Die letzten Strahlen eines Sterns - Amanda Lee Koe - E-Book

Die letzten Strahlen eines Sterns E-Book

Amanda Lee Koe

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Beschreibung

»Ein großes, weltumspannendes, durch die Zeit reisendes Wunderwerk von einem Roman.« B. Metcalf »Ein epischer Roman über drei sehr unterschiedliche Frauen – Marlene Dietrich, Leni Riefenstahl und Anna May Wong – intim und menschlich erzählt.« USA Today »In diesem quirligen, brillanten Debüt kämpfen sowohl die Berühmten als auch die Unbekannten darum, sich im Strom der Geschichte zu behaupten.« Tash Aw DAS BUCH Berlin 1928: Der Fotograf Alfred Eisenstaedt hält die zufällige Begegnung dreier sehr unterschiedlicher Frauen fest: Da ist die aufstrebende deutsche Schauspielerin Marlene Dietrich, die auf dem Weg ist, eine der bleibenden Ikonen Hollywoods zu werden; Anna May Wong, der erste chinesischstämmige US-Filmstar; und Leni Riefenstahl, deren Propagandakunstfilme sie erst berühmt und dann berüchtigt machen sollten. Die Lebenswege dieser drei Frauen führen vom Berlin der Weimarer Zeit bis zur deutschen Wiedervereinigung, von einem Dorf in den bayerischen Alpen bis nach Los Angeles und Paris, durch viele Jahrzehnte und Kontinente. Die Kulissen, in denen sie sich bewegen, sind so unterschiedlich wie die Rollen, die sie spielen: Sirene, Opfer, Schurkin oder Geliebte, jeder Auftritt eine sorgfältige Choreografie. Und im Gravitationsfeld eines jeden Stars finden sich zahlreiche Nebendarsteller, die sie wie Planeten umkreisen – ein Vermächtnis, das tief in unsere Zeit hineinreicht. Geschickt navigiert Koe ihre Protagonistinnen durch die wechselnden politischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, verwandelt das Leben der drei Künstlerinnen in einen originellen, aufregenden Roman und verhandelt auf lebendige und neugierige Weise Fragen nach Mitschuld und Täterschaft, nach Identität, Ambitionen und Lust, nach Ästhetik und Kunst. »Mit kühlem Blick, großer Ehrlichkeit und voller Empathie durchmisst Amanda Lee Koe das 20. Jahrhundert.« Binnie Kirshenbaum »Sehr überzeugend verwebt Koe historische Fakten und Fiktionen zu einer epischen Erzählung.« Publisher’s Weekly

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Seitenzahl: 635

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Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2022

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

© by Amanda Lee Koe, 2019

All rights reserved

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde

mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt

durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.

Diese Ausgabe ist gefördert von:

National Arts Council, Singapore

Übersetzung: Zoë Beck

Redaktion: Jan Karsten

Covergestaltung: Cordula Schmidt Design, Hamburg

Coverillustration: Maria Carella / Bloomsbury Publishing

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: April 2022

ISBN 978-3-95988-220-0

Über das Buch

»Ein großes, weltumspannendes, durch die Zeit reisendes Wunderwerk von einem Roman.« Ben Metcalf

Berlin 1928: Der Fotograf Alfred Eisenstaedt hält die zufällige Begegnung dreier sehr unterschiedlicher Frauen fest: Da ist die aufstrebende deutsche Schauspielerin Marlene Dietrich, die auf dem Weg ist, eine der bleibenden Ikonen Hollywoods zu werden; Anna May Wong, der erste chinesischstämmige US-Filmstar; und Leni Riefenstahl, deren Propagandakunstfilme sie erst berühmt und dann berüchtigt machen sollten.

Die Lebenswege dieser drei Frauen führen vom Berlin der Weimarer Zeit bis zur deutschen Wiedervereinigung, von einem Dorf in den bayerischen Alpen bis nach Los Angeles und Paris, durch viele Jahrzehnte und Kontinente. Die Kulissen, in denen sie sich bewegen, sind so unterschiedlich wie die Rollen, die sie spielen: Sirene, Opfer, Schurkin oder Geliebte, jeder Auftritt eine sorgfältige Choreografie. Und im Gravitationsfeld eines jeden Stars finden sich zahlreiche Nebendarsteller, die sie wie Planeten umkreisen – ein Vermächtnis, das tief in unsere Zeit hineinreicht.

Geschickt navigiert Koe ihre Protagonistinnen durch die wechselnden politischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, verwandelt das Leben der drei Künstlerinnen in einen originellen, aufregenden Roman und verhandelt auf lebendige und neugierige Weise Fragen nach Mitschuld und Täterschaft, nach Identität, Ambitionen und Lust, nach Ästhetik und Kunst.

»Ein epischer Roman über drei sehr unterschiedliche Frauen – Marlene Dietrich, Leni Riefenstahl und Anna May Wong – intim und menschlich erzählt.« USA Today

»In diesem quirligen, brillanten Debüt kämpfen sowohl die Berühmten als auch die Unbekannten darum, sich im Strom der Geschichte zu behaupten.« Tash Aw

Über die Autorin

Amanda Lee Koe

Die letzten Strahlen eines Sterns

Roman

Entweder die Puppe oder der Gott

(Zitiert nach Heinrich von Kleist

1

Bevor sie den Ballsaal durchquerte, um die Chinesin um einen Tanz zu bitten, löste Marlene eine Locke vom Scheitel ihrer Wasserwelle und ließ sie in die Stirn fallen. Diese Marotte, mittlerweile unbewusst durchgeführt, hatte sie sich als Schulmädchen angewöhnt, wann immer sie die Aufmerksamkeit einer Klassenkameradin oder einer Lehrerin suchte.

Wenn sich die Chinesin bewegte, konnte Marlene selbst bis dahin, wo sie eben noch gestanden hatte, die frische Magnolie riechen, die hinter dem linken Ohr steckte. Und sie bewegte sich oft. Diese Frau tanzte vollendet Foxtrott, Polka und Walzer, selbst wenn ihr gichtgekrümmte Herren mit Kummerbund auf die Zehen traten. Sie trug keine Schuhe, sondern Ballerinas, was einen einnehmenden Blick auf die hohe Wölbung ihrer Füße zuließ. Allerdings war sich Marlene nicht sicher, ob es ihr darum ging, mit der Frau zu tanzen oder mit ihr im Mittelpunkt zu stehen. Doch das war das Befriedigende daran, sich dem Moment hinzugeben: Man musste nicht warten, bis man sich darüber im Klaren war. Aber ein pomadiger, mittelalter Mann streckte seinen Gehstock nach ihr aus, kurz bevor Marlene die Chinesin erreicht hatte.

Ähem, hüstelte er.

Marlene hob eine Augenbraue. Sie war in allerletzter Minute auf Sondereinladung eines Produzenten in die Party geplatzt, und auch wenn es enttäuschend sein würde, so bald schon wieder rausgeworfen zu werden, würde sie es nicht bereuen, hier gewesen zu sein. Dem Fremden ging es aber gar nicht darum, sie zu verscheuchen. Sie sah jetzt, dass er mit gekrümmtem Daumen, der auf seiner dicken Faust ruhte, auf die Schlange der hinter ihm wartenden Männer deutete.

Ah, sagte sie.

Mit einem gebieterischen Nicken entließ er Marlene und gewährte ihr dabei einen deutlichen Blick auf seine rotzverklebten, mit Schnupftabak verkrümelten Nasenhaare, die ungleichmäßig aus beiden Nasenlöchern sprossen. Ungepflegte alte Säcke in teuren Anzügen waren widerlich. Sie stellte sich in die Schlange, um auf einen Tanz mit der Chinesin zu warten. Nachdem sie eine Viertelstunde gewartet hatte, wurde ihr langweilig, und sie trat aus der Reihe, lehnte sich an die Wand und klemmte eine neue Zigarette in ihren pfeifenförmigen Zigarettenhalter, während sie abschätzend dem Spiel der Violinisten folgte. Vor ihren aktuellen Kabarett- und Theater-Auftritten und den Nebenrollen in einer Reihe unterirdischer Filme – was zusammengenommen kaum für die Miete reichte –, war ihre einzig seriöse Arbeit die als zweite Violinistin in einem Kinopalast gewesen, wo sie als Teil eines Orchesters Stummfilme musikalisch zu begleiten hatte.

Es klang wie ein Traum, aus der Anonymität des Orchestergrabens zu treten und das Licht der Bühne oder der Leinwand einzufangen, aber Marlene war realistisch, was ihre Aussichten betraf. Nachdem sie sich ihren letzten Kurzauftritt in einem Film angesehen hatte, in dem sie für weniger als fünf Sekunden einen Raum betrat und der weiblichen Hauptrolle eine Tasse Tee servierte, verkündete Marlene ihren Freundinnen: Ich sehe aus wie eine Kartoffel mit Haaren!

Alle atmeten erleichtert auf, dass sie sie nicht in Watte packen und ihr etwas vormachen mussten, aber sie ermutigten sie weiter: Dein großer Durchbruch wird bald kommen!

Besser früher als später, sagte Marlene düster. Ich bin fast dreißig, diese Schätzchen hier werden nicht für immer strammstehen. Mit diesen Worten wog sie ihre linke Brust in der rechten Hand, wie eine versierte Hausfrau, die am Obststand Orangen prüft. Jedenfalls fuhr sie mit lauter Stimme fort: Warum müssen Frauen immer schöne Brüste haben?

Marlenes Freunde waren an ihr lautes Getue, selbst bei Tag in ruhigen Cafés, gewöhnt und zuckten nicht einmal mit der Wimper, während sie ihre diversen Körperteile auf und ab wippen ließ und damit erzürnte Blicke der umsitzenden Gäste auf sich zog. Sie können es sich leisten, ein wenig zu hängen, oder?

Es war noch gar nicht so lange her, dass Marlene sich der Vorstellung verschrieben hatte, in naher Zukunft eine vollendete Konzertviolinistin zu sein. Wie ernüchternd, zu der Einsicht zu gelangen, dass sie zwar äußerst geübt an der Violine war, aber technisches Können ab einem gewissen Niveau wenig bis nichts bedeutete. Können war vorhersehbar. Der Kinopalast zahlte, aber er war kein Konzertsaal. Was war ihr Zauber, und wo in ihr schlummerte er? Außerdem hatte sie Angst davor, die Violine aufzugeben und nach einem Teil von sich zu suchen, der am Ende vielleicht nicht einfach nur schlummerte, sondern gar nicht erst da war, um dann am Ende die Peinlichkeit der Niederlage verlogen als Mangel an Möglichkeiten wegwischen zu müssen. Eines Abends, während der Untermalung einer romantischen Dramedy, erkannte Marlene mit reinster Klarheit, wie nahtlos der Pfad der zweiten Violinistin im Orchester eines Kinopalasts in den der mäßigen Musiklehrerin an einer Mädchenschule überging, um schließlich in dem der privaten Geigenlehrerin für Kleinstadtkinder und deren sentimentale Eltern zu enden.

Am nächsten Morgen diente sie ihre Kündigung an. Der Direktor nahm sie beiseite.

Sie sind eine unserer besseren Spielerinnen, sagte er. Ich möchte, dass Sie das wissen.

Vielen herzlichen Dank, sagte Marlene. Sagen Sie mal, glauben Sie an Gott? Sie drückte sich enger an ihn. Unwillkürlich zuckte er vor der unerwarteten Nähe zurück. Ja, soufflierte sie, während sie ihm zuzwinkerte, oder nein?

Was, ja, stammelte er. Natürlich vertraue ich auf Gott. Sie nicht?

Leider nicht, sagte Marlene. Also sehen Sie, fügte sie hinzu, als wäre es ihm zuliebe: Wenn es weder einen Heiland noch ein Paradies in meiner Welt gibt, wäre es doch am besten, noch in diesem Leben einmalig zu sein.

Sie tat so, als bemerkte sie nicht, wie sich der Direktor einen halben Schritt von ihr fortschob, um zwischen ihnen wieder eine respektablere Distanz herzustellen. Alles Gute, verkündete er behutsam, während sie ihren Abschied vorbereitete. Ein Schweißtropfen zeigte sich mit perfektem komödiantischem Timing auf seiner Stirn. Marlene ließ ihren Hut fallen, dann ihren Mantel und brach in Gelächter aus.

Jetzt im Ballsaal setzten die Violinen zu einem leichten und höflichen Strauss-Walzer an.

Marlene starrte finster ein arg plumpes Glissando nieder, bis es verklang. Als sie aufsah, bemerkte sie, wie sich die Chinesin mit einigen Verneigungen von dem Mann mit dem verschnupften Nasenhaar, der nun an der Spitze der Schlange stand, entfernte. Er fuchtelte ungläubig mit den Händen durch die Luft und weigerte sich, sie gehen zu lassen, wurde aber von einer Brünetten mit bauschigem Haar und einem langärmeligen Kleid beiseitegeschoben. Nicht weit hinter ihnen stand ein Fotograf mit seiner Kamera. Ein Kellner turnte durch die Gesellschaft aus sich ständig in Bewegung befindlichen strahlenden Menschen und bot Champagnerflöten an. Was für ein Zirkus!

Marlene kippte ihr Getränk runter und ging rüber.

Als wäre pausenloses Tanzen nicht schon herausfordernd genug, musste Anna May auch noch ihren Atem darauf verschwenden, leichte Konversation mit jedem weißen Trottel zu führen, der ihren Namen wissen wollte und wie es in China so war, wie lange sie in Berlin sein werde, ob sie wirklich eine Hollywoodschauspielerin sei, vielleicht könne man sie etwas herumführen? Und das alles, während sie ein Nachsehen mit denjenigen haben musste, die aus dem Takt gerieten und ihr auf die Füße traten. Sie schwitzte stark unter den Armen. Ihr Kleid war ärmellos und schwarz, also musste sie sich wegen Schweißflecken keine Gedanken machen, aber sie wollte wieder zu Atem kommen, und ihre Lippen waren es müde zu lächeln.

Der letzten Treibhund drehte und wirbelte sie mit einer solch selbstgefälligen Begeisterung herum, als wäre sie ein neu gekaufter, handgewebter Teppich, den er in seinem Wohnzimmer ausrollte, um ihn für alle Zeiten bewundern zu können. Als die Melodie verklang, beugte er sich zu ihr vor. Sie dachte, um sich zu bedanken.

Nur, damit Sie es wissen, flüsterte er ihr ins Ohr: Auf diesem Kontinent bin ich dafür bekannt, Spendierhosen zu tragen!

Unsicher, was sie mit dieser Information anfangen sollte, antwortete sie: Das ist aber nett.

Nun, sagte er. Haben Sie sich schon entschieden, mit wem Sie die Nacht verbringen werden?

Anna May biss sich auf die Innenseiten der Wange, um sich nichts anmerken zu lassen. Vor drei Männern hatte sie bereits beschlossen, den nächsten Tanz abzulehnen. Doch jedes Mal, wenn der nächste Gast hervortrat, fand sie sich nicht in der Lage, Nein zu sagen, und sie bemerkte, dass ohnehin jeder mehr als gern ihr Zögern als Schüchternheit, wenn nicht sogar als freudige Erwartung missverstand, wenn er ihre Hand ergriff. Was sie abstieß, war ihre beständige Unfähigkeit, in solchen Situationen in unmittelbarer Übereinkunft mit ihrem eigenen Empfinden zu reagieren. Es fiel ihr leichter, sich selbst zu kasteien, als jemand anderem weniger Platz einzuräumen. Es musste schon hart auf hart kommen, bevor sie auf ihre eigenen Bedingungen bestand. Als endlich andere Musik gespielt wurde, entfernte sie sich mit höflichen Verneigungen von dem nächsten Mann in der Schlange.

Er, mittleren Alters und mit schmierigem Haar, war von ihrer Ablehnung wenig begeistert.

Nach alledem?, fragte er mit kantig-deutschem Akzent auf Englisch und weigerte sich nachzugeben, während er mit seinem Stock zur Schlange wedelte, in der er gestanden hatte. Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Auch sie selbst hätte gern die Antwort auf diese Frage gekannt, aber um ihnen beiden aus dieser Situation he­rauszuhelfen, sagte sie: Ich bitte um Verzeihung, aber ich fürchte, ich brauche dringend ein Glas Wasser.

Der Kellner hatte nur Moët & Chandon.

Er versprach, mit Wasser zurückzukommen.

Sprudel, sagte er. Nur für Sie.

Still ist wunderbar, rief sie ihm nach, stilles Wasser bekommt mir besser, wenn es Ihnen nichts ausmacht? Aber er war bereits verschwunden, um Mineralwasser zu holen. Als sich Anna May umdrehte, stand eine mehlgesichtige Brünette in einem langärmligen metallischen Strickkleid etwas zu nah bei ihr und stellte sich mit »so wie Sie, auch eine Schauspielerin, aber hier in Berlin« vor. Sie war gut gekleidet, wenn auch auf die befangene Art eines frisch frisierten Pudels, und sie hatte schnelle, stechende Augen. Ohne Smalltalk fragte sie nach praktischen Tipps für einen Wechsel nach Hollywood. Ich habe bereits in einigen Bergfilmen mitgewirkt, sagte die Brünette. Gibt es Bergfilme in Amerika? Brauche ich einen Agenten?

Ich bin mir bei den Bergen nicht sicher, sagte Anna May, aber solange es darin eine Liebesgeschichte gibt …

Es stimmt also, nicht wahr? Eine Blonde trat hinzu und unterbrach ganz nebenbei ihre Unterhaltung. Nur Tunten wissen, wie man sich als Frau sexy kleidet.

Anna May hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, aber die Blonde hatte eine charmant nasale Stimme. Eine gewellte Haarlocke fiel ihr lose in die Stirn, als sie kurz an ihrer Zigarette zog, die sie senkrecht in einen pfeifenförmigen Halter gesteckt hatte. Sie nickte anerkennend in Richtung eines knabenhaften Mannes in einem roten Kleid. Das Kleid des Mannes war bis zu seinem Steiß ausgeschnitten, und er hatte sich bei einem anderen Mann in einem Samtjackett untergehakt, der eine passende weinrote Ansteckrose am Revers trug.

Ich persönlich finde solche geistigen Verirrungen beunruhigend, sagte die Bergfilm-Schauspielerin, nachdem das Paar vorbeigegangen war. Da könnte die Welt genauso gut kopfstehen.

Die Blonde blies den Rauch in ihre Gesichter, statt ihn hochzupusten.

Was wäre so schlimm an einer Welt, die auf dem Kopf steht?, fragte die Blonde und schob sich die Locke aus der Stirn. Frauen wären Könige, und ich würde die ganze Zeit Hosen tragen.

Anna May sah, wie die Brünette um eine Erwiderung rang, aber bevor sie den Mund aufmachen konnte, näherte sich ihnen ein würdevoll wirkender Mann mit einer Kamera (oder war es nur ein Mann mit einer würdevoll wirkenden Kamera?). Die Brünette stürzte sich auf ihn, um ihn in eine gesellschaftliche Umarmung zu verstricken.

Er wollte ein Bild von ihnen machen.

Von uns dreien zusammen?, fragte die Brünette zögerlich.

Ja, antwortete der Fotograf, wenn sie sich dazu angemessen in der Lage sahen?

Als sich die drei zusammenschoben, traf Anna May den Blick der Blonden. Er war ausgelassen und anmaßend. Sah diese Frau alle Menschen in ihrem Leben auf diese Weise an, und wie kam sie damit durch? Bevor Anna May wegsehen konnte, war der vordere Teil ihres Kleids nass.

Die Champagnerflöte war der Blonden aus der Hand gerutscht.

Es tut mir so leid, sagte die Blonde, hielt Anna Mays Perlenkette hoch und tupfte die Feuchtigkeit mit einem parfümierten Seidentaschentuch auf. Dafür gehört mir ordentlich der Hintern versohlt!

Darüber schnaubte die Brünette empört. Obwohl er versuchte, seine Belustigung zu verbergen, war es offensichtlich, dass der Fotograf das frivole Schauspiel genoss. Der nasse Stoff klebte ihr an der Haut, und Anna May versuchte, ihre Rippen und Brüste einzuziehen, um sie von der Vorderseite des Kleids wegzubringen. Zum ersten Mal weit weg von zu Hause zu sein, machte sie schon nervös genug – sie hatte Angst, sie könnte sich blamieren, selbst wenn sie sich amüsierte –, auch ohne ein unglückseliges Garderobenproblemchen.

Vor der Reise hatte sie eine kommentierte Liste mit Fragen und Antworten zusammengestellt.

Können Sie uns von den Filmen erzählen, in denen Sie mitgespielt haben, an welchen Projekten arbeiten Sie in Europa, wer sind Ihre Lieblingsregisseure, wollten Sie schon immer Schauspielerin werden? Sie hatte sich phonetische Anmerkungen in ihr Notizbuch geschrieben, wie man am besten Robert Wiene und Fritz Lang aussprach, aber bisher lautete die ihr am häufigsten gestellte Frage: Was soll das heißen, Sie kommen gar nicht aus China? Da sie in L.A. geboren und aufgewachsen war, musste Anna May zugeben, sich nicht im Geringsten auf diese Frage vorbereitet zu haben. Als sie klein war, hatte ihr Vater ihr erzählt, China befände sich von Kalifornien aus gesehen auf der anderen Seite der Welt. Später fragte sie ihn, ob das bedeutete, dass die Menschen in China mit dem Kopf nach unten gingen. Ihr Vater lachte und tätschelte ihr den Kopf. Eine schlüssige Antwort blieb aus, und sie wagte nicht, noch einmal nachzufragen.

Der Junge, der in der Schule hinter ihr saß, hatte davon angefangen.

Sein Vater war ein anthropologischer Kraniometrist.

Menschen in China gehen mit dem Kopf nach unten, erklärte der Junge sachlich, deshalb sind eure Gehirne weniger gut entwickelt. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, ihm gegenüber besser den Mund zu halten, also sagte sie nichts. Warum lässt du’s nicht einfach sein?, hatte der Sohn des Kraniometristen früher schon gefragt, als sie ihn in einem Streitgespräch herausgefordert hatte. Es ist ganz egal, ob du recht hast oder nicht, sagte er mit einem vielsagenden Lächeln, das seinem Alter weit voraus war. Du wirst sowieso niemals bei irgendwas gewinnen. Noch bevor Anna May fragen konnte, wie er das meinte, zog er Schlitzaugen, und sie verstand genau. Während der Vorbereitung auf diese Party hatte sie zwischen dem Wunsch geschwankt, so glamourös wie möglich auszusehen, und der Angst, zu sehr aufzufallen. Im letzten Moment hatte sie auf große Zier verzichtet, zugunsten eines einfachen schwarzen Kleids mit einem durchschimmernden Einsatz an den Schultern und einer langen Perlenkette. Sich für Schwarz entschieden zu haben, stellte sich als Glücksfall heraus, denn in diesem Saal voller modischer Fremder hätte sie sich mit einem Weinfleck auf einem hellen Kleid nirgendwo verstecken können.

Ein Kellner kniete zu ihren Füßen, um mit seinen weißen Handschuhen die Glasscherben aufzusammeln. Keine Sorge, glaubte sie die Blonde sagen zu hören, ich werde es wiedergutmachen. Anna May war durch den berauschenden Duft des Taschentuchs der Blonden verwirrt. Er hatte gar nichts Süßes. Er erinnerte sie an ledergebundene Bücher und die Jutesäcke der Gewürzhändler in Chinatown.

Die Blonde zwinkerte ihr zu.

Verblüfft versuchte Anna May sich daran zu erinnern, ob ihr schon jemals eine Frau zugezwinkert hätte. Nein, sie glaubte, dass dies das erste Mal sein müsste. Da lag nichts Boshaftes im Blick der Blonden, aber warum sonst würde eine Frau auf einer schicken Party ihr Getränk über eine andere gießen?

I

Den ganzen Abend lang versuchte Leni, in den Blickwinkel des Fotografen zu gelangen, damit er ein Bild von ihr machte. Sie wusste, dass es sich bei ihm um einen Alfred Eisenstädt handelte, bei den Modemagazinen auf dem aufsteigenden Ast und mit guten Beziehungen zu den nennenswerten Zeitungen.

Unglücklicherweise bemerkte er sie ausgerechnet in dem Moment, als sie eingekeilt war zwischen einer exotischen Besucherin, die sicherlich wegen ihres ausländischen Aussehens im Mittelpunkt des Bilds stehen würde, und dieser schrillen Möchtegernschauspielerin, die Leni bereits in kleinen Nebenrollen neuerer Filme gesehen hatte. Das würde ein merkwürdiges Bild geben, und die Blonde hatte echtes Glück, überhaupt dabei sein zu dürfen, schließlich war sie nicht einmal eine echte Schauspielerin, nur eine von den vielen willigen Weibsbildern, die verbissen versuchten, einen Fuß in die Tür zu bekommen! Leni konnte diesen ranzigen Optimismus bereits aus einem Kilometer Entfernung riechen, und sie musste sich gewaltig zusammenreißen, um beim Anblick dieser Frau nicht die Nase zu verziehen.

Du musst dich innerlich von der Mittelmäßigkeit distanzieren, wenn du auf dem Bild gut aussehen willst –

Zähne oder keine Zähne?

Keine Zähne – die Augen tragen das Lächeln, das Kinn leicht gesenkt, der Ellenbogen gerade so weit abgesetzt, dass er gegen die Körperseite fiel. Leni hatte genügend Selbstporträts aus unterschiedlichen Winkeln und mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken ausprobiert, um festzustellen, dass sie generell am geheimnisvollsten auf Fotos wirkte, wenn sie die Lippen geschlossen hielt und den Kopf leicht neigte. Die erste pneumatische Zeitverzögerungsvorrichtung, die sie sich als Selbstauslöser für ihre Verschlussklappe gekauft hatte, war federbetrieben. Dadurch gab es eine Verzögerung von anderthalb bis drei Sekunden. Als ein Modell mit Fernauslöser auf den Markt kam, das neun Sekunden Verzögerung bot, besorgte sie es sich auf der Stelle.

Leni wünschte, sie würde erst noch einen Blick in den Spiegel werfen können, aber dafür war keine Zeit. Männer wie er, die eine leichtgewichtige Leica einer imposanten Hasselblad vorzogen, wurden von der vermeintlichen Authentizität des Spontanen angezogen.

Zuerst stand sie zwischen den beiden Frauen, dann begab sie sich nach links. Es würde ein besseres Bild geben, mit der Chinesin in der Mitte, und außerdem kaschierte es ihren unregelmäßigen Blick, wenn Leni in einem leichten Winkel stand. Bei Lenis Geburt weinte ihre Mutter bitterlich, als sie den leichten Silberblick ihres Babys bemerkte. Neun Monate lang hatte ihre Mutter gebetet: Lieber Gott, schenke mir eine schöne Tochter, aus der eine berühmte Schauspielerin wird! Die Inbrunst in den Gebeten ihrer Mutter rührte von ihrem eigenen Traum her, den sie fest in ihrem Herzen verwahrte, einem so geheimen und doch so üblichen Traum, so geheiligt und doch so banal unter Mädchen einer jeden Epoche: Auch sie hatte Schauspielerin werden wollen. Alles konnte erreicht werden, solange man nur den Willen dazu aufbrachte. Während ihrer Jugend im vorstädtischen Berlin hatte Leni versucht, ihr schielendes Auge mithilfe eines Handspiegels gerade auszurichten, bis es im Alltag kaum noch auffiel. Nur bei Fotos musste sie aufpassen, weil dieser Defekt dort gelegentlich sichtbar wurde.

Was ihre Zukunft betraf, so glaubte Leni fest an eine strahlende, und sie konnte es kaum erwarten. Sie hatte mit einundzwanzig ihre erste öffentliche Darbietung in modernem Tanz gehabt – vor ausverkauftem Haus. Ein wohlhabender Bewunderer hatte den Konzertsaal finanziell unterstützt und war ritterlich genug gewesen, einen großen Batzen unverkaufter Karten abzunehmen. Nichts war mehr schwer, wenn man die richtigen Leute kannte. Als sich Leni das Knie brach, war es längst nicht vorbei: Noch während sie an Krücken ging, vollzog sie ihre Wandlung zur Schauspielerin, indem sie die Aufmerksamkeit eines Regisseurs auf sich zog, ehe ihre Knochen verheilt waren. Mit noch nicht sechsundzwanzig konnte sie bereits auf ein umfangreiches eigenes Œuvre zurückblicken, aber Leni wollte der Grund für etwas sein, sie wollte, dass man ihren Namen kannte, und sich selbst definitiv auf dem richtigen Weg zu wissen, bereitete ihr große Zufriedenheit.

Anders als zweitklassige Niemande wie diese Blonde, die in einem letzten verzweifelten Versuch strandete, eine öffentliche Szene zu machen. Nichts bereitete Leni größeren Schmerz, als sich mit einer Frau abgeben zu müssen, die nicht wusste, wie sich Frauen zu benehmen hatten. Manchen Leuten sollte der Zutritt zu Partys verwehrt werden. Man musste sich doch nur ansehen, was sie trug. Sie bräuchte dringend eine Empfehlung für einen guten Couturier – wenn sie sich nur einen leisten könnte! Knallbunte Schärpen mit aufdringlichen Mustern kreuzten ihren Körper, und hatte sie wirklich eine weiße Schwanenfeder an ihre Handtasche gesteckt? Allein ihr Stil reichte aus, um Leni Kopfschmerzen zu bereiten. Dies war der Berliner Presseball 1928, nicht der rheinische Karneval. Die Blonde hatte versucht, allen anderen mit ihrem idiotischen, pfeifenförmigen Zigarettenhalter die Schau zu stehlen, und als dem niemand Aufmerksamkeit schenkte, hatte sie die Unverfrorenheit besessen, ihr Getränk über das Kleid der chinesischen Schauspielerin zu kippen, die den ganzen weiten Weg aus Hollywood zu Besuch gekommen war. Was sollte sie jetzt nur von Berlin halten?

Zu Lenis Überraschung lachten die beiden gemeinsam, und die chinesische Schauspielerin hatte kein Theater deswegen gemacht. Sie ging sogar so weit, die halb gerauchte Zigarette der Blonden wieder anzuzünden. Die Blonde musste mit aller Macht einatmen, weil der Zigarettenhalter so lang und dünn war. Dann musste sie husten, weil sie zu tief eingeatmet hatte. Die chinesische Schauspielerin klopfte ihr auf den Rücken. Die Zigarette ging wieder aus.

Der Fotograf hatte ein Lächeln im Gesicht: Ach, Frauen.

Leni stellte sich vor, was er sah. Sie konnte mit Leichtigkeit die Perspektive des Publikums oder einer Kamera einnehmen, indem sie das, was sie sah, umkehrte. Sie hatte einen Instinkt für die Inszenierung und würde später die Erkenntnisse einer Tänzerin – dass Schönheit in der Linie liegt – vorbehaltlos auf die Leinwand übertragen. Ihren Arm, schwebend in einer dekonstruierten Arabesque, die Anmut der Schwerkraft in einem akrobatischen Turmsprung einfangend, die karge Hakenkreuzflagge mit einem zwanzigtausend Mann starken Marschtrupp kontrastierend – sie hatte ein einmaliges Talent für bildnerische Harmonie, und sie ließ keine Möglichkeit verstreichen, es zu zeigen. Was werft ihr mir vor?, wandte sich Leni nach dem Krieg an die Presse. Lasst uns nicht nachträglich unsportlich sein. Wenn die Filme, die ich gedreht habe, wirklich Propaganda waren, hätten sie dann Preise gewonnen und wären auf all den Filmfestivals gezeigt worden? Ich war gut in dem, was ich tat. Das sah er in mir, sonst nichts. Natürlich hatte dies keine der Zeitungen davon abgehalten, noch widerlichere und entsetzlichere Schlagzeilen zusammenzuschmieren: RIEFENSTAHLS NACKTTÄNZE FÜR DAS DRITTE REICH; NAZIDIRNE MIT FILMKAMERA.

Eisenstein drehte Filme für Stalin, sagte Leni den Zeitungen, und niemand nennt ihn eine Dirne. Liegt es daran, dass ich Filme für die NSDAP gedreht habe, oder daran, dass ich eine Frau bin?

Aber der Rückblick ist eine reif erscheinende Frucht, die ein paar hinterhältige Äste zu hoch hängt. Ob ihr Fleisch herb oder süß ist, wissen wir erst, wenn alles zu spät ist. Fairerweise muss gesagt werden, dass in diesem Moment all diese Versatzstücke noch in der Luft hingen und alles auch ganz anders hätte kommen können. Die Weltwirtschaftskrise war noch ein Jahr entfernt, die reorganisierten Nationalsozialisten hatten bei der letzten Reichstagswahl jämmerliche 2,6 Prozent erhalten, Hitler war nur einer von vielen Aufwieglern mit einem öffentlichen Redeverbot, der erst kürzlich aus Angst, zurück nach Linz abgeschoben zu werden, seine österreichische Staatsbürgerschaft aufgegeben hatte, und Leni würde überhaupt erst noch eine Filmkamera in die Hand nehmen müssen. Jetzt war sie einfach nur eine Schauspielerin, die zusammen mit zwei anderen jungen Frauen auf einer Party für einen Fotografen posierte und leicht den linken Fuß vorschob, damit ihr das Kleid um die Waden fiel und ihrem Körper schmeichelte, während sie sich, als sie den Blendenverschluss klicken hörte, vorstellte, wie das Bild werden würden: im Vordergrund die drei Frauen von ungefähr gleicher Größe – alle drei groß gewachsen, die Chinesin sogar ein wenig größer als die anderen beiden –, im Hintergrund ein vergoldeter Spiegel, eingerahmt von gestreifter Tapete.

Der Fotograf strich zügig mit dem Daumen über den Knopf, um den Film weiterzutransportieren, und ein ratterndes Zischen ertönte, der Paarungsruf einer einsamen Zikade in einer ruhigen Sommernacht, eine halbe Sekunde blendender Blitz, der in die weiße Hitze der Feier eindrang, während das unparteiische und allsehenden Auge seiner Kamera die Porträts der drei Frauen penibel gemeinsam erfasste.

Der einzige Lieferant von Madame Bovary

2

Marlene hatte sich die hübsche Idee zurechtgelegt, dass der Junge sie wieder anrufen würde, wenn sie nur Make-up auflegte und ihr Zimmer perfekt herrichtete. Aber es war kaum noch genug Farbe für ihre Lippen da, die Lilien stanken, und das Dienstmädchen, das einmal die Woche vorbeikam, war spät dran.

Sie tastete auf dem Nachttisch nach ihrem Perlmutt-Opernglas und stellte es auf die Kristallvase am anderen Ende des Zimmers ein. Lilien betrachten: eine Sportart, in der sie es erstaunlich weit gebracht hatte, wenn man von dem steifen Nacken absah.

Ihrer Einschätzung nach hatte sie die Lilien höchstens zehn Minuten lang betrachtet, aber wenn man den juwelenbesetzten Zeigern der neben ihr liegenden Armbanduhr Glauben schenkte, war eine ganze Stunde vergangen. Für eine siebenundachtzig Jahre alte Frau, die allein lebte, war dies eine bedenkliche und erschreckende Angelegenheit, aber Marlene nahm es gelassen hin und wandte sich wieder ihrem Opernglas zu, gerade als ein schlaffer Blütenkopf von seinem verwelkten Stängel auf den weißen Teppich hi­nabschwebte.

Sie hielt drauf und stellte scharf.

Tote Ratte, hätte sie laut gerufen, wäre jemand in ihrer Wohnung gewesen, um es zu hören. Kaputter Penis! Aber sie war sich recht sicher, dass sie allein war. Sie ging wieder dazu über, mit ihrem kleinen Finger Farbpigmente aus dem polierten Stahlröhrchen zu bergen. Als sie ein Klümpchen zusammengekratzt hatte, trug sie es behutsam auf und suchte auf dem Rücken eines Silberlöffels nach dem impressionistischen Fleck, der ihren Mund darstellte.

Es war lange her, seit Marlene zuletzt in einen Spiegel geschaut hatte, und noch länger, dass sie natürliches Licht gesehen hatte. Seit über einem Jahrzehnt hatte sie das Haus nicht mehr verlassen. Abgesehen von der mit Perlen besetzten Glaslampe und dem Fernseher nahe dem Fußende ihres Betts war es dunkel in ihrer Wohnung.

Ihre kaputten Beine ließen sie nicht mehr am Fenster stehen und den Blick aus dem vierten Stock über die Dächer von Paris genießen, aber mit Gänsefederkissen und einem Lammfell in eine zweckmäßige Bettpose gestützt, war ihr der Himmelsfetzen, den sie noch zu Gesicht bekam, ein angemessenes Trostpflaster. Vor einigen Jahren war ihr dieser Trost jedoch auf das Brutalste genommen worden, als ein Fotograf für eine Boulevardzeitung einen Hubsteiger angemietet und vor der Avenue Montaigne Nummer 12 platziert hatte.

Einen Wartungsarbeiter mimend, hatte er die Bühne direkt vor ihr Fenster gehoben und ein Teleobjektiv darauf gerichtet. Als sie den geneigten Kopf und die angehobenen Ellbogen erspähte, dachte Marlene, er wäre ein Attentäter mit einer riesigen Schrotflinte. In großer Dankbarkeit schloss sie die Augen und verschränkte die Hände keusch unter den Brüsten, denn ein Star von Marlenes Strahlkraft musste zwangsläufig auf eine dieser beiden Arten gehen: laut oder früh. Da sie für einen frühen Tod nicht clever genug gewesen war, bereitete ihr ihr mehr als achtzig Jahre umfassender Nachruf Sorge, und viele schlaflose Nächte hatte sie bereits damit vergeudet, sich ängstlich auszumalen, wie der Hausmeister ihre gemächlich in eine Bettpfanne zerfließende Leiche fand. Ein Mord war stilvoller als Krebs, und er verschwendete weder Zeit noch Geld. War es der Fan, der ihr letzte Weihnachten selbstgemachte, dezent mit seinem Samen glasierte Brownies geschickt hatte? Baby, lass mich in deinem Mund schmelzen, hatte auf der Karte gestanden. Oder der, der ihr ein Bild seiner rasierten Wade gesendet hatte, auf der ein erschreckend fotorealistisches Tattoo ihres sehr viel jüngeren Ichs zu sehen war?

Junge, schrieb sie nüchtern zurück. Fang schon mal an, für den Laser zu sparen.

Noch immer am Leben, öffnete Marlene die Augen. Das Opernglas auf das Fenster gerichtet, erkannte sie zu spät, dass es sich um den Feind handelte: einen Fotografen.

Mit den Ellbogen stieß sie sich mühsam aus dem Bett. Als sie etwas Gewicht auf ein Bein verlagerte, protestierten ihre Knie sofort. Im Sturz warf sie sich das Lammfell übers Gesicht, um es zu verbergen.

Das Bild erschien exklusiv in einem Klatschblatt namens Oops!

Glamour gestaltete sich alles andere als mühelos, und sie war stets bereit gewesen, hart für diese Illusion zu arbeiten, aber worüber niemand jemals sprach, waren die immer schwieriger zu handhabenden Begleiterscheinungen. Ihr Image wurde mit dem Älterwerden zu einer enormen Belastung. Sie hatte so lange wie möglich die Stellung gehalten und war schließlich untergetaucht, als es unmöglich geworden war. Es war zu spät, um damit aufzuhören, damals wie jetzt, weil sie ein ganzes Leben auf einer Halbwahrheit aufgebaut hatte. Marlene zahlte dem Hausmeister ein kleines Vermögen, um Verdunklungsgardinen in ihrer Wohnung anzubringen. Der letzte dünne Lichtstrahl, der noch schnurgerade zwischen Fenster und Vorhang hervordrang, wurde mit Panzerband eliminiert. In der Dunkelheit hatte sie versucht, sich aufzumuntern: Es ist genau wie im Mutterleib. Aus irgendeinem Grund fühlte sich dieser Gedanke schrecklich an. Schnell schob sie ihn beiseite und versuchte es noch einmal: Es ist wie in einem Kino, bevor der Film anfängt!

Ab und zu stellte sich Marlene ganz genau die Morgensonne vor, die das träge Wasser der Seine aufheizte, die Fensterrosen von Notre-Dame und diese neumodische Glaspyramide, die vor dem Louvre aufragte und die von allen als abscheulich bejammert worden war. Sie liebte all das. Ihren italienischen Lieblingsmetzger, dessen halb zerkaute ledrige Zigarren sie rauchte, während er ihr Kalbskoteletts klopfte, die russische Spelunke, in der sie mit rötlicher Perücke und Sonnenbrille Stammgast war und wo der Hausmusiker, ein riesenhafter Kerl mit Händen so groß wie Baseballhandschuhe, sie mit leichtfüßigen Hymnen auf der Violine zum Weinen brachte.

Nichts davon war mehr Teil ihres Lebens, und es lag Jahre zurück, dass sie ihr Gesicht eingecremt oder die Lippen geschminkt hatte, aber jetzt, da sie sich wieder etwas vom Universum wünschte, war Marlene bereit, sich anzustrengen, ihre physische Energie floss doch garantiert auf das Unwiderstehlichste in die unsichtbaren Kräfte, die diesen Planeten und seine verworrenen Verbindungen steuerten. Das war kaum der entkräftete Unfug einer Frau, deren Neunzigster bedrohlich näher rückte. Sie bezeichnete ihre Überzeugungen als metaphysisch, nicht etwa als spirituell. Seit der Pubertät hatte sie, ein Steinbock von Ende Dezember 1901, unerschütterlich an die Astrologie geglaubt. Ihre Kühnheit erklärte sie mit ihrem Geburtshoroskop. Bevor sie ihren besten Rock mit ihrer ersten Periode befleckte, hatte sie bereits ihren Namen verworfen, um ihn sich zu eigen zu machen: Mar(ie Magda)lene. Das war sehr viel klarer und deutlicher, gestutzt um die hübsche Verlogenheit kirchlicher Übergoldung.

Was ihren Nachnamen anging, so konnte dieser bleiben: Sie mochte alles an ihm.

Mit einem Dietrich ließ sich jedes Schloss öffnen.

Um den Anruf des Jungen heraufzubeschwören, hatte sie sich während der vergangenen Woche mit hautfarbener Chemise und Höschen und ihrem unverkennbaren Schwanenmantel bekleidet, der aus den geschmeidigen Federn von dreihundert weißen Schwänen – Tierschutzorganisationen hatten ihr aufgebrachte Briefe geschrieben, um ihr mitzuteilen, dass eine Trendsetterin wie Marlene verpflichtet sei, sich deutlich verantwortungsbewusster zu kleiden – für ihre Varietépremiere 1957 in Vegas maßgefertigt worden war. Sie besaß zwei identische Mäntel, die für eine Königin ausstaffiert waren. Sie zogen derart lange Schleppen hinter sich her, dass sie kaum in der Lage gewesen war, sich auf der Bühne in ihnen zu bewegen. Einer der Mäntel war an ein Museum gegangen, und den anderen hatte sie zu einem weniger mühsamen Teil umschneidern lassen. Drei Telefonanrufe hatte sie erhalten, seit sie wieder Wert darauf legte, sich schick zu machen, aber der Anruf, den sie sich wünschte, war nicht darunter gewesen, also holte sie für den heutigen Tag ihr Glücksarmband mit Diamanten und das Make-up hervor.

Jeder dritte Stein, der das Armband zierte, war Strass.

Marlene hatte es sich für eine Violinvorspiel im Internat von ihrer Lieblingstante erbettelt. Tante Jolie hatte gesagt: Solange du es trägst, als wären alles Diamanten, wird niemand in der Lage sein, den Unterschied zu erkennen, das verspreche ich dir!

Als sie mit dem Lippenstift fertig war, ging Marlene zum Mascara über, legte aber die Mascarabürste bald wieder zur Seite, weil ihre rheumatische Hand kein Mascara auf Wimpern auftragen konnte, ohne sich dabei ein Auge auszustechen. Es machte nichts, sobald das Hausmädchen mit ihren Blumen und Zeitungen kam, konnte sie helfen. Ihre Hände waren klein, aber ruhig.

Die langsam verfaulenden Lilien rochen besorgniserregend, als stünden sie nicht auf dem Kaminsims, sondern direkt neben ihr. Es war ein übler, feuchtheller Geruch, von dem Marlene schwindelig wurde und der kalten Schweiß unter ihren Armen hervorrief – wenn man bedenkt, dass sonst immer frische Blumen in prächtigen Bouquets ihrer Person vorausgeeilt waren!

Ihre persönliche Lieblingsblume war die bescheidene Tuberose, aber seit sie Shanghai Lily in Shanghai-Express gespielt hatte, dachte niemand mehr daran, ihr irgendetwas anderes als Lilien zu schenken. Pressekonferenzen, Studiowohnwagen und Hotelzimmer quollen von der ihr zum Markenzeichen gewordenen Blüte über. Sie hielt sich nie damit auf, sie zu bewundern; alles, was in großen Mengen kommt, wird zu einer kleinen Plage. Auf ihren Reisen hatte Marlene stets zwei Badewannen gefordert. Eine, um darin zu baden, die andere, um all die Schnittblumen hineinzuwerfen. Sie hätte damals nicht so respektlos sein sollen. Jetzt, da sie ans Bett gefesselt war, rächten sich die Blumen an ihr. Marlene wappnete sich innerlich, hob einen Arm und wagte es, an ihrer Achselhöhle zu schnuppern. Wie befürchtet, war ihr Geruch von dem der seit Wochen welkenden Lilien nicht zu unterscheiden.

Sie löste ihren Kopfkissenbezug ein wenig, griff hinein nach ihrem YSL-Flakon und sprühte davon großzügig in die Luft um sie herum, damit das Eau de Parfum den Geruch von verrottenden Blumen überdeckte, in den sich gleichmäßig der von oxidierender Pisse mischte. Jener stieg von dem Porzellankrug unter ihrem Bett auf. Das momentane Mädchen war gut darin, den Krug und die Auflaufform zu säubern, aber das vorherige Hausmädchen, eine iberische Frau mittleren Alters, hatte sich erdreistet, dabei das Gesicht zu verziehen.

Man sollte froh sein, dass ich noch pinkeln kann, hatte Marlene schnippisch geantwortet.

Das Hausmädchen hatte gehen müssen, als der Vermieter vorbeikam und die Miete einforderte, die ihm Marlene seit drei Monaten schuldete. Hermelin, hör einfach nicht zu, sagte Marlene, aber die Frau hatte sich ihre Schürze abgerissen und etwas auf Spanisch gerufen. Marlene verstand sie nicht, aber der Vermieter: Sie möchte, dass Sie ein für alle Mal wissen, dass ihr Name Hermínia ist und nicht Hermelin. Marlene erwiderte, es sei außerordentlich unhöflich, einfach in ihre Wohnung zu kommen, ihr vorzuschreiben, wie sie ihr Hausmädchen zu nennen habe, und mit großkotzigen Begriffen wie Zahlungsrückstand um sich zu werfen. Sie sei im Moment ein wenig knapp bei Kasse. Das könne passieren.

Sie wurde darüber informiert, dass man ihre persönliche Habe pfänden würde.

Hören Sie auf, blaffte Marlene und schüttelte vom Bett aus eine bereits schlotternde Faust. Ich bin noch nicht tot, und wenn es Ihnen auf natürliche Weise nicht schnell genug geht, sind Sie herzlich dazu aufgefordert, mein Ableben herbeizuführen Ich darf Ihnen vorab mitteilen, was mir gefallen würde, fügte sie hinzu. Ein Messer in den Hals, achten Sie nur darauf, dass es scharf ist. Sie könnten berühmt werden.

Eine Woche lang vergrub sich Marlene ängstlich in ihrem Bett und stellte sich vor, wie sie als verkrüppelte Pennerin den Boulevard Saint-Germain entlangstreifte. Wenn ich wenigstens mein Lammfell behalten darf, dachte sie, ein Lammfell verschönert alles. Dann schaltete sich jemand vom französischen Kulturministerium ein und bezahlte ohne Aufhebens ihre Miete, »en continuant à apprécier votre rectitude et vo­tre intégrité pendant la guerre«. Man stimmte sogar zu, etwas für ein neues Hausmädchen draufzulegen, das einmal in der Woche kommen sollte.

Alte Sitten zahlten neue Rechnungen! Marlene fühlte sich königlich.

Sie schrieb zurück, unterzeichnete mit Bisous statt mit Cordialement und hängte sich ihre Medaille der Ehrenlegion wie ein Kruzifix über das Bett, um den kalten, bitteren Schweiß der Rentiers abzuwehren.

3

Bébé rannte in ihrer pastellrosafarbenen Hausmädchenuniform die Champs-Élysées entlang, in der Hand ein riesiges Lilienbouquet. Manchmal stand ihr die Laune danach, die Lilien wie einen Säugling in der Armbeuge zu halten, und manchmal hielt sie sie seitlich, mit den Blüten nach unten, hin zum Gehsteig.

Heute war sie spät dran, also hielt sie sie an die Brust gedrückt, um schneller laufen zu können.

In der Avenue Montaigne Nummer 12 wirbelte sie durch den Vordereingang, schnaufte durch und bedankte sich beim Pförtner. Mit dem Schlüssel, den man ihr ausgehändigt hatte, betrat sie die Wohnung im vierten Stock und ging ins Schlafzimmer. Die alte Frau schnarchte sanft, als sie sich näherte. Zuerst dachte Bébé, Madame hätte sich im Gesicht verletzt. Dann sah sie, dass es sich um schlecht aufgetragenes Rouge und Lidschatten handelte. Der Lippenstift hatte ihren Mund weit verfehlt, und am Kinn hing Spucke.

Bébé entfernte den Speichel mit einem Papiertaschentuch, ohne Madame zu wecken.

Nur ein paar wenige schwache Glühbirnen erhellten manche Ecken der Wohnung, aber sie kannte sich mittlerweile gut genug aus, um nirgendwo anzustoßen. Bébé machte eine frische Kanne mit schwarzem Tee und stellte sie auf den Tisch mit dem Telefon. Madame hatte drei Tische um das Bett herum platziert. Auf dem mit dem Telefon stand auch ein Rolodex. Ein anderer beherbergte ein Sortiment an Spirituosen, Schnapsgläsern und Besteck. Der letzte war bedeckt mit Briefmarken, Umschlägen und Karten, die Madame als junge Frau abbildeten. Sie schicke sie an Fans, die ihr schrieben. Jede Woche trug Bébé einen Stapel davon zum Concierge, der sie dann zur Post brachte.

Madame rührte sich.

Guten Morgen, sagte Bébé, als sie vorsichtig die Bettdecke hob und sie bis zu den Hüften zurückschlug. Madame zog es vor, die Beine bedeckt zu haben. Du bist spät, sagte die alte Frau schläfrig, sieh dir die Blumen an! Sie deutete auf den anstößigen Lilienkopf auf dem Teppich. Ich hatte dich anschreien wollen, fuhr Madame fort, aber ich fühle mich gerade nicht danach. Es tut mir leid, Madame, sagte Bébé, die Metro hatte Verspätung. Sie servierte den heißen Tee, blies auf die Oberfläche, um ihn abzukühlen.

In Gottes Namen, ich habe dir doch gesagt, ich zahle dir das Taxi, sagte Madame. Wie kann man nur erwarten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln irgendwo anzukommen, und wer weiß, welche Bakterien du dir einfängst und mir mitbringst. Komm, hilf mir, mich zu schminken.

Die alte Frau stellte ihre Teetasse ab und hielt einen Mascarastift in die Höhe.

Bébé legte die Hand unter Madames Gesicht und trug gleichmäßig Mascara auf. Sie hielt den Blick abgewandt von der hauchdünnen, durchsichtigen Chemise, unter der tief und schlaff Madames Brüste hingen. Als Bébé fertig war, spähte Madame in den unpolierten Rücken eines Suppenlöffels, in dem kaum etwas zu erkennen war. Wundervoll, sagte Madame. Wir werden ja sehen, ob er jetzt nicht anruft. Dann nahm sie Bébés Kinn in die Hand, drehte es in dem schwachen Licht in die eine und die andere Richtung.

Trägst du Make-up?, wollte Madame wissen.

Bébé schüttelte den Kopf. Nein.

Du hast sehr schöne Haut, sagte Madame, und so rosige Wangen! Die meisten von uns brauchen ihre Kriegsbemalung, um über die Runden zu kommen, fügte sie hinzu und strich mit einem trockenen, knotigen Finger über die Seite von Bébés Gesicht. Weißt du, der Maskenbildner ist der engste Vertraute einer Schauspielerin, in mehr als einer Hinsicht. Auf jedem Set weiß nur er allein, welche Nummer man anrufen muss, wenn der Produzent die Schauspielerin, die verschlafen hat, wecken muss – was bedeutet, dass er weiß, welche Nummer man nicht anruft. Kannst du mir folgen, mein Kätzchen? Oder bist du möglicherweise noch Jungfrau?

Bébé merkte, wie sie rot wurde. Die alte Frau lachte und ließ ihr Kinn los.

Nachdem sie Madame dabei geholfen hatte, es sich mit den Zeitungen gemütlich zu machen, gab Bébé ihr noch ein riesiges Vergrößerungsglas in die Hand. Madame bräuchte eine Lesebrille, sträubte sich aber vehement dagegen und verkündete, Brillen seien etwas für nichtsnutzige Großmütter. Sie wartete darauf, dass Madame die Zeitungen aufschlug, um sich dann nach den Ausscheidungsbehältern unter dem Bett zu bücken. Madame bestand für das Verrichten ihrer Notdurft auf einer Zwei-Liter-Auflaufform und einem Porzellankrug mit handgemalten Rosen. Der Geruch von frischer Druckerschwärze überdeckte für einen Moment den Gestank nächtlicher Harnsäure, als Bébé Auflaufform und Krug aus dem Zimmer beförderte. Als sie damit anfing, die Exkremente von Madame zu entsorgen, war Bébé überrascht davon, wie anders der Urin von alten Leuten roch – ganz anders als ihr eigener. Deren roch schwer und mineralisch. In ihrem Dorf in Taishan hatten sie draußen ein Plumpsklo ohne Rohre. Weil alles auf einem Haufen landete, war es nicht möglich gewesen zu unterscheiden, wessen wonach roch.

Im Sommer verscharrten sie alles und gruben ein neues Loch.

Eines Sonntagabends, nach ihrer Schicht bei Madame, machte sie sich auf den Weg zum 13. Arrondissement, wo Chinatown sein sollte. Sie ging unter dem roten Zierbogen hindurch, auf dem 唐人街 prangte, hinein in den Gestank von Gemüsegroßhandel und zwei Tagen altem, nicht abgeholtem Müll, ein betagter Mann schlurfte in kaputten Gummisandalen, die er über dicken Socken trug, an ihr vorbei und sang ganz leise auf Kantonesisch vor sich hin, die Wohnungen drängten sich wie schlechte Zähne, eine grellbunt geblümte Tagesdecke hing neben einem riesigen, ausgebleichten BH aus einem Fenster, und Bébé empfand eine Abscheu, die sehr viel zärtlicher war, als sie vermutet hätte. Wenn ihre Leute die Welt durchquerten und an einem Anlaufhafen weit entfernt von China von Bord gingen, wie kam es da, dass sie es schafften, ihren Teil von Paris so erkennbar, so vertraut zu gestalten?

Manchmal, wenn sie die Toilettenböden in den höhlenartigen Bürogebäuden putzte, in denen sie an Wochentagen arbeitete, oder bei Madame an Sonntagen weichen Stuhl ins Klo spülte, fiel es ihr schwer zu erkennen, was es bedeutete, hier zu sein. Aber aus der Metro zu steigen und zur Avenue Montaigne zu gehen, erinnerte sie zuverlässig daran, dass sie in Paris war, es nach Frankreich geschafft hatte. Sie war das erste Kind auf beiden Seiten ihrer Familie, das überhaupt je aus der Provinz Guangdong herausgekommen war. Sie verfiel auf Kopfsteinpflaster in Gleichschritt mit gut gekleideten Parisern in gedeckten Farben, blätterte an Zeitungskiosken am Straßenrand durch Modemagazine, die sie nicht lesen konnte, hielt inne am nächsten Kreisverkehr, während ein Taubenschwarm auf dem ausgestreckten Arm einer Kalksteinskulptur landete, und Bébé fühlte sich besser, dann schlechter, dann wieder besser.

Diesmal war Madames Stuhl genau wie ein Mini-Croissant geformt.

Sie zog die Toilettenspülung, und die Mini-Croissant-Form wurde von der Kraft des Wassers zerstört. Bébé war fasziniert von den vielen verschiedenen Brotsorten, die man in Paris bekam. Brot war für sie etwas vollkommen anderes als Reis. Sie gab sich Mühe, sich die Namen aller Brotsorten zu merken und übte ihre Aussprache, damit sie in der Boulangerie nicht dumm dastand: Baguettes, Boules, Croissants, Fougasses.

Sie wusch den Krug und die Schale im Bidet aus und schrubbte sie mit nach Kiefern duftendem Reinigungsmittel ab. Das hatte sie von ihrem eigenen Geld für Madame gekauft. Die alte Reinigungsflüssigkeit hatte nach Krankenhaus gerochen, nicht nach zu Hause. Als Bébé Krug und Schale zurück ins Zimmer brachte und unter dem Bett verstaute, drehte sie die Griffe nach außen, damit sie Madame leichter greifen konnte. Madame schien nicht einmal zu bemerken, dass sie mit den geleerten Behältern zurück war. Sie war in die Zeitungen vertieft, murmelte konspirative Bemerkungen. Mit dem Vergrößerungsglas in der Hand wirkte sie auf Bébé auf der anderen Seite erheiternd glubschäugig. Manchmal las Madame Schlagzeilen, die ihre Aufmerksamkeit erregten, laut vor. Heute hackte sie mit dem Finger auf ein Bild der kürzlich ausgegrabenen Überreste einer ägyptischen Mumie ein. Vorsicht vor Archäologen, warnte Madame sie, ohne von der Zeitung aufzusehen. Das sind die Schlimmsten. Sie, blutrünstige Chirurgen und Fotografen von der Klatschpresse! Muss eine Königin des Nils in ihrer Ruhe gestört werden, nur weil ihr ein paar tausend Jahre später irgendein Gesindel unter den ganzen Bandagen im Gesicht herumstochern will?

Bébé hörte ihr zu, während sie die Lilien der Vorwoche entsorgte. Sie ersetzte sie durch frische, füllte das Wasser auf und rüttelte die Blumen sanft, damit sie sich in der Vase verteilten. Sie wusste nicht immer so genau, wovon Madame sprach, aber Bébé gefiel es, dass Madame überhaupt mit ihr redete. Ob Madame auch auf diese Art Selbstgespräche führte, wenn sie allein war? Oder machte Madame dies nur an den Sonntagen in ihrer Gesellschaft? Der Ofen bimmelte, und sie ging aus dem Zimmer, um die Baumwollhandtücher und Flanellbadedecken zu holen. Sie hatte sie in den Ofen gesteckt, um sie bei geringer Hitze aufzuwärmen. Jetzt legte sie sie über ihre Unterarme und trat mit einer Schüssel voll warmem Wasser an Madames Bett. Madame ging in Habachtstellung, als sie die ungehörigen Objekte bemerkte, schob die Zeitungen beiseite und schwang einen mit Quasten behängten Flakon. Dummerchen, rief sie, wann verstehst du es endlich? Baden ist etwas für Leute wie dich! Jemand wie ich hat Parfum.

Madame besprühte wild entschlossen mit ihrer Flasche die Luft.

Bébé wartete, bis sich der duftende Nebel gesetzt hatte, ehe sie ans Bett trat. Anfangs, bevor sie sich an Madames Art gewöhnt hatte, war sie direkt in die Parfumwolke gelaufen, sodass ihre Augen fürchterlich brannten. Während sie sie sich mit Wasser ausspülte, konnte Madame nicht aufhören zu lachen: Von Yves Saint Laurent geblendet, das geschieht dir recht! Wusstest du, dass er einmal gesagt hat, er würde mir mein eigenes Parfum kreieren?

Jetzt wusste Bébé es besser.

Nachdem sie sich prinzipiell wehrhaft gezeigt hatte, würde sich Madame in der Praxis friedfertig ergeben. Wenn man bei den Schultern anfing und sich nach unten arbeitete, würde Madame kreischen, aber wenn man ihr die Füße durch die Badedecke massierte und die Bettdecke Stück für Stück zurückschlug, ließ sie einen machen. Wenn sie Madames Gesicht erreichte, stattete sie sie inzwischen mit einem kleinen Handtuch aus. Ihr war aufgefallen, dass sich Madame gern selbst das Gesicht reinigte.

Heute legte Bébé das Handtuch beiseite, weil sich Madame gerade erst das ganze Make-up aufgelegt hatte.

Nachdem sie Madame getrocknet hatte, schmierte sie Feuchtigkeitscreme auf ihre papierene Haut. Obwohl sie bettlägerig war, war Madame nicht wund. Nur ihre Haut juckte, was durch die Aloe Vera, die Bébé im türkischen Supermarkt in der Nähe ihres Gastarbeiterwohnheims besorgt hatte, gelindert wurde. Nach dem Eincremen schnitt Bébé die Finger- und Fußnägel von Madame, und zum Schluss machte sie Radfahrbewegungen mit Madames Beinen, vor und zurück, um sie zu trainieren. Wenn Madame recht guter Laune zu sein schien, ermutigte Bébé sie, aufzustehen und durch das Zimmer zu gehen. Ihre Muskeln verkümmerten durch den Bewegungsmangel.

Versuchen, sagte Bébé. Bett zu Fernseher.

Warum sollte ich das versuchen?

Bett zu Fernseher. Bébé hält Madame.

Hör auf, dich vor meinem Bett herumzudrücken, sagte die alte Frau. Komm mir nicht so nah. Hast du dir die Hände gewaschen? Du machst besser mit der Hausarbeit weiter, bevor ich mich bei dieser etepeteten Anwaltsdame beschwere.

Bébés werktägliche Putzstelle in einem der Verwaltungsgebäude des städtischen Finanzamts war von einer Pro-bono-Menschenrechtsanwältin vermittelt worden. Der Vater der Anwältin war ein alter Hase im Ministerium, ein Referent. Es war nicht schwer gewesen, die Beziehungen spielen zu lassen, nicht bei einem so zeitgemäßen Thema, das sich leicht als Pilotprogramm ihrer jungen Organisation verkaufen ließ, umzusetzen mit ausgesuchten geflüchteten Frauen: Bébé, zwei tunesische Schwestern, eine Iranerin, ein vietnamesisches Mädchen. Eine beträchtliche Summe war privat gespendet worden, und ein mundgerechter Probelauf würde ihnen dabei helfen, ein in Zukunft sehr viel weitreichenderes Modell für die nachhaltige Integration, Ausbildung und Arbeitsvermittlung von Geflüchteten aufzubauen.

Bébé hatte die Pro-bono-Menschenrechtsanwältin gefragt, ob sie einen weiteren Job am Wochenende annehmen könne, schließlich gebe es an den Wochenenden nichts zu tun.

Sie sollten mehr unternehmen, sagte die Anwältin.

Ich weiß nicht, was, sagte Bébé.

Das ist Paris, sagte die Anwältin ermutigend, hier kann man vieles tun.

Sie können alles, sagte Bébé, aber ich … Sie hob die Schultern und lächelte.

Die Anwältin bemerkte ihren klassenunsensiblen Ausrutscher und stammelte: Die Parks, die kosten nichts!

Soziales Unternehmertum war für die Anwältin neu.

Wann immer sie gefragt wurde, was sie jetzt tat, konnte sie »gemeinnützig«, »geflüchtete Frauen« und »gefährdet« in einem Satz unterbringen, was sie als zutiefst anregend empfand. Nachdem sie ihren ausgesprochen erfolgreichen Unternehmensfinanzierungsjob im Bereich Fusionen und Übernahmen gekündigt hatte, strebte sie an, gleichzeitig humanitär und vegetarisch zu werden, um eine beginnende menopausale Midlife-Crisis abzuwenden. Secondes Chances pour le Deuxième Sexe (SCDS) zu gründen war eine größere Herausforderung, als sie erwartet hatte. Ungeduldig wartete sie darauf, ihre Pläne für PTBS-Beratung und Kunsttherapie umzusetzen, aber natürlich musste die grundlegende Logistik in Form von Erwerbstätigkeit und Wohngemeinschaften an erster Stelle stehen. Ihr Vater riet ihr, den Namen auf Secondes Chances zu verkürzen, als sie ihre Wohltätigkeitsorganisation anmeldete, aber die Anwältin wollte die Beauvoir-Referenz nicht unter den Tisch fallen lassen.

Zweite Chancen für Das andere Geschlecht, Papa. Ich dachte, du würdest das sofort kapieren.

Das hab ich, sagte ihr Vater trocken. Beim Abendessen erzählte er ihr davon, dass das Ministerium für Kultur Träger des Verdienstordens unterstützte, die in unterschiedliche Stadien der Verwahrlosung geraten waren, etwa Malraux und Sagan. Die Anwältin verdrehte die Augen. Männer, sagte sie. Ihr Vater hob mahnend den Zeigefinger. Nicht so voreilig, sagte er. Piaf vor ihrem Tod, was denkst du, wie sie die Villa an der Riviera unterhalten konnte? Und jetzt auch die Dietrich.

Sie ist mittlerweile Französin, richtig?, fragte die Anwältin.

Spielt das eine Rolle, wenn du Marlene Dietrich bist? Alle alten Käuze in der Regierung würden sofort für sie die Hosen runterlassen. Sie schrieb sogar eine Postkarte, direkt an Mitterrand, und fragte, ob er ihr das neue schnurlose Telefon schicken könnte, das sie in der Werbung gesehen hatte – und ein Hausmädchen. Ich vermisse den General doch sehr, schrieb sie, er war die Personifizierung meines Verhaltenskodex. Ein großer Mann.

Du weißt ja, dass wir de Gaulles Porträt im Büro hängen haben. Mitterand schaute also zu ihm auf, murmelte: »In der Tat, eine Politik der Größe«, und sagte mir, ich möge mich um Fräulein Dietrichs Bedürfnisse kümmern. Was bin ich jetzt, etwa der persönliche Einkäufer für eine Alte, die immer noch weiß, wie man den letzten Rest abschöpft?

Eine unschätzbare Fähigkeit für jede Frau, scherzte die Anwältin. Warum, sagte sie jetzt ernst, nehmen wir eigentlich keine von meinen Geflüchteten? Sie werden zu Näherinnen, Putzfrauen, Hauswartinnen ausgebildet. Es gibt doch sicher eine faire Bezahlung, oder?

Aber meine Liebe, kann man ihnen trauen?

Papa!

Oh, so hab ich das nicht gemeint!

Bébé war von der Anwältin instruiert worden – die Frau, für die sie sonntags arbeiten sollte, ging auf die neunzig zu, und früher war sie einmal eine sehr berühmte Schauspielerin gewesen. Sie musste mit der allerhöchsten Diskretion behandelt und stets mit Madame angesprochen werden.

Bébé wusste nicht, wer Madame war, aber beim Abstauben der Vitrinen und Regale und beim Betrachten der ganzen Fotos sah sie, dass Madame der Mittelpunkt eines jeden Bilds war, selbst wenn sie nicht im Mittelpunkt stand.

Die alte Frau mochte Süßigkeiten.

Sie fragte ständig nach Süßspeisen und Gebäck, und Bébé kannte die kurze Strecke von der Avenue Montaigne zu verschiedenen Patisserien im 8. Arrondissement bald bestens. Bébé hob alle Quittungen auf, obwohl Madame fand, diese Dinge seien unter ihrer Würde. Lass mich damit in Ruhe, sagte sie jedes Mal, behalte das verdammte Wechselgeld! Was soll ich denn mit einer Handvoll Kleingeld, etwa in die Spielhalle gehen?

Einmal lechzte Madame nach Eiscreme, und Bébé war, aus Angst davor, es könne schmelzen, vom Eisladen eine Straße weiter mit der Eistüte in der Hand zurückgerannt, war gestolpert und hatte sich am Bordstein den Knöchel verstaucht. Als sie, ihr Hinken verbergend, zurück in die Wohnung kam und Madame die Eistüte reichte, leckte diese daran und verkündete unglücklich: Das ist Banane. Ich sagte Vanille!

Heute wollte Madame Macarons.

Wenn Madame Macarons wollte, dann wollte sie nur Macarons von Ladurée aus der Rue Royale, aber Bébé durfte die Geschmacksrichtungen aussuchen. Ein Ausflug zu Ladurée war eine Belohnung. Man konnte sich darauf verlassen, dass die sich regelmäßig ändernde Auslage faszinierend war: lilafarbene Baisers, karamellisierter Blätterteig, Sauerkirschen, Rosenblätter. Beim Blick ins Schaufenster fühlte sich Bébé wie diese Sorte junger Frauen, für die die Welt etwas Besonderes war und denen alle Möglichkeiten offenstanden. Zu Hause in Taishan war ihr nur einmal eine Torte begegnet. Der glasierte, mit weißer Sahne überzogene Biskuit steckte in einer Kühlbox und war für irgendeine Hochzeit aus der Stadt in ihr Dorf gebracht worden, wo er zwischen den gedämpften Hühnern und gebratenen Schweinen – beides noch mit Köpfen, die Augen ausgehöhlt – herausstach.

Bébé schlich sich auf das Gelände, sah zu, wie sich Braut und Bräutigam vor Himmel und Erde verneigten. Einige Erwachsene missbilligten die weiße Torte. Nicht traditionell genug, Beerdigung, Unglück verheißend! Sie warfen mit negativen Kommentaren nur so um sich, was sie aber nicht davon abhielt, ein oder zwei Stücke einzufordern, als die Torte angeschnitten wurde. Bébé erhielt ebenfalls ein Stück. Und wie die Sahne schmeckte! Als käme sie von einem besseren, weit entfernten Ort. Sie ließ sie langsam auf der Zunge zergehen. An ihrem nächsten Geburtstag saß Bébé mit ihren Eltern vor den Geburtstagsnudeln, die ihre Mutter zubereitet hatte, so wie jedes Jahr, und sagte: Ich wünsche mir für nächstes Jahr so sehr eine Torte.

Ihr Vater gab ihr einen Klaps.

Obwohl es nicht wehgetan hatte, zuckte sie zusammen, als sie die Herablassung in der Beiläufigkeit der Geste erkannte. Blamiert setzte sie sich draußen vors Haus.

Ihre Mutter kam zu ihr. Ohne zu fragen, fing sie an, Bébés Haar zu kämmen und zu flechten und band ihr den Zopf am Ende mit einer großen roten Schleife zusammen. Das bringt Glück, sagte ihre Mutter sanft. Wünsch dir was.

Ich wünschte, ich wäre woanders, sagte Bébé.

Verblüfft warf ihre Mutter ihr einen leeren Blick zu.

Mit unsicherem Lächeln wollte sie wissen: Und wo?

Bébé lief zum Flüsschen am Rand des Dorfs. Als sie ihr trübes Spiegelbild sah, zog sie sich die rote Schleife aus dem Haar und warf sie ins Wasser. Dann bekam sie Angst, ihre Mutter würde sie sehen, also hockte sie sich hin, um sie mit einem abgebrochenen Zweig wieder herauszufischen. Während sie den Schlamm auswusch, drückte sie ihre Handflächen zusammen und flüsterte: Besser tot als hierzubleiben. Mit der Zweigspitze zeichnete sie die Zeichen 给我留在这 我死了算了 in den Sand. Bevor sie ging, tröpfelte sie Wasser aus dem Fluss darüber, damit niemand auf der Welt etwas davon erfuhr.

Jetzt stand sie im Ladurée in der Schlange, Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster unter dem champagnerfarbenen Schein der Kristallleuchter. Sie wählte Rosen-, Lychee- und Pistaziengebäck aus, um es in eine seladongrüne Geschenkbox legen zu lassen, die mit einem rosafarbenen Band verziert wurde, während sie zu der Verkäuferin sagte: Une boîte de douze und dabei nickte – das alles machte sie so glücklich. In einem hässlichen kleinen Dorf bestand die Gefahr, sich gehen zu lassen. Ein schöner Ort stellte ganz unmissverständlich stille Ansprüche, auch wenn er nichts von sich selbst zurückgab. Es war nicht Paris, wovon Bébé verzaubert war. Es war der Mensch, der sie, wie sie gern glaubte, hier hätte sein können.

Numerologisch war 1988 ein hervorragendes Jahr für Bébé gewesen, um sich in ein fremdes Land zu wagen. Es war unumgänglich, noch vor Jahresende aufzubrechen. Sie war in einem doppelten Wohlstandsjahr achtzehn geworden, die Achtundachtzig fiel unter das Zeichen des Drachens, und man hatte ihr Arbeit in einem Nike-Werk in Marseille versprochen.

Für die Arbeitsvermittlung zahlte Bébé eine stolze Provision an einen Unterhändler der Korsisch-Chinesischen Freundschafts- und Handelsgesellschaft in Shanghai. Sie hatte das Dorf vor drei Jahren verlassen und den kargen Lohn zusammengespart, den sie in einer der neuen Textilfabriken der Stadt erhielt.

Als sie ihrer Mutter nach Taishan schrieb, um ihr mitzuteilen, dass sie Shanghai verlassen würde, um nach Frankreich zu gehen, fragte ihre Mutter, wo das sei. Bébé legte ihrer Antwort eine äußerst rudimentäre Weltkarte bei, zusammengestückelt aus Hörensagen und ihrer eigenen Vorstellungskraft. Ihre Mutter schrieb zurück: Shanghai ist weit genug weg. Ihre Mutter schrieb zurück: Erkläre deinen leidgeprüften Eltern den Unterschied zwischen der Arbeit in einer Fabrik in China und der Arbeit in einer Fabrik in Frankreich. Ihre Mutter schrieb zurück: Warum hat unsere Tochter einen Kometen als Herz? Die maßvolle und unpersönliche Kalligrafie der Briefe ihrer Mutter gehörte zu dem Dorfschreiber (drei Yuan pro Seite), der ihr auch in grellem Tenor die Briefe vorlas, die sie erhielt (kostenlos). Wie peinlich es ihrer Mutter gewesen sein musste, dies zu diktieren, während sie ihre dicken Fingerknöchel an den Stofffetzen rieb, die sie den Nerv hatte, Taschentücher zu nennen: 为何咱家的女儿有颗流浪的心?

Zusammen mit drei anderen Mädchen aus Shanghai verbrachte Bébé mehrere Wochen im Frachtraum eines Schiffs und ernährte sich von mit eingelegtem Gemüse gefüllten Mehlbrötchen und Tangerinenschalen, um nicht seekrank zu werden. Es war so heiß und stickig, dass eines der Mädchen ohnmächtig wurde. Sie zogen sie bis auf die Unterwäsche aus, um sie abzukühlen, merkten aber nicht, dass sich auf dem Boden Reste von Schiffsdiesel befanden, und als sie aufwachte, hatte sie leichte Verätzungen an den Waden. Beim Anlegen dachte Bébé, sie hätten Marseille erreicht, aber ein großer Afrikaner erschien unter Deck und teilte ihnen in perfektem Mandarin mit, sie seien in Nairobi. Von seinen Sprachfähigkeiten überwältigt, brachen die Mädchen in nervöses Kichern aus. Sie müssten das Schiff wechseln, um nicht entdeckt zu werden, erklärte er. Der Aufenthalt könnte zwei Stunden, zwei Tage oder zwei Wochen dauern, je nachdem. Je nachdem was?, fragten sie. Wie viel Glück ihr habt, sagte er, als er ihnen ihr erstes warmes Essen seit Langem brachte, einen einfachen, aber köstlichen Maisbrei mit grünen Erbsen. Als er sich vorbeugte, um ihr Trinkwasser aufzufüllen, lächelte er freundlich. Die salzig-saure Schärfe seines Schweißes erinnerte Bébé an Fünf-Gewürze-Pulver, und sie wollte sein lockiges Haar berühren.

Alles, was Bébé von Nairobi zu sehen bekam, war ein Kran, der einen Container versetzte.

Nach ein paar Stunden konnten sie weiterreisen. Gute Reise und ruhige Brise, sagte der große Mann und zwitscherte beim Verschließen der Luke wie ein Star.

Sobald sie Marseille erreicht hatten, wurden die Mädchen von einem Container auf einem Werftgelände nach hinten in einen Lieferwagen mit getönten Scheiben gebracht. Willkommen bei der Korsisch-Chinesischen Freundschafts- und Handelsgesellschaft, sagte eine chinesische Frau mittleren Alters in kantonesisch gefärbtem Mandarin. Sie hatte eine schlechte Dauerwelle und wurde von zwei stämmigen weißen Männern flankiert, die ihnen bei ihrer Ankunft die Pässe abgenommen hatten. Es tut mir schrecklich leid, euch mitteilen zu müssen, dass die Nike-Fabrik geschlossen worden ist, fuhr die Frau fort. Glücklicherweise haben wir Möglichkeiten für euch. Sie erhoben eine Managementgebühr für die Geschäftskontakte, Transaktionslogistik, Rund-um-die-Uhr-Sicherheit, Gemeinschaftsunterkunft, aber sie sollten sich keine Sorgen machen, automatische Ratenzahlung würde für eine fortlaufende Rückzahlung sorgen. Die Dinge laufen nicht immer nach Plan, sagte die Frau, es ist schwer, allein in einem fremden Land zu sein. Ahyi versteht das gut – die Frau bezog sich in der Koseform auf sich selbst –, Ahyi hat das alles selbst mitgemacht.

Das Mädchen mit den Verätzungen fragte: Was für Geschäftskontakte? Sei nicht so dumm, sagte ein anderes Mädchen, das schon in Tränen ausgebrochen war. Sie redet von Prostitution!