klebte.
Morgen, ich bin schon los. Irgendwas wirst du schon zum Essen finden. Du kommst am besten mit der U-Bahn zum Praktikum. Wirst du schon finden.
Ihre Handschrift war so speziell wie ihre Zeichnung von gestern. Klein und mit vielen Kurven. Fast hätte man meinen können, die Nachricht wäre mit einem Computer geschrieben worden.
Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass sie gefrühstückt hatte.
Nach einem kurzen und mageren Frühstück, welches aus Toast bestand, weil ich sonst nichts im Kühlschrank gefunden hatte, sortierte ich meine Sachen zusammen, die ich für das Praktikum brauchen würde, und machte mich auf den Weg. Ich hatte nicht wirklich eine Ahnung, welchen Weg ich einschlagen sollte.
Wo die nächste U-Bahn-Station war, wusste ich, allerdings gehörte ich nicht zu den Leuten, die jeden Tag U-Bahn fuhren. Wenn es hoch kam, vielleicht vier Mal im Jahr und genau dann meist nicht alleine.
Es kam mir so vor, als würde Aweiku nicht zu den Menschen gehören, die gerne Auskunft gaben. Ein schöner Vorgeschmack darauf, sich in einer fremden Umgebung selbst zurechtzufinden. Ich versuchte, es als nützliche Prüfung für später zu sehen.
Obwohl ich schon siebzehn Jahre in dieser Stadt wohnte, kam ich mir in den U-Bahn-Stationen verloren vor. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich musste. Das Einzige, was mir einigermaßen Orientierung gab, waren die Schilder. Hoffentlich kam ich nicht komplett zu spät oder fuhr in die falsche Richtung. Eigentlich hätte Aweiku mich mitnehmen können, doch das schien sie nicht für nötig zu halten. Stattdessen machte sie sich ein paar Stunden vor Arbeitsbeginn aus dem Staub.
Nach einigem Suchen und Lesen der Auskunftstafeln fand ich doch noch die U-Bahn, die in den südlichen Teil der Stadt fuhr.
Etwa zwanzig Minuten später kam ich die U-Bahntreppe hinauf und war froh, aus den Gängen herausgefunden zu haben. Die waren eher weniger mein Fall. Zwar hatte ich keine Platzangst, trotzdem war mir das Ganze nicht wirklich geheuer.
Es war kurz nach acht und ich hatte keine Lust zu rennen, somit würde ich noch ein bisschen später kommen. Morgen würde ich eine Bahn früher nehmen müssen und Aweiku fragen, ob es eine gab, bei der man nicht viermal umsteigen musste.
Als ich endlich vor der Praxis ankam, parkte Niva Valluzzi, die auf mich aufpasste, gerade rückwärts ein. Nach dem Tee-Unglück meinte sie tatsächlich zu mir, ich sollte in Zukunft aufpassen, wo ich hinlief.
Ich beschloss, auf sie zu warten und schaute ihr noch dabei zu, wie sie rückwärts elegant in einem Zug einparkte.
Herzlichen Glückwunsch, dachte ich mir. Nicht mal mein Vater hätte in einem Zug rückwärts eingeparkt. An ihn wollte ich im Augenblick jedoch nicht denken, für Trauer hatte ich keine Zeit. Später. Am besten nie. Und doch war es manchmal nötig.
Niva Valluzzi
Aweiku lief noch einige Male an mir vorbei. Während ihrem Spaziergang durch die Praxis schickte ich die letzte E-mail für heute ab und fuhr anschließend den Computer herunter. Da Leyla schon vor einer ganzen Weile gegangen war, musste ich meine beiden Tassen selbst in die Spülmaschine räumen.
Im Pausenraum stand Aweiku, konzentriert in ihr Smartphone vertieft, neben einem Stuhl, über dessen Lehne sie ihre Jacke gehängt hatte. Eine der beiden Tassen trank ich noch aus und beobachtete dabei Aweiku über den Tassenrand. Irgendwann hob sie ihren Blick.
»Ist irgendwas?«
Mit Freundlichkeit war es bei ihr nicht so weit her.
»Nicht, dass ich wüsste.« Sie griff nach ihrer Jacke und flüchtete zur Tür hinaus. »Dir auch noch einen schönen Abend!« Ich lauschte noch bis die Eingangstür ins Schloss fiel. Eine Antwort bekam ich nicht.
Man konnte sie herrlich leicht provozieren. Wobei ich es nicht immer darauf anlegte.
Die einzige Person, die noch in ihrem Büro war, war einer der beiden Ärzte selbst. Der andere war aktuell im Urlaub. Ich verabschiedete mich noch von dem Arzt im Büro und verließ ebenfalls das Gebäude. Draußen wartete Fiona, eine Freundin, auf mich.
In meiner Freizeit unterrichtete ich zweimal die Woche Kickboxen, wohin Fiona gelegentlich mitging. Auch wenn sie keine endlose Begeisterung für diesen Sport an den Tag legte, schon gar nicht als Raucherin, war sie dafür ganz gut unterwegs.
»Und, wie war dein Tag?«, begrüßte ich sie.
Freundschaften liefen bei mir in der Regel relativ oberflächlich ab. Ich legte kein übermäßiges Interesse dafür an den Tag, weswegen wir uns auch nur sehr unregelmäßig sahen. Meist fragte sie mich, ob ich etwas unternehmen wollte. Bei Konversationen hielt ich mich am liebsten an neutrale Themen, das war sicheres Terrain.
Auch was Informationen über mich betraf, war ich nicht besonders mitteilsam. Es würde wahrscheinlich nicht gut ausgehen, würde ich jemand von meinen ehemaligen Freizeitaktivitäten erzählen.
Ich drückte ihm noch kurz einen Kuss auf die Wange, schlug die Bettdecke zurück und stellte meine nackten Füße auf den kalten Holzboden. Durch das geöffnete Fenster drang der Lärm des frühmorgendlichen Verkehrs. In einer halben Stunde musste ich in der Schule sein. Mein Frühstück würde ich mir unterwegs irgendwo mitnehmen.
In der Nacht hatte es geregnet. Nun wurde die Sonne von wenigen weißen flauschigen Wölkchen begleitet, hoffentlich wurde es wieder so warm wie gestern. Wobei ich mit so ziemlich jedem Wetter zurechtkam.
»Musst du schon gehen?«
Ich drehte den Kopf, sah über meine eigene Schulter. Er hatte die Augen noch geschlossen und die Decke bis zum Kinn hochgezogen.
»Ich habe heute nicht frei.« Er schmunzelte. »Und in der Schule sollte ich mich blicken lassen.«
Nun öffnete er doch die Augen. »Das solltest du auch weiterhin. Ich möchte dich nicht eines Tages vom Strich pflücken müssen.«
Die Polizei betrieb in einigen Vierteln der Stadt eine fast aussichtslose Jagd gegen Zwangsprostitution. Doch mich würde er dort nicht finden, auch wenn ich mich in den betroffenen Gebieten gerne aufhielt und auskannte. Jedoch nicht um auf den Strich zu gehen.
»Keine Sorge, dort wirst du mich nicht finden.« Er war sich noch nicht ganz sicher, ob ich wirklich Prostituierte war oder nicht. Denn ich wollte Informationen für meine Dienste. Kein Geld. Ich würde alles tun was nötig war, um an die Informationen zu kommen, auf die ich angewiesen war. Ohne die Informationen, konnte ich meine Aufträge nicht ausführen.
Ich erhielt keine Antwort. Schweigend stand ich auf, sammelte meine Unterwäsche, Jeans und mein T-Shirt ein. Mein roter Spitzenschlüpfer hatte die Nacht nicht überlebt, doch ich hatte einen Satz Wechselklamotten dabei. Ich war vorbereitet.
Meinen Eltern hatte ich erzählt, ich würde bei einem Freund übernachten. Bisher hatte auch noch niemand Verdacht geschöpft und es war mir recht, wenn dies weiterhin so bleiben würde. Niemand musste von meinen illegalen Tätigkeiten Wind bekommen. Schon gar nicht meine Eltern, deren Reaktion und folgende Konsequenzen ich mir lieber nicht vorstellen wollte. Schließlich war der Polizist so alt wie mein Vater. Wenn nicht sogar ein bisschen älter. Allerdings machte mir die Sache Spaß, es war einfach aufregend und abwechslungsreich.
Ich stattete der Dusche einen ausgesprochen kurzen Besuch ab und hüpfte anschließend in meine Klamotten. Ein Blick in den Spiegel zeigte mir, dass meine Augenringe auch nicht schlimmer waren als sonst, obwohl die Nacht lang gewesen war.
Mit ein bisschen Concealer, wie jeden Morgen, war die Sache gerettet. Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer versuchte ich mir hüpfend die grauen Socken anzuziehen. Der Polizist hatte es immer noch nicht aus dem Bett geschafft und ich musste mich beeilen, wenn ich noch ein Frühstück wollte. Was ich um jeden Preis noch wollte. Wäre ich nicht so spät dran gewesen, hätte ich noch hier essen können.
Ich suchte meine restlichen Sachen zusammen, schulterte meinen Rucksack und beugte mich noch einmal zu dem Polizisten herunter, um ihn zu küssen.
Während andere in meinem Alter normale Beziehungen mit Gleichaltrigen führten und mit Beziehungsproblemen kämpften, zerbrach ich mir den Kopf darüber, wie ich meinen nächsten Auftrag ausführen und welche Lüge ich meinen Eltern als nächstes auftischen würde.
Wenn ich meine Aufträge nachts ausführte, stieg ich, sobald ich theoretisch schlafen gegangen war, einfach aus dem Fenster.
»Der Ordner liegt auf dem Küchentisch, entsorge ihn zuverlässig, wenn er dir ausgedient hat.« Meine Informationen. Zweifellos eine Kopie, doch das reichte.
»Werde ich.«
Er drehte sich um.
»Ich melde mich, wenn ich wieder etwas für dich habe. Übrigens - die rote Unterwäsche gefällt mir.«
»Mir auch.« Damit verabschiedete ich mich. In der Küche sammelte ich den Ordner ein und schloss den letzten Reißverschluss meines grauen Rucksacks.
Es würde nicht allzu lange dauern und ich würde wieder hier vorbeischauen.
Beim Verlassen des Hauses lief ich den Nachbarn über den Weg, die mich freundlich grüßten.
Ihnen hatte mich der Polizist als seine Tochter vorgestellt. Ich lief schließlich nicht wie eine Nutte durch die Gegend.
Bei einem Bäcker organisierte ich noch mein Frühstück und drückte anschließend, wie alle meine Freunde, noch sechs Stunden die Schulbank.
»Das Übliche. Zwei gestohlene Fahrzeuge, mehrere Ruhestörungen und eine Leiche aus dem Rotlichtmilieu.«, riss Fiona mich aus meinen Gedanken. »Für die Leiche bin allerdings nicht ich zuständig. Ich bin ja nicht die Mordkommission.«
»Und, wie weit bist du bei deinem Fall?«
Sie ging davon aus, dass ich den Inhalt ihres Falles nicht kannte. Doch aus purer Neugierde hatte ich vor einer Weile einen meiner noch vorhandenen Kontakte bei der Polizei bemüht. Er hatte nicht allzu viel herausgefunden. Fiona achtete sorgsam darauf, wem sie was erzählte, da einige im Rotlichtmilieu selbst Kontakte zur Polizei hatten.
Ich wusste lediglich, dass sie versuchte, eine verschwundene Person ausfindig zu machen. Die wohl eine Kronzeugin war.
»Noch nicht so weit.« Das war ihre Standardantwort.
Wir kamen bei der kleinen Halle an, in der das Kickboxen stattfand. Damit war das Gespräch beendet. Noch war niemand außer uns anwesend.
Einige Minuten später trudelten die Ersten bereits ein, unter anderem auch Leyla mit ihrer Freundin, die sich eher selten blicken ließ. Sie hatte mir einmal erklärt, dass sie sich diesen Sport eigentlich nicht leisten konnte. Und auf mein Angebot, dass sie einfach nichts zahlte, war sie bisher nicht eingegangen. Ich hatte den Eindruck, sie schämte sich dafür, nichts zahlen zu können.
Schließlich musste ich nicht davon leben. Hauptsächlich waren die Mitgliederbeiträge dafür da, um die Halle in Form zu halten.
Ich begann mit dem Aufwärmtraining und der Abend schien doch noch vielversprechend zu werden.
Leyla Clavell
Ich lag bei Aweiku auf der graugrünen Couch und versuchte Englischvokabeln zu lernen. Lust dazu hatte ich keine. Währenddessen spielte Aweiku mir etwas auf dem Klavier vor, auch wenn es eigentlich nicht mit Absicht für meine Ohren bestimmt war.
Zwar hatte ich aktuell Praktikum, doch meine Fremdsprachenkenntnisse waren alles andere als gut. Würde ich mich noch mehr verschlechtern, würde meine Versetzung gefährdet sein.
Zweimal hintereinander fiel mir das Buch ins Gesicht und nach dem dritten Mal setzte ich mich auf.
»Fehlt dir die Intelligenz, das Buch festzuhalten?«, fragte mich Aweiku und lachte leise. Sie lachte selten. Manchmal wirkte ihre Mimik fast schon künstlich.
Ich legte den Kopf schief. »Irgendwie schon.«
Sie schüttelte leicht den Kopf und widmete sich dann wieder ihren Noten. Klavier spielen konnte sie und sie tat es oft. Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt war, sich irgendwo herumzutreiben, saß sie auf den Betontreppen, die in den Garten führten. Die Zigarettenfilter ließ sie oft einfach liegen.
Mein Handy piepte und ich hängte mich kopfüber von der Couch. Es lag auf einem der dunklen Holzstühle, die bei dem Esstisch standen und deren Sitzfläche die gleiche Farbe wie der Teppichboden hatte. Jedenfalls war ich zu faul, um aufzustehen. Das Englischbuch verabschiedete sich von mir und klatschte auf den Boden.
»Was wird das?«
»Lass dich nicht stören.«, entgegnete ich und pflückte mit einer Verrenkung mein Handy von der Sitzfläche des Stuhles, ohne dass es mit dem Boden Bekanntschaft machte. Wobei ich mir nebenbei ganz locker die Schulter hätte auskugeln können.
»Eigentlich solltest du doch lernen.«, bemerkte sie und hörte auf zu spielen.
Ich richtete mich auf und warf ihr über die Couchlehne hinweg einen Blick zu.
»Ich weiß und ich weiß auch, dass ich dazu keine Nerven habe. Sprachen sind so anstrengend. Es gibt Dinge, die ich lieber mag.«
»Wie zum Beispiel Shain.« Meine Freundin.
Ich merkte, wie ich rot wurde. Gesagt hatte ich ihr nichts, doch sie war ziemlich aufmerksam, zu aufmerksam. Vielleicht hatte auch Niva ihr etwas erzählt. Wobei die beiden nicht den Eindruck erweckten, als hätten sie viel miteinander zu tun. Es war eher so, dass Niva es nicht lassen konnte, ihr manchmal hinterher zu starren. Aweiku hatte dazu bisher nichts gesagt und verhielt sich Niva gegenüber distanziert. Mehr war allerdings zwischen den beiden nicht ersichtlich.
»Ja. Schon.«
Sie machte sich nicht die Mühe mir zu antworten und spielte dort weiter, wo sie aufgehört hatte. Zumindest ging ich davon aus.
Die Nachricht war von Shain. Sie erkundigte sich, ob ich Zeit hatte. Aweiku hatte theoretisch zwar recht, dass ich eigentlich lernen sollte, doch in der Praxis klappte ich lieber das Buch zu, legte es auf den Tisch und antwortete Shain, dass ich Zeit hatte.
»Ich geh dann mal, die Vokabeln können sicher warten.«
Aweiku drehte sich nicht einmal zu mir um. »Wie du meinst. Bis später.«
Sie fragte mich nicht, wohin oder bis wann ich wiederkommen würde, für mich war das Luxus. Andererseits war sie auch nicht für mich verantwortlich, sie beherbergte mich lediglich. Und jedes Mal René zu fragen, wäre zu umständlich gewesen.
»Kann sein, dass ich nicht da bin, wenn du wiederkommst.«
Ich drehte mich noch einmal um und flocht meine erdbeerroten Haare zu einem seitlichen Zopf.
»Wo bist du denn?«
Sie würdigte mich immer noch keines Blickes, sondern schenkte ihre Aufmerksamkeit einem Stapel Noten, den sie sortierte.
»Nicht so wichtig.«
In dem kleinen Flur setzte ich mich auf den roten Teppichboden und schnürte meine Turnschuhe.
»Aha.«, ich stand wieder auf, »Wieso kannst du mir nicht sagen, wo du hingehst?«
Nun sah sie doch auf.
»Das kann dir egal sein. Du musst mir nicht sagen, wohin du gehst und ich muss dir nicht sagen, wohin ich gehe.«
Meine Lederjacke mit Kapuze angelte ich vom Haken an der Wand. Es war nicht sonderlich warm draußen und regnerisch noch dazu.
»Und wenn es das aber nicht ist? Ich bin keine fünf mehr.«
»Das hat nichts mit dem Alter zu tun, wir kennen uns kaum.«
Da hatte sie auch wieder recht und ich war mir nicht ganz so sicher, ob ich sie jemals kennen würde. Von der Kommode unter den Jacken nahm ich den Hausschlüssel, der für mich bestimmt war. Kurz lauschte ich den hohen Klängen ihres Klaviers.
Anschließend verließ ich ohne ein weiteres Wort das kleine weiße Haus und blieb auf der Treppe stehen. Es regnete mehr als erwartet.
Ich schloss den Reißverschluss meiner schwarzen Lederjacke und stülpte mir die Kapuze über den Kopf.
In der Dunkelheit schlenderte ich durch die leeren Straßen. Es war niemand zu sehen und ich genoss die kühle Stille. Meine Hände versenkte ich in den Jackentaschen. Mit meinen Kopfhörern in den Ohren sprang ich über einige dunkle Regenpfützen, die sich in den Vertiefungen der Betonplatten bildeten.
Ich mochte den Regen und die Nacht, es gab nur wenige Dinge, die mystischer waren.
Shain wohnte in einem Häuserblock, zu Fuß etwa zwanzig Minuten von Aweikus Haus entfernt. Es war auch näher am Stadtzentrum. Allerdings in einer übleren Gegend.
Zwanzig Minuten später war ich bei dem Häuserblock angekommen. Alles war modrig und der Putz blätterte von den verdreckten Wänden. Diese hatten vor vielen Jahren wahrscheinlich eine gelbe Farbe getragen.
Vor einem Haus war die Restmülltonne umgekippt und die Essensreste lagen verstreut über den Weg. Es würde nicht allzu lange dauern und irgendein Ungeziefer würde eintreffen. Das Fenster darüber war dunkel und eingeschlagen. Vorsichtshalber nahm ich meine Kopfhörer aus den Ohren und zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht.
Normalerweise wäre Shain zu mir gekommen, allerdings wollte ich ihr aktuell noch nicht ganz erklären, warum ich bei Aweiku eingezogen war. Es war für mich noch etwas schwierig, mit der ganzen Situation zurechtzukommen.
Von heute auf morgen war mein Vater nicht mehr zur Haustür hereingekommen. Nun gab es kein Elternteil mehr für mich. René war mit seinem eigenen Leben beschäftigt und von Aweiku konnte man sowieso nicht allzu viel erwarten. Auch wenn ich noch nicht ganz ergründet hatte, was eigentlich ihr Problem war.
Zugegeben, manchmal kam ich mir etwas erschlagen vor von der Welt. Ich musste mich nicht mehr mit meinem Vater streiten, egal aus welchem Grund auch immer. Und ich vermisste es. Ein bisschen zumindest.
Fast hatte ich das Gefühl, dass es nun an der Zeit war, möglichst schnell erwachsen zu werden. Mit achtzehn würde ich bei Aweiku ausziehen. Dann würde ich alleine dastehen mit finanzieller Unterstützung von René. Dies war immerhin ein positiver Aspekt. Meine Gedanken schob ich zur Seite.
Shain steckte selbst bis zum Hals in Schwierigkeiten. Sie konnte es kaum erwarten, bis sie achtzehn war. Ihre Eltern würden sie ab ihrem Geburtstag wahrscheinlich nie wiedersehen. Sie wollte nicht in der sozialen Unterschicht feststecken.
Ich hoffte sehr, dass wir gemeinsame Sache machen würden, dann wäre keine von uns beiden alleine.
Vor dem Haus, in dem Shain wohnte, schickte ich ihr eine kurze Nachricht und die Haustür summte. So schnell es ging, drückte ich die Tür auf und schloss sie hinter mir.
Ich hatte zwar keine Angst vor Spinnen, ließ das Licht aber aus, um die Aufmerksamkeit der Bewohner nicht auf mich zu ziehen. Diese Gegend war mir unglaublich suspekt. So leise wie es ging, schlich ich die kalten weißen Marmorstufen hinauf. Plötzlich ging das Licht an und ich stand völlig verschreckt mitten auf der Treppe.
Ein Mann kam mir entgegen und warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte mit den Schultern, machte Platz und er lief kommentarlos an mir vorbei. So schnell und so leise wie es ging, sprintete ich das Treppenhaus hinauf. Ich wurde noch schneller, als in einer Wohnung jemand brüllte.
Hier traf man durchaus Gestalten, die man sonst nachts an Bahnhöfen traf. Oder in U-Bahnstationen. Es war einfach verdammt unheimlich und langsam kam ich mir dämlich vor. Endlich war ich an der rettenden Wohnungstür angekommen und Shain sprang mich an.
»Ich hätte auch zu dir kommen können.«, bemerkte sie als ich sie wieder auf den Boden abstellte.
Sie war ungefähr so groß wie ich.
»Nein.«
Sie nahm meine Hand und zog mich in die Wohnung. Diese war nicht besonders groß, aber leer, da ihre Familie nicht besonders viel besaß. Ich schloss die zerkratzte Wohnungstür hinter mir und streifte meine Kapuze ab.
»Du hast mir noch nicht wirklich erzählt wieso.«
Das hatte mir noch gefehlt. »Shain, bitte. Ich will das jetzt noch nicht erklären.«
Mit ihren dunklen Augen musterte sie mich konzentriert. »Alles in Ordnung?« Sie kannte mich einfach zu gut.
»So ziemlich.«, wich ich ihr aus.
»Du bist immer noch eine katastrophale Lügnerin.« Leider. Wahrscheinlich würde das auch immer so bleiben.
Bevor Shains Vater mitbekommen konnte, dass ich anwesend war, zog sie mich an der Hand in ihr Zimmer und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Er war nicht wirklich glücklich über ihre Beziehung mit mir. Gelegentlich waren deswegen bei Auseinandersetzungen schon Teller und Flaschen geflogen.
Wobei bei mir eher die Frage aufkam, ob nicht der ganze Alkohol sein Gehirn außer Funktion gesetzt hatte und er deshalb der Meinung war, dass ich seiner Tochter nicht guttun würde. Ihm tat jedenfalls der Alkohol nicht gut.
Shains Mutter hatte ich bis heute nicht kennengelernt. Sie war die meiste Zeit damit beschäftigt, den katastrophalen Haushalt mit Geld zu versorgen. Oder einfach abwesend. Scheinbar beides. Shain wollte nicht allzu viel dazu sagen.
Heute stolperte man kaum über leere Flaschen, scheinbar hatte Shain sie heute schon abgegeben. Sie bekam kein Taschengeld, von wem auch? Das Geld der leeren Flaschen behielt sie für sich, hier wimmelte es schließlich nur so von Flaschen.
Mit Nebenjobs war es bei ihr nicht so weit her. Manchmal hatte sie welche und dann wieder nicht.
Bisher hatte ich mitbekommen, dass es der Nachwuchs aus solchen Familien nicht weit schaffte. Sie bewies das Gegenteil. In der Schule war sie besser als ich und außerdem wollte sie unbedingt studieren. Da sie sich für sehr viel interessierte, fiel ihr die Wahl bisher noch etwas schwer.
Aber sie hatte sich in den Kopf gesetzt, etwas aus sich zu machen.
Bevor ich reagieren konnte, hielt sie mir begeistert ein Buch unter die Nase.
»Das Geld hat heute dafür gereicht!«
Ein Fachbuch über Pilze. Bei aller Liebe, es gab spannenderes als Pilze! Für Shain heute allerdings nicht.
»Glückwunsch!«
Somit war auch schon klar, was wir heute machen würden. Uns mit Pilzen befassen. Absolut nicht mein Fall.
Fiona Fizion
Ich durchsuchte die bunten Zettel auf meinem Tisch, fand jedoch nichts Brauchbares. Irgendwann sollte ich doch noch meinen Papierkrieg ordnen, anstatt fleißig weiter zu stapeln. Mein Kollege lachte mich jedes Mal aus, wenn ich einen Termin verschlief und ich mich damit verteidigte, dass ich ihn mir aufgeschrieben, aber den Zettel verlegt hatte.
Wie auf Kommando ging die Tür auf und ohne anzuklopfen betrat besagter Kollege mein Büro. An Höflichkeit mangelte es bei ihm mir gegenüber ungemein, allerdings kannten wir uns schon sehr lange.
»Was gibt es Neues?«, erkundigte ich mich.
»Ein geblitztes Motorrad, zwei Unfälle und eine Leiche aus dem Rotlichtviertel.«
Er ließ sich auf dem schwarzen Besucherstuhl vor mir nieder und legte zwei Aufnahmen der Leiche vor mir auf den Schreibtisch.
»Was ist passiert?« Der Frau war die Halsschlagader durchtrennt worden.
»Wahrscheinlich hat jemand mitbekommen, dass sie gestern hier auf der Wache war. Sie wollte ursprünglich eine Anzeige aufgeben, hat es sich bei der Vernehmung allerdings anders überlegt.«
»Und was hat das mit unserem Fall zu tun?«
»Sie hat ein illegales Bordell genannt, die Hausdurchsuchung findet heute Abend statt. Ich denke das Ergebnis sollten wir uns morgen anschauen.«, schlug er vor. Wir waren nicht an der Hausdurchsuchung beteiligt, konnten aber Einblick in die Ergebnisse erhalten.
»Das ist alles ein bisschen verzweifelt.« Ich lehnte mich zurück. »Gestern Abend habe ich mich noch einmal durch die Akte und den aktuellen Ermittlungsstand gewühlt. An sich finde ich die Idee, das Unkraut an der Wurzel auszureißen, statt immer nur die Blätter zu stutzen, echt nicht schlecht, nur scheint unsere gesuchte Zeugin unauffindbar.«
»Wer nicht gefunden werden will, wird erfinderisch.«, bemerkte Nico nur und ließ die beiden Fotos in einem braunen Briefumschlag verschwinden.
»Man kann aber nicht dauerhaft verschwinden, und innerhalb von ungefähr sechs Jahren verwest eine Leiche nur, wenn die Umweltbedingungen passend sind.« Gut, das mit der Verwesung war ein bisschen komplexer. Wenn eine Leiche in einen Tümpel mit Tieren geworfen worden war, war nach einigen Monaten vielleicht nur noch das Skelett übrig. Anhand des Gebisses ließ sich ein Mensch allerdings immer noch identifizieren.
»Dann fangen wir von vorne an!«, meinte Nico optimistisch und ich seufzte genervt. Das war bereits das dritte Mal und bekanntlich waren aller guten Dinge drei.
»Vielleicht haben wir noch etwas Entscheidendes vergessen.«
»Das hast du letztes Mal auch schon gesagt.«, beklagte ich mich.