Ministerium für öffentliche Erregung - Amanda Lee  Koe - E-Book

Ministerium für öffentliche Erregung E-Book

Amanda Lee Koe

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Beschreibung

Platz 1 der Litprom-Bestenliste »Weltempfänger«. Presse (Auswahl) »Der Shootingstar der Literaturszene.« BR2 »Spannende Autorin.« SPON, Oktober 2016 »Zärtlich und cool zugleich … eine literarische Rebellion.« Cornelia Zetzsche, NDR2 Kultur »Blitzgescheite und eigenwillige Erzählungen.« Angela Schader, NZZ »Amanda Lee findet Worte und Bilder, um von den Menschen so zu erzählen, dass man auf jeden Fall getroffen wird − und zwar mitten ins Herz. Kitschverdacht allerdings ausgeschlossen, dafür jede Menge weltoffene geschichtsbewusste Lebensklugheit, modernster Feminismus inbegriffen. Cool!« Anita Djafari »Geschichten, zart und direkt, melancholisch, voll emotionaler Tiefe und schräger Typen.« radioTexte, BR2 »Fantastisches Debüt der Erzählerin aus Singapur. In ihren Storys über Abhängigkeit, Liebe, Sehnsucht und Freiheit stecken gleich mehrere Romane.« Ulrich Gutmair, taz »Ein Buch, in dem man sich verliert und gebannt jeder Geschichte folgt … auch wenn die Erzählung verklungen ist, wird diese im Leser nachklingen.« Hauke Harder, Leseschatz »Die Geschichten, zusammenmontiert aus kleinen Alltagssplittern, flüchtigen Begegnungen und kurzen Augenblicken, lesen sich sehr modern und zeitgenössisch. Amanda Lee Koe erzählt mal klassisch, mal arrangiert sie aber auch ganz unerwartet … das macht Spaß, überrascht immer wieder und nimmt die Leser mit. Eine Entdeckung, von dieser Autorin wird man sicher noch einiges hören – und lesen sowieso …« Ulrich Noller, Literaturtipp, Funkhaus Europa Amanda Lee Koe betrat die Bühne der Weltliteratur mit einem Knall: Das Debüt der jungen Autorin, die in Singapur und New York lebt und u.a. als Literaturredakteurin für den Esquire arbeitet, wurde mit Preisen überhäuft. Es gewann den Singapore Literature Prize for English Fiction und den Book Award for Best Fiction, stand auf der Longlist für den Frank O’Connor Award und wurde unter die zehn besten englischen Bücher Singapurs der letzten 50 Jahre gewählt. Koe schreibt über Außenseiter und Querköpfe, über verlorene Individuen, die sich durch eine in Schieflage geratene Welt bewegen. Zeitgemäß, einfallsreich, atemberaubend. Es geht um Leidenschaften, Abhängigkeiten, Identität, Sex und (verlorene) Liebe. Geschichten wie ein Schlag. Nicht wie ein brutaler Schlag ins Gesicht, sondern wie ein Herztreffer, ein Blattschuss, ein wilder Hieb, der den Zentralmuskel des Gefühls für einen kurzen Moment aus dem Takt bringt und wilde, aufregende Wahrheiten offenbart.

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Seitenzahl: 254

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Über das Buch

Amanda Lee Koe betrat die Bühne der Weltliteratur mit einem Knall: Das Debüt der jungen Autorin, die in Singapur und New York lebt und u.a. als Literaturredakteurin für den Esquire arbeitet, wurde mit Preisen überhäuft. Es gewann den Singapore Literature Prize for English Fiction und den Book Award for Best Fiction, stand auf der Longlist für den Frank O’Connor Award und wurde unter die zehn besten englischen Bücher Singapurs der letzten 50 Jahre gewählt.

Koe schreibt über Außenseiter und Querköpfe, über verlorene Individuen, die sich durch eine in Schieflage geratene Welt bewegen. Zeitgemäß, einfallsreich, atemberaubend. Es geht um Leidenschaften, Abhängigkeiten, Identität, Sex und (verlorene) Liebe.

Geschichten wie ein Schlag. Nicht wie ein brutaler Schlag ins Gesicht, sondern wie ein Herztreffer, ein Blattschuss, ein wilder Hieb, der den Zentralmuskel des Gefühls für einen kurzen Moment aus dem Takt bringt und wilde, aufregende Wahrheiten offenbart.

»Diese umwerfende Kurzgeschichtensammlung ist formal ebenso bahnbrechend wie zutiefst menschlich, mitfühlend und erkenntnisreich.« Huzir Sulaiman, Theaterautor

»Der vielleicht aufregendste Debüt-Erzählband einer singapurischen Autorin. Die kaleidoskophafte Bandbreite der Themen, die Lebendigkeit der Figuren, offenbart ein tiefes emotionales und psychologisches Verständnis. Die Autorin präsentiert sich als herausragend kompetente, lyrische Erzählerin.« Quarterly Literary Review Singapore

Über die Autorin

Amanda Lee Koe lebt in Singapur und New York. Sie arbeitet als Herausgeberin ihres eigenen Literaturjournals Ceriph, für das Designstudio StudioKelaido sowie als Literaturredakteurin für den Esquire. 2013 war sie Honorary Fellow des Iowa International Writing Program.

Die im gleichen Jahr erschienene Kurzgeschichtensammlung »Ministerium für öffentliche Erregung« (Original: »Ministry of Moral Panic«) erhielt 2014 den Singapore Literature Prize for English Fiction, 2016 den Singapore Book Award for Best Fiction, stand auf der Longlist für den Frank O’Connor International Short Story Award 2014 und wurde unter die zehn besten englischen Bücher Singapurs der letzten fünfzig Jahre gewählt.

Amanda Lee Koe

Ministerium für öffentliche Erregung

Storys

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

978981075757328 »Ministry of Moral Panic« Copyright © 2013 by Amanda Lee Koe Edited by Jason Erik Lundberg Original English edition published by Epigram Books. 1008 Toa Payoh North #03-08 Singapore 318996 Tel: +65 6292 4456 / Fax: +65 6292 4414 [email protected] / www.epigrambooks.sg These pieces were originally published (in slightly different form) in the following places: »Flamingo Valley«, Bellevue Literary Review, Fall 2013. »Pawn«, Quarterly Literary Review Singapore, Vol. 12, No. 3, July 2013. »The King of Caldecott Hill«, Quarterly Literary Review Singapore, Vol. 12, No. 4, October 2013. »Love Is No Big Truth«, Cha: An Asian Literary Journal, March 2013. »Laundromat«, From the Belly of the Cat, Math Paper Press, October 2013. »Siren«, Eastern Heathens, Ethos Books, March 2013.

Die Ausgabe ist entstanden durch eine Förderung durch das National Council Singapore.

Das William-Gibson-Zitat wurde verwendet mit Erlaubnis des Autors und Martha Millard, Sterling Lord Literistic Inc.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Inhaltsverzeichnis

Flamingo Valley
Karussell & Kastell
Faustpfand
Der König von Caldecott Hill
Jeder Park auf dieser Insel
Zwei Möglichkeiten, wie man es machen kann
Liebe ist keine große Wahrheit
Zwei Möglichkeiten, wie man es machen kann
Alice, du musst der Mittelpunkt deines eigenen Universums sein
Vierzehn Einträge aus dem Tagebuch der Maria Hertogh
Küken
Waschsalon
Sirene
Die Ballade von Arlene & Nelly

Für Bud – der übrig bleibt

War es Laurie Anderson, die gesagt hat, dass VR niemals echt aussehen würde, bevor es nicht gelänge, ein bisschen Schmutz hineinzumischen? Singapurs Flughafen, der Changi Airtropolis, schien kaum mehr Auflösung zu besitzen als eine dieser VPL-Welten. Es gab absolut keinen Schmutz; keine Unordnung, nichts wirkte pelzig oder gebrochen. Die Natur draußen vor dem Flughafen, saftig wie überall in den Tropen, hatte man zu sattgrünen, überperfekten Beispielen ihrer selbst domestiziert. Nur die Wolken zerstieben in Chaos; als bizarre, säulenartige Strukturen thronten sie über der Straße von Malakka.

Der Taxifahrer warnte mich davor, Müll fallen zu lassen. Er fragte mich, woher ich komme.

Er wollte wissen, ob es dort sauber sei. »Singapur sehr saubere Stadt.« Ein hoher Summton wie von einer dieser nervigen japanischen Klingeln setzte ein, als er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit überschritt, einfach nur um uns daran zu erinnern, dass er es tat. Auf beiden Seiten der Autobahn schienen Golfplätze zu sein.

»Sind Sie hier zum Golfspielen?«

»Nein.«

»Geschäftlich?«

»Zum Vergnügen.«

Er verzog den Mund. Daran hatte er so seine Zweifel.

— William Gibson,

Flamingo Valley

Ling Ko Mui, der heiße Feger von Flamingo Valley, sagt der alte malaiische Mann. Oh ho, du hast es immer noch drauf, was, Baby?

All die alten chinesischen Männer und Frauen heben ihre gelben faltigen Gesichter, wie Meeresschildkröten, und Deddy Haikel macht eine überschwängliche Geste, die wie shazam aussieht. Ling Ko Mui richtet ihren Blick zögerlich in seine Richtung.

Ja, du!, sagt Deddy Haikel, ich spreche von dir, Mädchen, aber ihre trüben Augen kleben schon wieder am Fernseher, in dem eine Reisesendung auf Mandarin läuft.

Wolltest du nicht, dass ich dich auf meinem Motorrad mitnehme?

Bist du nicht gekommen, um meinen Auftritt im National Theatre zu sehen?

Hat mich dein chinesischer Freund nicht in der Bencoolen Street zusammengeschlagen?

Ich bin’s, Deddy Haikel!

Er nimmt seine Gitarre, die nie allzu weit weg ist, und schlägt die ersten Akkorde von »Barbara Shimmies on Bugis Street« an. Seine Stimme ist nicht mehr wie früher, nicht seit der Halsoperation, aber sie dringt in Ling Ko Mui ein, und sie schaut zu ihm hoch, ihr schielender Blick trifft fast auf seinen.

Die Frau ist nyanyuk, krächzt einer der alten Chinesen in Deddy Haikels Richtung und malt mit einem Finger kleine Kreise in die Luft neben seiner Schläfe. Erinnert sich an nichts. Erkennt nicht mal ihre Tochter.

Deddy Haikel lässt das Riff auslaufen, legt ein Bein auf einen Stuhl und sagt: Hey, diese Station ist doch die nyanyuk-Station, oder nicht? Glaub mal nicht, dass du so schlau bist. Du bist auch schon weich in der Birne. Er dreht sich zu Ling Ko Mui, aber sie hat den Blick abgewandt, genau wie damals, als sie achtzehn war und er sie zum Tanzen ausführen wollte.

Es gibt Dinge, die sich durch die Nebelschwaden der Erinnerung kämpfen, es gibt Dinge, die man mit sich herumträgt, die unwichtig sind, die einen herunterziehen, aber man wird sie nicht los, und es gibt nur eine Möglichkeit, sie über Bord zu werfen, nämlich selbst über die Planke zu gehen.

• • •

Er hatte sein Set in dem kleinen Pub gespielt, Coverversionen der Rolling Stones und der Beatles, auf einer Gitarre, für die er anderthalb Jahre lang gespart hatte, indem er an den Wochenenden Zeitungen ausgetragen hatte. Er hatte die Schule geschwänzt, um Cliff Richards & the Shadows 1961 im Happy-World-Stadion zu sehen, und gab es denn etwas Besseres?

Er war von der kleinen, erhöhten Bühne gekommen und bahnte sich seinen Weg an die Bar. Das Pub, bei britischen Soldaten sehr beliebt, war nicht weit von der Kaserne entfernt. Inmitten der khakifarbenen Uniformen saß ein junges chinesisches Mädchen in einem weißen Tellerrock aufrecht auf einem Barhocker. Er fragte sich, ob sie in Begleitung war – man sah Mädchen nur selten abends allein, schon gar nicht in Bars. Als er bei ihr ankam, drehte sie sich um.

Du bist richtig gut, sagte sie.

Danke. Kommst du oft hierher?

Meinem Vater gehört das Pub. Wir wohnen direkt darüber.

Das ist bestimmt ganz schön laut.

Ja, aber ich liebe Musik. Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum es immer nur Eurasier sind und ihr Malaien. Es kommen nie chinesische Musiker her.

Er lachte. Ihr Chinesen seid zu sehr damit beschäftigt, Geschäfte zu machen. Echtes Geld.

Das ist traurig.

Nee, so ist der Lauf der Welt – so kann mir dein Vater fünf Dollar für das Set geben, das ich heute gespielt hab.

Hör mal, ich bin am Verhungern – gehst du mit mir essen? Ich hab gesehen, dass du ein Motorrad hast. Ich bin noch nie mit einem gefahren.

Klar. Was möchtest du denn essen?

Lass dir was einfallen. Hauptsache, wir nehmen das Motorrad.

• • •

Sie saßen an einem wackeligen Aluminiumtisch vor einem kedai makan, zwischen ihnen standen Teller mit nasi kandar und sup kambing. Ling Ko Mui nahm Gabel und Löffel. Deddy Haikel dachte kurz über das Besteck nach, griff dann mit der rechten Hand nach dem Essen, wie er es üblicherweise tat.

Gibt es da eine bestimmte Technik?

Für was?

Um mit den Händen zu essen?

Er zeigte ihr, wie man den Reis zu einem losen Ball formte, der mit der Zeit immer fester wurde. Sie machte es ihm mit ihren Händen nach.

Nur mit der rechten Hand.

Warum?

Na ja … die linke ist unsauber.

Ich kann sie ja waschen.

Nein, so meine ich das nicht. Die rechte Hand ist zum Essen da, die linke Hand – mit der linken Hand wischt man sich den Hintern ab.

Ah, verstehe.

Magst du den Reis?

Der schmeckt wunderbar. Aber warum ist malaiisches Chili süß?

Damit die Musiker bessere Liebeslieder schreiben.

• • •

Jeden Freitagabend spielte er sein Set von acht bis neun in dem Pub, das Ling Ko Muis Vater gehörte, und wenn ihr Vater am Tresen beschäftigt war, schlichen sie sich auf seinem Motorrad zum Abendessen fort – malaiisches Essen in der einen Woche, chinesisches Essen in der nächsten. Ihr Vater war durchaus herzlich zu Deddy Haikel, dem Musiker, aber Deddy Haikel, den Verehrer hätte er zur Hintertür hinausgeworfen wie die Sprossenenden und Hühnchenknochen, die vom Essen übrig blieben. Nach dem Essen sprachen sie bei teh halia oder warmen Horlicks über Musik. Sie sagte ihm, er solle sich eine Begleitband suchen, seine eigenen Songs schreiben, sie könne ihm mit den Texten helfen.

Einmal kam er eine Stunde früher ins Pub. Ihre Eltern waren im Tempel der Gnadengöttin, ihre jüngeren Geschwister spielten auf der Straße Fangen. Leichtfüßig sprangen sie die Treppe hinauf, und sie zog die Vorhänge zu, bevor sie den Plattenspieler ihres Vaters unter einem chinesischen Seidendeckchen hervorholte. Sie kauerten sich eng nebeneinander, und er sah zu, wie ihre schlanken Finger eine importierte Platte von Petula Clark auflegten und die Lautstärke herunterdrehten. Als »Ya Ya Twist« anfing, sprang Deddy Haikel auf die Füße und streckte die Hand aus. Ling Ko Mui zögerte, nahm sie dann; sie tanzten im zunehmenden Zwielicht, über ihnen surrte langsam der Deckenventilator.

Sie fing an, leise zu der Musik zu singen, während er sie eng an sich geschmiegt hielt, dann noch enger. Er liebte ihre süße, nasale Stimme, und er schloss die Augen, ließ seine Gedanken schweifen – vielleicht könnte sie Backgroundsängerin in seiner Band sein? Hätten sie eine malaiische Hochzeit oder eine chinesische? Könnte er den Koran für sie aufgeben? Würde sie ihre Eltern für ihn aufgeben, so wie er bereit war, seine für sie aufzugeben? Er wollte etwas sagen, aber die Platte war zu Ende, unter der Nadel lief sie leer. Ling Ko Mui löste sich sanft von ihm, kniete sich auf den Boden und drehte die Platte um.

• • •

Es gab mal ein chinesisches Mädchen, in das ich gila verliebt war, sagt Deddy Haikel zu der jungen Krankenschwester, die seine Herztöne abhört, um den Schaden abzuschätzen, der durch seinen zweiten Herzinfarkt entstanden ist. Ich hätte alles getan, um sie flachzulegen, aber darum ging’s gar nicht mal.

Da gab’s noch diesen chinesischen Typen, der auch in sie verliebt war. Ich wusste nichts von ihm, aber er wusste von mir. Ich ging eines Tages die Bencoolen Street entlang, als mir jemand auf die Schulter tippte. Ich drehte mich um, und er schlug mir direkt ins Gesicht. Er hatte seine Leute geschickt, um mich auszuspionieren: Sie wussten, dass ich freitags im Pub ihres Vaters spielte und dass ich danach mit ihr essen ging. Dass sie ihre Arme um mich legte, wenn sie hinter mir auf dem Motorrad saß.

Er roch nach eingelegtem Tintenfisch und verschrumpelten Datteln; sagte mir, dass er der Sohn eines Trockenwarenhändlers war und dass sie vor Geld nicht mehr geradeaus laufen konnten. Er könne Ling Ko Mui das Leben ermöglichen, das ein Mädchen wie sie verdient hat. Ich ging auf ihn los, aber er hatte seine Lakaien mit den schlechten Zähnen und weißen Unterhemden unter offenen Hemden dabei. Sie brachen mir eine Rippe.

Als ich im Krankenhaus lag, machte ich in Gedanken eine Zirkusnummer daraus. Ich würde in meinen Hals greifen bis ganz nach unten und diese Rippe zwischen Daumen und Zeigefinger hervorholen. Ich würde sie in eine Porzellanrose verwandeln und sie Ling Ko Mui in die weiche Hand drücken. Sie würde es verstehen, ihre Finger um die Rose legen und mir sagen, dass ihr Herz sich für mich entschieden habe.

Du bist ein Niemand, hatte mir der Kaufmannssohn ins Ohr gesagt, als mich seine Männer festhielten. Du bist ein Nichtsnutz, der den ganzen Tag unter den Palmen im Schatten sitzt, abends vor zehn Leuten in einem Pub dumme Lieder spielt. Wenn ich dich hier noch mal sehe, findest du den Kopf eines Schweins vor der Tür deines Vaters. Meine Männer sind überall: Wenn du mit ihr sprichst, hast du am nächsten Morgen einen parang in deinen Nieren stecken – glaub nicht, dass ich das nicht durchziehe. Er trat meine Gitarre kaputt und spuckte mir ins Gesicht. Außerdem tust du dir selbst damit einen Gefallen, ehrlich – hast du auch nur eine Sekunde geglaubt, dass sie wirklich mit einem malaiischen Jungen zusammen sein würde?

Da wusste ich, dass ich es schaffen musste.

Meine Gitarre war mein Leben. Ich stahl Geld aus einer chinesischen Apotheke und kaufte mir eine neue, übte tagein, tagaus. Ich sah nicht mehr nach anderen Mädchen. Ich sah nicht mehr in den Spiegel. Mir wuchs Hornhaut über Hornhaut an den Fingern. Ich schlief mit meiner Gitarre.

Es dauerte einige Jahre, und ich werde nicht behaupten, dass es leicht war, aber ich schaffte es. Ich wurde berühmt. Wir wurden von Schulmädchen und jungen Frauen angebetet: malaiischen, chinesischen und indischen. Ich hörte niemals auf, nach ihrem Gesicht in der Menge zu schauen oder es mir vorzustellen, aber tief im Innersten wusste ich, dass er recht gehabt hatte – sie wäre niemals mein geworden.

• • •

Ein Polizist winkte Deddy Haikels Motorrad heraus. Deddy Haikels Haar hing ihm bis auf die Schultern, ihm waren die abschreckenden Poster gleichgültig, die überall in der Stadt hingen: Männer mit langen Haaren müssen sich hinten anstellen. Er trug Motorradstiefel, ein Hemd, bei dem die obersten drei Knöpfe geöffnet waren, und Röhrenjeans. Diese Jeans waren von der Sorte, durch die die Polizei keine Cola-Glasflasche schieben konnte – der Test, durch den bestimmt wurde, ob man zu enge Hosen trug. Wenn die Cola-flasche nicht durch das Hosenbein passte, mussten die Hosen ausgezogen werden.

Deddy Haikel kannte alle Texte des weißen Albums, und John Lennon war sein Lieblings-Beatle, weil er gerüchteweise gehört hatte – man stelle sich Liverpool und Singapur als Partnerstädte vor, nicht als kolonialistische Geschäftspartner –, dass John Lennon und Yoko Ono, als sie sich kennengelernt hatten, zu John nach Hause gegangen waren und die ganze Nacht miteinander geschlafen hatten. Als Johns Ehefrau Cynthia, die verreist war, am nächsten Morgen in der Tür stand und Yoko nur mit einem Handtuch bekleidet vor sich sah, sagte John zu Cynthia nur: Oh, hallo.

So müssen Rockstars sein, dachte Deddy Haikel, wenn er sich eine Kippe anzündete, wenn er auf seiner Gitarre die Akkorde anriss, wenn er die Hornhaut seiner Finger berührte, wenn er ein malaiisches Mädchen vögelte, wenn die Polizei die Colaflasche nicht durch sein Hosenbein bekam – Oh, hallo.

Hosen runter, sagte der chinesische Polizist zu Deddy Haikel auf Malaiisch. Deddy Haikel zuckte die Schultern, grinste den Kerl an. Er wand sich heraus, mit einiger Anstrengung, weil sie wirklich sehr eng waren. Er hoffte, sie würden seine Jeans nicht wegwerfen, sondern heimlich ihre dicken chinesischen Waden im Hauptquartier hineinzwängen, sich im Spiegel ansehen, sich wünschen, sie könnten ihre Perspektive auf Mode, Musik, Rebellion wechseln. Dass sie seufzten, während sie ihre Schlagstöcke ins Holster steckten, während sie den letzten Rest ihres sock-kopi in sich hineinkippten, um nicht während der Schicht einzunicken.

Deddy Haikel dachte – und es war ein strahlender, anschwellender Gedanke, der sich wie ein langsam wachsender Ständer anfühlte –, als er seine Jeans gütig dem Polizisten reichte: In genau vierundzwanzig Stunden stehe ich auf der Bühne. Ich werde dafür bezahlt, die Mädchen zum Schreien zu bringen. Weißt du eigentlich, wer ich bin? Morgen spiele ich im National Theatre. Ein ausverkauftes Konzert.

• • •

3420 Plätze im Amphitheater. 3420 besetzte Plätze, und alle kennen die Texte von jedem einzelnen Song, fast muss er weinen.

Die Rückseite seiner Gitarre an seinem Becken, jeder Ton elektrisch verstärkt.

Malaiische Mädchen, chinesische Mädchen, indische Mädchen – in jedem Alter, und dasselbe gilt für die Männer, aber er sieht nur die Mädchen und hört nur die Mädchen, und sie rufen seinen Namen.

Mitten im Set wirft jemand einen Spitztüten-BH auf die Bühne. Als er vom Mikrofon weggeht und sich bückt, um ihn aufzuheben, denkt er John, hey John, ich kapier’s.

Deddy Haikel vergisst zu atmen, weil der Song sein Atem ist. Er ist durstig und trinkt jedes sehnsüchtige Gesicht in der Menge. Er sieht nicht auf einen Punkt in der Ferne, wie es ihm sein Manager gesagt hat, er genießt die Details eines jeden Gesichts, und er kann sehen, dass sie ihn alle anfassen wollen.

Zwölf Songs, aber es fühlt sich immer an wie der erste, sogar beim letzten. Es geht ihnen genauso, sie haben sich zusammengetan, um Zugabe, Zugabe zu fordern.

Barbara shimmies down Bugis Street And every sailor’s head turns. Feathers and a dress of midnight blue Barbara’s got an axe to burn.

Er verbeugt sich, seine Bandkollegen verbeugen sich, sie schreien; er verbeugt sich, seine Bandkollegen verbeugen sich, sie schreien. Das Adrenalin steigt an, vor seinen Augen explodieren winzige helle Sterne.

Peace.

• • •

Sie gingen gerade zum Parkplatz hinter dem National Theatre, das Equipment im Schlepptau, als ein Rolls-Royce vor ihnen hielt. Das hintere Seitenfenster wurde heruntergekurbelt.

Deddy Haikel, du hast es geschafft.

Ling Ko Mui lächelte, strahlte. Lange wassergewellte Locken hatten ihren Schulmädchenbob ersetzt, und ihr Gesicht war dezent geschminkt. Nur fünf Jahre, und jetzt war sie eine Frau.

Das ist mein Mann, Leong Heng.

Es war der Sohn des Trockenwarenhändlers. Auf dem Rücksitz des Rolls-Royce wirkte er vollkommen zivilisiert. Er lächelte Deddy Haikel an, hielt eine Hand hoch, um eine Begrüßung anzudeuten.

Als ich dich auf dem Poster sah, da quiekte ich: »Den kenn ich, der hat im Pub meines Vaters gespielt!« Ich habe Leong Heng dazu gebracht, sofort Karten zu kaufen. Es hat uns ganz wunderbar gefallen – das war ein großartiger Auftritt.

Danke.

Schade, dass du nicht mehr ins Pub gekommen bist. Ich wollte dich zu Hause anrufen, aber mein Vater hat mir deine Nummer nicht gegeben. Ich dachte schon, du hättest das Interesse an der Musik verloren.

Nein, das würde niemals geschehen.

Na ja, dann ist dir wohl unser Pub zu klein geworden.

Daran lag es auch nicht.

Woran denn?

Liebes, das ist aber nicht sehr höflich von dir, oder?, unterbrach Leong Heng und beugte sich vor, um eine Hand auf das Knie seiner Frau zu legen.

Da haben wir’s, ich rede dauernd über die Vergangenheit. Das wollte ich nicht, Deddy Haikel. Noch mal herzlichen Glückwunsch.

Danke.

Wir müssen los, sagte Leong Heng. Meine allerherzlichsten Glückwünsche.

Er gab dem Fahrer ein Zeichen, das Fenster wurde wieder hochgekurbelt.

Auf Wiedersehen, sagte Ling Ko Mui.

Auf Wiedersehen, sagte Deddy Haikel, aber der Rolls-Royce war schon losgefahren.

• • •

An dem Tag im Jahr 1986, als das National Theatre abgerissen wurde – mit seinem spitzen, rautenförmigen Fassadendesign, seinem Amphitheater, seinem halbmondförmigen Springbrunnen –, hatte Deddy Haikel seinen ersten Herzinfarkt.

Zu viel Hammel, sagte seine erste Frau. Zu viel cendol, stimmte seine zweite Frau ein. Zu viel kuih, fügte seine dritte Frau hinzu. Das war das Problem, wenn man drei Frauen hatte. Der wechselnde Sex war toll, aber die drei Frauen kamen so gut miteinander aus, dass sie sich regelmäßig gegen ihn verbündeten.

Manchmal fragte er sich, wie sie so eng befreundet sein konnten – weckte er denn nicht das mürrische Biest der Eifersucht in ihnen? Er versuchte, bei seinen Orgasmen lauter zu stöhnen und zu schreien, damit die anderen beiden Frauen, die in dieser Nacht nicht im Hauptschlafzimmer schliefen, ihn hörten. Er hoffte, sie damit nachts wach zu halten, und dass sie versuchen würden, die jeweils anderen auszustechen.

Aber das taten sie nie. Sie kämmten sich weiter einander die Haare, kauften sich gegenseitig bunte Kunstseidensachen, wenn sie im Angebot waren, wechselten sich mit dem Backen von sugee-Keksen für den Nachwuchs ab wie Schwestern.

• • •

Ehefrau Nummer eins füllt an der Rezeption von Flamingo Valley das Formular für den Besucherausweis aus. Sie ist die Dicke, sie watschelt, statt zu gehen, sie hat einen ausladenden Hintern. Sie küsst seine Hände, und sie sprechen auf Malaiisch.

Wie geht es dir, der Doktor sagt, du kannst bald nach Hause? Noch zwei Wochen?

Sayang, ich muss mich noch von dem Bypass erholen, schau mich an. Er greift sich ans Herz und verzieht das Gesicht. Ehefrau Nummer eins runzelt vergnügt die Stirn.

Fünfhundert Dollar jede Woche trotz Beihilfe, weißt du.

Aber dafür habe ich doch sieben Kinder und drei Frauen!

Er sagt es frech, mit einem spitzbübischen Grinsen.

Ehefrau Nummer eins sieht ihn verzweifelt an, aber es ist eine liebevolle Verzweiflung.

Wir müssen für unsere Rente sparen – du willst den Kindern doch nicht auf der Tasche liegen, oder?

Ja, schon gut. Ich mach hier schließlich keinen Urlaub, weißt du? Die stecken drei Mal am Tag diese ganzen Nadeln in mich rein, und das Essen ist furchtbar. Ich vermisse Khairahs rendang.

Ich sage ihr, dass sie es kochen soll, wenn du zurückkommst. Ich hole dann das Rind dafür vom Markt.

Der Doktor sagt, keine Kokosmilch mehr und weniger rotes Fleisch! Das verstopft das Herz.

Was dann?

Magermilch. Fisch.

Armer Deddy. Alle deine Lieblingsgerichte fliegen gerade zum Fenster raus.

Sie sitzt nah genug bei ihm, er streckt die Hand aus und kneift ihr sanft in den Hintern. Sie schlägt ihm die Hand aufgebracht und überrascht weg, dreht sich um, ob es irgendjemand gesehen hat, lacht aber.

Deddy, Deddy. Sie streichelt seinen Arm.

• • •

Deddy Haikel sitzt an Ling Ko Muis Bett. Er teilt sich ein Zimmer mit fünf anderen, aber sie hat ein Einzelzimmer.

Ling Ko Mui, glaubst du an Magie?

Ling Ko Mui sieht Deddy Haikel an, schüttelt den Kopf.

Was ist dann mit Schicksal?

Sie nickt, ganz langsam. Es ist schon eine Weile her, dass man ihr solche Fragen gestellt hat, seit langer Zeit heißt es immer nur: Wie geht es Ihnen heute, haben Sie Ihre Medizin schon genommen, müssen wir die Windeln wechseln?

Sie will etwas sagen, aber Sprache entzieht sich ihr schon seit langer Zeit. Sie formt die Worte mit ihren Lippen. Fhhhh. Nichts kommt heraus.

Deddy Haikel sieht sie scharf an.

Schicksal ist, wenn du von woanders herkommst als jemand anderes, aber du siehst diese Person immer wieder. Kann man das so zusammenfassen?

Er kratzt sich am Kopf.

Also wie in deinen chinesischen Sagen, wo der Sterbliche eine Minute im Himmel verbringt und zurück auf die Erde kommt, um festzustellen, dass dreißig Jahre vergangen sind?

Ling Ko Mui gestikuliert, sie spricht schon fast.

Eine Frau betritt das Krankenzimmer, sie hat ein unwilliges Kind dabei, dass sich selbst an den Fingern zieht. Wer ist denn da?, will sie wissen.

Wer sind Sie?, entgegnet Deddy Haikel. Die Frau reagiert beleidigt. Das ist meine Mutter, sagt die Frau und legt eine Hand auf die Seite von Ling Ko Muis Bett.

Entschuldigen Sie, sagt Deddy Haikel und steht auf, glättet sein Krankenhemd und streckt die Hand aus. Ich bin ein alter Freund Ihrer Mutter.

Wirklich, sagt die Frau skeptisch. Sie nimmt seine Hand nicht. Ma, sagt sie zu Ling Ko Mui, die kein Interesse an ihr oder dem Kind zeigt. Ruf Ah Ma, sagt die Frau zu dem Kind. Ah Ma, echot das Kind. Eine Krankenschwester kommt, und die Frau plaudert mit ihr, aber in Langzeitpflegeeinrichtungen sind Gespräche selten bedeutsam, Prognosen beziehen sich auf kurze Intervalle, die einzige Richtung, in die es meistens geht, ist ein langsames Zugleiten auf den sicheren Tod.

Die Schwester geht, und die Frau betrachtet Deddy Haikel wieder misstrauisch.

Früher hab ich im Pub Ihres Großvaters gespielt, sagt er.

Die Züge der Frau werden weicher, sie sieht ihn jetzt an. Meine Mutter sprach so gern über diesen Ort, sagt sie. Schade, dass ich ihn mir nie selbst ansehen konnte – das Pub wurde abgerissen, bevor ich auf die Welt kam. Sie hält inne. Tut mir leid wegen eben, sagt sie. Es ist nur – diese ganzen alten Leute auf diesem Gang scheinen sie nicht mehr alle auf der Reihe zu haben.

Kein Problem. Deddy Haikel wehrt ihre Entschuldigung ab. Ich bin in der Kurzzeitpflege. Ich erhole mich von einem Bypass. Ich hab sie noch auf der Reihe, vorerst jedenfalls.

Sie lächelt ihn an.

Wo ist Ihr Vater?, fragt Deddy Haikel unvermittelt.

Er ist vor ein paar Jahren nach einem Schlaganfall gestorben, sagt die Frau.

Das tut mir leid.

Es ist nur so schwer, das Ganze noch mal durchmachen zu müssen, sagt die Frau und schließt kurz die Augen. Ich bin aber froh, dass er nicht mehr da ist, um sich das ansehen zu müssen. Wenn Sie die beiden gekannt haben, dann wissen Sie auch, wie sehr er an ihr hing.

Deddy Haikel zwingt sich zu einem Lächeln. Die Frau lächelt zurück.

Was haben Sie damals gespielt?

Es waren die Sechziger, sayang. Alle spielten Rock ’n’ Roll. Mit einem Schuss Pop Yé-yé.

• • •

Es tut ihm weh, als er später am Abend daran denkt, an das Leben, das Ling Ko Mui mit dem Sohn des Trockenwarenhändlers geführt hat. Fünf Jahrzehnte. Er wirft sich unruhig im Bett hin und her, träumt von einem achtzehnjährigen Mädchen in einem weißen Rock, das nasi kandar mit beiden Händen isst.

Deddy Haikel schleicht sich vor dem Morgengrauen in Ling Ko Muis Einzelzimmer. Als sie eine gute Stunde später die Augen öffnet, sitzt er da. Sie erschreckt, aber sie hatte schon immer ein starkes Herz.

Ling Ko Mui, weißt du noch, wie ich mit dir goreng pisang essen war? Du hast es geliebt. Weißt du noch, wie wir nasi kandar gegessen haben? Du hast mich gefragt, warum malaiisches Chili süß ist.

Sie weicht in schläfriger Benommenheit vor ihm zurück, aber sie schmeckt frittierte Bananen, kampung-Hühnchen und gelben Reis auf der Zunge.

Weißt du noch, wie du mit mir frittierte Teigröllchen und Sojamilch essen wolltest, und ich so: Warum zur Hölle tunkt ihr etwas Frittiertes in Sojamilch, dann ist es doch gar nicht mehr knusprig? Du hast mich ausgelacht. Weißt du noch? Oder als ich dir gesagt habe, ich müsste zehn Mal am Tag beten, weil ich mit dir Sachen esse, die nicht halal sind? Wie du gesagt hast, als ich dich später küssen wollte: »Aber ich bin auch nicht halal«, und dann hast du die Augen geschlossen und mich trotzdem geküsst?

Ling Ko Mui sieht auf Deddy Haikels Hand. Sie macht den Mund auf. Die Wörter kommen nicht heraus, aber sie nickt, diesmal voller Zuversicht. Sie lächelt. Sie greift nach seiner Hand. Bevor er sie ihr gibt, zieht er die pfirsichfarbenen Vorhänge auseinander und macht die Fenster auf. Er setzt sich an ihr Bett, reicht ihr seine Hand. Er stellt keine Fragen mehr, fordert sie nicht mehr sanft zum Sprechen auf, traut sich nicht mehr zu bestimmen, woran sie sich erinnert. Sie bleiben so, bis die Sonne aufgeht. Er hat ein Auge auf der Uhr. Er löst um viertel nach sieben seine Hand aus ihrer, bevor der Frühstückswagen in das Einzelzimmer geschoben wird.

Als er sich zur Tür begibt, hört er das Bettzeug rascheln. Er dreht sich um, und sie will nach ihm greifen, wie es ein Kind tun würde.

Er geht zurück zu ihrem Bett, küsst eine hervorstehende Ader auf der linken Seite ihrer Stirn. Sein defektes Herz dröhnt. Er geht schnell, verpasst gerade so den Frühstückswagen, bevor dieser am anderen Ende des Flurs auf seiner Runde um die Ecke biegt.

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Sie reagiert nun auf ihren Namen, aber nur, wenn die Ärzte und Schwestern ihn vollständig ausrufen – Ling Ko Mui! – nicht, wenn sie sie Mrs. Tan nennen oder Madam Ling oder Tantchen, die asiatische Annahme, auf diese Weise erwünschte Hochachtung auszudrücken.

Sie braucht ihre Bettpfanne nicht mehr. Man bringt sie jetzt zur Physiotherapie. Abzubauen ist leicht, es strengt nicht an, aber wenn es etwas gibt, wofür man leben möchte – selbst wenn man nicht so genau weiß, was es ist –, kämpft sich der Körper zurück.

Sie rufen ihre Tochter an und informieren sie über diese Fortschritte. Ling Ko Muis Tochter kommt, um sich von den Veränderungen zu überzeugen, wird aber von ihrer Mutter immer noch ignoriert, sie starrt einfach in Anwesenheit ihrer Tochter vor sich hin. Sie fährt nach Hause und denkt: Was für eine Zeitverschwendung. Sie weiß nicht, ob es einen Unterschied zwischen einer lethargischen Demenzpatientin und einer aktiveren Demenzpatientin gibt.

Ling Ko Mui kann immer noch nicht sprechen, aber ihr Mund bemüht sich um Sprache, während sie sich daran erinnert. Sie erkennen die deutlichen Veränderungen bei ihr, die jüngeren Schwestern sind noch nicht so abgestumpft, als dass sie dies durchgehen ließen. Sie versuchen, sie zu ermutigen.

Sie fragen sie: Woran erinnern Sie sich?

Ling Ko Mui erinnert sich an fünf Sterne und einen Mond.

Aber die fünf Sterne sind die spitze Fassade eines Gebäudes, und der Mond ist ein Halbmond, aus dem Wasserstrahlen schießen. Sie zeichnet es für die Schwestern auf, die damit nichts anfangen können.

Sie geht darauf zu, ein futuristisches Ziegel- und Sandsteingebäude, und als sie über die Schwelle schreitet, flaut der halbmondförmige Springbrunnen ab. Sie marschiert an der Kasse vorbei, betritt eine ausladende Halle mit 3420 Plätzen, setzt sich auf ihren. Sie sieht zu dem Kragdach hinauf. Als sie den Blick wieder senkt, sind alle Plätze besetzt. Deddy Haikel und seine Band stehen auf der Bühne, und die Musik ist in ihr.

Deddy Haikel, schreibt sie zittrig auf ein Blatt Papier. Deddy Haikel.

Es ist Mittagszeit, und die Schwestern schieben sie im Rollstuhl zu ihm. Sie sitzt bei ihm im halal-Bereich der Cafeteria. Sie sieht in sein Gesicht, berührt manchmal seine Wangen, seine Stirn, als wolle sie ihn salben.

Er lächelt, erst noch mit zusammengepressten Lippen, dann wird es zu einem breiten, faltigen Grinsen. Er schnappt sich seine Gitarre, legt sie aufs Knie.

Und sie singt mit ihm, perfekt im Takt, Wort für Wort den Text.

Barbara shimmies down Bugis Street And every sailor’s head turns. Feathers and a dress of midnight blue Barbara’s got an axe to burn.

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