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Vom Leben gebrochen und den Menschen enttäuscht prägen Melancholie und Traurigkeit das Leben des aus dem Rheinland stammenden Bankkaufmanns Johannes. Nur die Liebe hindert ihn daran, sich selbst aufzugeben und so versucht er einen Neuanfang. So reist er inzwischen in Basel lebend Jahr für Jahr nach Rom, um sich dort an seine verlorene Liebe zur Lehrerin Julia zu erinnern. In einem sich jährlich wiederholenden Ritual taucht er ein in ihre Liebesgeschichte, ihre Leidenschaft und ihre Tragödie. Er findet sich wieder an Momente des Glücks aber auch schicksalhafter Augenblicke unter anderem am 11.September 2001 in New York City. Am Mund der Wahrheit nimmt sein Leben dann eine dramatische und unverhoffte Wendung. In Rom erfüllt sich sein Schicksal.
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Seitenzahl: 460
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Wie Treibgut im Ozean spülen uns die
Stürme und Gezeiten des Lebens eines Tages
an die Küste unserer Bestimmung.
Mich spülten sie auf den Strömen der Zeit
in den Hafen meiner Familie.
Von dort blicke ich hinauf zu den Sternen, wo die auf uns warten, die uns vorausgegangen sind.
Eines Tages werde auch ich dort auf Euch warten.
In Demut und Dankbarkeit
widme ich dieses Buch meiner Frau Jana.
Textbeginn
Zum Geleit
Zeitenwende
Licht der Nacht
Es wäre nichts
Pusteblume
Freundschaft
Muttererde
Was ich nicht bin
Was Leben wäre
Close your eyes
Gottes Geschenk
Let me love you
Komm mit
Wegen Dir
Danse mon Esmeralda
Schmetterling
Fly with me
alien
Gottes Geschenk
Komm mit
Zweifle nicht
Until
Wunder
Each look
Du kennst mich
Tears
Königin
In dunkelster Stunde
Pass auf Dich auf
Zwei Vagabunden
Zweifle nicht
Zu guter Letzt
Zauberwesen
Du kennst den Weg
Mein schönster Stern
Der grösste Mann der Welt
Das schönste Mädchen der Welt
Die stärkste Frau der Welt
Als ich nach vielen Jahren meine jetzige Frau wiedersah, hatte sie in der Zwischenzeit ihren kleinen Jungen verloren. Sie war immer noch wunderschön, immer noch klug, immer noch herzlich, aber sie war verwandelt. Sie ist dem Leben gegenüber dankbarer, bewusster und demütiger als damals. Und gerade wegen ihrer Verwundbarkeit ist sie …
Die stärkste Frau der Welt
Sie geht nicht 5-mal pro Woche ins Fitnessstudio…, weil sie uns neben ihrem Job noch den Haushalt schmeisst
Sie stemmt keine Gewichte…, weil sie schon die Last unserer alltäglichen Sorgen trägt
Sie schafft keinen Marathon…, weil sie uns in der Zeit das gemeinsame Abendessen und die Bügelwäsche macht
Sie hat keine definierten Muskeln…, weil sie ihre Kraft für Hausaufgaben, Vorlesen, Basteln und Malen braucht
Sie hat nicht das Herz eines Athleten…, weil ihr großes Herz all den Platz für ihre Liebe zu uns braucht
Sie ist die stärkste Frau der Welt…, weil sie Lächeln kann, obwohl der Himmel ihren kleinen Jungen viel zu früh zu sich geholt hat…, weil sie meine kleine Tochter liebt, wie ihr eigenes Kind…, weil sie jeden Tag für mich zu einem Feiertag macht, egal wie schlimm die Welt da draussen ist.
Sie ist die stärkste Frau der Welt, weil sie mehr als einen Menschen durchs Leben trägt, auch wenn ihr Leben schon schwer genug ist.
Die stärkste Frau der Welt … ist meine Ehefrau!
Ihre Kraft, ihr Mut weiterzuleben, nach dem Schlimmsten, was einer Mutter widerfahren kann, hat uns bestärkt imoriam zu schaffen, damit Trauer in Dankbarkeit verwandelt werden kann und Erinnerungen nie verblassen!
Obwohl sich einige der hier geschilderten Ereignisse und Begebenheiten in einzelnen fragmentarischen Szenen so zugetragen haben, ist die Geschichte im Wesentlichen ebenso frei erfunden, wie die beschriebenen Personen und Charaktere.
Jegliche Ähnlichkeit oder Verwechslung mit lebenden oder verstorbenen Personen ist nicht beabsichtigt und rein zufällig.
Das Hohe Lied der Liebe (1 Korintherbrief 13,1-13)
Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich ein dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte, und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.
Die Liebe ist langmütig,
die Liebe ist gütig.
Sie ereifert sich nicht,
sie prahlt nicht,
sie bläht sich nicht auf.
Sie handelt nicht ungehörig,
sucht nicht ihren Vorteil,
lässt sich nicht zum Zorn reizen,
trägt das Böse nicht nach.
Sie freut sich nicht über das Unrecht,
sondern freut sich an der Wahrheit.
Sie erträgt alles,
glaubt alles,
hofft alles!
Sie hält allem stand.
Die Liebe hört niemals auf.
Zum Geleit
Was wir sind, ist nicht nur das, was das Leben mit uns macht, was uns widerfährt oder wem wir begegnen.
Was wir sind, ist nicht nur das, woher wir kommen, was uns mitgegeben wurde oder wer uns begleitet.
Was wir sind, ist Wachsen und Vergehen, Sein und Werden, ist Wandel und Veränderung und nicht zuletzt ist das, was wir sind Verletzung und Heilung.
Was wir sind, ist ein unfassbarer Ozean voller Erfahrungen, Prägungen, Tränen der Freude, des Stolzes, der Dankbarkeit aber auch Tränen der Traurigkeit.
Wir kommen, wir gedeihen, wir lernen, wir wachsen, wir scheitern, wir siegen, wir verlieren, wir leiden, wir enden.
Jeder von uns ist voller Geheimnisse, unbewusste Mysterien, gefangener Energie, dunkelster Abgründe und überschäumenden Lebens. In jedem von uns aber lebt ein Licht. Selbst in der größten Dunkelheit gibt es in uns ein Leuchten, das uns selbst überdauert.
Jeder von uns geht mit seinem Schatten einher. Aber jeder kann auch ein Stern in der Finsternis sein, ein Licht, das den Zauber des Guten bewirken kann.
Wenn wir es nur zulassen, kann in uns etwas wachsen, das Gutes selbst dahin bringt, wo das Leben grausam, zerstörerisch, mörderisch und ungerecht erscheint.
In uns kann etwas sein, das, das man Liebe nennt.
Wenn wir auf die Liebe vertrauen, tragen wir Sorge, tragen wir Kummer und Trauer in uns. Und dennoch hält die Liebe allem Stand, dem tobenden Orkan oder der nie enden wollenden Flaute.
Sie erträgt alles, erduldet alles.
Denn dann, wenn man es am wenigsten erwartet, wenn es uns das Herz zerreißt, uns die Seele quält, uns die Einsamkeit aufzufressen scheint… genau dann reift in uns die Erkenntnis unserer Endlichkeit und der tiefere Sinn unseres Daseins.
Jenseits unseres Strebens nach Glück, jenseits unserer Gier nach Geld und Besitz, jenseits allen Verlangens nach „mehr“ entdecken wir in uns jenen glühenden Stern der Liebe im unerschöpflichen Ozean unserer fantastischen Existenz.
Zurückgeworfen auf das Existenzielle, reduziert auf unsere Zerbrechlichkeit erkennen wir…
Die Liebe hört niemals auf
Bei Aachen am frühen Morgen des 26. März 2003
Der nahende Tag vertrieb mit seinen kaltfeuchten Nebelschwaden, die schüchtern vom kalten Wasser des Blausteinsees aufstiegen und zäh seine seichten Böschungen emporklommen, eine weitere kühle Nacht. Ein leichter Windzug wehte über die eisigen Wellen durch das Schilf hinüber zu den Feldern und Wiesen. Noch war es nicht Frühling geworden und nur vorsichtig zeugten vereinzelte Knospen, die dem morgendlichen Frost trotzten, davon, dass der Winter langsam zu Ende ging.
Eine friedliche Stille lag über der Ebene. Lediglich das Rascheln des Windes in den übrig gebliebenen spröden Blättern der Bäume und Hecken störte das lautlose Erwachen der Morgendämmerung.
Jene spätwinterliche Melancholie war mir vertraut. Diese Gegend war mein Zuhause. Ich saß mit tränenunterlaufenden Augen und starrem Blick auf einem Findling und betrachtete das trübe Wasser am Ufer des kleinen Sees.
Hier war meine Heimat. Hier hatte ich auf wackeligen Beinen zu laufen gelernt. Im Blumengeschäft meiner Eltern in Aldenhoven bei Jülich war ich aufgewachsen. Hier war ich in der katholischen Grundschule zur Schule gegangen. Hier wurde ich später als Schüler des Gymnasiums Haus Overbach in Barmen wie alle meiner Schulkameraden Messdiener. Hier fand ich den Glauben und verlor ihn wieder.
Dieses Land und der rheinische Menschenschlag hatten mich in meiner Kindheit mehr geprägt als die unzähligen fürsorglichen Mahnungen und Ratschläge meiner Eltern. Mit vielen Orten, Plätzen und Wegen verbanden mich zahllose Geschichten.
Lutz und Frank, meine viel zu früh verstorbenen Freunde. Onkel Josef, in dessen Gärtnerei ich mir mein Taschengeld verdiente. Prisca, meiner ersten Liebe. Leo, Rainer und Jürgen Fliege, die mir bedingungslose Nächstenliebe predigten, so sehr, dass ich später daran Schaden nahm. So viele Gesichter, so viele Erlebnisse und Erfahrungen und alles in einem Umkreis von wenigen Quadratkilometern.
Tief verwurzelt steckte ich fest im knietiefen Morast rheinischer Mentalität, einer Mischung aus kindlicher Ausgelassenheit, überschwänglicher Willkommenskultur und schwermütiger Realitätsverweigerung. Ich war gefangen in einem heiteren, aber neidischen, herzlichen, aber oberflächlichen Lebensgefühl zwischen Drama, Karneval und einem pragmatischen Katholizismus.
Die Kälte stecke mir tief in den Knochen und der Felsen unter mir tat ein Übriges, um die Eiszeit bis an mein Herz zu führen. Anders als sonst kämpfte der Winter dieses Jahr scheinbar vehementer und hartnäckiger gegen die stetig stärker werdende Kraft der Frühlingssonne. Scheu und vorsichtig öffneten die ersten Krokusse ihre violetten-blauen Blütenblätter nach einem langen Winterschlaf. Wie vereinzelte Farbtupfer stachen sie aus den von Raureif versilberten Wiesen heraus, die hinter mir das breite Seeufer bedeckten. In tausend Farben eroberte das gleißende Licht den neuen Tag. Am Saum des Horizonts erstrahlte der Himmel in Lila, Rot, Indigo und Azur, während zartrosa Federwolken in atemberaubenden Formen und Farben die Nachwolken endgültig verdrängten.
Weit in der Ferne sah ich die charakteristischen Silhouetten der unentwegt aufsteigenden Wasserdampfsäulen, die aus den breiten Schloten der Braunkohlekraftwerke Weisweiler, Niederaussem und Frimmersdorf in den pastellfarbenen Himmel emporwuchsen. Eigentlich hasste ich diese wolkenspeienden Schlote, die mir mein Vater in meiner Kindheit als wunderbare Wolkenfabriken schöngeredet hatte.
Braunkohle hatte diesem hügellose Fleckchen Erde am Rande der rheinischen Tiefebene zwischen Inde und Rur seit Jahrzehnten landschaftlich tiefe Wunden in die Erdkrume geschlagen. Die die gewaltigen Schaufelradbagger des Tagebaus hatten sich seit Jahrzehnten in den Boden der Region hineingefräst. Kubikmeter für Kubikmeter hatten sich die stählernen Kolosse tiefer und tiefer abwärts ins Mark der Heimat gegraben, um das braune Gold unter Lössböden, Sedimenten und Kiessohlen herauszuschürfen.
Unzählige Höfe, Burgen, Denkmäler aber auch ganze Dörfer, deren Gebäude, Wege und Friedhöfe waren bereits weggebaggert worden. Mit jedem dieser Orte wurden unzählige Erinnerungen ausradiert. Den Stahlkolossen, diesen gigantischen Baggern mit ihren gewaltigen Schaufelrädern waren das Werkzeug des unstillbaren Hungers unserer Gesellschaft nach Energie. Kohlestaub, Schwefel und Lärm erfüllten viele Dekaden die kohlendioxydschwangere Luft.
Ich starrte von meinem Findling aus auf eine Heimat, die mir in den vergangenen Wochen noch fremder geworden war, als es die Schaufelradbagger der Braunkohletagebau je hätten bewirken können.
Mein ganzes Leben war in den letzten Tagen aus den Fugen geraten und wirkte auf mich wie weggebaggert, wie weggefräst.
Die schmerzhafte Kälte durchzog meinen Körper bis ins Mark. Nie zuvor hatte ich so gefroren. Es war jene Art von unerbittlichem, eisigen Frost, der unaufhaltsam jede Körperzelle zu erreichen schien. Aber gegen diese Kälte gab es kein Mittel, um sie zu vertreiben und die Seele zu wärmen. An jenem Märzmorgen fühlte ich einen anderen Winter unter meiner Haut. Mich schauderte es.
Noch waren keine Schwalben aus dem Süden zurückgekehrt. Noch saßen keine Menschen in den Straßencafés oder auf den Bänken in den Parks und noch erreichte die wärmende Kraft der Sonne weder meine Heimat noch mein Herz.
Meine Seele kannte keine Sonne mehr. Sie war spröde und frostig. Ich war müde, sehr müde. Vieles war mir so fremd geworden in den letzten Wochen. Viele Begrifflichkeiten hatten sich verändert und eine neue Bedeutung, eine andere Wertigkeit bekommen: Freundschaft, Liebe, Treue, Achtsamkeit, Erfolg und Geld.
Was war mir noch Zeit außer einem dauerhaften Zustand nicht heilen wollender Schwermut? Was war mir noch Gesundheit und Unversehrtheit außer einer trügerischen Sicherheit, die uns das Leben in Sekunden aus der Hand zu reißen vermag? Was war mir noch das Leben außer einem fortwährenden Gefühl der Traurigkeit? Mein Dasein war sinnlos geworden, wertlos und ohne Bedeutung.
Die eine, die mir alles war, gab es nicht mehr für mich. Schlimmer. Es durfte sie nicht mehr geben für mich.
Ich war erschöpft, unendlich erschöpft und müde. Ich war erschöpft vom Sein und müde vom Leben, müde vom Leiden. Mein Blick hob sich über den See, wandte sich erneut dem Himmel zu. Mein warmer Atem kondensierte in einem milchig kalten Dunst bei jedem meiner heftigen Luftstösse, die keuchend meine Lunge verließen. In meinem Kopf hämmerte fortwährend eine Frage: „Warum?“
Ich erhob mich von meinem steinernen Sitzplatz. Holprig waren meine Schritte über die feuchten Gräser und Büsche den steilen Abhang hinauf. Ich hielt mich an den vereisten Zweigen der Kettensträucher fest, um nicht auszurutschen. Aus dem Kopfhörer meines Discmans klang Musik in meinen Ohren. Es war ihr Lied für mich. Hunderte Male hatte ich sie diesen Song für mich singen hören. Tausende Male hatte ich die Töne und Worte aus ihrem Mund gehört. Doch heute bekam jenes von ihr für mich eingesungenes Lied einen anderen, einen neuen Sinn. Ihre Stimme drang in dieser Umgebung, zu dieser Stunde noch viel tiefer in meine Seele hinein als je zuvor, wissend, dass ich sie heute ein allerletztes Mal hören sollte:
“No, I can't forget this evening, or your face as you were leaving, but I guess that's just the way the story goes….
No, I can't forget tomorrow, when I think of all my sorrow, how I had you there, but then I let you go....
It's only fair that I should let you know, what you should know….
I can't live, if living is without you. I can't live, I can't live any more.”
Nein, ich konnte nicht leben ohne sie. Sie war mein Leben, mein Pulsschlag und mein Atem. Sie war mein gestern, mein heute und mein jetzt. Sie war immer meine Hoffnung, mein Trost, meine Zukunft gewesen. Ohne sie gab es keine Hoffnung und kein Morgen mehr für mich.
Am Saum der Böschung musste ich kurz innehalten. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und starrte in den langsam heller werdenden Frühlingshimmel. Die Sterne verblassten einer nach dem anderen und ein einsamer Mäusebussard zog ahnungslos seine einsamen Kreise über mir. Ich rang nach Luft.
Als ich mein Auto erreichte, zitterten mir die Beine und Hände. Im Kopf dröhnte weiter ihre Stimme mit dem Badfinger-Song „without you“. Ich fuhr los zu dem Ort, den ich mir ausgesucht hatte. Ich stieg aus, ließ den Wagen unverschlossen stehen. Ich dachte nichts mehr.
Es waren nur noch wenige Schritte. Nur noch ein paar Tritte bis zur Heilung meiner Wunden, ein kurzer Weg bis zu meiner Erlösung. Mein Herz bebte und mein Puls schlug wild und ungezähmt in meinen pochenden Arterien. Es waren wohl kaum mehr als acht überschaubare Meter, um endlich, endlich all das Leid zu beenden. Ich sah hinab auf die braunen Spitzen der Budapester Lederschuhe, die aus den dunkelblauen Hosenbeinen meines Business-Anzuges hervorlugten und doch wie festgeklebt in der modrigen, nassen Erde feststeckten. Tiefer und tiefer versanken meine Schuhe mit mir darin im weichen gewächslosen Lehmboden. Jeder Schritt war schwer wie Blei und doch federleicht; jede Bewegung meines Körpers war unspektakulär, bedächtig und dennoch souverän, fast selbstverständlich. Was ich vorhatte, war so ganz gegen meinen bis vor kurzem noch so tief verwurzelten katholischen Glauben. Meine Absicht war ein Frevel gegen meine Erziehung und meine eigenen Überzeugungen. Es war Verrat an alles, was mir meine Eltern mit auf den Weg gegeben hatten. Und doch – ich war mir sicher. Ich war fest. Ich war ein Stückweit vielleicht sogar beseelt. Ich hatte aufgehört zu glauben. Ich hatte aufgehört zu wünschen, zu fühlen und zu hoffen.
Ein weiteres Mal endete das Lied aus dem Discman und einmal mehr drückte ich die Repeat-Taste:
„No I can’t forget this evening …“.
Mir liefen Tränen übers Gesicht. Tatsächlich konnte ich jenen Augenblick nicht vergessen, indem ich sie um ihrer selbst willen verlassen hatte. Ich hatte uns voneinander gehen lassen, um sie nicht zu zerbrechen.
„Mutig ist der, der weiterlebt, egal welche Bürde uns das Schicksal auferlegt!“ So oder so ähnlich hatte ich selbst noch vor einiger Zeit geplappert, als sich vor einigen Wochen ein Bekannter im Keller seiner Eltern mit einem Strick das Leben nahm. Was für ein Dummschwätzer war ich. Was für ein überheblicher Ignorant. Ich hatte doch nie eine Spur von Ahnung, was das Schicksal anzurichten vermag! Ich hasste mich für mein dämliches Gequatsche über Mut und Verantwortung, über Tapferkeit und Zuversicht.
Was bleibt dem Menschen, wenn er aller Hoffnung und Zuversicht beraubt ist? Wusste ich nicht, wie schnell das Leben eines Menschen bis in seine Grundfesten erschüttert werden kann? Und nun stand ich selbst hier am Rande einer Bahnstrecke, bereit meinem sinnentleerten, elenden Leben ein dramatisches Ende zu setzen.
Mag sein, dass es mutig war, was ich vorhatte, besonders tapfer war es nicht und heldenhaft ganz gewiss nicht. Ich war nie ein Held gewesen. Nie war ich ritterlich. Ich war Durchschnitt, ein Normalo, einer von vielen und doch fühlte es sich so an, als müsse ich anders sein.
Jäh beendete ich den Gedanken, als ich von irgendwoher hörte, wie eine schwere Autotür zuschlug. Mir stockte abrupt der Atem. Dann startete ein Motor, heulte kurz auf, um dann leiser werdend zu verstummen. Ich atmete auf, hatte ich doch befürchtet entdeckt worden zu sein.
Nur noch ein paar Minuten der Entschlossenheit, nur wenige Schritte der Bewusstheit und du hast es geschafft!“, redete ich mir Mut zu. Dann hörte ich es. In der Ferne erklang deutlich das metallische Summen und das schrille Surren, auf das ich gewartet hatte. Es war der Klang des Todes. Es war wie einen Lockruf der Verheißung auf Schlaf und Leere. Es war das Intro eines Songs, der mich auf einen wie auch immer vorzustellenden Himmel hoffen ließ?
„Gott, wenn es ihn geben sollte, erwartet mich hoffentlich mit offeneren Armen und ehrlicherem Herzen als die Menschen hier“, dachte ich. Während mein Herz das siedende Blut immer wilder durch meinen zitternden Körper pumpte, waren meine Schuhe noch tiefer im weichen Modder des Bahndamms eingesunken. Mein Blick haftete fest an den beiden stählernen Spuren und den hölzernen Wirbeln zwischen den beiden Trassen direkt vor meinen Augen. Ich war ganz klar, ganz bei mir in diesem Augenblick trotz aller Anspannung. Nein, es gab keinen Zweifel, keine Angst, keine Befürchtungen. Ich war vollkommen im Moment, erfüllt von einem Gefühl grenzenloser Freiheit und gleichzeitig bewegt von der unstillbaren Sehnsucht nach Stille, nach Schlaf, nach dem Ende meiner Zeit. Ein kühler Luftzug wehte lautlos zu mir herüber und der vertraute Duft von Forsythien, die wild entlang der Bahntrasse wuchsen, erreichte zärtlich meine Sinne. Tief in mir fühlte ich, wie sich mein Schicksal in wenigen Augenblicken hier an diesem Bahngleis erfüllen sollte.
Frieden näherte sich mir mit seinen ausgebreiteten Armen und wartete darauf, mich fest an sich zu drücken wie eine Mutter, die ihr Kind inbrünstig umarmt, wenn es gesund von der Schule heimgekehrt ist. Meine inzwischen wachsende Erregung rührte mehr aus der Dramaturgie des Augenblicks und der sich in Höchstgeschwindigkeit nähernden Gewissheit auf die Befreiung von aller Lebenslast als aus irgendeiner vermeintlichen Todesangst. Es war erschreckend, aber da war keine Spur von Furcht in mir. Die unaufhaltsame Urkraft des heranrasenden Zuges wimmerte immer lauter werdend in meinen Ohren.
„Komm schon. Nur ein weiterer kleiner Schritt hin in Richtung Erlösung“, sprach ich mir Mut zu. Nun waren es noch sieben Meter, dann sechs. Ohnmächtig meinen Beinen noch Befehle zu erteilen, vernahm ich wie der Thalys mit seinem mächtigen weinroten Triebwagen grollend auf mich zuraste. Ich atmete das Leben in seiner ganzen Fülle ein. Ich atmete seinen Zauber und seine Tragik wie noch nie zuvor. Ich spürte das Donnern in jeder Zelle meines Organismus und ahnte in diesem Moment, was es heißt, lebendig zu sein. Meine Seele ersehnte nach all dem Leiden der Lebendigkeit nun den schmerzlosen Frieden der Vergänglichkeit.
Kurz hielt ich inne. Noch fünf wenige Meter. Vorsichtig ertasteten die Ledersohlen die spitzen, scharfen Kanten der Basaltsteine im grauen Schotterbett der Bahnlinie Aachen-Köln. Ich glaubte, eine laute Warnsirene zu hören. Oder auch nicht? Das Signal hielt mich nicht auf, bremste mich nicht eine Sekunde in meiner Bewegung. Die Forsythien, die Büsche und Sträucher spielten mit dem aufflackernden Wind. Ein Sonnenstrahl durchdrang in diesem Augenblick die pastellfarbenen Schleierwolken und wärmte kurz mein Gesicht. Sekunden vergingen wie Stunden, Momente waren wie Ewigkeiten. Ich war apathisch und doch fokussiert, betäubt und doch konzentriert.
Wie in einem Zeitrafferfilm jagten tausende Bilder durch die zum Bersten angespannten Synapsen in meinem Kopf. In wirrer Folge tauchten Fotos von Fremden und Freunden, von Orten und Momenten, von Instrumenten und Körpern vor meinem geistigen Auge auf. Nur noch vier Meter. Nicht mehr als dreihundertachtzig Zentimeter bis zur Wahrhaftigkeit. In mir brannte ein Feuer. Übersättigt von Gedanken, ertrunken in Selbstzweifeln gebot ich meine Seele in Gottes Hände. Jeder Augenblick war wie betäubt; jede Körperfaser fühlte sich gedemütigt. Mein Herz war tot.
Es war an der Zeit. Es war an der Zeit hinüberzutreten in eine andere, in eine bessere Welt. Ich war bereit zu gehen. Eine winzige Entfernung nur bis zur Unendlichkeit. Immer lauter, immer bedrohlicher näherte sich donnernd auf gerader Strecke der Hochgeschwindigkeitszug auf seiner Fahrt von Köln in Richtung Paris. Schrill quietschte Metall auf Metall; das Getöse des Alarmsignals drohte, mein Trommelfell zu zerreißen. Ein befreites Lächeln schlich sich in dieser nicht zu beschreibenden Erregung auf meine Gesichtszüge. Meine Schlagadern drohten vor Aufregung zu bersten unter meinem heftigen Herzschlag. Und doch war ich mir jeder meiner Schritte bewusst, nüchtern und immer noch angstfrei. Das Ende aller Lügen. Das Ende allen Verrats. Das Ende aller Demütigung. Das Ende allen Schmerzes. Wozu noch leben, wenn mir das Liebste genommen worden war? Wozu noch atmen, wenn ich nicht mehr wusste für wen und was?
In knapp drei Metern, in wenigen Augenblicken würde alles vorbei sein und alles wäre überstanden. Schon sah ich die Scheinwerfer und die schlanke, bordeauxrote Silhouette des Thalys rasend schnell auf den singenden Gleisen auf mich zukommen.
Nur noch zwei Schritte und stehen bleiben!
Dann tauchte es auf. Wie aus dem Nichts stand es da. Es erhob sich aus dem Nichts und entschwand sofort wieder dorthin. Es blendete auf, dieses eine Bild in meinem Hirn, das alles zerstören sollte und alle Hoffnung auf Erlösung begraben sollte. Ich sah vor meinem geistigen Auge genau das Bildnis, das ich jetzt nicht sehen wollte.
Ich sah Julia, meine Gefährtin, mein Hafen, mein Zuhause.
Es war nur das unscharfe Fragment ihrer Augen. Es war nur der Bildfetzen ihrer Lippen, ein schemenhaftes Fresko ihres Lächelns, das ausreichte, um mich sanft, aber kraftvoll aus dem sich mir nähernden Paradies herauszuzerren. Es riss mich heraus aus meiner Hoffnung auf den Tod. Es schleuderte mich aus allen Träumen vom Jenseits und hinein in eine trostlose, düstere Wirklichkeit. Ihr Antlitz stand da, doch war es kein Trugschluss, keine Erscheinung. Sie war gegenwärtig und hielt mich zurück. Ich erschrak. Meine Augen waren aufgerissen und mein Körper schwankte. Mein Herz schien still zu stehen.
Blitzartig wich ich zurück und nur Millisekunden später raste die mächtige Lokomotive des Hochgeschwindigkeitszuges mit schrillem Bremsgeräusch und heulendem Signalhorn um Haaresbreite an mir vorbei.
Der ohrenbetäubende Lärm der jaulenden Aggregate und das quietschende Metall der bremsenden Radreifen zerfetzten meine Sehnsucht nach dem Tod.
Ein schwarzer Schatten der Vergänglichkeit streichelte kalt meine Wange, bevor mich ein gewaltiger Luftzug brutal rücklings bis an den Rand des Gleisbettes zu Boden warf. Mit einem gewaltigen, rhythmischen „DuDumDuDum“ flogen die einzelnen Wagons und Abteilwagen in Lichtgeschwindigkeit donnernd an mir vorbei und ich hatte alle Mühe Luft zu bekommen.
„Neiiiiiiiiiiiiin!!!!“, kreischte ich in einem endloslangen Schrei dem Zug entgegen. „Juliiiiiiii!!!! “, schrie ich unter heftigen Tränen den mich passierenden Waggons hinterher. „Juliiiiiiii!!!“
Dieser Tag ist jetzt zwölf lange Jahre her.
Wider aller Wahrheiten atme ich.
Entgegen aller Hoffnung lebe ich.
trotz allem liebe ich.
Zeitenwende
Wind von Hügeln über Meere
Wind aus höchster Atmosphäre
Wind von Ebenen und Feldern
Wind aus Höhlen und aus Wäldern
Wind von Bächen und von Wegen
Wind aus Wolken und aus Regen
Wind von Dächern und von Türmen
Wind aus Wüsten und aus Stürmen
Wind vom Mond und von Gestirnen
Wind aus Eis von Gletscherfirnen
Alle Winde strömen hin
Zu dem, der ich gewesen bin
Jeder Wind streift meine Hände
Zeit zu wenden – Zeitenwende
Zwölf Jahre später und fünfhundertdreiundachtzig Straßenkilometer weiter südlich
Ich atme noch. Ich lebe noch. Und entgegen aller Zuversicht, wider aller Vernunft liebe ich. Noch immer schlägt mein Herz und trotz allem Geschehenen pumpt es ohne Unterlass Blut durch meine spröden Adern. Heute bin ich ein anderer als damals vor zwölf Jahren. Und auch morgen werde ich gewiss ein anderer sein als derjenige, der ich heute noch bin. Immer noch und mehr denn je bin ich ein leidenschaftlich Zweifender, ein naiv Träumender, ein unbeirrt Liebender. Immer noch und mehr denn je bin ich ein sehnsüchtig Suchender.
So bin ich auf der Reise meines Lebens stecken geblieben im Strudel des Erlebten. Wie in einem Moor umklammert der modrige Sumpf des Schicksals meine Gebeine und hält mich gefangen in einer Welt jenseits der Gegenwart und diesseits der Vergangenheit. Vor vielen Jahren hatte ich aufgehört an etwas zu glauben und ich habe seither auch nicht wieder angefangen es zu tun. Ich glaube nicht mehr. Wie könnte ich auch? Woran hätte ich denn noch glauben können? Sollte ich trotz allem, was Menschen mir angetan haben, wieder naiv und vorbehaltslos wie ein Kind an das Gute im Kern eines jeden menschlichen Wesens glauben? Sollte ich tatsächlich noch auf etwas Besseres hoffen, als das, was ich jetzt hatte? Sollte ich dafür beten, dass alles wieder gut werden möge? Wie hätte ich nach den tosenden Stürmen meines Lebens jemals wieder an einen Gott, an einen Allah oder das Universum glauben können? Wo war er denn damals gewesen, dieser barmherzige Gott, dieser liebende Vater? Wo war er gewesen, mein Erlöser, mein Heiland? Wo war er in meinen dunkelsten Stunden? Er hatte sich in sicherem Abstand zur Tragik meines Lebens aufgehalten. Er hatte sich versteckt in der Dunkelheit meiner nie wieder enden wollenden Nacht. Gott!?! Er hatte mich nicht verlassen, er war nie da gewesen. Wie waren noch die letzten Worte Jesu? „Eli, Eli, lama asabthani!“ Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! Das war vor zweitausend Jahren keine Frage des Messias an seinen himmlischen Vater. Es war Verzweiflung! Es war Angst, Todesangst!
Diese Verzweiflung und Angst waren auch in mir bis heute allgegenwärtig geblieben. Damals hatte dieser große Gott der Christenheit all meine verzweifelten Gebete, meine Hilfeschreie und mein sehnlichstes Flehen erbarmungslos überhört. Er hatte gefühlslos geschwiegen und tatenlos distanziert zugesehen. All mein inbrünstiges Rufen, all mein jammerndes Betteln und bedauernswertes Winseln zu ihm war ungehört geblieben. Meine beharrliche Suche nach göttlichem Beistand und spiritueller Hilfe war vergebens gewesen. Nichts hatte mir meine Hoffnung wiedergeben können, bis heute nicht. Weder bewusstseinserweiternde Drogen noch exzessiver Alkoholkonsum hatten neue Antworten auf alte Fragen für mich bereitgehalten. Niemand hatte mir in den letzten Jahren die beiden mich umtreibenden Fragen beantworten können.
Wer?
Warum?
Zugegeben, ich hatte auch niemanden danach gefragt.
Ich hatte mittlerweile gelernt, dass es nicht für alles, was auf Erden geschieht, eine Antwort gibt. Es wird vermutlich auch nie eine Antwort auf das geben, was mir widerfahren ist.
Als Kind und Jugendlicher hatte ich noch so voller Inbrunst meine Gebete gebetet, Hoffnungen gehofft und Träume geträumt. Später dann, als meine Welt zusammenbrach, habe ich zu meinem Schöpfer gefleht und mein Karma angebettelt. Ich habe nach Antworten und Wahrheiten gesucht, aber es blieb stumm in mir und um mich herum. Keine Stimme hat mir etwas offenbart. Gefunden habe ich nichts, außer der Gewissheit, dass es keine Gewissheiten für uns in dieser Welt gibt. Das Leben ist wie Sand in unseren Händen. Leid und Übel haben mich nicht gesucht, sie haben mich nicht gefunden. Nein, ich habe Leid und Übel angelockt. Ich habe ihnen, naiv wie ich war, die Türen ganz weit aufgehalten. Dann kamen sie zu mir und haben mich heimgesucht. Seither haben sie mich nicht wieder losgelassen.
In all den vergangenen Jahren habe ich zwar keine Antworten auf meine Schicksalsfragen gefunden, aber ein paar Erkenntnisse haben sich dann doch herauskristallisiert, unter anderen die, dass meine Eltern mit einigen Lebensweisheiten Recht hatten. „Gutheit ist Dummheit!“, war sicher die Bedeutendste davon. Vielleicht war die Gabe der Empathie, des Mitgefühls, der Barmherzigkeit Gabe auch meine Achillesferse. Vielleicht hatte ich aufgrund meiner christlichen Erziehung in der Tat den Blick immer zu sehr auf das Gute gerichtet. Es war aber wohl eher meine Gutgläubigkeit, die mein Leben und meinen Glauben zerstört hatten. Was der Mensch dem Menschen sein kann, hätte ich viel früher lernen müssen. Wahrscheinlich sollte man Kinder in ihren prägenden Jahren nicht vor allem zu schützen versuchen, sondern sie lehren, wie sie mit den dunklen Seiten des Lebens umgehen sollten. Kinder sollten nicht behütet werden vor der Wirklichkeit, nicht abgeschottet werden gegenüber Verrat, Verleumdung, Niederlagen, Schmerz und Verlust. Es kann wie bei mir in eine Tragödie münden, wenn sie vor allem Negativen bewahrt werden.
Heute jetzt und hier erinnere ich mich anders an meine behütete Kindheit in einem Zwiespalt zwischen Dankbarkeit und Enttäuschung.
An jenem Märztag vor zwölf Jahren hatte ich mich nicht an einem Bahngleis im Rheinland umgebracht. Seit jenem Tag habe ich es auch nicht wieder versucht.
So lebte ich die letzten Jahre vor mich hin, orientierungslos wie Treibgut im Fluss einer dahinplätschernden Existenz, auf einer Reise ohne Ziel. Meine eigene kleine Welt, aber auch die Welt draußen vor der Tür hat sich in ihrem Lauf seit damals fühlbar verändert. Für die Menschen hat Materialismus anscheinend noch mehr an Bedeutung gewonnen. Egoismus und der eigene Vorteil hat noch mehr Priorität bekommen und gewiss ist unsere Zeit noch ungleicher, noch ungerechter geworden. Reiche wurden reicher, Arme wurden ärmer im neoliberalen Glauben an die Allmacht des Marktes in einem entfesselten, menschenverachtenden Kapitalismus.
Die Verwirtschaftung der gesamten menschlichen Existenz hat beängstigende Ausmaße angenommen und das Gefühl der Entmenschlichung und politischen Radikalisierung unserer Gesellschaft treibt mich um.
Doch viel gravierender als all diese fühlbaren Veränderungen ist für mich persönlich in meinem kleinen Kosmos etwas ganz Anderes.
Auch wenn mir die Erinnerungen weh tun, so haben sie doch etwas Liebevolles. Sie erinnern mich an eine Zeit, in der Zeit noch zeitlos und eine Stunde eine Stunde war. Unsere digitale Welt hat die Zeit schneller werden lassen. Es passiert mehr im gleichen Zeitabschnitt wie früher und das ist mir unheimlich. Das Gelebte wird mehr, die Zeit scheint schneller zu verrinnen. Statt Muße ist es hektischer und unruhiger geworden. Und bei all dem muss ich feststellen: ich komme nicht mehr mit! Die Geschwindigkeit überrollt mich, so wie ich es mir damals vom Zug gewünscht hätte, als ich an den Gleisen stand. Digitaler Fortschritt und technische Effizienzsteigerung machen mich müde. Mit jedem Update eines Computerprogramms spüre ich es körperlich: Die Beschleunigung sämtlicher Betriebsamkeiten will mich vor sich hertreiben. Ich halte diesem rastlosen Vorwärtsstreben nicht mehr Stand. Mein Intellekt schafft es nicht mehr, sich allen Neuerungen und Trends in einer viel zu schnell drehenden Welt zu stellen und ihren Hypes zu folgen. Ich kann kaum noch filtern, was wichtig ist und was nicht. Natürlich habe ich ein Smartphone, ein Tablet und ein Notebook. Ich bin kein elektronischer Neandertaler unsere Informationszeitalters, aber Digitalisierung meiner kompletten menschlichen Existenz bereichert mich nicht, sie bedroht mich und macht mir Angst. Ich habe Angst zu ertrinken in algorithmischen Sintfluten der Moderne. Es ist mir alles zu viel geworden. Zu hektisch, zu verfügbar, zu abstrakt und viel zu kalt.
Während wir technisch immer weiter vorwärtsstreben, schreiten wir emotional immer weiter zurück. Kaum jemand nimmt Notiz von mir, kaum jemand ist ernsthaft an mir als Person interessiert. Kaum jemand interessiert sich für meine Geschichte. Die Menschen sind mehr und mehr mit sich selbst beschäftigt, mit ihrer Selbstoptimierung. Es wird alles darangesetzt, stets das Beste für sich selbst aus dieser Welt herauszuschlagen, den besten Deal zu machen, die perfekte Erscheinung, den perfekten Job, den perfekten Partner, das perfekte Leben für sich zu sichern. Das macht einsam, sehr einsam und treibt die Entsolidarisierung unserer Gemeinwesen an. Zuletzt stirbt Mitmenschlichkeit und Warmherzigkeit.
Aber was philosophiere ich über die Welt, wenn es mir selbst nicht einmal gelungen ist, meinen eigenen Frieden zu finden mit meiner Geschichte, meinem Schicksal und meiner Vergangenheit.
Und Gott? Nein, ich habe keinen Anlass mehr zu glauben, auch nicht an den lieben Gott, der mir einst so sehr am Herzen lag. Dennoch bete ich jeden Tag zu irgendetwas, weil ich in den letzten Fasern meines Körpers hoffe. Nur auf was weiß ich nicht mehr. Beten kann sicherlich auch nicht schaden. So bete ich, weil es trotz allen Zweifels meiner Seele guttut, mich jemandem anzuvertrauen und mit jemandem zu reden, selbst wenn es nur ein imaginäres Pendant ist, das mir ohnehin nicht zuhört. Ich glaube nicht mehr an allzu viel Gutes auf diesem Planeten und doch rufe ich ihm, diesem barmherzigen Heiland zu. Denn trotz allem, was mir widerfahren ist, trotz alledem schlägt mein wundes Herz, trotz allem hofft es. Auch zwölf lange Jahre danach pocht es jeden Tag, ohne zu wissen, wozu und ruft mir zu: „Die Liebe hört niemals auf!“
Herber Geruch von Rauch kriecht zäh aus dem gusseisernen Kaminofen zu mir herüber. Das trockene Eichenholz knackt und knistert hinter der verrußten Glasscheibe und ist sichtlich bemüht, die eisige Kälte aus dem Mauerwerk zu vertreiben. Das lodernde Feuer wärmt mich nur wenig, aber es sprüht unablässig seine glimmenden, weiß goldenen Funken das Ofenrohr empor. Nur spärlich hilft der gelb flackernde Schein einer einsamen Glühbirne, die verloren in einer schlichten Fassung von der offenen Holzdecke herunterbaumelt dem Feuer im Ofen dabei, mein kleines Zimmer zu erhellen. Draußen vor dem leicht trüben Fensterglas zerrt in der Dunkelheit der frühen Nacht eine kühle Bö an den kleinen Astern auf meinem Austrittsbalkon und ein kühler Wind, der scheu vom Rhein herüberweht, rüttelt wieder einmal knarzend an den weißen, seit vielen Jahren nicht mehr behandelten Holzfenstern, während durch einen breiten Schlitz unter der Balkontüre ein frischer Luftzug in meine Wohnung dringt. Trotz des züngelnden Kaminfeuers sitze ich fröstelnd auf meinem grünen Stoffsofa, eingehüllt in einer alten Patchwork-Tagesdecke, mein aufgeklapptes Notebook auf dem Schoss und wehre mich mit einem Glas Whiskey gegen die um sich greifende Kühle. Gedankenverloren schweifen meine müden Augen durch mein kleines Reich, keine fünfzig Quadratmeter groß und doch ein Hort des Friedens und der Ruhe. Hier ist meine Festung, nicht mein Heimathafen, aber meine Zitadelle. Mein Blick wendet sich den Instrumenten und Fotographien an der Wand zu, wandert über den Boden auf geleerte Glasflaschen und wirren Stapeln von Papieren, Magazinen und Ordnern zurück zum flimmernden Monitor des Computers vor mir.
Ich lebe nun schon seit gut elf langen Jahren im ersten Stockwerk eines alten Stadthauses in der Oberen Rheingasse in Basel unweit der Mittleren Rheinbrücke.
Das schmale Häuschen mit seinen drei Mietparteien ist kaum breiter als viereinhalb Meter aber eine Heimstätte an Historie und Gemütlichkeit. Die hell verputzte Fassade, die hölzernen Sprossenfenster und die alten Dachschindeln geben diesem Schmuckkästchen eine pittoreske Note und dienen dem ein oder anderen Touristen bei ihren Streifzügen durch die Baseler Altstadt als hübsches Fotomotiv. In den Sommermonaten zieren rote Hängegeranien die kleinen Fenstersimse und schenken dem Antlitz des Häuschens ein paar farbige Tupfer. Was für ein Kontrast zu mir, seinem besonderen Bewohner! Das enge Treppenhaus stellt jeden hier ein- und ausziehenden Mieter beim Möbeltransport vor besondere Herausforderungen. So werden seit Generationen Schränke und Sessel ausschließlich über Seilwinden durch die flussseitigen Fenster hinab- und hinaufgeschafft. Der eingeschränkte Komfort des Gebäudes wird mehr als wett gemacht durch die heimelige Atmosphäre des uralten Gemäuers und die exklusive Lage direkt am großen Strom. Ich mag mein bescheidenes, aber einladendes Heim in Basel, inmitten dieser meiner inzwischen liebgewonnenen neuen Heimat.
Außer mir wohnt noch eine ältere Dame im Haus. Die kleine Wohnung im Erdgeschoss beherbergt Pierrette, eine ehemalige französische Journalistin. Früher war sie freiberuflich beim renommierten ´Figaro` tätig und verantwortlich für die Berichterstattung aus der Schweiz. Pierrette trägt trotz eines an dieser Stelle zu verheimlichenden, aber gewiss bemerkenswerten Alters selbst daheim meist einen eleganten Hosenanzug und auffallenden Modeschmuck. Die elegante und gemessen an ihren geschätzten achtzig Jahren sehr jugendlich aussehende Dame schminkt sich täglich mit einer Akribie und Selbstverständlichkeit, als würde sie sogleich in ihre Redaktion oder zu einer Recherchereise für eine neue Story aufbrechen müssen. Doch ihre aktiven Tage als Kulturreporterin sind schon lange Vergangenheit. Nur noch selten betätigt sie sich als Schreiberin von Leserbriefen an die Basler Zeitung oder die NZZ. Ihre dunkelbraun gefärbten Haare trägt sie in einer mädchenhaft kurzen Frisur und gönnt sich jeden Monat einen ausgiebigen Besuch bei ihrer Kosmetikerin am Spalentor, die ihr die Augenbrauen und den sich ausweitenden Damenbart zupft. Pierrette lebt in ihren zwei Zimmern gemeinsam mit ihrer schon fast vollständig erblindeten Mischlingshündin Jeanne inmitten eines hübschen Ensembles aus alten Möbeln, Bildern, Skulpturen und sonstigen Devotionalien ihres gesamten Lebens, von denen jedes einzelne eine unendlich lange und bewegte Geschichte zu erzählen hat. Neben den teils kitschigen, teils sehr avantgardistischen Gemälden sind die Wände mit so unzähligen Fotos vollgehangen, dass ich nicht beschreiben könnte, welche Tapete sich dahinter verbirgt. Vor allem die vielen, teilweise schon verblassten schwarz-weiß Aufnahmen zeigen Menschen und Orte, die ihr ganz besonders am Herzen liegen und viel bedeuten müssen. Sie hängt sehr an ihren Erinnerungsschätzen wie sie die Dinge selbst gern bezeichnet.
Eine offene Schatulle, die wie ein Hausaltar drapiert ist, beherbergt das Foto eines jungen Mannes mit einem Barett auf den lockigen Haaren und einer Flinte in der Hand. Es ist wohl das Bild ihrer großen Liebe, der in Frankreich, während der Nazi-Zeit in der Resistance gekämpft hat und bei La Rochelle aufgegriffen und standrechtlich hingerichtet worden war. Ab und an sieht es so aus, als wüsche sie sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Jeden Morgen, wenn die Mischlingshündin Jeanne und ihr Frauchen zu einem kurzen Spaziergang das Haus vorderseitig verlassen, bleibt zu hoffen, dass die beiden den Weg auch wieder zurückfinden. Pierrette hat die Alzheimer-Krankheit, allerdings erst in einem sehr frühen Stadium. Sie spricht nicht darüber, aber vor ein paar Monaten, es waren die letzten Tage vor Weihnachten, hatte sie mir bei einem Glas Punsch mit ihrem reizenden französischen Akzent gesagt: „Ich bin dabei die Gegenwart zu verlieren, Jean Pierre. Ich verliere das Heute und das Morgen und verirre mich im Gestern. Ich habe das ungute Gefühl, dass sich meine Dimensionen von Zeit und Raum verändern, sich aufblähen und schrumpfen, sämig werden wie heißer Teer und dann wieder strömen wie ein Wasserfall. Irgendetwas geschieht da in meinem Kopf. Ce qui se passe avec moi, cher Jean Pierre? Die Vergangenheit wird immer grösser und die Gegenwart immer kleiner. Ich werde alt. Nein. Ich bin alt.“, hatte sie damals lächelnd hinzugefügt.
Ich hatte ihr da nur sagen können: „Nein, für mich sind sie jung, Madame. Jung im Herzen und viel jünger als sie vermuten.“ Pierrette hatte mich ein weiteres Mal angelächelt und meinte nur: „Ach, was soll’s. Ich habe gelebt, geliebt, gelitten und gelacht.
Ich habe gekämpft und verloren, ich habe gestritten und gewonnen. Ich war dem Himmel nah und blickte unzählige Male in den Abgrund. Was darf man mehr erhoffen als dies? Aber Sie Jean Pierre, Sie sind noch jung. Werden Sie bitte wieder lebendig. Leben Sie, Jean Pierre! Lieben Sie! Und bitte, erinnern sie sich bitte jeden Tag. Denn nur wer sich erinnert, der hat eine Zukunft! D’accord?“. Wieviel Weisheit lag in ihren Worten! Wieviel Lebensfreude und Gnade wohnte in ihrem Herzen! Trotz des spürbaren Fortschreitens ihrer Erkrankung ist mir Pierrette ans Herz gewachsen, ohne dass ich sagen könnte, dass wir uns besonders nahestehen. Ich bin seit jenen Tagen vor zwölf Jahren sehr vorsichtig geworden mit dem Begriff ‚Freundschaft‘, aber diese an Demenz leidende und dennoch inspirierende, aktive und mich intellektuell überragende ältere Dame ist für mich ein beneidenswertes Vorbild an Energie, Intuition, Wissen und Klugheit. Sie ist mir eine gute ‚Kollegin‘ geworden wie es die meisten Schweizer betiteln würden, keine Freundin aber eine Kameradin! Obwohl Pierrette inzwischen immer größere Gedächtnislücken bei Ereignissen aus der jüngsten Vergangenheit hat, ist ihr Erinnerungsvermögen im Langzeitgedächtnis enorm. Sie hat beispielsweise noch genaue und sehr detaillierte Kenntnisse vom großen Baseler Chemieunfall am ersten November 1986 unweit des Industriegebietes Schweizerhalle, bei dem der ganze Rhein durch kontaminiertes Löschwasser verseucht wurde und der Fluss zu einem so gut wie toten Gewässer verwandelt wurde. Damals hatte sie sich bei der Recherche zu den Vorgängen als investigative Journalisten einen Namen gemacht. Pointiert kennt sie noch heute Geschichten und Gerüchte aus Politik, Wirtschaft und Kultur in Basel, Bern und Zürich und den anderen dreiundzwanzig Kantonen vom Tessin bis zum Jura, von Graubünden bis ins Waadtland. Sie ist eine faszinierende Frau, trotz und wegen ihrer Bildung. Wenn sie auch in ihrer Attitüde manchmal etwas eigenwillig, distanziert und teilweise überheblich auf mich wirkt und auch sie nicht ganz, ohne die typischen Allüren einer stolzen Pariserin auszukommen scheint, so ist sie mir doch eine angenehme Gesprächspartnerin. In meinen einsamen Stunden lade ich mich gerne selbst mit einer Flasche Bordeaux und etwas französischem Käse zu einer ihrer Geschichten ein, auch um mein Versprechen einzulösen, sie regelmäßig an ihre Gegenwart und Zukunft zu erinnern. Auch wenn sie in den Kriegsjahren mit ihrem Verlobten in der französischen Widerstandsbewegung gekämpft hatte, so ist ihr Widerstand heute gegenüber einem Glas Roten weniger ausgeprägt. So lässt sie sich immer mal wieder gerne auf einen Plausch mit mir ein, was wohl mehr dem Bordeaux und dem Käse zu verdanken ist als einer besonderen Zuneigung zu mir.
Ihre kühle Art ist weniger ein Ausdruck von Überheblichkeit, sondern eher eine bewusste Provokation, die bekanntermaßen ja recht vielen französischen Frauen zu eigen ist. Gelegentlich fällt mir dann beim Wein und dem zweifelnden Blick in ihre braunen Augen auf, dass sie angestrengt darüber nachdenkt, wer wohl dieser Fremde ist, der da gerade bei ihr am Küchentisch sitzt.
Schnell helfe ich ihr dann bei ihrer Suche und erzähle etwas von einem tropfenden Wasserhahn, einem neuen Riss im Putz oder einer knarrenden Holzdiele in meiner Wohnung über ihr, um sie nicht bloßzustellen oder zu beschämen. Madame, wie ich Pierrette meist nenne, hat trotz ihrer auftretenden Gebrechlichkeit und ihrer Alzheimer-Erkrankung nichts von ihrer koketten, unnahbaren und manchmal provozierenden mädchenhaften Art eingebüßt. Einmal führte sie mir einen neuen Sommerhut vor, den ihr eine alte Schulfreundin aus Paris als Geschenk geschickt hatte. Es war wundervoll zu sehen, wie sie mir fast lasziv ihre neuste Errungenschaft elegant und nobel präsentierte. Dabei hatte ich bewusst ignoriert, dass sie beinahe über ihre verwirrte und halbblinde Hündin gestolpert wäre.
Außer Pierrette und mir wohnt im Haus oben unter dem Dach noch ein Student aus Berlin, der an der Baseler Universität Graphik und molekulare Biologie studiert, eine spezielle Kombination, wie ich finde. Er ist vor viereinhalb Jahren in die Maisonette Wohnung eingezogen. Unser Kontakt ist eher distanziert, aber freundlich und oberflächlich. Er weiß wahrscheinlich nicht so recht, was er mit diesem kauzigen Rheinländer aus der Wohnung unter ihm anfangen soll. Unsere Welten sind wohl auch zu verschieden und von daher begegnen wir uns auf einer Ebene respektvoller Distanz. Nur selten höre oder sehe ich David, der wohl Anfang dreißig ist und sein Studium in vollen Zügen genießt. Freitags- und Samstagsnachts frönt er regelmäßig einer Leidenschaft, nämlich ausschweifenden und vor allem geräuschintensiven Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern oder Partnerinnen. David kann man sicher als besonders gutaussehend betiteln, soweit ich das als Mann beurteilen kann. Mit seinem sportlichen Körper, den markanten Gesichtszügen und dem stets perfekt frisierten, vollen blonden Haar erfüllt er in nahezu idealerweise das Klischee eines Surfer Boys. Unter der steilen Stirn erstrahlen stahlblaue Augen und auch bei seiner Garderobe überlässt er nichts dem Zufall. Er pflegt einen zeitlosen Modestil, der auf mich cool, elegant und doch rockig wirkt. Schwarz scheint seine Lieblingsfarbe zu sein. Zu jugendlichen Jacketts mit Schal oder Tuch trägt er meist lässige feingestreifte Stoffhosen, manchmal mit Hosenträgern und darunter auffällig lässige Westernstiefel. Er schmückt sein Äußeres mit Ringen und Ketten von Thomas Sabo und ähnelt etwas dem Stargeiger David Gerret, wenn er sein schulterlanges Haar zu einem Zopf zusammenbindet. Zufällig hat er auch noch den gleichen Vornamen wie der berühmte legendäre Star-Violinist. David ist vom Typ her eher die Rampensau, den ich mir aufgrund seines Charismas als Lead-Gitarrist in meiner alten Rockband gewünscht hätte. Das ein oder andere Mal fragte mich Madame nach den vielen jungen Männern und Frauen, die am Wochenende im Haus ein und ausgingen. Ich hatte Pierrette von Davids Studien im Bereich Anatomie berichtet, ohne mich damit in gewisser Weise vollends schuldig zu machen, die Unwahrheit zu sagen. David erarbeitet seine biologischen Feldversuche und Echtzeit-Studien Gott-sei-Dank zumindest meistens nur an den Wochenenden, so dass mir Zeit genug bleibt, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, ohne von lautem Gestöhne, Gekreische, Gelächter und Gequietsche zu sehr abgelenkt zu werden. Ich mag ihn nicht besonders, obwohl er mir keineswegs unsympathisch ist. Im Gegenteil, irgendwie beneide ich ihn um vieles. Vielleicht liegt es eben genau an seiner Unbeschwertheit. Ich bin kein neidischer Mensch, aber eine gewisse Traurigkeit, dass er sein Leben so unbekümmert und unverletzt leben kann, will ich an der Stelle nicht verhehlen. Das hat sich sicher in den letzten Jahren immer tiefer in mir ausgebreitet, diese Melancholie beim Blick auf „die anderen“. Tatsächlich ist mir Neid oder Missgunst fremd. Ich gönne jedem Menschen des Planeten Glück, Gesundheit und ein erfülltes Leben… aber ich hätte es mir auch gegönnt. Im Grunde ist David das Gegenteil von mir oder besser ist er grade so, wie ich einmal gewesen bin: offen, leidenschaftlich, lebensfroh und optimistisch. Er lebt im Jetzt, in der Gegenwart. Er ist lebendig, sehr lebendig und mir ist eigentlich insgeheim auch bewusst, dass es nicht David ist, den ich nicht mag. Ich mag die Erinnerung an mich selbst nicht. Ich mag mich nicht erinnern, wie ich auch einmal war.
So kreist meine Welt vor allem um sich selbst. So lebe ich ein aufgeräumtes und unaufgeregtes Leben in chronischer Sentimentalität und Melancholie. Ich lebe, ohne größere Freuden oder Glücksmomente zu empfinden. Ich bin vielleicht schon tot, auch wenn ich existiere. Die wenigen belebenden Augenblicke in meinem Leben schenken mir meine beiden treusten Freunde Jim Beam und Fender Stratocaster, meine alte 72er E-Gitarre. Meinen Lebensunterhalt bestreite ich mit dem Verfassen von Texten. Ich betätige mich erfolglos als Schriftsteller. Diese brotlose Kunst ernährt mich nicht, so dass ich inzwischen freiberuflich in der Werbung als Texter tätig bin. Das klingt spannender als es ist, denn hauptsächlich erarbeite ich einfache Werbetexte, wortspielerische Slogans, und Claims sowie Rundfunkwerbungen als Auftragsarbeiten. Hin und wieder platziere ich sogar mal bei einem Kunden eine ganze Kommunikations-Kampagne, eine eigene musikalische Werbekomposition oder ein Jingle. Dabei verdiene ich mäßig und nicht wie Charlie Harper in der US-Kultserie ‚Two and a half man’, aber es hält mich am Leben. Es ist ein hartes und oft undankbares Brot und der Wettbewerb ist auch in der Welt der Kreativen angekommen, aber das Schreiben sichert mir ein bescheidenes Einkommen, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten und verhilft mir sogar gelegentlich zu so etwas wie beruflicher Zufriedenheit. Eine tiefere Erfüllung oder gar Sinnhaftigkeit in meinem Tun entdecke ich dabei kaum. Nur manchmal in meinen vielen schlaflosen Nächten - und das sind gewiss wohl meine kreativsten Phasen - dann berührt mich etwas, dass mein Herz mit Freude erfüllt. Es ist immer dann, wenn ich das Gefühl habe, meine Seele würde sich öffnen. Es sind die Augenblicke, wo ich etwas nicht für meine Auftraggeber schreibe, sondern für mich selbst, für meine Geschichte, für dieses Buch, für meine Seele oder für Julia. Meine Julia. Wo sie wohl gerade sein mag?
Inzwischen ist es still geworden vor dem Haus am Oberen Rheinweg, in dem ich seit Jahren wohne. Man hört zu dieser späten Stunde kaum noch ein Geräusch von draußen, außer dem unablässigen Rütteln des Windes an den Fensterläden und Türen. Nur leise erahnt man vom Fluss her das unablässige Fließen des Rheins. Auch unten auf dem breiten Trottoir ist das Gemurmel der bei Tage so zahlreich hier flanierenden Passanten verstummt.
Von meinem Küchenfenster kann ich im Winter, wenn die Lindenbäume ihr dichtes Blattwerk abgelegt haben, hinüber auf die Altstadt von Basel sehen, mit dem imposanten Münster und der fast sechshundert Jahre alten Universität. Doch bei aller Schönheit der Silhouette des historischen Stadtkerns gilt mein Lieblingsblick dem Fluss. Stundenlang kann ich dem Rhein zusehen, wie seine Wogen und Wellen dem Meer entgegenziehen. Ich mag es den vorbeifahrenden Schiffen hinterherschauen und den permanenten Wandel des Stroms zu folgen. Mal fließt er majestätisch und breit durch die Enge zwischen Groß- und Kleinbasel. An diesen Tagen ist er satt und träge, gemütlich und zufrieden. Dann aber gibt es auch Tage, da zeigt der Fluss ein ganz anderes Gesicht. Dann ist er abweisend und missmutig, strömt braun und bissig unter den fünf innerstädtischen Brücken hindurch. An diesen Tagen wirkt er eher rastlos, ungeduldig, fast zornig durch an den steilen Ufern entlang. Ein paar hundert Meter weiter in Höhe von St. Johann wendet sich das Flussbett des Rheins in einem breiten Bogen dem Norden zu, passiert im Industriehafen kurz vor Weil am Rhein das Dreiländereck Schweiz-Deutschland-Frankreich, um dann über zahlreiche Staustufen meiner alten Heimatregion Köln entgegenzustreben. Von dort aus fließt er dann majestätisch und erhaben dem Meer entgegen. Mit dem Fluss fließen oft meine Gedanken und Erinnerungen in Richtung der rheinischen Hauptstadt Colonia Claudia Ara Agrippinensum flussabwärts. Die eine oder andere Träne verirrt sich in diesen Momenten in das Wasser des Flusses, wenn ich abends auf den Uferstufen sitzend gedankenverloren und weinend in das Wasser starre.
Basel, diese bezaubernde, alte Schweizer Stadt am großen Fluss ist mir ein gutes, liebevolles Zuhause geworden. Sie ist ein gütiger und freundlicher Hort für einen Heimatlosen geworden. Für dieses Gefühl bin ich unendlich dankbar. Ich fühle mich sicher und geborgen hier.
Für Basel haben Wissenschaftler eine besonders hohe Erdbebenwahrscheinlichkeit prognostiziert, aber nach allem, was mir widerfahren ist, sind diese beunruhigenden Expertisen nichts, was mir Angst einflößen würde. Ich habe mein eigenes Erdbeben schon gehabt; ich hatte bereits den Boden unter den Füssen verloren, lebe noch immer in den Ruinen meines Schicksals und seine Nachbeben erschüttern mich noch bis in die Gegenwart hinein. In einer Zeit, in der es keine Verlässlichkeit und Wahrheit mehr zu geben scheint, in einer Zeit ohne Rücksicht und Respekt sind die Menschen einander mehr Bedrohung geworden als es die höchsten Amplituden einer nach oben offenen Richterskala jemals sein könnten.
Vielleicht genau darum war mir auf meinen Reisen kein Ort am großen Fluss mehr ans Herz gewachsen wie diese historische Stadt, die lange Zeit die deutsche und europäische Geistesgeschichte geprägt hat. Basel ist wohl von allen Schweizer Städten die weltoffenste. Sie ist weniger dekadent als Zürich. Seit Jahrhunderten leben hier Migranten aus aller Herren Länder friedvoll miteinander, dulden einander, tolerieren einander und lernen voneinander. Sie ist Kölns kleine Schwester. Diese idealisierte Sicht hatte ich von Beginn an nicht nur wegen der ausgeprägten Fastnachtskulturen beider Städte ob nun rheinisch-katholisch oder alemannisch-protestantisch, sondern auch wegen der gelebten Toleranz und Bodenständigkeit. Zürich hingegen war mir stets eher ein übersteigertes Düsseldorf, ein suspekter, voyeuristischer Ort, wo es weniger um Sein als um Schein geht, mehr um Materie als um Seele. So fühle ich mich angekommen in einem bescheidenen Leben in meiner Heimstadt Basel, in meinen kleinen vier Wänden mit den drei keinen Sprossenfenstern.
Täglich beobachte ich während gelegentlicher Arbeitspausen mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Küchenfenster stehend die vielen Menschen, die unten auf dem Oberen Rheinweg entlangspazieren. Ich betrachte, wie die Münsterfähre „Leu“ mit ihrem Fährmann Jacques Thurneysen nur die Kraft des Wassers nutzt, um am langen Seil treibend ganz ohne Motorkraft zwischen den beiden Ufern hin und her zu pendeln. Mit einem gönnenden Lächeln und manchmal auch einem wehmütigen Blick betrachte ich junge Liebespaare, die unten vor dem Haus Händchen haltend auf einer der Holzbänke verweilen und miteinander schweigen, andere, wie sie miteinander kokettieren und sich küssen. Jogger und Velofahrer, die sicher nicht ganz uneitel hier ihre körperliche Fitness herzeigen, passieren mein Fenster ebenso wie die Alten, die Gebrechlichen und Kranken, die sich überall auf eine der vielen Bänke in einem kleinen Schwätzchen verlieren. In den Sommermonaten, wenn Vater Rhein frisches, klares Wasser durch sein Flussbett schiebt, nutzen viele Baseler aber auch Gäste der Region die Fliesskraft des alten Stroms und lassen sich beim Rheinschwimmen von der Schwarzwaldbrücke an am Klein-Basler-Rheinufer entlang, an den sich sonnenden Studenten auf den Uferterrassen vorbei bis hin zur Dreirosenbrücke treiben. So mancher Unerschrockene stolziert dann in knapper Badehose oder im provokanten Bikini mit ihrem Fischli, einem wasserdichten Schwimmsack für die allerwichtigsten Utensilien, unter den Arm geklemmt an den Restaurants der Promenade vorüber zurück, um sich dieses Vergnügens ein zweites oder auch drittes oder gar viertes Mal zu erfreuen. Das legendäre Rheinschwimmen hat eine mehr als tausendjährige Tradition und wird im „Baselbiet“ ebenso gepflegt wie der Pontonier-Sport mit den schweren hölzernen Übersetzbooten, den langen Weidlingen und ihren kraftraubenden Manövern.
Und immer wieder betrachte ich vom kleinen Austrittsbalkon die unentwegten Passagen der kleinen, motorlosen Holzboote über den Rhein. Sie sind mir ganz besonders ans Herz gewachsen.
Wie Boten aus einer längst vergangenen Zeit queren die pittoresken Fähren, die unablässig ihren Pendelverkehr zwischen den beiden Stadthälften Klein- und Groß Basel aufrechterhalten, die Strömung Flusses. Bis in die späten Abendstunden bringen die „Fährlis“ Touristen und Einheimische, Fremde, Freunde und Liebende in romantischer Langsamkeit von einem Ufer zum anderen. Auch mich entschleunigt diese kurze Fahrt über den Rhein immer wieder, wenn ich von meinem Domizil aus nach Gross-Basel übersetze.
Doch jetzt war es Nacht. Die Fährleute hatten ihren Betrieb für diesen Tag eingestellt und der ungemütliche Wind hüllt die Stadt in eine dunkle Decke der Müdigkeit ein. Ich setze mich wieder hin und starre auf das Display des offenen Notebooks. Auf dem Sofa sitzend blicke ich auf die weiße, unberührte Seite des Word-Dokuments, das darauf wartet, meine ersten Buchstaben aufzusammeln. Aber…mir fällt nichts ein. Mein Kopf ist leer, wie so oft in den letzten Wochen. Keine Inspiration, keine Idee, nicht einmal ein Fetzen an sprachlicher Kreativität lässt sich aus meinen Gehirnwindungen herausquetschen. Zu sehr beschäftigt mich meine bevorstehende Reise, zu sehr lenken mich meine Gefühle ab von der Aufgabe, die ich heute noch vollenden muss. Dringend sollte ich jetzt mal etwas Brauchbares an den Marketingleiter meines Auftraggebers schicken, aber keine Intuition, kein Einfall will das Weiß vor mir mit schwarzen Lettern füllen.
Ich öffne mein E-Mail-Account und schreibe:
„Sehr geehrter Herr Schempfli,
ich bedauere sehr, dass ich Ihnen bis zum heutigen Abend keine mich selbst zufriedenstellende Textidee oder einen Leitgedanken für ihr neue Weihnachtskollektion senden konnte.
Meine derzeitigen Ideen sind unzureichend und bleiben fragmentarisch. Sie drücken nicht das aus, was ich sagen möchte und wie Ihr Haus diese Kampagne gerne kommunizieren möchte.
Bitte geben Sie mir ein paar Tage Zeit. Ich versichere Ihnen dann einen Text zu liefern, der nicht nur die Emotionalität und die Wertigkeit des Projekts, sondern Ihres ganzen Hauses ausdrücken wird. Ich begebe mich auf eine Reise, die mir hoffentlich wieder die gewohnte Kreativität und Inspiration schenken wird.
Insofern werbe ich um Ihr Verständnis und Ihre Geduld.
Ihr
Johannes Peter“
Dann drücke ich den Button „E-Mail senden“ und klappe den Computer zu.
Ich gehe zum Fenster, vorbei an meiner 72er Fender Strat und der halbakkusitischen Ovation aus der Celebrity-Serie. Durch das leicht trübe Fensterglas schaue ich hinab auf den unruhig dahinfließenden Strom, aufgepeitscht von einzelnen, aufbrausenden Böen und getrieben von der Sehnsucht nach der endlosen Weite des Ozeans. Mein Fluss!
Jeder Tropfen dieses Wassers wird bald in meiner alten Heimat sein. Der Rhein ist mir wie eine pulsierende Lebensader, eine emotionale Standleitung hin zu Orten und Plätzen, zu Menschen und all jene Erinnerungen, die sich tief in meine Seele gegraben haben. Das Schicksal hat mich hier nach Basel und somit einmal mehr an den Strand des großen Flusses gespült, so als wolle er mir zeigen, dass wir für immer miteinander verbunden sind.
Licht der Nacht
Du verdrängst die dunklen Schatten,
die der Tag mir übrig lässt.
als die Sterne Sehnsucht hatten,
warst Du es, die mich nicht verlässt.
In der Leere schwarzer Hülle,
In der Tiefe stiller Fülle,
In des Lebens kaltem Schacht,
Bist du das Licht – in meiner Nacht.