Die letzten Hexen von Blackbird Castle - Stefan Bachmann - E-Book

Die letzten Hexen von Blackbird Castle E-Book

Stefan Bachmann

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Beschreibung

Als eine Vogelscheuche über den Gartenzaun klettert und der zwölfjährigen Zita Bridgeborn einen Brief überreicht, beginnt das Abenteuer ihres Lebens. Sie soll ein Schloss geerbt haben und nicht nur das: Eine Hexe soll sie auch noch sein! Doch Zita kennt weder praktische Zaubersprüche, noch hat sie einen fliegenden Besen. Sie weiß auch noch nicht, dass sie bald auf uralte Familiengeheimnisse, Geister und allerhand magische Kreaturen stoßen wird. Kann sie das Erbe von Blackbird Castle retten?

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Stefan Bachmann

Die letzten Hexen von Blackbird Castle

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Schäfer

Diogenes

Für Hanni und Leo

Kapitel eins

Es war der erste Herbsttag, als ich in Blackbird Castle eintraf. Die Bäume leuchteten kupferrot und grün, Kürbisse wuchsen entlang des Straßengrabens, und der Mond war bereits wie ein halbgeschlossenes, silbriges Auge am Abendhimmel erschienen – kurzum, es war der ideale Tag für eine Hexe, um an ihren Familiensitz zurückzukehren. Doch natürlich wusste ich zu diesem Zeitpunkt rein gar nichts über Hexen. Meine Gedanken drehten sich um naheliegendere Dinge: die Feder, die sich durch das Samtpolster der Kutschenbank gebohrt hatte und mir in den Rücken stach, die Kälte, durch die ich schon ganz steif gefroren war, und der Ruck, mit dem die Kutsche plötzlich mitten auf der Straße angehalten hatte.

Der Kutscher steckte sein rotwangiges Gesicht zum Fenster herein. »So, Endstation, Miss«, grummelte er. »Hier musst du aussteigen, weiter fahr ich nicht.«

Ich blinzelte ihn an. Dann kletterte ich aus der Kutsche, wobei ich meine Reisetasche hinter mir herzerrte. Wir standen an einem einsamen Berghang. Zu meiner Linken erstreckte sich ein Wald, rechts fiel eine Schlucht steil ab, und irgendwo weit unten in der Tiefe rauschte ein Fluss.

»Ich muss aber nach Blackbird Castle«, sagte ich. »Wo liegt das denn von hier aus?«

»Es nicht mehr weit«, antwortete der Kutscher und deutete den Berg hinauf. »Vorausgesetzt, du kannst fliegen.«

Ich schaute in die Richtung, in die er zeigte, und das Herz rutschte mir in die Hose. Ein Weg, unterbrochen von zahlreichen Brücken, schlängelte sich kreuz und quer durch die Felsen und über die bewaldeten Hänge. Und weit, weit oben sah ich die Türme eines Schlosses, die nur knapp die Kronen der großen alten Bäume überragten. Vereinzelte Lichter funkelten wie wachsame Augen durch die Dämmerung.

»Sie könnten mich nicht vielleicht doch mit der Kutsche dort raufbringen?«, fragte ich, so höf‌lich ich konnte. »Ich habe schließlich für die ganze Strecke bezahlt.«

»Du hast mir nicht annähernd genug bezahlt, um mich dazu zu bringen, dich direkt vor der Tür der Blackbirds abzusetzen«, erwiderte der Kutscher und spuckte auf die Straße. Seine großen tintenschwarzen Pferde schnaubten und scharrten mit den Hufen. Ihr Atem kondensierte in der kalten Luft zu weißen Wölkchen. »Nicht für alles Gold im Westval fahr ich da rauf! Und übrigens, was will eigentlich so ein Gör wie du da oben?« Sein Blick verfinsterte sich. »Du bist doch nicht etwa eine von denen, oder?«

»Nein«, antwortete ich, doch insgeheim dachte ich: Aber ich hoffe, es sehr bald zu sein.

Der Kutscher starrte mich jetzt aufmerksamer an, und seine Augen glänzten wie zwei blanke Münzen unter der breiten Hutkrempe. »Du kennst doch wohl die Geschichten über die? Über ihre alte Hexenkönigin, die die Herzen ihrer Feinde zum Mittagessen verspeist hat, gekocht, auf einem Gemüsebett? Und dass alle silberne Scheren an ihren Gürteln getragen haben, kein Mensch weiß, warum? Und Betsy Gilford hat mir mal erzählt, wie sie durch ein Fenster heimlich beobachtet hat, wie alle im Wohnzimmer um einen Kreidekreis herumgetanzt sind, und die Spinnen im Zimmer haben mitgetanzt!«

Ich blickte den Kutscher skeptisch an: »Das klingt aber ziemlich unglaubwürdig.«

Er schnaubte, wirkte aber leicht verunsichert. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, dass ich es mit der Angst zu tun bekommen würde.

»Ich sag dir eins«, brummte er, »du solltest besser auf dich aufpassen. Hier in den Bergen gehen seltsame Dinge vor sich. Betsy Gilfords Kuh ist mal diesen Weg hinaufspaziert, und kurz darauf wurde sie oben auf dem Pot’s Peak gefunden, über und über mit seltsamen Zeichen bedeckt.«

»Vielleicht sollten Sie lieber nicht alles glauben, was Betsy Gilford Ihnen erzählt«, entgegnete ich und zog meinen Hut tiefer in die Stirn. »Aber vielen Dank für die Warnung. Ich glaube nicht, dass mir etwas passiert.« Ich lächelte ihn an. »Ich werde im Schloss erwartet.«

Der Kutscher stieß ein verächtliches Lachen aus. »Da kannst du Gift drauf nehmen.« Er warf mir einen letzten stechenden Blick zu, der mir gar nicht gefiel. Dann schnalzte er mit den Zügeln, wendete die Kutsche in einem waghalsigen Manöver und donnerte den Berg hinunter in die heraufziehende Dunkelheit.

Ich war die letzte Reisende in der Postkutsche gewesen. Ich war in Manzemir eingestiegen und hatte mich zwischen die Tür und eine alte Dame mit zahlreichen Doppelkinnen gequetscht, die Pflaumen aß. Sie war sehr freundlich gewesen und hatte ihre Pflaumen mit mir geteilt, ebenso wie alles, was ich möglicherweise über ihre sieben Kinder und zweiunddreißig Enkelkinder hätte wissen wollen. Sie verließ die Kutsche in Gorlitz, und nach und nach waren auch alle anderen Passagiere in Städten, Dörfern und bei Gehöf‌ten ausgestiegen. Ich hatte zugesehen, wie sie alte Bekannte umarmten, Häuser betraten und quietschende Gartentore durchschritten.

Das steigerte noch meine gespannte Erwartung auf das Ziel meiner Reise. Ich war eine Waise und hatte bis vor drei Tagen geglaubt, dass ich es für den Rest meines Lebens bleiben würde. Doch das Schicksal schien andere Pläne mit mir zu haben und hatte sie mir auf dem denkbar seltsamsten Wege mitgeteilt.

 

Ich war gerade draußen in Mrs. Bolivers Garten und balancierte auf einem Turm aus zwei übereinandergestapelten Stühlen, die auf einer überdimensionalen rosa Hutschachtel standen, während ich versuchte, eine verirrte Katze vom Heizkessel zu retten, als die Vogelscheuche mit dem Brief eintraf.

»Augenblick!«, rief ich über das Schrillen der Türklingel hinweg. Die Katze fauchte und schlug mit den Krallen nach mir. Es war eine ziemlich ungewöhnliche Mieze, geradezu gruselig, mit außergewöhnlich langen, spitzen Zähnen. Mit strenger Stimme sagte ich zu ihr: »Also, wenn du dir nicht helfen lassen willst, musst du eben da oben sitzen bleiben!«

Die Katze starrte mich herablassend an.

»Ist das nicht ein bisschen heiß? Verbrennst du dir nicht die Pfoten?«

Jetzt schien mich die Katze regelrecht auszulachen. Es klingelte erneut an der Tür.

»Augenblick, hab ich gesagt!«, rief ich, und jetzt meldete sich auch Mrs. Boliver aus dem Inneren des Hauses. Ihre Altweiberstimme klang fast so schrill wie die Klingel. »Wer macht da so einen Höllenlärm? Los, Mädchen, geh an die Tür, aber dalli!«

Ich arbeitete als Dienstmädchen bei Mrs. Boliver, die Witwe war und in Cricktown wohnte, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Mrs. Boliver war siebenundneunzig und ging am Stock. Ich war zwölf, groß und unterernährt und hatte widerspenstiges schwarzes Haar. Mit etwas gutem Willen konnte man es als lockig bezeichnen, aber wer weniger taktvoll war, wie Mrs. Boliver, nannte es »ein wildes Gestrüpp, derart von den Feen verhext, dass Kämme und Haarnadeln darin auf Nimmerwiedersehen verschwinden«.

»Wie siehst du denn aus? So was ist mir ja noch nie untergekommen«, hatte die alte Dame bemerkt, als ich aus dem Waisenhaus zu ihr geschickt wurde und sie mich zum ersten Mal sah, und ich glaube nicht, dass das als Kompliment gemeint war.

Ich hatte die Klingel wohl zu lange ignoriert, denn die Vogelscheuche kletterte schließlich schnurstracks über die Gartenmauer. Ich war gerade mit einem Plumps auf dem Rasen gelandet, und als ich aufblickte, sah ich mich zwei Beinen in einer zerlumpten Paisley-Hose gegenüber. Ich ließ meinen Blick langsam aufwärtswandern, bis ich Augen begegnete, die aus zwei großen Silberknöpfen bestanden. Oh!, dachte ich und erschrak ein wenig.

Die Vogelscheuche war sehr alt und fiel schon fast auseinander. Auf ihrem Gesicht sprossen Pilze, und ihre Rockzipfel waren modrig und moosbewachsen. Doch der Umschlag, den sie mir hinhielt, war nicht alt. Er bestand aus festem cremefarbenen Papier und war mit einem dicken schwarzen Wachssiegel mit Rabenmotiv verschlossen. Ohne ein Wort zu sagen, übergab mir die Vogelscheuche den Brief und kletterte dann wieder mit knarrenden Holzgliedern über die Mauer. Ich sah, wie sich ihr Ofenrohr-Hut langsam entfernte, als sie die Straße entlang davonschlenderte.

Einen Moment lang blieb ich wie angewurzelt stehen und starrte auf den Brief. An Zita Brydgeborn stand in verschnörkelter Schrift darauf, und wieder erschrak ich, denn ich hatte diesen Namen in den letzten zehn Jahren weder gelesen noch gehört.

»Wer war das?«, fragte Mrs. Boliver und kam zu mir herübergeschlurft.

»Eine Vogelscheuche«, antwortete ich, und Mrs. Boliver nickte grimmig. Sie hörte schlecht, wollte es aber nicht zugeben.

»Und was hast du da?«

»Einen Brief.«

»Für mich?«

»Nein«, sagte ich verwundert. »Ich … Ich glaube, er ist für mich!«

Mrs. Boliver kniff die Augen zusammen und sah den Brief durch ihre kleine Brille an. »Zita wer?«, fragte sie und musterte mich abfällig von Kopf bis Fuß, als nähme sie mich zum ersten Mal als menschliches Wesen anstatt als wandelnden Besen wahr. Und in dem Moment hielt ich es keine Sekunde länger aus. Ich rannte hinauf in meine Dachkammer, während mein Herz in meiner Brust Purzelbäume schlug und ich den Brief mit beiden Händen fest umklammerte. Er war für mich wie ein Leuchtfeuer, oder ein Rettungsring, der in tosende Wellen geworfen wurde. Irgendjemand, irgendwo, wusste, dass es mich gab. Mit zitternden Fingern brach ich das Siegel auf.

 

Sehr geehrte Miss Zita Brydgeborn, lautete die Überschrift, und wieder machte mein Herz einen merkwürdigen kleinen Hüpfer. Dieser Name war ein Geheimnis. Alle kannten mich nur als Ingabeth, denn diesen Namen hatte mir die große Nonne mit der Haube bei meiner Ankunft im Waisenhaus gegeben. Ich war zwei Jahre alt gewesen, und das Waisenhaus behauptete, ich wäre genau bei Sonnenaufgang auf der Schwelle zurückgelassen worden, das Haar voller Zweige und von oben bis unten rußverschmiert.

»Du hältst dich wohl für die Königin von Saba, was?«, hatte die Nonne gesagt, während ich auf einem Stuhl in der Eingangshalle saß. »Zita, so, so … was für ein alberner Name für ein kleines Mädchen, das keiner haben will!«

Und seitdem hatte ich den Namen geheim gehalten, wie einen kleinen Schatz, der nur mir gehörte. Eigentlich konnte ihn niemand außer mir kennen. Und doch gab es jemanden.

Sehr geehrte Miss Zita Brydgeborn,

ich schreibe Ihnen als Notar und Verwalter des Brydgeborn-Nachlasses. Ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie die Alleinerbin von Blackbird Castle sowie dem umgebenden Anwesen sind, einschließlich aller Gelder, Konten, Ländereien und Besitztümer, die dazugehören. Kommen Sie bitte so bald wie möglich nach Blackbird Castle, nördlich des Dorfes Hackenden im Westval, wo wir, falls Sie nachweislich die Erbin sind, in aller Eile die nötigen Formalitäten erledigen werden.

 

Ihr bescheidener Diener,

Charles Grenouille, Dubney & Sons, Esquire

Natürlich war ich erst mal misstrauisch gewesen. Ich war zum Postamt gegangen und hatte mich erkundigt, ob es den Absender wirklich gab. »Von den Brydgeborns von Westval!«, hatte der Schalterbeamte gesagt und mich von oben herab ungläubig gemustert. »Eine noble Familie. Sehr angesehen. Warum sollten die Brydgeborns dir einen Brief schicken?«

Ich erklärte ihm, dass ich keine Ahnung hätte. Ich wusste nicht das Geringste. Aber ich hatte nicht vor, mir eine solche Einladung entgehen zu lassen, und so verließ ich zwölf Stunden später Mrs. Boliver und fuhr mit dem Dampfzug nach Hackenden, meinen Lohn in der Manteltasche und einen neuen Hut auf dem Kopf.

Die Reise dauerte viel länger, als ich erwartet hatte. Vom Dampfzug stieg ich um auf einen Eselskarren, dann fuhr ich wieder mit dem Zug weiter, und schließlich, drei Tage später, bestieg ich in Manzemir die Postkutsche. Während der ganzen Fahrt stand ich kurz vor dem Platzen, und durch die Aufregung ertrug ich gelassen die Unannehmlichkeiten und den Lärm der Reise. Ich genoss die Vorstellung, dass möglicherweise ein eigenes Zuhause und eine Willkommensumarmung auf mich warteten, dass ich vielleicht eine Familie hatte.

Kapitel zwei

Der Wald ragte über mir auf, wild und verschlungen, eine dunkle Wand von Schlingpflanzen und knorrigen Eichen. Die Nacht brach schnell herein, und aus den Tiefen des Unterholzes drang eine Vielzahl von Geräuschen: das Schuhu von Eulen, das Flüstern von Blättern, das Knarren von Ästen … das Rascheln kleiner Pfoten im Gebüsch, und dann ein plötzlicher Schrei, als das Geschöpf gefangen wurde.

Dann mache ich mich wohl besser mal auf den Weg, dachte ich, schwang mir die Reisetasche über die Schulter, schüttelte meine Müdigkeit ab und begann den Aufstieg.

Es war ein steiler, mühseliger Weg. Die Stufen bestanden aus knotigen Wurzeln, Felsen ragten über meinen Kopf hinweg, und Sträucher drängten sich auf beiden Seiten dicht aneinander. Der Weg war jedoch nicht ganz überwuchert, was zumindest darauf schließen ließ, dass dort oben jemand lebte. Ich fragte mich allmählich, ob das alles vielleicht ein ausgeklügelter Plan war, um ein dummes Dienstmädchen mitten ins Nirgendwo zu locken, damit man es ausrauben konnte. Andererseits wären in diesem Fall die Räuber die Dummen gewesen, wenn sie sich wegen des Inhalts meiner Reisetasche so viel Mühe gemacht hätten. Sie enthielt alles, was ich auf der Welt besaß, und das war bitterwenig – eine Zahnbürste, ein Stück Seife und einen Holzkamm, den man mir beim Abschied vom Waisenhaus geschenkt hatte. Meine Freundinnen und Freunde hatten ihre Groschen zusammengelegt, ihn mir am Tag meines Auszugs gekauft und ihre Namen mit einer Nadel in den Knochengriff geritzt. Ansonsten besaß ich nur noch ein fadenscheiniges Nachthemd und eine Sonntagshaube mit einer großen lila Blume darauf. Falls die Räuber hinter der Haube her waren, konnten sie sie meinetwegen gerne haben.

Als ich oben ankam, war die Sonne bereits vollständig untergegangen. Der Mond, rot und rostig, schien mich zwischen den schneebedeckten Gipfeln hindurch zu beobachten. Ich ging unter einem unheimlichen alten Torbogen hindurch, der mit Efeu umrankt und mit koboldhaften Fratzen verziert war, und stapf‌te einige Stufen hinauf.

Jetzt konnte ich das Haus besser erkennen. Es sah nicht gerade aus wie ein Schloss, obwohl es Türme und Zinnen hatte, und auch nicht wie ein Palais oder ein Herrenhaus. Vielleicht war es einmal all das gewesen, aber jetzt schienen manche Teile nicht mehr bewohnt zu sein, andere sahen aus, als wären sie abgebrannt, und so gab es prächtige Teile und extravagante Teile und uralte, heidnische, seltsame Teile, die alle von wucherndem schwarzen Efeu zusammengehalten wurden. Nur ein oder zwei Fenster waren erleuchtet, ganz weit oben, und davor waren die Gardinen zugezogen, was dem Licht einen roten, warnenden Farbton verlieh.

Ich stieg die Treppe hinauf, vorbei an mehreren Gartenterrassen mit wucherndem Gestrüpp und einem ausgetrockneten Brunnen. Vor der Eingangstür stellte ich keuchend meine Reisetasche ab. Ich strich meinen Mantel glatt, rückte meinen Hut zurecht, holte tief Luft, holte zur Sicherheit noch einmal tief Luft …

Und dann griff ich nach dem großen Messingklopfer, der so gestaltet war, dass er wie der Nasenring eines finsteren, dreizähnigen Unholds aussah. »Tut mir leid, alter Knabe«, sagte ich und ließ den Klopfer gegen das Kinn des Unholds fallen.

Das Geräusch war ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte. Es klang wie eine Glocke, weit entfernt und klagend. Sie läutete ein Mal, und selbst die Wälder schienen zu verstummen, als ob auch sie sich vor dem fürchteten, was hinter diesen Türen lag.

Würde ein Butler die Tür öffnen? Oder ein Lakai? Oder eine verhutzelte Haushälterin mit einer Kerze in der Hand, die die Furchen in ihrem Gesicht beleuchtete? Bei Mrs. Boliver war ich die einzige Dienstbotin gewesen und wusste daher nicht, wie es in vornehmen Häusern zuging. Aber ich erwartete nichts, und genau das geschah: nichts.

Ich wartete. Ich ging um eine Ecke und spähte in ein dunkles Fenster. Ich trat zurück, die Hände in die Hüften gestemmt, um die Türme und Dächer zu begutachten …

Hinter mir, im Wald, hörte ich die Bäume knarren und die Büsche in ihrer listigen Sprache flüstern. Als ich mich umdrehte, um mich ihnen zuzuwenden, hätte ich schwören können, dass mich dunkle, kalte Augen zwischen den Ästen beobachteten.

Schon war ich davon überzeugt, dass ich einen schrecklichen Fehler begangen hatte und besser wieder mit schwingender Reisetasche den Berg hinunterlaufen und Mrs. Boliver anflehen sollte, mich wieder einzustellen, als ich hörte, wie zahlreiche Schlösser aufgeschlossen und Riegel zurückgezogen wurden. Eine viel kleinere Tür in einer Ecke der großen Türen schwang auf. Ein brennender Kandelaber schwebte in der Dunkelheit dahinter, umklammert von einer dicklichen blassen Hand.

»Oh!«, sagte eine Stimme, die vermutlich zu der Hand gehörte. »Oh, du bist es! Komm rein, komm rein, schnell!«

Dankbar duckte ich mich durch die Tür, und nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, dass der Leuchter von einem Dienstmädchen gehalten wurde. Wie ich!, dachte ich und fühlte mich gleich viel wohler. Ich lächelte sie an, und sie lächelte zurück und machte einen Knicks. Noch nie hatte jemand vor mir geknickst. Ich knickste auch, weil ich nicht unhöf‌lich sein wollte. Das brachte sie zum Kichern, bis eine andere Gestalt aus dem Schatten hervortrat und sie gegen die Schulter stieß. Es war ein hochgewachsener Junge in einer schwarzen Uniform, die wie eine Mischung aus der eines Soldaten und eines Lakaien aussah.

»Minnifer!«, schimpf‌te er verhalten. »Wie alt bist du, sieben?«

»Schon gut«, sagte ich und schaute von einem zum anderen. Der Junge sah melancholisch aus und hatte dunkle Augenbrauen. Minnifer war klein und rundlich. Sie hatte schmale, funkelnde Augen und trug ihr braunes Haar in einem ordentlichen Dutt.

»Wir sind so froh, dass du gekommen bist!«, sagte Minnifer. »Hoffentlich gefällt es dir hier!«

»Ja, hoffentlich«, wiederholte der Junge mit einer sehr leisen, sehr höf‌lichen Stimme.

»Ich bin Minnifer«, sagte Minnifer. »Und das ist Bram.«

Sie knickste wieder, und Bram machte einen Diener, und sie erinnerten mich plötzlich an hölzerne Marionetten, wie sie so in ihren adretten schwarzen Kleidern dastanden.

»Ich freue mich sehr, euch beide kennenzulernen«, sagte ich und schüttelte ihnen die Hände. »Ich heiße Zita.«

Bram und Minnifer lächelten weiterhin schüchtern, als wüssten sie nicht recht, was sie mit mir anfangen sollten.

»Vielleicht möchte sie etwas essen«, murmelte Bram, an Minnifer gewandt. »Wir haben noch so viele Reste vom Abendessen.«

»Oder sie möchte ein Bad nehmen«, sagte Minnifer und musterte mich. »Bist du den ganzen Weg von Hackenden aus gelaufen?«

»Das könnte man meinen, oder?«, sagte ich und rückte meinen Hut zum gefühlt zwanzigsten Mal an diesem Abend zurecht. »Aber nein, ich musste nur den Berg rauf zu Fuß gehen.«

»Minnifer!«, schalt Bram. »Du hast ihr praktisch gesagt, dass sie schmutzig ist.«

»Hab ich nicht! Ich habe ihr nur ein Bad angeboten! So gehört sich das ja wohl.«

»Sie redet oft, ohne vorher nachzudenken«, sagte Bram zu mir.

»Dafür denkt Bram so viel, dass er manchmal das Atmen vergisst«, erwiderte Minnifer. »Ach, bestimmt findest du uns alle unerträglich, wenn du uns einmal richtig kennengelernt hast. Also, wie wäre es mit etwas zu essen und einem Bad, und dann …«

Gerade, als ich anfing, die beiden so richtig zu mögen, ertönte eine andere Stimme vom obersten Treppenabsatz. Der Lichtkegel einer Kerosinlampe hüpf‌te zu uns herunter, und nun gewann ich zum ersten Mal einen Eindruck von der riesigen Eingangshalle, in der wir standen. Der Fußboden war mit schwarz-weißem Marmor gefliest wie ein Damebrett, und ein Kerzenleuchter in Form eines Krähenschwarms, der eine Schlange angriff, hing von der Decke. Die Wände waren mit Gobelins geschmückt, und ihre verblassten Gewebe zeigten Gruppen von Männern und Frauen in schwarzen Roben und spitzen Schuhen, die durch Wälder streif‌ten und durch Flüsse wateten. Und auf dem unteren Treppenabsatz stand, halb erleuchtet von der Lampe in ihrer Hand, eine Frau.

Sie war sehr hübsch und sehr blass. An den Fingern trug sie so viele edelsteinbesetzte Ringe, dass es aussah, als litte sie unter einem besonders farbenfrohen Hautpilz. Ihr kastanienbraunes Haar war zu glänzenden, starren Locken aufgesteckt, und sie trug ein Kleid aus tiefblauer Seide, so dunkel und rauschend wie die Wogen, die nachts an die Küste schlugen. Ich hätte nicht sagen können, ob sie jung oder alt war – sie wirkte verwirrend alterslos –, und als sie dort auf dem Treppenabsatz stand, einen Arm um den Geländerpfosten geschlungen, erinnerte sie mich noch am meisten an eine glamouröse Katze.

»Es wird nicht gebadet«, hauchte sie in der schönsten, kühlsten Stimme, die ich jemals gehört hatte. »Und ihr könnt ihr ein Tablett aufs Zimmer bringen. Bloß keine Umstände. Mr. Grenouille kommt morgen früh, um diesen … unseligen Irrtum aufzuklären.«

Irrtum? Mir wurde eiskalt. So, wie sie mich ansah, war sonnenklar, dass ich der »unselige Irrtum« war, der da in abgetretenen Schuhen und mit geflicktem Mantel vor ihr stand.

»Guten Abend, Madam«, sagte ich und zwang mich, sie erhobenen Hauptes anzusehen. »Ich möchte Ihnen keine Umstände machen und es tut mir leid, dass ich so spät gekommen bin, aber …«

»Spät?«, erwiderte die Lady und glitt die Stufen hinunter über den Marmorfußboden auf mich zu. »Was heißt spät? Zita ist schon seit vielen Jahren verschwunden, und jetzt taucht hier ein Mädchen auf, das behauptet, sie zu sein, sobald es etwas zu erben gibt? Ein wenig überpünktlich, würde ich eher sagen.«

Sie beugte sich zu mir herunter, so dicht, dass ich den rosafarbenen Puder auf ihren Wangen riechen konnte. »Ich will ganz ehrlich zu dir sein: Entweder ist Mr. Grenouille ein Narr, oder du bist eine Lügnerin.« Mit zwei langen, eleganten Fingern fasste sie mir unters Kinn. »Du bist keine Blackbird, oder? Du siehst aus wie ein Dienstmädchen!«

»Ich bin ein Dienstmädchen!«, sagte ich und wand mich aus ihrem Griff. »Aber ich habe einen Brief bekommen, und ich heiße Zita, genau, wie es in der Adresse steht.« Ich zog den Brief aus der Tasche und hielt ihn ihr hin.

Die Augen der Lady huschten zu dem schwarzen Wachssiegel. »Ein Brief wurde versendet, ganz recht. Aber ob die echte Zita Brydgeborn ihn je erhalten hat, ist noch die Frage. Natürlich hast du gewusst, dass deine Familie die mächtigste – und nebenbei auch die letzte – der herrschenden alten Hexenfamilien ist, nicht wahr?«

»H… Hexenfamilien?« Diesmal geriet ich ins Stottern. Hatte der Kutscher etwa doch nicht geflunkert? »Aber davon stand gar nichts in dem Brief …«

»Und du hast wohl auch noch nie ein Geschichtsbuch gelesen?«, erkundigte sie sich zuckersüß und genoss mein Unbehagen.

»Keines, in dem etwas über Hexen stand«, flüsterte ich.

Die Lady wich zurück und wandte kurz den Blick ab. Dann schürzte sie die Lippen, als amüsiere sie sich über irgendetwas, und sagte: »Wie praktisch. Nun, ob du eine Brydgeborn bist oder nicht, wird sich morgen früh ganz unmissverständlich herausstellen. Ihr beiden … Sucht ihr irgendwo eine Unterkunft.« Und damit rauschte sie davon und verschwand im Halbdunkel der Eingangshalle.

Ich starrte ihr mit offenem Mund hinterher. Bram versuchte, meine Reisetasche zu nehmen, aber ich schüttelte ihn ab. Ich war hier nicht erwünscht, so viel war klar, und ich hatte nicht die geringste Lust, in der Schuld dieser Leute zu stehen.

»Wer war das?«, fragte ich.

»Eine hinterhältige Ziege«, antwortete Bram.

»Und eine steinreiche noch dazu«, fügte Minnifer ehrfurchtsvoll flüsternd hinzu. »Ysabeau Harkleath-St. Cloud. Verheiratete Cantanker und eine sehr gute Freundin deiner Mutter. Die Verwalter haben ihr vorübergehend die Verantwortung für das Haus übertragen, nachdem … Na ja, nachdem das alles passiert war.«

Meine Mutter. Das Wort weckte tief in meinem Herzen eine schwache Erinnerung an Veilchen und Rosmarin.

»Was meinst du damit, ›nachdem das alles passiert war‹?«, fragte ich, während Minnifer eine Tapetentür öffnete und sie und Bram mich eine schmiedeeiserne Dienstbotentreppe hinauf‌führten. »Was ist passiert, und warum ist hier niemand?«

Wieder tauschten Minnifer und Bram einen merkwürdigen, unergründlichen Blick aus. »Sie sind alle weg«, sagte Minnifer leise. Dann drehte sie sich plötzlich zu mir um, und der Kerzenschein warf einen flackernden Schatten über ihr Gesicht. »Du musst vorsichtig sein, Zita! Alle sind tot. Alle Brydgeborns. Deine Eltern, deine Tanten und Onkel. Niemand ist übrig. Niemand, außer dir.«

»Oh!«, sagte ich, einerseits erfreut, eine so große Familie zu haben, und andererseits entsetzt über die Nachricht ihres Todes.

»Ermordet …«, setzte Minnifer an, doch dann schnappte ihr Mund zu wie eine Bärenfalle. Ihre Augen traten hervor. Sie wehrte sich und versuchte, mit beiden Händen ihren Kiefer zu öffnen. Dann klappte ihr Mund wieder auf, und sie drehte sich weg, kauerte sich auf der Treppe zusammen und weinte.

»Was ist los, um Himmels willen?«, murmelte ich. »Was war das? Geht’s dir nicht gut?«

Ich drehte mich zu Bram um, doch er stand nur hilf‌los daneben, die Fäuste eng am Körper geballt.

»Alles in Ordnung«, schnüffelte Minnifer und betastete mit einem Finger vorsichtig ihre Wangen. »War nur ein Schluckauf.«

So einen Schluckauf habe ich noch nie gesehen, dachte ich, aber Minnifer stieg bereits wieder die Treppe hinauf, so schnell, dass Bram und ich uns beeilen mussten, um mit ihr Schritt zu halten.

Wir verließen die Dienstbotentreppe und überquerten einen Treppenabsatz, vorbei an zwei kleinen Fenstern. Die Fenster lagen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, aber eines von ihnen bot Ausblick auf einen mit Efeu überwucherten Hof zu nächtlicher Stunde und das andere auf ein nebliges Feld in der Dämmerung mit langen Reihen bereif‌ter Kürbisse und mehreren einsamen Vogelscheuchen. Ich hatte kaum Zeit, mich darüber zu wundern, denn schon erklommen wir die nächste Treppe und dann noch eine dritte. Endlich gelangten wir in einen Flur mit hoher Decke und blieben vor einer vergoldeten Tür stehen, die mit Windmühlen unter einem blauen Himmel bemalt war.

»Hier wären wir«, sagte Bram, diesmal leise und grimmig.

»Mrs. Cantanker hat nicht gesagt, welches Zimmer wir dir geben sollen«, sagte Minnifer und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. »Wir haben die Wahl zwischen siebenunddreißig Schlafzimmern, und wir dachten, dass dir dieses am besten gefallen würde.«

»Geh nicht weiter diesen Flur runter«, riet Bram, während er die Tür aufschloss. »Er ist bekannt dafür, dass er an Orte führt, die du lieber nicht besuchen solltest.«

»Und geh auch nicht in das Zimmer, an dem ›Salon der Psychosen‹ steht«, fügte Minnifer hinzu. »Und falls du eine blaue Treppe siehst, steige nicht hinauf!«

»Ach weißt du, am besten ist es wohl, wenn du dein Zimmer gar nicht verlässt«, sagte Bram rasch. »Wir kommen dich morgen früh holen.«

Sie führten mich in einen dunklen Raum mit drei großen Fenstern, aus denen man auf den verwilderten Park blickte, den ich bei meiner Ankunft durchquert hatte.

»Ist das etwa ganz für mich allein?«, fragte ich und drehte mich im Kreis. Ich hatte noch nie ein eigenes Zimmer gehabt, vor allem kein so wundervolles, und sogar bei Mrs. Boliver hatte ich meine Dachkammer mit einer Familie von Kakerlaken und einer fetten Ratte geteilt.

»Natürlich ist das alles für dich«, antwortete Bram geistesabwesend, und Minnifer flüsterte: »Was redet sie denn da?«

Bram zündete einen zweiten Kerzenleuchter an und Minnifer versprach, einen Kessel heißes Wasser raufzubringen, damit ich mich waschen konnte. Dann verließen sie mit ängstlichen Mienen das Zimmer und schlossen die Tür hinter sich. Ich hörte sie draußen flüstern. Einen Moment später bekam ich mit, wie leise der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, zweimal, und dann waren sie fort.

Kapitel drei

Als ich am nächsten Morgen erwachte, saß eine Krähe auf meiner Brust und starrte mich mit einem unangenehmen Blick an, so als hätte sie nicht übel Lust, einen großen, saftigen Bissen aus einem meiner Augäpfel zu picken. Ihre Augen glichen glänzenden schwarzen Tropfen, eingebettet in ihr glänzendes blauschwarzes Gefieder. Ich spürte ihr Gewicht, mit dem sie auf der Bettdecke saß, und ihre Klauen, die sich tief hineingruben. Im Zimmer war es eiskalt und ein wenig feucht, so als wäre ich draußen an der frischen Luft.

Die Krähe und ich starrten einander eine ganze Weile lang an. Dann schrie ich aus vollem Hals und trat von innen gegen die Bettdecke. Der Vogel stieß ein empörtes Krächzen aus und flatterte hinüber zum Kaminsims, wo er über seine gefiederte Schulter hinweg vorwurfsvoll zu mir herübersah. Eine Sekunde später flog er in den Kamin und begann, sich flatternd den Schornstein emporzuarbeiten, wobei er einen Rußregen hinunter auf das Kamingitter sandte.

Sofort vergaß ich meine Angst und sprang aus dem Bett. Ich rannte zum Kamin, blickte hinauf in den Schornstein und wedelte den Ruß beiseite. »Komm da raus!«, rief ich. »Am Ende bleibst du noch stecken!«

Einmal war ein Spatz im Kamin von Mrs. Bolivers Wohnzimmer steckengeblieben. Rauch war durch das ganze Zimmer gequollen und hatte jedes Spitzendeckchen und Paradekissen schwarz gefärbt, und als ich mit dem Besenstil im Schornstein herumgestochert hatte, um die Verstopfung zu beseitigen, war der Spatz in die Asche gefallen, dicht gefolgt von sechs gerösteten Küken und einem Nest. Die Spatzenmutter hatte sich mit dem Mut der Verzweif‌lung in den flammenden Schlund des Kamins gestürzt, um das glühende Ungeheuer aufzuhalten, das ihren Nachwuchs gegrillt hatte. Der Zwischenfall hatte mich zutiefst verstört, und ich hatte die kleinen Tiere im Garten neben Mrs. Bolivers umfangreichem Goldfischfriedhof begraben.

Doch diese Krähe schien genau zu wissen, was sie tat. Die Geräusche, die sie verursachte, wurden leiser und leiser, bis sie ganz verstummten. Ich hoffte, dass das bedeutete, dass der Vogel oben aus dem Schornstein geflogen war.

Als die Krähe weg war und im Kamin wieder Ruhe herrschte, stand ich auf und blickte mich im Zimmer um. Ich hatte am Abend zuvor nur ein paar im Kerzenlicht aufflackernde Ecken davon gesehen. Jetzt, bei Tag, war das Gemach noch herrschaftlicher, als ich erwartet hatte. Das Bett war so groß wie eine Kutsche und von einem Samthimmel überspannt. Auf dem Fußboden lagen dicke Teppiche, und jede Oberfläche, jeder Spiegel und jede Glasscheibe war mit Frost bedeckt.

Ich trat in die Mitte des Zimmers und betrachtete das glitzernde Weiß auf den Wandteppichen und den Möbeln. Komisch, dachte ich. Der Frost kommt wohl sehr früh hier in den Bergen. Draußen färbten sich die Bäume gerade in allen Schattierungen von tiefem Rot bis Bronze, und ihre Blätter lösten sich von den Zweigen und wirbelten durch die Luft. Licht flutete durch die großen, längs unterteilten Fenster herein, warm und golden wie Apfelwein. Ich rannte hinüber, öffnete einen Flügel und atmete die frische Bergluft ein. Von meinem Zimmer aus blickte ich auf Gestrüpp, das einst ein Irrgarten gewesen sein mochte, jetzt aber nur noch aus verschlungenen Zweigen und Dornenranken bestand, die sich kahl vor den mit Flechten bedeckten Steinen und dem farbenfrohen Blattwerk abhoben. Ich konnte von hier aus die gesamte Fassade des Schlosses sehen, das sich rings um mich mit Spitzen, Giebeln und kleinen schiefen Fenstern erhob. Ich konnte auch den Wald sehen, der bei Tag nicht annähernd so beängstigend war wie in der Dunkelheit und der den Park ringförmig umgab. Es war wunderschön hier, auf eine wilde, gottverlassene Art und Weise.

Es klopf‌te an der Tür. Ich eilte hin und drückte versuchsweise auf die Klinke. Die Tür war offen. Ich steckte den Kopf hinaus, und da stand Bram im Flur, seinen Hut in den Händen. Er sah aus, als käme er gerade von draußen; seine Wangen waren rosig, und er roch nach frischer Luft.

»Hast du Hunger?«, fragte er ohne Einleitung.

»Wie ein Pferd«, gab ich zu. »Guten Morgen!«

»Ist gut. Du kannst mit uns zusammen essen. Leider hat Mrs. Cantanker gesagt, dass du keinen Zutritt zu den offiziellen Räumen hast, bis …«

»Bis sie herausgefunden haben, ob ich aus der Gosse stamme?«

»So haben sie sich nicht direkt ausgedrückt. Aber wir essen das Gleiche wie sie, also keine Sorge. Ich komme dich gleich holen, sobald du angezogen bist.«

Er neigte den Kopf und zog sich zurück.

Ich schloss die Tür und starrte sie einen Moment lang an. Dann lächelte ich. Heute sah doch alles schon ein bisschen positiver aus. Ich beschloss, dass es mir nicht viel ausmachen würde, falls es tatsächlich einen Irrtum gegeben hatte, falls die falsche Zita eingeladen worden war und man mich wieder wegschicken würde. Ich war bisher mein Leben lang ohne Schloss und Erbe ausgekommen, und ich war mir sicher, dass ich auch weiterhin darauf würde verzichten können. Ich beschloss, das Beste aus diesem Abenteuer zu machen, solange es eben dauerte.

Ich hatte nur meine staubige Reisekleidung, daher ging ich zu dem riesigen alten Kleiderschrank und öffnete beide Türen. Ein Schwall von Tannenduft und pudrigem Rosenhauch begrüßte mich, und vor mir sah ich die herrlichste Auswahl an Kleidung, die ich je gesehen hatte. Dort hingen Gewänder in allen Farben, von Rubinrot über Türkisblau bis hin zu dunklem, schattigem Grün. Dazu gab es hübsche schwarze Hüte und einen Spiegel zum Anprobieren, und Dutzende Paare von Schuhen mit glänzenden Seidenschleifen und Samtschnüren, pelzgefütterte Ponchos, flauschige Mäntel, wunderhübsch verzierte Morgenmäntel in geblümtem Brokat, ebenso wie eine große Anzahl von schwarzen Capes und schwarzen Handschuhen, und dazu kleine Schubladen voller Schmuck.

Das war alles viel zu nobel für mich. Und doch … Bestimmt würde es keinem etwas ausmachen, wenn ich mir nur eins davon ausleihen würde. Vielleicht wusste niemand mehr, dass diese Kleidung hier war. Und wenn es doch etwas ausmachte, so könnte ich wenigstens einmal in meinem Leben etwas so Feines tragen, bevor ich wieder rausgeworfen werden würde.

Ich suchte mir ein Kleid in der Farbe von Nebel und dem Dunst über den Sümpfen aus und schlüpf‌te hinein. Im ersten Moment hatte ich das Gefühl, dass es zu klein war, als wäre es für eine gedrungenere Person gemacht. Aber dann geschah etwas Außergewöhnliches: Das Gewebe schien sich anzupassen. Es kribbelte auf meiner Haut, und zu meinem Entzücken sah ich im Spiegel, wie sich der Stoff nach unten hin dehnte und die Ärmelsäume zu meinen Handgelenken krabbelten. Einen Augenblick später passte das Kleid, als wäre es für mich gemacht worden. Ich atmete tief durch und fuhr mit einem Finger über den Stoff. Das Kleid besaß einen großen, bauschigen Rock und ein Fischbeinkorsett, und alles fügte sich klickend ganz von allein zusammen und richtete mich mit einem Ruck auf. Ich quietschte, aber dann gab ich mich hin und erkannte, dass dies nicht so sehr ein Kleid als vielmehr eine Art Transportmittel war, in dem man dahinrauschte wie in einem Automobil. Kein Wunder, dass reiche Leute immer so stolz wirkten. Ihre Kleider erlaubten ihnen keine andere Haltung.

Ich bändigte mein Haar so gut ich konnte, glättete es mit Wasser und versuchte vergeblich, es in eine Richtung zu fixieren. Dann ging ich mehrmals im Kreis und freute mich immer mehr über das Kleid und meine Entscheidung, es zu tragen. In einem Anfall von Selbstvertrauen hob ich das Kinn und segelte hinaus in den Korridor, wobei die seidigen Röcke um meine Knöchel rauschten.

Bram erwartete mich vor der Tür. Er lehnte an der Wand und kaute einen Stängel trockenes Gras. Er riss die Augen auf, als er mich sah. Im ersten Moment war ich geschmeichelt, weil er mich hübsch zu finden schien. Doch dann runzelte er die Stirn, und seine gewitterwolkenschwarzen Augenbrauen zogen sich zusammen, als er sagte: »Kommen Sie, Miss. Beeilung. Ich bin mir nicht sicher, was Mrs. Cantanker davon halten wird.«

»Oh«, sagte ich, und plötzlich verließ mich der Mut und huschte den Flur hinunter davon. »Ich habe nur gedacht …«

»Das Kleid ist sehr hübsch«, sagte Bram. Er wirkte verletzt, drehte sich um und marschierte eilig davon. Ich rannte los, um ihn einzuholen und fragte mich, ob es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, sich das Kleid zu leihen. Wir gingen die schmale, schmiedeeiserne Treppe hinunter in die Eingeweide des Hauses und gelangten in ein Dienstbotenfoyer, in dem unter dem Deckengewölbe Knoblauch und Lavendel zum Trocknen aufgehängt waren. Am Ende der Bogengänge konnte ich einen Blick auf ein Labyrinth von Küchen, Abstellräumen und Speisekammern erhaschen. Ich erwartete, dass es dort von Köchinnen und Spülmädchen wimmeln würde, aber ich sah nur Minnifer, die auf einem Berg von Kissenbezügen saß und einen davon mit blauem Faden stopf‌te. Mit erfreutem Lächeln winkte sie mir zu, doch auch sie wirkte entsetzt, als sie das Kleid sah.

»Oh«, sagte sie. »Oh, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee war.«

»Meine Kleider sind ganz schmutzig von der Reise«, verteidigte ich mich schwach. »Ich dachte …«

»Nein, ist schon gut«, sagte Minnifer. »Es ist nur, weil … Na ja, das war ihr Kleid, weißt du? Sie wollte es an ihrem Geburtstag tragen. Allerdings ist es nie dazu gekommen.«

»Wessen Kleid?«, fragte ich. »Du brauchst nicht so geheimnisvoll tun. Wem hat das Zimmer gehört, das ihr mir gegeben habt?«

»Es gehörte Greta«, sagte Minnifer und senkte den Blick auf die Kissenbezüge. »Greta Brydgeborn. Der jungen Herrin.«

Ich erschauerte. Das wunderschöne Kleid war mir plötzlich unbequem, und die Fischbeinstäbe stachen mir in den Rücken. Alle Brydgeborns sind tot …

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich weiß nicht, warum ich es angezogen habe. Ich gehe rauf und hänge es wieder weg.«

Das hätte ich auch getan, aber als ich mich umdrehte, stand Mrs. Cantanker in der Tür und starrte mich mit grimmigem, mühsam verhaltenem Zorn an. Sie war an diesem Morgen ganz in Violett gekleidet; in eine strenge Robe, die wie ein Herrenfrack geschnitten war. Silberknöpfe zogen sich von der Brust bis hinauf zu ihrem Hals, und die Röcke bauschten sich hinter ihr wie die Segel eines Schiffes.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie, und unter ihrem Blick blieb ich wie angewurzelt stehen.

»Ich habe mir nichts dabei gedacht«, sagte ich leise. »Ich … Ich …«

Ich entschuldige mich dafür, hatte ich eigentlich sagen wollen, brachte es aber nicht über die Lippen. Stattdessen kochte eine plötzliche Wut in mir hoch und ich entgegnete schnippisch: »Ich bin sauer!«

Minnifer schnappte nach Luft, und Bram sah mich entsetzt an. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. »Niemand hat mir irgendetwas erklärt, seitdem ich angekommen bin. Wer sind die Brydgeborns? Was ist mit Greta geschehen? Bin ich die Erbin? Oder soll ich hier weiter rumstolpern und mich zum Narren machen, bis ich rausgeworfen werde? Ich habe einen Brief mit einer Einladung erhalten und bin hier sehr unhöf‌lich empfangen worden, und jetzt würde ich gerne wissen, in was ich hier hineingezogen worden bin, das wäre sehr freundlich!«

Ich schrie beinahe. Mrs. Cantanker musterte mich verächtlich. Aber ich hatte nicht vor, mich weiterhin von ihr einschüchtern zu lassen. Ich warf ihr einen Blick zu, der Eisen hätte schmelzen können, und stellte mit einiger Zufriedenheit fest, dass in ihren Augen Unsicherheit aufflackerte. Dann presste sie die Lippen zusammen, packte mich am Arm und zerrte mich aus der Küche.

»Mr. Grenouille wartet«, fuhr sie mich an, und ihre Ringe drückten mir in den Arm. »Hier entlang, wer immer du bist, und hör auf zu schreien! Du klingst ja wie ein sterbendes Kaninchen.«

Sie zog mich die Treppe hinauf und dann in die Eingangshalle. Dort ging es durch zwei hohe Mahagonitüren weiter in einen Raum mit bemalten Seidentapeten, durch dessen Fenster man einen verwilderten Rosengarten sah. Die Lampen waren nicht angezündet, aber im Kamin loderte ein Feuer, und Frühstück stand auf dem Tisch. Ein kleiner, dicklicher Herr von etwa fünfzig Jahren saß vor einem Teller mit Eiern und dampfenden Kartoffelküchlein.

Eilfertig stand er bei unserem Eintreten auf und betrachtete mich, als hätte er einen Geist gesehen, was wohl auch irgendwie der Fall war. Doch er fing sich unverzüglich, schüttelte seine Überraschung mit einem kurzen Schaudern ab wie ein nasser Hund und kam mit einem nervösen Lächeln auf uns zu.