Mund der Wahrheit - Johannes Peter Zimmermann - E-Book

Mund der Wahrheit E-Book

Johannes Peter Zimmermann

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Beschreibung

Was wir sind, ist nicht nur das, was das Leben mit uns macht, was uns widerfährt oder wem wir begegnen. Was wir sind, ist auch nicht nur das, woher wir kommen, was uns mitgegeben wurde oder war uns begleitet. Was wir sind, ist Sein und Werden, ist Wandel und Veränderung und nicht zuletzt ist es Verletzung und Heilung. Was wir sind ist ein unfassbarer Ozean; ein Ozean voller geweinter und ungeweinter Tränen – Tränen der Freude und Tränen der Traurigkeit. Jeder einzelne Tropfen ist Teil eines unendlichen, unergründbaren Meeres, voller Mysterien, gefangener Energie, dunkelster Tiefen und überschäumenden Lebens. Am Ende aber ist es ein einzelner Stern in der Finsternis, eine uns leuchtende Sonne in der Dunkelheit unseres Daseins, die den Zauber des Lebens bewirkt, Leben selbst dahin bringt, wo es am Unwirklichsten erscheint - im tobenden Orkan oder in nie enden wollender Flaute. ... und manchmal, genau dann wenn man es am wenigsten erwartet, manchmal taucht genau solch ein glühender Stern ein in den unerschöpflichen Ozean unserer phantastischen Existenz.

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Seitenzahl: 472

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Johannes Peter Zimmermann

Mund der Wahrheit

...trotz allem schlägt mein Herz

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Mund der Wahrheit oder "..trotz allem schlägt mein Herz"

Zeitenwende

Close my eyes

Das Licht der Nacht

Araber

Es wäre nichts

Ahnung

Freundschaft

Muttererde

Amore

Was Leben wäre

Christmas in your eyes

Was ich nicht bin

Let me love you

Wegen Dir

Danse mon Esmeralda

Schmetterling

Music is my bride

The alien

Gottes Geschenk

Komm mit

Ende der Nacht

Until

Wunder

Du kennst mich

Fly with me

Königin

Alien

In dunkelster Stunde

Pass auf Dich auf

Separation

Zweifle nicht

Lebenswege

Regenbogen

Adieu

You’re the only

Anmut

Zauberwesen

Each look in your eyes

Tears

Du kennst den Weg

Schlusswort

Mein schönster Stern

Impressum neobooks

Mund der Wahrheit oder "..trotz allem schlägt mein Herz"

Wie Treibgut im Ozean spülen uns die Strömungen, Gezeiten und Stürme

des Lebens eines Tages an die Küste unserer Bestimmung.

Mich spülten sie zu meiner geliebten Frau Krisztina, dem Fixstern in meinem Kosmos

und hin zu meinem Freund Christoph, dem Leuchtturm in meinen Stürmen.

Ihnen beiden widme ich dieses Buch

in demütiger Dankbarkeit.

Zum Gebrauch dieses Buches

Obwohl sich einige wenige der hier geschilderten Ereignisse und Begebenheiten in einzelnen fragmentarischen Szenen so oder so ähnlich zugetragen haben, ist die Geschichte im Wesentlichen ebenso völlig frei erfunden, wie die beschriebenen Personen und Charaktere. Jegliche Ähnlichkeit oder Verwechslung mit lebenden oder verstorbenen Personen ist nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Die Printfassung des Buches umfasst eine Musik-CD, auf die an den betreffenden Stellen verwiesen wird. In dieser Fassung ist jedem Kapitel ebenfalls entweder ein Gedicht oder einen Songtext vorangestellt, welche der Einstimmung auf die folgenden Passagen dienen sollen. Alle Gedichte und die meisten Musikstücke sind eigene Texte und Kompositionen. Der Titel „C’est la vie“ stammt von den Freunden der Schweizer Rockband Gotthard. Die Titel „Without you“ von Harry Nilsson und „Danse mon Esmeralda“ von Garou liegen mir im Rahmen der Erzählung so am Herzen, dass ich sie habe in das Buch einfliessen lassen. Die Künstler beziehungsweise deren Verlage haben uns freundlicherweise die Freigabe für diese Verwendung erteilt. An dieser Stelle danken wir Ihnen für diesen wertvollen Beitrag.

Zur Vereinfachung habe ich in der ebook-Fassung zumindest teilweise die wesentlichen, sinngleichen deutschen Übersetzungen mit aufgeführt.

Zum Geleit

Was wir sind, ist nicht nur das, was das Leben mit uns macht, was uns widerfährt oder wem wir begegnen.

Was wir sind, ist auch nicht nur das, woher wir kommen, was uns mitgegeben wurde oder war uns begleitet.

Was wir sind, ist Sein und Werden, ist Wandel und Veränderung und nicht zuletzt ist es Verletzung und Heilung.

Was wir sind ist ein unfassbarer Ozean; ein Ozean voller geweinter und ungeweinter Tränen – Tränen der Freude und Tränen der Traurigkeit.

Jeder einzelne Tropfen ist Teil eines unendlichen, unergründbaren Meeres, voller Mysterien, gefangener Energie, dunkelster Tiefen und überschäumenden Lebens.

Am Ende aber ist es ein einzelner Stern in der Finsternis, eine uns leuchtende Sonne in der Dunkelheit unseres Daseins, die den Zauber des Lebens bewirkt, Leben selbst dahin bringt, wo es am Unwirklichsten erscheint - im tobenden Orkan oder in nie enden wollender Flaute.

... und manchmal, genau dann wenn man es am wenigsten erwartet,

manchmal taucht genau solch ein glühender Stern ein in den unerschöpflichen Ozean unserer phantastischen Existenz.

Without youvon Harry Nilsson

No, I can't forget this evening

Or your face as you were leaving

But I guess that's just the way the story goes

You always smile but in your eyes your sorrow shows

Yes, it shows

No, I can't forget tomorrow

When I think of all my sorrows

When I had you there but then I let you go

And now it's only fair that I should let you know

What you should know

I can't live if living is without you

I can't live, I can't give any more

Can't live if living is without you

I can't give, I can't give any more

No, I can't forget this evening

Or your face as you were leaving

But I guess that's just the way the story goes

You always smile but in your eyes your sorrow shows

Yes, it shows

Can't live if living is without you

I can't live, I can't give anymore

I can't live if living is without you

Can't live, I can't give anymore

Deutsche Übersetzung Ohne Dich von Harry Nilsson

Nein, ich kann diesen Abend nicht vergessen

Oder dein Gesicht, als du gegangen bist

Aber ich denke, das ist eben das Ende der Geschichte

Du lächelst immer, aber in deinen Augen kann man dein Leid sehen. Ja, man kann es sehen

Nein, ich kann das Morgen nicht vergessen

Wenn ich an all meine Sorgen denke

Als ich dich hier hatte aber dann gehen ließ

Und jetzt ist es nur gerecht, wenn ich dich wissen lasse

Was du wissen solltest

Ich kann nicht ohne dich leben

Ich kann nicht leben, ich kann nicht mehr geben

Ich kann nicht ohne dich leben

Ich kann nicht leben, ich kann nicht mehr geben

Nein, ich kann diesen Abend nicht vergessen

Oder dein Gesicht, als du gegangen bist

Aber ich denke, das ist eben das Ende der Geschichte

Du lächelst immer, aber in deinen Augen kann man dein Leid sehen. Ja, man kann sie sehen

Ich kann nicht ohne dich leben

Ich kann nicht leben, ich kann nicht mehr geben

Ich kann nicht ohne dich leben

Ich kann nicht leben, ich kann nicht mehr geben

Das Rheinland bei Aachen am frühen Morgen des 26.März 2003

Der nahende Tag vertrieb mit seinen kaltfeuchten Nebelschwaden, die schüchtern vom kalten Wasser des Sees aufstiegen und zäh seine seichten Böschungen emporklommen, eine weitere kühle Vorfrühlingsnacht. Ein leichter Windzug wehte über die eisigen Wellen durch das Schilf hinüber zu den Feldern, Weiden und Auen. Noch war es nicht recht Frühling geworden und vorsichtig zeugten nur vereinzelte Knospen, die dem morgendlichen Frost trotzten, davon, dass die düstere Jahreszeit langsam zu Ende ging. Nur noch an vereinzelten Tagen vermochte der Winter seine Kälte und Blässe in die sich räkelnde Atmosphäre auszusenden. Stille lag über der Ebene. Lediglich das Rascheln des Windes in den spröden Blättern der Bäume und Hecken störte das lautlose Erwachen der Morgendämmerung. Jene spätwinterliche Melancholie war mir vertraut. Diese Gegend war mein zuhause, meine Heimat gewesen. Hier hatte ich auf wackeligen Beinen zu laufen gelernt; hier war ich aufgewachsen, war zur Schule gegangen und hier wurde ich, wie alle meiner Schulkameraden Messdiener in einem katholischen Dekanat. Land und Leute hatten mich in meiner Kindheit nicht weniger geprägt als die unzähligen fürsorglichen Mahnungen und Ratschläge meiner Eltern. Mit vielen Orten, Plätzen und Wegen verbanden mich zahllose Erlebnisse und Geschichten vom ersten Schultag bis zum ersten Kuss und dem süssen Schmerz der ersten Verliebtheit. Hier war ich verwurzelt, tief in rheinischer Erde und Mentalität.

Anders als sonst kämpfte der Winter dieses Jahr vehement und hartnäckig gegen die stärker werdende Kraft der Frühlingssonne. Er hatte sich lange, bis Mitte März mit Eis und Schnee gegen das Erwachen der Natur aufgebäumt und verabschiedete sich nun nur zögerlich und unwillig. Scheu und vorsichtig öffneten die ersten Krokusse ihre violetten-blauen Blütenblätter nach einem langen, düsteren Winterschlaf. Sie stachen wie vereinzelte Farbtupfer aus den von Raureif versilberten, blassgrünen Wiesen heraus. Sie hoben sich deutlich ab in ihrer Freundlichkeit vom blassen, braungrünen Einerlei und aus den Vorgärten der uniformen Neubausiedlungen versprühten Schneeglöckchen einen Hauch von Frühling. Schwere Duftwolken aus Erde und frischem Gras wehten über die unbestellten Felder zu den hügeligen Ausläufern der Nordeifel hinüber. In tausend Farbnuancen eroberte das gleissende Licht des neuen Morgens die weichende Dunkelheit der Nacht. Vom tiefsten Schwarzblau über Lila, Rosa, Indigo und Azur bis hin zum leuchtenden Purpur erstrahlten am erwachenden Morgen die Federwolken am Firmament in atemberaubenden Farben und Formen.

Weit in der Ferne sah man die charakteristischen Silhouetten der unentwegt aufsteigenden Wasserdampfsäulen, die aus den breiten Schloten der Braunkohlekraftwerke Weisweiler, Niederaussem und Frimmersdorf in den pastellfarbenen Himmel emporwuchsen. Ich hasste diese wolkenspeienden Schlote, die mir mein Vater zur Kinderzeit als Wolkenfabriken schöngeredet hatte. Braunkohle hatte dieses hügellose Fleckchen Erde am Rande der rheinischen Tiefebene zwischen Inde und Rur seit Jahr und Tag landschaftlich geprägt durch tiefe Wunden, die die gewaltigen Schaufelradbagger des Tagebaus in Jahrzehnten in die Kulturlandschaften hineingefrässt hatten. Kubikmeter für Kubikmeter hatten sich die stählernen Kolosse tiefer und tiefer abwärts ins Mark der Heimat gegraben, um das braune Gold der Kohle unter Lössboden, Sedimenten und Kies heraus zu schürfen. Unzählige Höfe, Burgen, Denkmäler aber auch ganze Dörfer und ihre Friedhöfe und mit ihnen ihre Erinnerungen wurden weggebaggert, ausradiert von den gigantischen Baggern mit ihren mächtigen Schaufelrädern. Auch wenn sich die RWE Aktiengesellschaft und ihre Tochter Rheinbraun für die Betroffenen um wirtschaftliche Kompensation, emotionale Sensibilität und ökologische Verantwortung mühte, so waren die Umsiedlungen und Umwälzungen nicht das, was man hinlänglich als einen chirurgischen Eingriff in die Landschaft bezeichnen würde. Denn auch viele Traditionen, Bindungen und Verwurzelungen wurden im wahrsten Sinne des Wortes vom Erdboden verschluckt und nicht wenige der hier tief verwurzelten Menschen, vor allem die Alten, waren seelisch dem Rohstoffhunger der Industriegesellschaft und dem Profitstreben der grossen Energiekonzerne zum Opfer gefallen. In vielen Familien zerstörte die organisierte Umsiedlung in neue, am Reissbrett entworfene Retortenorte nicht nur Kirchen, Strassen und Häuser, sondern auch Gewohnheiten, Bräuche, Lebensentwürfe und Beziehungen. Trotz allem zeichnete sich der hier ansässige, rheinische Menschenschlag durch Humor, Toleranz und einer beachtlichen Portion Pragmatismus aus. Viele Frauen und Männer aus dieser Region lebten von den Einkommensmöglichkeiten, welche ihnen der Braunkohletagebau und die sich in dessen Umfeld hier niedergelassenen Industrie- und Handelsgeschäfte eröffneten. So lebte der ein oder andere in einer sonst strukturschwachen Region zwar innerlich entwurzelt und seelisch verwundet aber wirtschaftlich abgesichert.

Das Leben war für die meisten sicher und geordnet. Die permanenten Veränderungen in den Kulturlandschaften der Region trugen gewiss bei einigen Einheimischen und so auch bei mir dazu bei, an einer unerklärlichen Rast- und Ruhelosigkeit zu leiden. Etwas Unstetes war meiner Heimat eigen geworden. So war auch ich ein Geschöpf dieser sich ständig verändernden Gegend; sie war mir mein Stückchen „Zuhause“, auch wenn sich Landschaft und Natur jahraus jahrein einem Wandel unterzogen. Gelegentlich verlor ich die Orientierung, manchmal sogar Erinnerungen. Mir war meine Heimat in den vergangenen Wochen aber noch fremder geworden, als es die Schaufelradbagger der Braunkohletagebaue hätten je bewirken können. Mein ganzes Leben war in den letzten Tagen weggefräst worden.

Kälte durchzog meinen Körper, eine bittere, eisige Kälte, die von aussen bis tief in mein Herz hineindrang. An jenem späten Märzmorgen schien der Winter nach so vielen eis- und schneereichen Wochen nun doch sein braun-blasses Kleid ablegen zu wollen. Mir fror es bis in die Seele hinein in jener Stunde. Zwar war kalt an diesem sehr frühen Morgen, aber es schien sich deutlich wärmer anzufühlen für meine Haut als in den vergangenen Tagen, auch wenn ein zäher Nebel die Natur hartnäckig in einer grauen Tristesse gefangen hielt. Es war jene mir geläufige Tristesse, deren traurige Melancholie allenfalls die bunte und ausgelassene Zeit des Rheinischen Strassenkarnevals ein wenig von ihrer lähmenden Betrübnis genommen wird. Doch die karnevalistischen Farbtupfer waren längst wieder verschwunden, die fröhlich-sentimentalen Schunkellieder verstummt und der kindlichen Ausgelassenheit und ausschweifenden Zügellosigkeit war jetzt die dumpfe Schwermut einer freudlosen Fastenzeit gefolgt. Eine blütenarme Fauna war mir wie ein Sinnbild für meine eigene seelische Verfassung durch ihre lähmende Trostlosigkeit, die sie verbreitete. Noch war die Natur nicht vollends zu neuem Leben erwacht und noch waren auch die Schwalben nicht aus dem Süden zurückgekehrt. Noch sassen die Menschen nicht in den Straßencafés oder auf den Bänken in den Parks und noch erreichte die wärmende Kraft der Sonne weder meine Heimat noch mein Herz. Meine Seele kannte keine Sonne mehr. Sie war kalt und ich war müde, sehr müde. Vieles war mir so fremd geworden in den letzten Wochen. Viele Begrifflichkeiten hatten sich verändert und eine neue Bedeutung, eine andere Wertigkeit bekommen: Freundschaft, Liebe, Treue, Achtsamkeit, Erfolg und Geld. Was war mir noch Zeit ausser einem dauerhaften Zustand nicht heilen wollender Wunden? Was war mir noch Gesundheit und Unversehrtheit, ausser einer trügerischen Sicherheit ? Was war mir noch Lebendigkeit ausser einem Moment fortwährender Seelenqualen? Mein Dasein war sinnlos geworden, wertlos und ohne Bedeutung. Die eine, die mir alles war, gab es nicht mehr für mich. Schlimmer. Es durfte sie nicht mehr geben für mich. Ich war müde, unendlich müde. Ich war müde vom Leben, müde vom Leiden. Mein warmer Atem kondensierte in einem milchig kalten Dunst bei jedem meiner heftigen Luftstösse, die keuchend meine Lunge verliessen. Stolprig waren meine letzten Schritte über die feuchten Gräser und Büsche den kleinen, aber steilen Abhang hinab. Ich hielt mich an den vereisten Zweigen der Kettensträucher fest, um nicht auszurutschen. Aus dem Kopfhörer meines Discman klang Musik in meinen Ohren. Es war ihr Lied für mich. Hunderte Male hatte ich sie diesen Song für mich singen hören. Tausende Male hatte ich die Töne und Worte aus ihrem Mund gehört. Doch heute bekam ihr für mich eingesungenes Lied einen anderen, neuen Sinn. Ihre Stimme drang in diesem Augenblick noch viel tiefer in meine Seele hinein als je zuvor, wissend, dass ich sie heute ein allerletztes Mal hören würde:

“No I can ‘t forget this evening, or your face as you were leaving,

but I guess that's just the way the story goes….

No I can't forget tomarrow, when I think of all my sorrow,

how I had you there, but then i let you go....

It's only fair that i should let you know…

I can't live, if living is without you. I can't live, I can't live any more.”

Nein, ich konnte nicht leben ohne sie. Sie war mein Leben, mein Pulsschlag und mein Atem. Sie war mein gestern, mein heute und mein jetzt. Sie war die Hoffnung und die Zukunft. Ohne sie gab es keine Hoffnung und kein Morgen mehr für mich.

Am Saum der Böschung musste ich kurz inne halten. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und starrte in den langsam heller werdenden Himmel. Die Sterne verblassten einer nach dem anderen und ein einsamer Mäusebussard zog ahnungslos seine einsamen Kreise über mir. Ich rang nach Luft. Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Heilung meiner Wunden, bis zu meiner Erlösung. Mein Herz bebte und mein Puls schlug wild und ungezähmt in meinen pochenden Arterien. Es waren wohl kaum mehr als acht überschaubare Meter, um endlich, endlich all dieses Leid von mir abzuwenden. Ich sah hinab auf die braunen Spitzen der Budapester Lederschuhe, die aus den dunkelblauen Hosenbeinen meines Business-Anzuges hervorlugten und doch wie festgeklebt in der modrigen, nassen Erde feststeckten. Tief versanken meine Schuhe mit mir darin im weichen gewächslosen Boden. Jeder Schritt war schwer wie Blei und doch federleicht; jede Bewegung meines Körpers war unspektakulär und langsam und dennoch souverän und wie selbstverständlich. Was ich hier vorhatte, war so ganz gegen meinen bis vor kurzem noch so tief verwurzelten katholischen Glauben. Mein Vorhaben ein Frevel gegen meine wertkonservative Erziehung und meine vielen eigenen Wahrheiten. Es war ein Verrat an alles, was mir meine Eltern mit auf den Weg gegeben hatten. Und doch – ich war beseelt. Ich hatte aufgehört zu glauben. Ich hatte aufgehört zu wünschen, zu fühlen und zu hoffen. Das Lied aus dem Discman war zu Ende und ich drückte die Repeat-Taste:

„No I can’t forget this evening …“ . Mir liefen die Tränen übers Gesicht. Fürwahr, ich konnte jenen Augenblick nicht vergessen, indem ich sie um ihretwillen verlassen hatte. Ich hatte uns voneinander gehen lassen, um sie nicht zu zerbrechen. „Mutig ist der, der weiterlebt, trotz allem was das Schicksal uns auferlegt!“ So oder so ähnlich hatte ich selber immer dahergeredet, als sich vor einigen Wochen ein Bekannter im Keller seiner Eltern mit einem Strick das Leben nahm. Was für ein Dummschwätzer war ich noch vor ein paar Wochen, nicht wissend, was das Leben mit einer Seele anrichten kann! Ich hasste mich für mein dummes Geplapper von damals über Mut und Verantwortung, über Tapferkeit und Zuversicht. Was bleibt dem Menschen, wenn er aller Hoffnung und Zuversicht beraubt ist? Zu jener Zeit hatte ich gewiss nicht den Hauch einer Ahnung davon gehabt, wie sehr das Schicksal einen Menschen bis in seine Grundfesten erschüttern kann. Und nun stand ich selber am Rande einer Bahnstrecke, bereit meinem Leben ein Ende zu setzen. Mag sein, dass es mutig war was ich tat, besonders tapfer war es nicht und heldenhaft ganz gewiss nicht. Ich war nie ein Held gewesen. Nie war ich ritterlich. Ich beendete jäh den Gedanken, als ich von irgendwoher hörte, wie eine Autotür zuschlug. Mir stockte der Atem. Dann startete ein Motor, heulte kurz auf, um dann leiser werdend zu verstummen. Ich atmete auf. „Gott-sei-Dank! Ich war unentdeckt geblieben. Nur noch ein paar Sekunden der Entschlossenheit, nur wenige Schritte der Bewusstheit und du hast es geschafft!“, redete ich mir Mut zu. Dann hörte ich es. In der Ferne erklang deutlich das metallische Summen und das schrille Surren, auf das ich gewartet hatte. Es war wie einen Lockruf der Verheissung auf Schlaf und Leere, oder dann doch auf einen wie auch immer vorzustellenden Himmel? „Gott erwartet mich hoffentlich mit offeneren Armen und ehrlicherem Herzen als die Menschen hier“, dachte ich. Während mein Herz das Blut immer wilder durch meinen zitternden Körper pumpte, waren meine Schuhe noch tiefer im weichen Dreck des Bahndamms eingesunken. Mein Blick haftete fest an den beiden stählernen Spuren und den hölzernen Wirbeln zwischen den beiden Trassen direkt vor meinen Augen. Ich war ganz klar, ganz bei mir in diesem Augenblick trotz aller Anspannung. Nein, es gab keinen Zweifel, keine Angst, keine Befürchtungen. Ich war vollkommen im Moment, erfüllt von einem Gefühl grenzenloser Freiheit und gleichzeitig berauscht von der unstillbaren Sehnsucht nach Stille, Schlaf und Zeitlosigkeit. Ein kühler Luftzug wehte lautlos zu mir herüber und der vertraute Duft von Forsythien, die wild entlang der Bahntrasse wuchsen, erreichte zärtlich meine Sinne. Tief in mir fühlte ich, wie sich mein Schicksal in wenigen Augenblicken hier an diesem Bahngleis erfüllen sollte. Ein ewiger Frieden näherte sich mir mit seinen ausgebreiteten Armen und wartete darauf mich fest an sich zu drücken wie eine Mutter, die ihr Kind umarmt, wenn es nach Hause kommt. Meine inzwischen aufflackernde Erregung rührte mehr aus der Dramaturgie des Augenblicks und der sich in Höchstgeschwindigkeit nähernden Gewissheit auf die Befreiung von aller Lebenslast als aus irgendeiner vermeintlichen Todesangst. Es war erschreckend, aber da war keine Spur von Furcht in mir. Die unaufhaltsame Urkraft des heranrasenden Zuges wimmerte immer lauter werdend in meinen Ohren. „Komm schon. Nur ein weiterer kleiner Schritt hin in Richtung Frieden“, sprach ich mir Mut zu. Nun waren es noch sieben Meter, dann sechs. Ohnmächtig meinen Beinen noch Befehle zu erteilen, vernahm ich grollend und schnaubend wie der Thalys auf mich zuraste. Ich atmete das Leben ein, wie noch nie zuvor, spürte es in jeder Zelle; ich ahnte was es hiess lebendig zu sein. Doch sehnte sich meine geschundene Seele nach all dem Leiden der Lebendigkeit den schmerzlosen Frieden der Vergänglichkeit.

Kurz hielt ich inne. Noch fünf wenige Meter. Vorsichtig ertasteten die Ledersohlen die spitzen, scharfen Kanten der Basaltsteine im grauen Schotterbett der Bahnlinie Aachen-Köln. Ich glaubte, eine laute Warnsirene zu hören. Oder auch nicht? Das Signal hielt mich nicht auf, bremste mich nicht eine Sekunde in meiner Bewegung. Die meist blattarmen Büsche und Sträucher spielten mit einem aufflackernden Wind und ein erster Sonnenstrahl durchdrang die pastellfarbenen Schleierwolken und wärmte kurz mein Gesicht.

Sekunden vergingen wie Stunden, Augenblicke waren wie Ewigkeiten. Ich war apathisch und doch fokussiert, betäubt und doch konzentriert.

Wie in einem Panoptikum jagten tausende Bilder durch die zum Bersten angespannten Synapsen in meinem Kopf und zeigten in wirrer Folge Fotos von Fremden und Freunden, Orten und Momenten, Instrumenten und Körpern. Nur noch gute vier Meter. Nicht mehr als ganze dreihundertachtzig Zentimeter bis zur Wahrhaftigkeit. In mir brannte das Feuer der Sehnsucht nach einem langen endlosen Schlaf. Übersättigt von Gedanken, ertrunken in Selbstzweifeln gebot ich meine Seele in Gottes Hände. Jeder Augenblick war wie betäubt und besinnungslos; jede Körperfaser fühlte sich gedemütigt und verleumdet. Es war an der Zeit. Es war an der Zeit zu gehen. Eine winzige Entfernung nur bis zur Unendlichkeit. Immer lauter, immer bedrohlicher näherte sich donnernd auf gerade Strecke der Hochgeschwindigkeitszug auf seiner Fahrt von Köln in Richtung Paris. Schrill quietschte Metall auf Metall; das Getöse des Alarmsignals drohte mir das Trommelfell zu zerreissen. Seltsam und makaber. Ein erwartungsvolles Lächeln in dieser nicht zu beschreibenden Erregung schlich sich auf meine Gesichtszüge. Meine Schlagadern drohten vor Aufregung zu bersten unter meinem heftigen Herzschlag.

Und doch war ich mir jeder meiner Schritte bewusst, nüchtern und immer noch angstfrei. Das Ende aller Lügen. Das Ende allen Verrats. Das Ende aller Peinigung, Demütigung und Perspektivlosigkeit. Vor allem aber ein Ende der Leere. Wozu noch leben, wenn mir das Liebste daraus gerissen wurde? Wozu noch atmen, wenn ich nicht mehr weiss für wen?

In knapp drei Metern, in wenigen Augenblicken würde alles vorbei sein und alles wäre überstanden. Schon sah ich in nicht mehr allzu grosser Entfernung die Scheinwerfer und die schlanke, bordeauxrote Silhouette des Thalys rasend schnell auf den singenden Gleisen auf mich zukommen.

Nur noch etwas Mut. Jetzt nur noch zwei Schritte und stehen bleiben!

Dann tauchte es auf.

Wie aus dem Nichts stand es da. Das eine Bild in meinem Hirn, das alles zerstören sollte und alle Hoffnung auf Erlösung begraben sollte. Ich sah vor meinem geistigen Auge genau das Bild, das ich jetzt nicht sehen wollte.

Ich sah Anna, meine Gefährtin, mein Hafen, mein Zuhause.

Es war nur das unscharfe Fragment ihrer Augen. Es war nur der Bildfetzen ihrer Lippen, ein schemenhaftes Fresko ihres Lächelns, das ausreichte, um mich sanft aber kraftvoll aus dem sich mir nähernden Paradies herauszuzerren. Es riss mich heraus aus meiner Hoffnung auf den Tod. Es schleuderte mich hinfort aus allen Träumen auf ein verheissungsvolles Jenseits und hinein in eine trostlose, düstere Wirklichkeit. Ihr Antlitz stand da, vor mir wie in einem unwirklichen Schattenbild

und doch war es kein Trugschluss, keine Erscheinung. Sie war gegenwärtig und hielt mich zurück. Ich erschrak. Meine Augen waren aufgerissen und mein Körper schwankte. Mein Herz schien still zu stehen. Plötzlich wich ich zurück und nur Millisekunden später raste die mächtige Lokomotive des Hochgeschwindigkeitszuges mit schrillem Bremsgeräusch und heulendem Signalhorn an mir vorbei. Der ohrenbetäubende Lärm der jaulenden Aggregate und das quietschende Metall der bremsenden Radreifen zerfetzten mir alle meine Träume. Ein schwarzer Schatten der Vergänglichkeit streichelte kalt meine Wange bevor mich ein gewaltiger Luftzug rücklings zu Boden bis an den Rand des Gleisbettes warf.

Mit einem gewaltigen, rhythmischen „DuDumDuDum“ flogen die einzelnen Wagons und Abteilwagen in gefühlter Lichtgeschwindigkeit donnernd an mir vorbei und ich hatte alle Mühe Luft zu bekommen.

„Neiiiiiiiiiiiiin !!!! “, kreischte ich in einem endloslangen Schrei dem Zug entgegen. „Anna !!!! “, schrie ich unter heftigen Tränen den mich passierenden Waggons hinterher.

Dieser Tag ist jetzt zwölf lange Jahre her.

Trotz aller Hoffnungslosigkeit atme ich.

Gegen alle Zuversicht lebe ich.

Und trotz allem schlägt mein Herz.

Zeitenwende

Wind von Hügeln über Meere

Wind aus höchster Atmosphäre

Wind von Ebenen und Feldern

Wind aus Höhlen und aus Wäldern

Wind von Bächen und von Wegen

Wind aus Wolken und aus Regen

Wind von Dächern und von Türmen

Wind aus Wüsten und aus Stürmen

Wind vom Mond und von Gestirnen

Wind aus Eis von Gletscherfirnen

Alle Winde strömen hin

Zu dem, der ich gewesen bin

Jeder Wind streift meine Hände

Zeit zu wenden – Zeitenwende

Zwölf Jahre später und fünfhundert Strassenkilometer weiter südlich

Nein, ich atme noch. Entgegen aller Zuversicht und wider alle Hoffnung schlägt mein Herz noch immer. Trotz allem. Heute bin ich ein anderer als damals vor zwölf Jahren. Und auch morgen werde ich vermutlich ein anderer sein als derjenige, der ich heute noch bin. Immer noch und mehr denn je bin ich ein leidenschaftlicher Zweifler. Immer noch bin ich ein sehnsüchtig Suchender. Ich bin auf der Reise meines Lebens noch nicht sehr weit gekommen und stecken geblieben im Strudel des Erlebten. Vor vielen Jahren hatte ich aufgehört an etwas zu glauben und ich habe seither auch nicht wieder angefangen es zu tun. Wie könnte ich auch? Woran hätte ich denn glauben können? Sollte ich trotz allem was mir widerfahren ist, was Menschen mir angetan haben wieder wie ein Kind an das Gute im Kern eines jeden menschlichen Wesens glauben? Sollte ich tatsächlich auf etwas Besseres hoffen oder etwa dafür beten, dass alles wieder gut werden möge? Wie soll ich nach den Stürmen meines Lebens jemals wieder an einen Gott, an einen Allah oder das Universum glauben? Wo war er der Barmherzige, mein Erlöser, mein Heiland? Wo war er in meinen dunkelsten Stunden? Damals hatte er meine verzweifelten Gebete und mein sehnlichstes Flehen nicht gehört. Er hatte geschwiegen und tatenlos zugesehen. All mein Rufen und Schreien zu ihm war ungehört geblieben. Meine beharrliche Suche nach göttlichem Beistand und spiritueller Hilfe war vergebens gewesen und nichts hatte mir meine Hoffnung wiedergeben können, bis heute nicht. Weder bewusstseinserweiternde Drogen noch Alkohol, weder Religion noch Esoterik oder gar meine eigene Lebenswirklichkeit hatten neue Antworten auf alte Fragen für mich bereitgehalten. Erst recht hatte mir in den letzten Jahren niemand diese eine mich umtreibende Frage beantworten können. Wer und warum ? Nun war es nicht so, dass ich jemanden danach gefragt hätte. Ich hatte mittlerweile gelernt, dass es nicht für alles, was auf Erden geschieht eine Antwort gibt. Es gibt vielleicht auch nie eine Antwort auf das, was mir widerfahren ist. Genauso wie es keine Antworten gibt auf Ebola, Krebs, 9/11, Glaubenskriege, Erdbeben oder Tsunamis. In all den Jahren habe ich voller Inbrunst so viele Gebete gebetet, so viele Hoffnungen gehofft und so viele Träume geträumt. Ich habe zu meinem Schöpfer gefleht und mein Karma angebettelt. Ich habe nach Antworten und Wahrheiten gesucht, aber es blieb stumm in mir und um mich herum. Keine innere oder transzendentale Stimme hat mir etwas offenbart. Gefunden habe ich nichts, ausser der Gewissheit, dass es keine Gewissheiten für uns in dieser Welt gibt. Das Leben ist wie Sand in unseren Händen. Und doch hat mich das Leid und alles Übel nicht gesucht. Nein, ich habe es angelockt. Ich habe ihm die Türe ganz weit aufgehalten und es ist zu mir gekommen und hat mich heimgesucht. Schlüssige Antworten finde ich kaum auf meine Schicksalsfrage, aber ein paar Erkenntnisse haben sich dann doch herauskristallisiert. Mit ein paar Lebensweisheiten hatten meine Eltern sicher Recht. Tatsächlich ist eines Menschen Gutheit eine Dummheit. Vielleicht hatte ich aufgrund meiner christlichen Erziehung in der Tat den Blick immer nur auf das Gute gerichtet. Meine Gutheit hat mein Leben und meinen Glauben zerstört. Was der Mensch dem Menschen sein kann habe ich selbst durchlitten und hätte es doch viel früher wissen müssen. Trotz aller Verzweiflung hatte ich mich an jenem Märztag vor zwölf Jahren nicht an einem Bahngleis im Rheinland umgebracht. Ich hatte es seither auch nicht wieder versucht.

So lebte ich vor mich hin, orientierungslos wie Treibgut im Fluss eines willkürlich dahinplätschernden Lebens, auf einer Reise ohne Ziel. Meine eigene kleine Welt aber auch die Welt draussen vor der Tür hat sich in ihrem Lauf seit jenem Tag vor zwölf Jahren fühlbar verändert. Für die Menschen hat Materialismus anscheinend noch mehr an Bedeutung gewonnen, noch mehr Priorität bekommen und gewiss ist unsere Zeit noch relativer geworden. Reiche wurden reicher, Arme wurden ärmer im neoliberalen Glauben an den Kapitalismus und den ich-zentrierten Geist der Gegenwart. Die Verwirtschaftung der gesamten menschlichen Existenz hat beängstigende Ausmaße angenommen und das Gefühl der Entmenschlichung unserer Gesellschaft treibt mich um. Doch viel gravierender als all diese fühlbaren Veränderungen in unserm Leben ist für mich persönlich etwas ganz anderes. Es ist neben dem Ballast der Vergangenheit, die Gewissheit, dass ich mit der Gegenwart nicht mehr mitkomme, dem Fortschritt nicht mehr folgen kann. Mit jedem Jahr spüre ich es regelrecht körperlich, dass eine weitere exponentielle Beschleunigung sämtlicher Betriebsamkeiten mich immer schneller vor sich her treiben will. Ich halte diesem rastlosen Vorwärtsstreben nicht mehr Stand. Mein Intellekt schafft es nicht mehr, sich allen Neuerungen und Trends in einer viel zu schnellen Welt zu stellen und ihren Hypes zu folgen. Natürlich habe ich ein Smartphone, ein Tablet und ein Notebook. Ich bin kein Neandertaler des Informationszeitalters. Aber die Verdigitalisierung meiner eigenen Existenz bereichert mich nicht, sie bedroht mich und macht mir Angst. Ich habe Angst zu ertrinken in algorithmischen Sintfluten der Moderne. Es ist mir alles zu viel geworden. Zu hektisch, zu verfügbar, zu abstrakt und viel zu kalt. Mit dieser immensen Beschleunigung erlebe ich subjektiv aber auch eine wachsende Entsolidarisierung unserer Gemeinwesen und ein Absterben von Mitmenschlichkeit und Warmherzigkeit. Nicht eine Utopie ist Wirklichkeit geworden nicht einmal meine eigenen; mir ist es nicht gelungen meinen Frieden zu finden mit der Vergangenheit und auch die Welt hat ihren Frieden mit sich noch nicht gefunden; weder ist es den Menschen gelungen Krebs zu heilen, noch den Hunger zu besiegen oder Kriege und Terror zu beenden. Auch die unstillbare Gier des Turbokapitalismus wurde nicht in seine Schranken gewiesen und noch immer gibt es menschen-gemachte Not und unerträgliches Leid auf unserem Planeten, trotz unserer weltumspannenden Vernetzung. Es scheint inzwischen noch sachlicher, noch ungerechter und noch unmenschlicher zuzugehen auf Mutter Erde. Und Gott? Nein, ich habe keinen Anlass mehr zu glauben, auch nicht an den lieben Gott, der mir einst so sehr am Herzen lag. Und doch bete ich jeden Tag zu irgendetwas, schließlich kann es ja nicht schaden. Ich bete, weil es trotz allen Zweifels meiner Seele gut tut, mich jemandem anzuvertrauen und mit jemandem zu reden, selbst wenn es nur ein imaginäres Pendant ist, das mir zuhört. Ich glaube nicht mehr an allzu viel Gutes auf diesem Planeten und doch rufe ich ihm zu. Und trotz allem was mir widerfahren ist, trotz dessen, dass ich an nichts mehr glauben kann, obwohl ich so gerne glauben würde…. trotz alledem schlägt mein Herz. Es schlägt zu meiner eigenen Verwunderung immer noch kraftvoll und rhythmisch in meiner achtundvierzig Jahre alten Brust.

Und auch zwölf lange Jahre danach schlägt es jeden Tag, ohne zu wissen, wozu es das tut.

Close my eyes

Close my eyes what I see, you are smiling for me

Your appearance, your grace so bright - safe a life for the night

Each yard you are away from me it is like light years to me

Each walk in the summer rain I cannot believe

Only thing I can do – is dreaming of you

Close my eyes what I see – you are smiling for me

Your appearance your grace so bright - safe a life for the night

Each look in your magic eyes I am loosing the ground

Each touch of your magic skin there is heaven around

The only thing I can do – is dreaming of you

Uebersetzung

Ich schließ' die Augen nur zu

Ich schließ' die Augen nur zu und ich sehe Dich für mich lächeln

Deine Erscheinung, deine glänzende Anmut

schützt ein Leben vor der Nacht.

Jeder Meter, den Du entfernt bist,

ist wie Lichtjahre für mich.

Bei jedem Spaziergang im Sommerregen

kann ich es immer noch nicht glauben.

Alles was ich tun kann ist von Dir zu träumen.

Ich schließ' die Augen nur zu und ich sehe Dich für mich lächeln

Deine Erscheinung, deine glänzende Anmut

schützt ein Leben vor der Nacht.

Bei jedem Blick in Deine magischen Augen

verliere ich den Boden unter den Füssen.

Bei jeder Berührung Deiner magischen Haut

fühle ich den Himmel um mich herum.

Alles was ich tun kann ist von Dir zu träumen.

Der herbe Geruch von Rauch kriecht zäh aus dem gusseisernen Kaminofen zu mir herüber. Das trockene Eichenholz knackt und knistert hinter der verrusten Glasscheibe. Das dort lodernde Feuer wärmt mich nur wenig aber sprüht unablässig seine goldweissen Funken das Ofenrohr empor. Spärlich hilft der gelb flackernde Schein einer einsamen Glühbirne, die verloren in einer schlichten Fassung von der offenen Holzdecke herunterbaumelt dem Kaminfeuer dabei, mein kleines Zimmer zu erhellen. Draußen vor dem leicht trüben Fensterglas zerrt in der Dunkelheit der frühen Nacht eine kühle Windbö an den kleinen Astern auf meinem Austrittsbalkon und ein kühler Wind , der vom Rhein herüberweht, rüttelt wieder einmal knarzend an den weißen, seit vielen Jahren nicht mehr behandelten Holzfenstern, während durch einen breiten Schlitz unter der Balkontüre ein frischer Luftzug in meine Wohnung dringt. Trotz des züngelnden Kaminfeuers sitze ich fröstelnd auf meinem grünen Stoffsofa, eingehüllt in einer alten Patchwork-Tagesdecke, mein aufgeklapptes Notebook auf dem Schoss und wehre mich mit einem Glas Whiskey gegen die um sich greifende Kälte. Gedankenverloren schweifen meine müden Augen durch mein kleines Reich, keine fünfzig Quadratmeter groß und doch ein Hort des Friedens und der Ruhe, mein sicherer Hafen. Mein Blick wendet sich den Instrumenten und Fotographien zu, wandert über leere Glasflaschen und Stapel von Papieren, Magazinen und Ordnern zurück zum flimmernden Monitor des Computers vor mir.

Ich lebe nun schon seit gut elf langen Jahren im ersten Stockwerk eines alten Stadthauses in der Oberen Rheingasse in Basel unweit der Mittleren Rheinbrücke.

Das schmale Häuschen mit seinen drei Mietparteien ist kaum breiter als viereinhalb Meter aber ein Kleinod an Historie und Gemütlichkeit. Die hell verputzte Fassade, die hölzernen Sprossenfenster und die alten Dachschindeln geben diesem Schmuckkästchen eine pittoreske Note und dienen dem ein oder anderen Touristen bei ihren Streifzügen durch die Baseler Altstadt als hübsches Fotomotiv. Im den Sommermonaten zieren rote Hängegeranien die kleinen Fenstersimse und schenken dem Antlitz des Häuschens ein paar farbige Tupfer. Das enge Treppenhaus stellt jeden hier ein- und ausziehenden Mieter beim Möbeltransport vor besondere Herausforderungen und nicht selten wurden und werden Schränke und Sessel durch die flussseitigen Fenster hinab- und hinaufgeschafft. Der eingeschränkte Komfort des Gebäudes wird mehr als wieder gut gemacht durch die heimelige Atmosphäre des uralten Gemäuers und die exklusive Lage direkt am großen Strom. Ich mag mein bescheidenes aber einladendes Heim, inmitten meiner inzwischen liebgewonnenen neuen Heimat in der Schweizer Grenzstadt.

Außer mir wohnt noch eine ältere Dame im Haus. Die kleine Wohnung im Erdgeschoss beherbergt Pierrette, eine ehemalige französische Journalistin. Früher war sie beim Figaro verantwortlich für die kulturelle Berichterstattung aus der Schweiz und trägt trotz eines an dieser Stelle zu verheimlichenden, aber gewiss bemerkenswerten Alters selbst daheim meist einen eleganten Hosenanzug und auffallenden Modeschmuck. Die elegante und gemessen an ihrem geschätzten Alter sehr jugendlich aussehende Dame schminkt sich täglich mit einer Akribie und Selbstverständlichkeit als würde sie sogleich in ihre Redaktion oder zu einer Recherchereise für eine neue Story aufbrechen müssen. Doch ihre aktiven Tage als Kulturreporterin sind schon lange her. Nur noch selten betätigt sie sich als Schreiberin von Leserbriefen. Ihre dunkelbraun gefärbten Haare trägt sie in einer mädchenhaft kurzen Frisur und gönnt sich jeden Monat einen ausgiebigen Besuch bei ihrer Kosmetikerin am Spalentor, die ihr die Augenbrauen und den sich ausweitenden Damenbart zupft. Pierrette lebt in ihren zwei Zimmern gemeinsam mit ihrer schon fast erblindeten Mischlingshündin Jeanne inmitten eines hübschen Ensembles aus alten Möbeln, Bildern, Skulpturen und sonstigen Devotionalien ihres Lebens, von denen jedes einzelne eine unendlich lange und bewegte Geschichte zu erzählen hat. Neben den teils kitschigen, teils sehr avantgardistischen Gemälden sind die Wände mit so unzähligen Fotos vollgehangen, dass ich nicht beschreiben könnte, welche Tapete sich dahinter verbirgt. Vor allem die vielen, teilweise schon verblassten schwarz-weiß Aufnahmen zeigen Menschen und Orte, die ihr etwas ganz besonders am Herzen liegen und viel bedeuten müssen. Sie hängt sehr an ihren „Devotionalien“, wie sie die Dinge selber gern bezeichnet. Gelegentlich beobachte ich sie beim Blick durch ihr Fenster, wie sie unbewegt und gedankenverloren vor einem der Bilder steht. Ein Bild scheint es ihr besonders angetan zu haben. Es ist das Bild eines jungen Mannes mit einem Barett auf den lockigen Haaren und einer Flinte in der Hand. Es ist wohl das Bild ihrer großen Liebe, der in Frankreich, während der Nazi-Zeit in der Resistance kämpfte und bei La Rochelle aufgegriffen und standrechtlich hingerichtet worden war. Ab und an sieht es so aus als wüsche sie sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Jeden Morgen, wenn die Mischlingshündin Jeanne und ihr Frauchen zu einem kurzen Spaziergang das Haus vorderseitig verlassen, ist zu hoffen, dass die beiden den Weg auch wieder zurückfinden. Pierrette hat die Alzheimer-Krankheit, allerdings erst in einem sehr frühen Stadium. Sie spricht nicht darüber, aber vor ein paar Monaten, es waren die letzten Tage vor Weihnachten, hatte sie mir bei einem Glas Punsch mit ihrem reizenden französischen Akzent gesagt: „Ich bin dabei die Gegenwart zu verlieren, Monsieur Pierre. Ich verliere das Heute und das Morgen und verirre mich im gestern. Ich habe das ungute Gefühl, dass sich meine Dimension von Zeit verändert, sich aufbläht und schrumpft, sämig wird wie heißer Teer und dann wieder strömt wie ein Wasserfall. Irgendetwas passiert da in meinem Kopf, Pierre. Ce qui se passe avec moi, mon Pierre? Die Vergangenheit wird immer grösser und die Gegenwart immer kleiner. Ich werde alt, Pierre. Ich bin alt.“

Ich hatte ihr da nur sagen können: „Nein, für mich sind sie jung, Madame. Jünger als sie denken. Bei mir ist das übrigens auch so mit der Zeit. Mir ist die Gegenwart viel zu schnell, als dass ich mir noch irgendetwas merken könnte. Und meine eigene Geschichte, meine Vergangenheit ist so gross, gewaltig gegenwärtig, dass sie die Gegenwart übertüncht. Meine Vergangenheit war aufregend und lebendig, aber meine Gegenwart ist so belanglos und langweilig.“ Pierette hatte mich angelächelt und meinet nur: „Ach, was soll’s. Ich habe gelebt, geliebt, gelitten und gelacht. Was darf man mehr erhoffen? Aber Sie Monsieur Pierre, Sie sind noch jung und lebendig. Leben Sie, Pierre! Lieben Sie! Und bitte erinnern sie mich bitte jeden Tag- chaque jour ­- an meine Zukunft, bitte! D’accord?“. Trotz des spürbaren Fortschreitens ihrer Erkrankung ist mir Pierrette ans Herz gewachsen, ohne dass ich sagen könnte, dass wir uns sehr nahe stehen. Ich bin seit jenen Tagen vorsichtig geworden mit Begriffen wie Freund oder Vertrauter. Aber diese geistig aktive und mich intellektuell überragende Dame ist für mich ein beneidenswertes Wunder an Energie, Intuition, Wissen und Weisheit. Sie ist mir eine Kameradin geworden. Obwohl Pierette Gedächtnislücken in der jüngsten Vergangenheit hat, ist ihr Erinnerungsvermögen im Langzeitgedächtnis enorm. Sie hat beispielsweise noch genaue und sehr detaillierte Kenntnisse vom großen Baseler Chemieunfall am ersten November 1986 unweit des Industriegebietes Schweizerhalle, bei dem der ganze Rhein durch kontaminiertes Löschwasser verseucht wurde und der Fluss zu einem so gut wie toten Gewässer verwandelt wurde. Damals hatte sie sich bei der Recherche zu den Vorgängen als investigative Journalisten einen Namen gemacht, obwohl sie ja eigentlich nur aus dem kulturellen Leben berichten sollte. Sie hatte sich damals aus Betroffenheit über die Weisungen ihrer Vorgesetzten hinweggesetzt und sich die Unbill einzelner Industriekapitäne der Chemiebranche auf sich gezogen und manch einer hat ihr dieses Engagement zur Sensibilisierung für den Umweltschutz nicht verziehen. Pointiert kennt sie noch heute Geschichten und Gerüchte aus Politik, Wirtschaft und Kultur in Basel, Bern und Zürich und den anderen dreiundzwanzig Kantonen vom Tessin bis zum Jura, von Graubünden bis ins Waadtland. Sie ist fürwahr eine faszinierende, eine außergewöhnlich Frau, trotz und wegen ihrer Bildung. Wenn auch in ihrer Attitüde manchmal etwas eigenwillig auf mich wirkt und auch sie nicht ganz ohne die typischen Allüren einer stolzen Pariserin auszukommen scheint, so ist sie mir doch eine angenehme Gesprächspartnerin. In meinen einsamen Stunden lade ich mich gerne selber mit einer Flasche Bordeaux und etwas französischem Käse zu einer ihrer Geschichten ein auch um mein Versprechen einzulösen, sie an ihre Zukunft zu erinnern. Auch wenn sie in den Kriegsjahren mit ihrem Verlobten in der französischen Widerstandsbewegung gekämpft hatte, so kann sie heute einem Glas Roten nicht widerstehen. So lässt sie sich immer mal wieder gerne auf einen Plausch mit mir ein, was wohl mehr dem Bordeaux und dem Käse zu verdanken ist, als einer besonderen Zuneigung zu mir. Gelegentlich fällt mir dann beim Wein und den zweifelnden Blick in ihre braunen Augen auf, dass sie angestrengt darüber nachdenkt, wer dieser Fremde ist, der da bei ihr am Küchentisch sitzt. Schnell helfe ich ihr dann bei ihrer Suche und erzähle etwas von einem tropfenden Wasserhahn, einem neuen Riss im Putz oder einer knarrenden Holzdiele in meiner Wohnung über ihr, um sie nicht bloß zu stellen oder zu beschämen. Madame, wie ich Pierrette meist nenne, hat trotz ihrer auftretenden Gebrechlichkeit und ihrer Alzheimer-Erkrankung nichts von ihrer koketten, unnahbaren und manchmal provozierenden französischen Art eingebüßt. Einmal führte sie mir einen neuen Sommerhut vor, den ihr eine alte Schulfreundin aus Paris als Geschenk geschickt hatte. Es war wundervoll zu sehen, wie sie mir tänzelnd ihre neuste Errungenschaft so mädchenhaft-verspielt und doch so elegant und nobel präsentierte, auch wenn sie beinahe über ihre verwirrte und halbblinde Hündin gestolpert wäre. Madame ist mir eine lieb gewordene Bekanntschaft geworden, ohne dass ich hätte sagen können, dass ich dies auch für sie bin.

Außer Pierrette und mir wohnt im Haus oben unter dem Dach noch ein Student aus Berlin, der an der Baseler Universität Graphik und molekulare Biologie studiert. Er ist vor viereinhalb Jahren in die Maisonette Wohnung eingezogen. Unser Kontakt ist eher distanziert, aber freundlich und eher oberflächlich. Er weiß wahrscheinlich nicht so recht, was er mit diesem kauzigen Aachener aus der Wohnung unter ihm anfangen soll. Unsere Welten sind wohl zu verschieden und von daher bleiben wir beide stets reserviert. Nur selten höre oder sehe ich David, der wohl Anfang dreißig ist und neben dem Studium scheinbar hauptsächlich laute Computerspiele zu seinem Lebensinhalt erkoren hat. Freitags- und Samstagsnachts frönt er regelmäßig einer weiteren Leidenschaft, nämlich ausschweifenden und vor allem geräuschintensiven Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern oder Partnerinnen. David gilt sicher hinlänglich als äußerst gutaussehend soweit ich das als Mann beurteilen kann mit seinem sportlichen Körper, den markanten Gesichtszügen und dem stets perfekt frisierten, vollen blonden Haar. Unter der steilen Stirn erstrahlen stahlblaue Augen und auch bei seiner Garderobe überlässt er nichts dem Zufall. Er pflegt einen eigenen Modestil, der auf mich elegant und doch rockig wirkt. Schwarz scheint seine Lieblingsfarbe zu sein. Zu jugendlichen Jacketts mit Schal oder Tuch trägt er meist lässige feingestreifte Stoffhosen, manchmal mit Hosenträgern und darunter auffällig lässige Westernstiefel. Er schmückt sein Äußeres mit Ringen und Ketten von Thomas Sabo und ähnelt etwas dem Stargeiger David Gerret, wenn er sein schulterlanges Haar zu einem Zopf zusammenbindet. Zufällig hat er auch noch den gleichen Vornamen wie der berühmte Violinist. David ist vom Typ her eher eine Rampensau, den ich mir aufgrund seines Charismas als Lead-Gitarrist in meiner alten Rockband gewünscht hätte. Sogar in seiner ganzen Bewegung ähnelt er ansatzweise solchen Jungs wie Markus Schenker oder Richie Samborra. Das ein oder andere mal fragte mich Madame nach den vielen jungen Männern und Frauen, die am Wochenende im Haus ein und ausgingen. Ich hatte Pierrette von Davids Studien im Bereich Biologie berichtet, ohne mich damit in gewisser Weise nicht vollends schuldig zu machen, die Unwahrheit zu sagen. David erarbeitet seine biologischen Feldversuche und Echtzeit-Studien Gott-sei-Dank zumindest meistens nur an den Wochenenden, so dass mir Zeit genug bleibt, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, ohne von lautem Gestöhne, Gekreische, Gelächter und Gequietsche abgelenkt zu werden. Ich mag ihn nicht besonders, obwohl er mir keineswegs unsympathisch ist. Im Gegenteil, irgendwie beneide ich ihn um vieles. Vielleicht liegt es daran. Es wurmt mich sicher, dass er sein Leben so unbeschwert und unverletzt leben kann, frei von Konventionen und allem Ballast des Erlebten. Im Grunde ist er das Gegenteil von mir: offen, zugewandt, lebensfroh und Spaß orientiert. Er lebt im Jetzt, in der Gegenwart. Er ist lebendig, sehr lebendig und mir ist eigentlich bewusst, dass es nicht Jens ist, den ich nicht mag. Ich mag mich nicht.

So lebe ich ein aufgeräumtes und unaufgeregtes Leben in chronischer Sentimentalität und Melancholie ohne Freude oder Glück zu empfinden. Ich bin tot, auch wenn ich lebe und die wenigen glücklichen Augenblicke schenken mir mein Freundespaar Jim Beam und Fender Stratocaster, meine alte E-Gitarre. Meinen Lebensunterhalt bestreite ich mit Schreiben. Ich betätige mich als erfolgloser Schriftsteller, was mich zwangsläufig nicht ernährt, so dass ich inzwischen freiberuflich in der Werbung als Texter oder sagen wir neudeutsch besser in der abenteuerlichen Welt der Marketingkommunikation und public relations tätig bin. Das klingt spannender als es ist, denn hauptsächlich erarbeite ich einfache Werbetexte, wortspielerische Slogans, und Claims sowie Rundfunkwerbungen als Auftragsarbeiten. Hin und wieder platziere ich sogar mal bei einem Kunden eine ganze Kommunikations-Kampagne, eine eigene musikalische Werbekomposition oder ein Jingle. Es ist ein hartes und oft undankbares Brot und der Wettbewerb ist auch in der Welt der Kreativen angekommen, aber es sichert mir ein bescheidenes Einkommen, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten und verhilft mir sogar gelegentlich zu so etwas wie beruflicher Zufriedenheit. Eine tiefere Erfüllung oder gar Sinnhaftigkeit in meinem Tun entdecke ich dabei kaum. Nur manchmal in meinen vielen schlaflosen Nächten- und das sind gewiss wohl meine kreativsten Phasen- dann berührt mich etwas, dass mein Herz mit Freude erfüllt. Es ist immer dann, wenn ich das Gefühl habe, meine Seele bei einer Arbeit öffnen zu können. Es sind die Augenblicke, wo ich etwas nicht für meine Auftraggeber schreibe, sondern für mich selbst, für meine Geschichte, für meine Seele oder für Anna. Meine Anna.

Inzwischen ist es still geworden vor unserem Haus am Oberen Rheinweg. Man hört zu dieser späten Stunde kaum etwas von draußen, außer dem unablässigen Rütteln des Windes an den Fensterläden und Türen und nur ganz leise vom Fluss her das unablässige Fließen des Wassers. Auch unten auf dem Weg ist das Gemurmel der bei Tage so zahlreich hier flanierenden Passanten verstummt.

Von meinem Küchenfenster kann ich im Winter, wenn die Lindenbäume ihr dichtes Blattwerk abgelegt haben, hinüber auf die Altstadt von Basel sehen, mit dem imposanten Münster und der fast sechshundert Jahre alten Universität. Doch mein Lieblingsblick gilt dem Fluss. Stundenlang kann ich ihm zusehen, wie seine Wogen und Wellen dem Meer entgegenziehen. Ich mag es den vorbeifahrenden Schiffen hinterherschauen und den permanenten Wandel des Stroms zu folgen. Mal strömt er majestätisch und breit durch die Enge zwischen Groß- und Kleinbasel. Dann ist er satt und träge, gemütlich und zufrieden wie nach einem Festtagsmenü. Wiederum gibt es auch Tage, da zeigt der Fluss ein ganz anderes Gesicht. Dann ist er abweisend und missmutig, fließt braun und bissig unter den fünf innerstädtischen Brücken hindurch.

Er wirkt dann rastlos, ungeduldig und wie ein Getriebener.

Ein paar hundert Meter weiter in Höhe von St. Johann wendet sich das Flussbett des Rheins in einem breiten Bogen dem Norden zu, passiert im Industriehafen vor Weil das Dreiländereck Schweiz-Deutschland-Frankreich, um dann über so viele Staustufen und durch meine alte Heimatregion rund um Köln majestätisch dem Meer entgegen zu fließen.

Mit ihm sind oft und viele meiner Gedanken und Erinnerungen in Richtung Aachen und der rheinischen Hauptstadt Colonia Claudia Ara Agrippinensum flussabwärts geflossen. Die eine oder andere Träne ist gelegentlich schon mit dabei, wenn ich abends auf den Uferstufen sitzend gedankenverloren in das Wasser starre.

Basel, diese bezaubernde, kleine Schweizer Stadt am großen Fluss ist mir ein gutes, liebevolles Zuhause geworden. Sie ist ein Zuhause für einen Heimatlosen geworden. Für dieses Gefühl bin ich unendlich dankbar. Ich fühle mich sicher und geborgen hier. Einige Wissenschaftler behaupten, Basel sei wohl oder übel eine der gefährlichsten Städte Europas, aber das ist nicht kriminalistisch gemeint. Die Erbebenwahrscheinlichkeit im Rheingraben zwischen Schaffhausen und Saint Louis ist Forschern zufolge enorm hoch und das Stadtgebiet von Basel vermutlich im Epizentrum eines demnächst zu erwartenden gewaltigen Bebens. Nach allem was mir wiederfahren ist, sind das keine beunruhigenden Expertisen und Angst einflößenden geotektonische Analysen für mich. Ich habe mein Erdbeben schon gehabt, ich hatte bereits den Boden unter den Füssen verloren, lebe noch immer in den Ruinen meines Schicksals und seine Nachbeben erschüttern mich noch bis in die Gegenwart.

In einer Zeit, in der es ohnehin keine Verlässlichkeiten und Wahrheiten mehr zu geben scheint, in einer Zeit ohne Rücksicht und Respekt sind die Menschen einander mehr Bedrohung geworden als die höchsten Amplituden einer nach oben offenen Richterskala . Vielleicht genau darum war mir auf meinen Reisen kein Ort am großen Fluss mehr ans Herz gewachsen wie diese historische Stadt, die lange Zeit die deutsche und europäische Geistesgeschichte geprägt hat und die von allen Schweizer Städten wohl die weltoffenste ist. Seit Jahrhunderten leben hier Migranten aus aller Herren Länder friedvoll mit einander, dulden einander, tolerieren einander und lernen voneinander. Im doppelten Sinn hat Chemie diese Region reich werden lassen, sowohl die industrielle als auch die zwischenmenschliche. Mein privater Vergleich hinkt gewiss, aber mir war Basel immer ein kleines Köln nur heimeliger und weniger laut und dreckig. Diese Sicht hatte ich von Beginn an nicht nur wegen der ausgeprägten Fastnachtskulturen ob nun rheinisch-katholisch oder alemannisch-protestantisch oder der besonderen Lage am Rhein. Diese Vertrautheit entsprang und blieb bis heute vor allem wegen des multikulturellen Lebensgefühls, der überall spürbaren Internationalität, einer erlebbaren Toleranz und zugewandten Freundlichkeit. Zürich hingegen war mir eher stets ein übersteigertes Düsseldorf, ein suspekter Ort, wo es weniger um Sein als um Schein geht, mehr um Materie als um Seele und Geist. So fühle ich mich angekommen in einem bescheidenen Leben in meiner Heimstadt Basel, in meinen kleinen vier Wänden mit den drei keinen Sprossenfenstern. Täglich beobachte ich während der gelegentlichen Arbeitspausen mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Küchenfenster stehend die vielen Menschen, die unten auf dem Oberen Rheinweg entlangspazieren. Ich betrachte, wie die Münsterfähre „Leu“ mit ihrem Fährmann Jacques Thurneysen nur die Kraft des Wassers nutzt, um am langen Seil treibend ganz ohne Motorkraft zwischen den beiden Ufern hin und her zu pendeln. Mit einem gönnenden Lächeln und manchmal auch einem weinenden Auge betrachte ich junge Liebespaare, die unten vor dem Haus Händchenhaltend auf einer der Holzbänke verweilen und miteinander schweigen, andere wie sie miteinander kokettieren und hin und wieder andere miteinander streiten oder sich küssen. Jogger und Velofahrer, die sicher nicht ganz uneitel hier ihre körperliche Fitness herzeigen passieren mein Fenster ebenso wie die Alten, die Gebrechlichen und Kranken, die sich überall auf eine der vielen Bänke in einem kleinen Schwätzchen verlieren. In den Sommermonaten, wenn Vater Rhein frisches, klares Wasser durch sein Flussbett schiebt, nutzen viele Baseler aber auch Gäste der Region die Fliesskraft des alten Stroms und lassen sich von der Schwarzwaldbrücke an am Klein-Basler-Rheinufer entlang, an den sich sonnenden Studenten auf den Uferterrassen vorbei bis hin zur Dreirosenbrücke treiben. So mancher Unerschrockene stolziert dann in Badehose oder Bikini mit einem wasserdichten Schwimmsack für die wichtigsten Utensilien ( man nennt ihn hier ortsüblich nur „s`Fischli“ ) unter den Arm geklemmt an den Restaurants der Promenade vorüber zurück, um sich dieses Vergnügens ein zweites oder auch drittes oder viertes Mal zu erfreuen. Das Rheinschwimmen hat eine mehr als tausendjährige Tradition und wird im „Baselbiet“ ebenso gepflegt wie der Pontonier-Sport mit den schweren hölzernen Übersetzbooten, den langen Weidlingen und ihren kraftraubenden Manövern.

Und immer wieder betrachte ich vom Balkon die unentwegten Passagen der kleinen, motorlosen Holzboote über den Rhein. Sie sind mir ganz besonders ans Herz gewachsen, die pittoresken Fähren, die unablässig ihren regelmäßigen Pendelverkehr an vier Stellen zwischen den beiden Stadthälften Klein- und Groß Basel aufrechterhalten solange Strömung und Wasserstand des Flusses es ihnen erlaubt. Bis in die späten Abendstunden bringen die „Fährlis“ Touristen und Einheimische, Fremde, Freunde und Liebende in romantischer Langsamkeit von einem Ufer zum anderen. Auch mich entschleunigt diese kurze Fahrt über den Rhein immer wieder.

Doch jetzt war es Nacht. Die Fährleute hatten ihren Betrieb für diesen Tag eingestellt und der noch eisige Frühlingswind hüllte die Stadt in eine dunkle Decke der Müdigkeit ein.

Ich setzte mich wieder hin und starre auf das Display des offenen Notebooks. Auf dem Sofa sitzend blicke ich auf die weiße, unberührte Seite des Word-Dokuments, das darauf wartet meine ersten Buchstaben aufzusammeln. Mir fällt nichts ein. Mein Kopf ist leer, wie so oft in den letzten Wochen. Keine Inspiration, keine Idee, nicht einmal ein Fetzen an sprachlicher Kreativität lässt sich aus meinen Gehirnwindungen herausquetschen. Zu sehr beschäftigt mich meine bevorstehende Reise, zu sehr lenken mich meine Erinnerungen und meine Gefühle ab von der Aufgabe, die ich heute noch vollenden muss. Dringend sollte ich jetzt mal etwas Brauchbares an den Marketingleiter meines Auftraggebers schicken, aber keine Intuition, kein Einfall will das Weiß vor mir mit schwarzen Lettern füllen.

Ich öffne mein Email-Account und schreibe:

Sehr geehrter Herr Schempfli,

ich bedauere sehr, dass ich Ihnen bis zum heutigen Abend keine mich selbst zufriedenstellende Textidee oder einen Leitgedanken für ihre neue Weihnachtskollektion senden konnte.

Meine derzeitigen Ideen sind unzureichend und bleiben bruchstückhaft. Sie drücken nicht das aus, was ich sagen möchte und wie Ihr Haus diese Kampagne gerne kommunizieren möchte.

Bitte geben Sie mir ein paar Tage Zeit. Ich versichere Ihnen dann einen Text zu liefern, der nicht nur die Emotionalität und die Wertigkeit des Projekts, sondern Ihres ganzen Hauses ausdrücken wird. Ich begebe mich auf eine Reise, die mir hoffentlich wieder die gewohnte Kreativität und Inspiration schenken wird.

Insofern werbe ich um Ihr Verständnis und Ihre Geduld.

Ihr

Peter von Bergen

Dann drücke ich den Button „E-Mail senden“ und klappe den Computer zu.

Ich gehe zum Fenster, vorbei an meinen beiden treusten Gefährtinnen: einer 72er Fender Stratocaster E-Gitarre und der halbakkusitischen Ovation aus der Celebrity-Serie. Durch das leicht trübe Fensterglas schaue ich hinab auf den unruhig dahin fliessenden Strom, aufgepeitscht von einzelnen, aufbrausenden Windböen und getrieben von der Sehnsucht nach der endlosen Weite des Ozeans. Mein Fluss!

Jeder Tropfen dieses Wassers wird bald in meiner alten Heimat sein. Der Rhein ist mir wie eine pulsierende Lebensader, eine emotionale Standleitung hin zu Orten und Plätzen, zu Menschen und all jene Erinnerungen, die sich tief in meine Seele gegraben haben. Das Schicksal hat mich hier nach Basel und somit einmal mehr an den Strand des großen Flusses gespült, so als wolle er mir zeigen, dass wir für immer miteinander verbunden sind.

Das Licht der Nacht

Du verdrängst die dunklen Schatten,

die der Tag mir übrig lässt.

als die Sterne Sehnsucht hatten,

warst Du es, die mich nicht verlässt.

In der Leere schwarzer Hülle,

In der Tiefe stiller Fülle,

In des Lebens kaltem Schacht,

Bist du das Licht – in meiner Nacht.

Ungläubig reibe ich mir die Augen. Auf dem Sofa sitzend muss ich wohl eingeschlafen sein. Es ist Mitternacht und ich habe vielleicht anderthalb Stunden geschlafen. Ein traumloser Zustand der Schwerelosigkeit hatte mir für eine kleine Weile ein wenig Ruhe geschenkt . Mein Blick schweift vorsichtig über eine leere und eine halbvolle Flasche Jim Beam, das Notebook, das grosse Bündel mit den unzähligen Briefen, die ich nie abgeschickt hatte und das Flugticket der Swiss, welches vor mir auf dem Tisch liegt. Ich schliesse meine müden Augen. Sie freuen sich über eine weitere kurze Pause, die Ihnen meine geschlossenen Pupillen verschaffen, bevor ich sie wieder öffne. Ich presse die Lider fest zusammen und dann….. dann sehe Anna. Wie immer. Ich sehe ihr unfassbares Lächeln, ihre noblen Gesichtszüge, den verheissungsvollen Wimpernaufschlag und die dunklen und so unergründlichen Pupillen. Ich sehe sie direkt vor mir. Es waren ihre verborgenen Aussergewöhnlichkeiten, ihre ganz eigenen Besonderheiten, die sie für mich so zauberhaft und einzigartig machten: Ihre unnachahmliche Art, sich die Nase zu putzen und ihren selbstkritischen Blick in den Spiegel. Dieses unschuldige Blinzeln immer kurz nachdem sie aufgewacht war und all die anderen unzähligen Kleinigkeiten, die ausser mir wohl kaum jemandem aufgefallen waren. Selbst ihr leises Schnarchen, wenn sie einmal mehr neben mir auf dem Sofa eingeschlummert war, habe ich noch im Ohr. Unverwechselbar waren ihre zur Gewohnheit gewordenen Bewegungsabläufe, wenn sie an verregneten Novemberabenden ihren Schwarztee zubereitete oder sich beim für mich völlig überflüssigen, aber akribischen Schminken die dunkelbraunen Augen so detailverliebt begutachtete. Stets zog sie den Lidstrich ein paar Millimeter über das Ende der mandelförmigen Augen hinaus und streifte mit einer geschmeidig-routinierten Bewegung die Mascara-Bürste immer nur einmal über die vollendet geschwungenen langen Wimpern. Ja, es waren all diese ihr so eigenen Absonderlichkeiten, die sie für mich so attraktiv und atemberaubend machten. Für mich waren es eben nicht die auffälligen, für jeden erkennbaren Vorzüge ihrer Proportionen, die dunkelbraunen Rehaugen, die hübsche Nase über den vollen Lippen und der schlanke Hals. Es war auch nicht das lange ebenholzfarbene Haar, das ihre hohen Wangenknochen umspielte. Es war so viel mehr als das.

Immer und immer wieder schwebt mir ihr Bild vor mir, wenn ich meine Augen schliesse. Zittrig streichelt meine linke Hand streichelt meinen rechten Unterarm auf und ab.