Die Macht des Guten - Daniel Goleman - E-Book

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Daniel Goleman

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Beschreibung

Der Dalai Lama gehört zu den bedeutendsten spirituellen Führern unserer Zeit und genießt im Westen den allerhöchsten Respekt. Seinen 80. Geburtstag nimmt er zum Anlass, eine ganz persönliche Botschaft in die Welt zu senden. Er vertraut dieses Projekt seinem langjährigen Freund Daniel Goleman an. Der internationale Bestsellerautor ist des Tibetischen mächtig und ein ausgewiesener Kenner des Buddhismus. Somit enthält der Text, der aus dieser einzigartigen Zusammenarbeit entstanden ist, die wichtigsten Gedanken des Dalai Lama, wie wir unsere Welt gestalten und uns selbst entwickeln sollten. Ein Geschenk an die Menschheit!

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Daniel Goleman

Die Macht des Guten

Der Dalai Lama und seine Vision für die Menschheit

Aus dem Englischen von Jochen Lehner

Knaur e-books

Über dieses Buch

Auf seinen Reisen hat der Dalai Lama immer wieder Wegbeschreibungen in eine bessere Zukunft formuliert. Seine wesentlichen Gedanken sind aber noch nie in einem einzigen Buch zusammengefasst worden. Für dieses Projekt konnte er keinen Kompetenteren finden als Daniel Goleman. Er ist ein langjährig vertrauter Freund des Dalai Lama und ein profunder Kenner von dessen weltumspannenden Ideen.

Inhaltsübersicht

Vorwort des Dalai LamaErster Teil1. KapitelWürdigung eines FriedensstiftersZur PersonDie Stimme des WandelsDie VisionZweiter Teil2. KapitelGefühle und VernunftAuf unsere Gefühle achtenSelbstbeherrschungDie emotionale LandkarteWege zum emotionalen Gleichgewicht3. KapitelEs geht um mehr als ReligionGute Gründe für MitgefühlKluger EigennutzEinsseinMitgefühl allen gegenüber4. KapitelDie Leidenschaft einer JugendWissenschaft – Dialog und VermittlungEin forschender GeistMitfühlende MaßnahmenDritter Teil5. KapitelWenn Mitgefühl aktiv wirdKonstruktiver ÄrgerDie Kraft des altruistischen HandelnsDie Empathie-KluftStrukturelle UngerechtigkeitMakellosigkeit6. KapitelUmdenken in der WirtschaftDas Geheimnis des GlücksAction for HappinessGutes tun und erfolgreich sein7. KapitelHilfe zur SelbsthilfeHerrschaft über das eigene IchFrauen in FührungsrollenBarefoot College8. KapitelRadikale TransparenzGüterabwägung, Innovation und BildungGanz neu denkenInteresse und Mitverantwortung9. KapitelDas Ende der GegnerschaftDie Macht der WahrheitReligionen im EinklangMiteinander sprechenEinigungen10. KapitelGeistige SchulungEine neue Art des UnterrichtsSoziales und emotionales LernenInteresse und MitverantwortungVierter Teil11. KapitelWerden die Verhältnisse besser oder schlechter?Geschichten, die wir uns erzählenNeue Wege des DenkensEine Theorie des WandelsDie Saat einer besseren Welt12. KapitelDen Wirkungskreis erweiternMiteinanderDenken, planen, handelnDanksagung
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Vorwort des Dalai Lama

Die sechsundfünfzig Jahre seit meiner Flucht aus Tibet ins indische Exil waren für uns Tibeter schwierige Jahre. Es gibt aber in der tibetischen Überlieferung eine Unterweisung, die uns in dieser Zeit eine große Hilfe gewesen ist, und sie besteht darin, aus allen noch so schlimmen Umständen Chancen zu machen. Für mich persönlich war es so, dass das Leben im Exil meinen Horizont erweitert hat. Wäre ich in Tibet geblieben, hätte ich wahrscheinlich nicht viel Kontakt mit der Außenwelt gehabt, und die Frage nach der Auseinandersetzung mit gänzlich anderen Betrachtungsweisen hätte sich gar nicht erst gestellt. So aber war es mir vergönnt, andere Länder zu bereisen und sehr viele ganz unterschiedliche Menschen kennenzulernen, um von deren Erfahrung zu profitieren und meine eigene einzubringen. Das liegt mir auch sehr, da ich von Natur aus nicht zu Formalitäten neige, die nur Distanz zwischen den Menschen entstehen lassen.

Mir ist völlig klar, dass mein Wohlergehen als Mensch von vielen anderen abhängig ist, und so sehe ich es als eine Verpflichtung, die ich sehr ernst nehme, in gleicher Weise auch für andere da zu sein. Es ist unrealistisch zu meinen, die Zukunft der Menschheit ließe sich mit Gebeten und guten Wünschen gestalten – wir müssen vielmehr aktiv werden und Hand anlegen. Deshalb fühle ich mich zuallererst aufgerufen, nach besten Kräften für das Glück der Menschen zu wirken. Darüber hinaus bin ich ein buddhistischer Mönch, und nach meiner Erfahrung ist die Botschaft der Liebe und des Mitgefühls allen Religionen gemeinsam. Deshalb fühle ich mich zweitens aufgerufen, mich für Harmonie und freundschaftliche Beziehungen zwischen den Religionen einzusetzen. Drittens bin ich ein Tibeter, und obwohl ich alle politische Verantwortung an andere übergeben habe, liegt es mir sehr am Herzen, das mir Mögliche zur Unterstützung des tibetischen Volks zu tun. Wichtig ist mir darüber hinaus die Bewahrung unserer buddhistischen Kultur und der Umwelt in Tibet, die beide akut bedroht sind.

Es macht mich sehr froh, dass mein alter Freund Daniel Goleman dieses Buch geschrieben hat und darin schildert, wie sich diese zentralen Anliegen in den Jahrzehnten seit der Flucht entwickelt haben. Als erfahrener Autor mit lebhaftem Interesse an der Wissenschaft unserer Innen- und Außenwelt ist er seit langem eine große Hilfe für mich und sicherlich wie kaum ein anderer berufen, über diese Dinge zu schreiben.

Eine friedlichere Welt, in der wir als glückliche Menschen zusammenleben und uns gegenseitig unterstützen – für mich ist das ein erreichbares Ziel. Es kommt aber darauf an, dass wir den Gesamtzusammenhang im Auge behalten und langfristig denken. Die notwendigen Veränderungen in uns selbst und in der Welt sind nicht von heute auf morgen zu erreichen, sondern werden ihre Zeit benötigen. Es kommt darauf an, dass wir jetzt anfangen, sonst geschieht gar nichts.

Es soll aus diesem Buch, das ist mein großer Wunsch, für alle Leser klar hervorgehen, dass der Wandel nicht von Regierungsentscheidungen oder von den Vereinten Nationen ausgehen wird. Ein Wandel setzt dann ein, wenn sich die Menschen die Werte zu eigen machen, die der Kernbestand jeder Ethik sind, die aber auch dem wissenschaftlichen Kenntnisstand und dem gesunden Menschenverstand entsprechen. Behalten Sie bitte beim Lesen dieses Buchs im Sinn, dass wir als Menschen die Anlage zu Vernunft und Herzenswärme besitzen und deshalb jeder Einzelne von uns eine Kraft zum Guten sein kann.

 

8. Februar 2015

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Erster Teil

Ein Weltbürger

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1

Die Zukunft neu erfinden

Die BBC sendet ihre World News über die Kurzwelle weltweit und erreicht so auch die auf einer Hügelkette oberhalb der Distrikthauptstadt Dharamsala in den Ausläufern des Himalajas gelegene Ortschaft McLeod Ganj. Hier befindet sich die Residenz des Vierzehnten Dalai Lama Tenzin Gyatso.

Er dürfte zu den treuesten Hörern des Senders gehören, da er das Nachrichtenprogramm schon seit seiner Jugend in Tibet regelmäßig einschaltet und als besonders zuverlässig schätzt. Immer wenn er zu Hause ist, hört er morgens um halb sechs, zur Frühstückszeit, die BBC-Nachrichten.

»Ich höre jeden Tag die BBC«, erzählte er mir, »und erfahre alles über Morde, Korruption, Misshandlungen, verrückte Leute.«

Die tägliche Litanei des Unrechts und der Leiden bestärkt ihn in der Auffassung, dass die meisten vom Menschen verschuldeten Tragödien auf eine einzige Ursache zurückzuführen sind, nämlich den Mangel an Mitgefühl und moralischem Verantwortungsbewusstsein. Die Gesetze der Sittlichkeit, findet der Dalai Lama, sollten uns über unsere Verpflichtungen gegenüber anderen aufklären – im Unterschied zu dem, was wir für uns selbst erstreben.

Bleiben wir einen Moment bei den Frühnachrichten als Gradmesser für die aus dem Ruder gelaufene Moral. Die Berichte schwappen wie eine Flut des Unheils über uns hinweg: Kinder, die in ihren Wohnungen Opfer von Bombenangriffen werden, Regierungen, die abweichende Meinungen mit äußerster Brutalität unterdrücken, und dazu immer wieder neue Fälle von großflächiger Naturzerstörung. Wir hören von Massenhinrichtungen, Invasionen, Sklavenarbeit, Flüchtlingsströmen, von unzähligen Menschen, die mit ihrer Arbeit so wenig verdienen, dass sie sich davon nicht ernähren und sich auch kein Dach über dem Kopf leisten können. Die Liste der Versäumnisse und Fehlentwicklungen scheint kein Ende zu nehmen.

Und dazu dieses sonderbare Gefühl des Wohlbekannten. Erinnern nicht die heutigen Nachrichten an die vom letzten Jahr, aus den letzten zehn Jahren, dem letzten Jahrhundert? Die neuesten Botschaften des Unheils wiederholen sehr alte Geschichten und sind nur die jüngsten der unzähligen Fehlentwicklungen, die den Lauf der Geschichte prägen.

Sicher dürfen wir auf die im Laufe der Zeit erzielten Fortschritte stolz sein, doch dass Zerstörung, Unrecht, Korruption und krasse Ungleichheit einfach so weitergehen, kann uns nur bedrücken.

Wo sind die Gegenkräfte für den Bau einer Welt, wie wir sie gern hätten?

Die müssen wir selbst aufbauen, lautet die Antwort des Dalai Lama. Von seiner Warte aus sieht er klar, wo wir Menschen in die Irre gehen und was wir tun können, um der Geschichte einen besseren Verlauf zu geben, so dass nicht unaufhörlich die Greuel der Vergangenheit wiederholt werden, sondern wir den Herausforderungen unserer Zeit mit neuen inneren Kräften begegnen können.

Worauf es jetzt vor allem ankommt, ist aus seiner Sicht eine Kraft zum Guten.

Er selbst verkörpert und propagiert diese Kraft besser als alle anderen Menschen, denen ich je begegnet bin. Wir haben uns in den achtziger Jahren kennengelernt, und seit damals habe ich ihn oft in Aktion erlebt, immer mit dem Anliegen, einen Aspekt seiner zentralen Botschaft zum Ausdruck zu bringen. Und für dieses Buch hat er einige Stunden geopfert, um die Kraft zum Guten zu beschreiben, die ihm vorschwebt.

Es muss zuerst eine Gegenkraft für die Energien des Negativen in uns sein. Wenn die Zukunft nicht nur ein Abklatsch der Vergangenheit sein soll, so der Dalai Lama, dann müssen wir uns tiefgreifend ändern, damit destruktive Gefühle nicht mehr so viel Macht über uns haben und das Bessere in uns stärker wird.

Ohne diese innere Umorientierung wird es bei unseren automatischen Reaktionen wie Frustration, Wut und Hoffnungslosigkeit bleiben, und die führen uns nur immer wieder auf die tristen alten Wege ins Nirgendwo.

Aber mit dieser positiven inneren Neuausrichtung bekommen wir ein besseres natürliches Gefühl für die Anliegen anderer und handeln eher aus Mitgefühl – und Mitgefühl ist der Kern jedes ethischen Verantwortungsgefühls. Damit können wir dann, wie der Dalai Lama sagt, auch größere Unternehmungen mit neuer Klarheit, Ruhe und Umsicht in Angriff nehmen, etwa die Korruption auf höchster Ebene, die Gleichgültigkeit der Privilegierten, die Probleme von Gier und Eigennutz oder die Ignoranz der Mächtigen gegenüber den Machtlosen.

Diese gesellschaftliche Revolution muss, so der Dalai Lama, in uns beginnen, damit wir nicht wieder in die Sackgassen früherer Bewegungen und Initiativen geraten. Denken wir beispielsweise an George Orwells mahnende Parabel Farm der Tiere, in der Habgier und Machtgier am Ende all die schönen Utopien über den Haufen werfen, die allen Despotismus beenden und für den Nutzen aller sorgen sollten. Am Ende laufen sie dann doch wieder auf eine ungleiche Machtverteilung hinaus, welche genau die Verhältnisse wiederherstellt, gegen die man ursprünglich vorgehen wollte.

Der Dalai Lama betrachtet das menschliche Dilemma unter dem Gesichtspunkt der Interdependenz oder gegenseitigen Abhängigkeit. Martin Luther King hat es einmal so formuliert: »Wir sind von Natur aus in ein Gewebe der Gegenseitigkeit eingebunden und tragen deshalb ein einziges Schicksalsgewand: Was auf einen von uns direkt einwirkt, beeinflusst uns alle indirekt.«

Da wir alle in irgendeiner Weise in die Probleme verstrickt sind, müssen auch die Lösungen von uns kommen, und so kann eigentlich jeder von uns dieser Kraft zum Guten angehören. Nach den Worten des Dalai Lama können wir jetzt gleich die richtige Richtung einschlagen, so gut wir es vermögen und gemäß den Möglichkeiten, die sich dem Einzelnen bieten. Gemeinsam können wir eine Bewegung entstehen lassen, eine sichtbare und spürbare Kraft der Geschichte zur Gestaltung einer Zukunft, in der die Ketten der Vergangenheit gesprengt sind.

Was wir heute säen, entscheidet mit über unser gemeinsames Morgen. Manches trägt vielleicht schon bald Früchte, in anderen Fällen werden erst künftige Generationen die Ernte einfahren. Jedenfalls können unsere gemeinsamen Anstrengungen sehr viel bewegen, wenn sie von dem angesprochenen inneren Wandel ausgehen.

Es war ein gewundener Weg mit vielen Höhen und Tiefen, der den Dalai Lama zu dieser Vision gelangen ließ. Sehen wir uns aber zunächst den letzten Abschnitt des Weges bis zu diesem Buch an. Er beginnt mit einem Augenblick, in dem der Dalai Lama im Mittelpunkt des Weltinteresses stand und seit dem er weltweit sehr deutlich wahrgenommen wird.

Würdigung eines Friedensstifters

Wir befinden uns im kalifornischen Newport Beach, es ist der 5. Oktober 1989. Der Dalai Lama betritt die Pressekonferenz zu der kurz zuvor eingegangenen Nachricht von der Zuerkennung des Friedensnobelpreises und wird vom Klicken und Blitzlichtgewitter der Kameras empfangen.

Erst vor einigen Stunden hat er davon erfahren und weiß selbst noch nicht so recht, was da auf ihn zukommt. Ein Reporter fragt ihn, was er mit dem Preisgeld tun wird, damals rund eine Viertelmillion Dollar.

Er gibt zuerst einen erstaunten Blick zurück und antwortet dann: »Oh, wunderbar. Es gibt da in Indien eine Kolonie für Leprakranke, der ich immer schon mal etwas spenden wollte.« Am nächsten Tag erzählte er mir, sein erster Gedanke sei gewesen, wem er das Geld schenken könnte, um Not und Hunger zu lindern.

Immer wieder ruft er den Menschen in Erinnerung, dass er sich eigentlich nicht als den erhabenen Dalai Lama, sondern als einfachen Mönch sieht. So hatte er keinerlei persönlichen Bedarf, dem ein Preisgeld dienen könnte. Wo immer er Geldgeschenke erhält, gibt er sie sofort weiter.

Ich erinnere mich an eine Konferenz über soziales Engagement in San Francisco, an deren Ende (als eine bei solchen Veranstaltungen keineswegs übliche Geste) die finanzielle Seite des Ganzen offengelegt wurde. [1] Nach Abzug aller Kosten waren etwa 15000 Dollar übrig, und zur freudigen Überraschung aller kündigte der Dalai Lama spontan an, er werde das Geld einer teilnehmenden Interessensvertretung für benachteiligte Jugendliche im Raum Oakland spenden, die auf die Konferenz hin eigene Veranstaltungen dieser Art organisieren wollte. Das ist lange her, aber wir haben diese Geste der spontanen Spende seither immer wieder bei ihm erlebt. Und bei seinem Anteil an den Erlösen aus dem Verkauf dieses Buchs wird es wieder so sein. [2]

Der Anruf aus Norwegen, bei dem ihm mitgeteilt wurde, der Botschafter werde vorbeikommen und die Zuerkennung des Friedensnobelpreises 1989 persönlich überbringen, hatte am Vorabend gegen 22 Uhr stattgefunden – deutlich jenseits der Uhrzeit, zu der sich der Dalai Lama jeden Tag zurückzieht: 19 Uhr.

Am nächsten Morgen war der Dalai Lama wie immer von etwa 3 Uhr an mit seiner spirituellen Praxis beschäftigt, die meist bis gegen 7 Uhr dauert – mit einer Unterbrechung für Frühstück und BBC. [3] Niemand wagte es, ihn zu stören und vom Nobelpreis zu unterrichten, und so ging die offizielle Verlautbarung um die Welt, bevor ihn jemand unterrichten konnte.

Sein Privatsekretär hatte bereits alle Hände voll zu tun, unzählige Interview-Anfragen aus aller Welt abzuwimmeln – was eine völlig neue Situation war, da sich die Journalisten in früheren Jahren oft nicht so recht zur Berichterstattung über den Dalai Lama durchringen konnten. [4] Urplötzlich war die Presse ganz versessen darauf, und man hatte den Eindruck, sämtliche Fernsehsender und Zeitungen der Welt wollten Interview-Termine haben.

Die Telefone standen nicht still, doch der Dalai Lama gab seinem Sekretär am Morgen Anweisung, dass die anberaumten Gespräche wie geplant stattfinden sollten. Es blieb also nichts anderes übrig, als die Journalisten abzuweisen beziehungsweise zu vertrösten. Im Anschluss an die nachmittägliche Gesprächsrunde fand sich dann ein Termin für die Pressekonferenz.

Inzwischen hatten sich Hunderte Reporter und Fotografen im Ballsaal eines nahe gelegenen Hotels zu der improvisierten Pressekonferenz versammelt. Das Rangeln um die besten Kameraplätze nahm zeitweise die Form eines Rugby-Gedränges an. Viele der Journalisten waren aus Hollywood angereist und eine ganz andere Art von Prominenz gewohnt. Hier trafen sie auf jemanden, der nicht viel Sinn für Ruhm und Geld hatte und auch nicht besonders erpicht auf Selbstdarstellungen in der Weltpresse war.

Im Zeitalter der Selfies, in der sich so viele bemüßigt sehen, die Welt ständig über ihre wechselnden Standorte und die gerade eingenommene Mahlzeit auf dem Laufenden zu halten, erscheint uns das heute als eine geradezu radikale Haltung. Das ganze Auftreten des Dalai Lama scheint uns sagen zu wollen: Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt, sei also nicht gar so sehr auf deine Ängste fixiert, lass von dieser überbordenden Selbstverliebtheit ab und denk nicht immer zuerst an dich – so kannst du vielleicht auch die anderen ein wenig im Auge behalten.

Und jetzt diese so gelassene Reaktion auf den Nobelpreis. Ich war bei dieser Pressekonferenz anwesend, weil ich die oben erwähnten dreitägigen Gespräche des Dalai Lama mit einer Gruppe von Psychotherapeuten und Gesellschaftskritikern moderiert hatte. [5]

Als ich ihn am nächsten Tag für die New York Times interviewte, stellte ich ihm noch einmal die Frage, wie er sich angesichts der Zuerkennung des Friedensnobelpreises fühle. In seinem von ihm selbst so bezeichneten »gebrochenen« Englisch antwortete er: »Ich selbst – nicht viel Gefühl.« Froh war er dagegen über die Begeisterung derer, die sich für ihn als Anwärter auf den Preis eingesetzt hatten. In seiner Tradition würde man das wohl als einen Fall von Mudita bezeichnen: sich über die Freude anderer freuen.

Darüber hinaus ist er ohnehin meist zu Späßen aufgelegt, und dieses Fröhliche und Spitzbübische kehrt offenbar sein lieber Freund Erzbischof Desmond Tutu besonders in ihm hervor. Wenn die beiden zusammen sind, läuft es oft auf ein Gefrotzel und Gewitzel wie unter Lausbuben hinaus.

Der Dalai Lama scheint immer zum Lachen aufgelegt, unabhängig davon, was der jeweilige Anlass an Etikette verlangt. Zum Beispiel fällt mir eine Gesprächsrunde mit Wissenschaftlern ein, bei der er einen Witz erzählte, der (was öfter vorkommt) auf seine eigenen Kosten ging. Er hatte inzwischen bereits etliche solcher Zusammenkünfte erlebt, und sie erinnerten ihn, wie er mir anvertraute, an eine alte tibetische Geschichte von einem Yeti, der Murmeltiere jagte. Dieser Yeti hatte vor dem Eingang zu einem Murmeltierbau Stellung bezogen, und wenn eins erschien, griff er sofort zu und setzte sich dann auf das arme Tier, um seinen Fang zu sichern und auf weitere Beute zu lauern. Erschien dann jedoch ein weiteres Murmeltier, sprang der Yeti auf, um es zu packen, woraufhin sein Sitzpolster natürlich das Weite suchte.

Ungefähr so, gestand der Dalai Lama lachend, sähe es mit seinem Erinnerungsvermögen an alle bisherigen wissenschaftlichen Lektionen aus. [6]

Einmal wartete er im Theatersaal eines Colleges vor einer Podiumsdiskussion mit Wissenschaftlern am Bühneneingang, während auf der Bühne noch, als Vorspiel und zur Unterhaltung des Publikums, ein studentischer A-cappella-Chor sang. Kaum hörte der Dalai Lama den Gesang, trat er auch schon allein auf die Bühne und blieb hingerissen lauschend neben den Sängern stehen. Das stand so nicht im Konzept, und die übrigen Diskussionsteilnehmer und Universitätsvertreter, die darauf eingestellt waren, ihn dort auf der Bühne zu empfangen und willkommen zu heißen, blieben ratlos in der Garderobe. Der Dalai Lama stand derweil mit größter Selbstverständlichkeit da und strahlte die Sänger an, während das Publikum, das ihn ganz offensichtlich jetzt noch nicht so sehr interessierte, ihn anstrahlte.

Bei einem Treffen mit einer Gruppe handverlesener CEOs saß man an einem langen Konferenztisch, der Dalai Lama am Kopfende. Während der Gespräche machte ein Fotograf, der mit der Dokumentation des Ereignisses beauftragt war, seine Bilder, und zwar derart engagiert, dass er einmal sogar neben dem Stuhl des Dalai Lama mit einem gewaltigen Teleobjektiv auf dem Boden lag und knipste und knipste.

Der Dalai Lama unterbrach sich mitten im Satz, blickte etwas verdattert auf den Fotografen herunter, um dann auflachend zu fragen, ob er sich auch zu einem kleinen Nickerchen hinlegen könne. Am Schluss schoss dieser Fotograf ein ganz normales Gruppenbild des Dalai Lama mit den versammelten Wirtschaftsbossen.

Als sich die Gruppe auflöste, winkte der Dalai Lama den Fotografen zu sich und posierte eng umschlungen für ein Foto nur mit ihm.

Solche Augenblicke mögen für sich genommen unbedeutend wirken, aber in ihrer großen Vielzahl ergeben sie ein Bild, dem ich entnehme, dass sich in der Person des Dalai Lama eine ganz besondere seelische Verfassung mit einer hohen Sensibilität für seine Mitmenschen mischt: Er ist von großem menschlichem Einfühlungsvermögen, verfügt über Humor und Spontaneität und agiert aus einem klaren Gefühl der Einheit aller Menschen – von seiner bemerkenswerten Großzügigkeit und weiteren Zügen dieser Art einmal abgesehen.

Sein erklärter Widerwille gegen alles Salbungsvolle und die Bereitschaft, über seine kleinen Eigenheiten zu lachen, gehören für mich zu den besonders liebenswerten Eigenschaften des Dalai Lama. Sein Mitgefühl hat einen Geschmack von Freude, für bitterernste Plattitüden hat er keine Verwendung.

Diese Persönlichkeitszüge haben sicher viel mit den Studien und der Praxis zu tun, denen er sich seit seiner Kindheit widmet und mit denen er auch heute noch jeden Tag fünf Stunden beschäftigt ist (die genannten vier Stunden am frühen Morgen und noch eine weitere am Abend). Kein Zweifel, dass sein sittliches Empfinden und sein öffentliches Auftreten davon geprägt sind.

Die Zeit seines Lebens gepflegte forschende Wissbegier, zusammen mit Gelassenheit und Mitgefühl, bedingen bei ihm ein einzigartiges Werteverständnis, das sein so ganz anderes Weltbild und damit seine Vision formt.

Wir sind einander in den achtziger Jahren das erste Mal begegnet, als er das Amherst College besuchte, wo sein alter Freund Robert Thurman damals lehrte. Robert stellte uns einander vor. Der Dalai Lama machte bei dieser Begegnung bereits deutlich, dass er sich ernsthafte Diskussionen mit Wissenschaftlern wünschte. Das sprach mich sofort an, denn ich bin Psychologe und schreibe unter anderem für den Wissenschaftsteil der New York Times. In den nächsten Jahren arrangierte ich für ihn einige Treffen mit Wissenschaftlern aus meinem eigenen Fachbereich und schickte ihm in der Times erschienene Artikel über wissenschaftliche Entdeckungen.

Meine Frau und ich sind bei den Vorträgen und Unterweisungen des Dalai Lama dabei, wann immer es uns möglich ist, und so sagte ich spontan zu, als ich gebeten wurde, dieses Buch zu schreiben.

Dies ist aber kein wissenschaftliches Buch, auch wenn ich sonst meist über wissenschaftliche Themen schreibe und die Vision des Dalai Lama eher wissenschaftlich als religiös begründet ist. Wissenschaftliche Inhalte werden also hier nicht vorgestellt, sondern nur zur Illustration oder zur Untermauerung des vom Dalai Lama Vorgebrachten angeführt. Wer tiefer einsteigen möchte, kann sich an die in den Anmerkungen genannten Quellen halten.

Das Bild, das sich aufgrund meiner Gespräche mit dem Dalai Lama abzeichnete, ist sicher in seiner Anlage und Wiedergabe von meinen eigenen Interessen und Leidenschaften gefärbt. Ich habe mich aber bemüht, die Essenz seiner Erkenntnisse und seines an uns gerichteten Aufrufs so getreu wie möglich wiederzugeben.

Zur Person

Die heutige Weltgeltung Tenzin Gyatsos, des derzeitigen Dalai Lama, ist auf geschichtliche Zufälle zurückzuführen. Seit über vierhundert Jahren, solange es die Institution gibt, haben sich die Dalai Lamas – die religiösen und politischen Oberhäupter Tibets – ausschließlich in den Heimatländern des Buddhismus aufgehalten. Der jetzige vierzehnte Dalai Lama verbrachte seine Kindheit in der gewaltigen Palastanlage des Potala in der Hauptstadt Lhasa, wo er wie seine Vorgänger erzogen und ausgebildet wurde. Zu seinen Fächern gehörten Philosophie, Theologie, die Kunst des Disputs, Erkenntnislehre und das Erlernen seiner Rolle beim Ritual. [7]

Als jedoch 1950 die chinesischen Kommunisten das Land besetzten, wurde er buchstäblich in die große weite Welt hinausgestoßen, bis er schließlich 1959 nach Indien floh. Dort lebt er seither und hat seine Heimat nie wieder gesehen.

»Mit sechzehn«, sagt er, »habe ich meine Freiheit verloren.« Da übernahm er nämlich die Rolle des religiösen Führers und Staatsoberhaupts Tibets. Als er fliehen musste, sagt er weiterhin, »habe ich mein Land verloren«.

Diese Umbruchphase schildert der Film Kundun über die frühen Jahre des Dalai Lama. Nach dem Überqueren der Grenze zu Indien steigt der junge Dalai Lama vom Pferd ab und dreht sich zu den Männern der Palastwache um, die ihn bis hierher eskortiert haben. Sie galoppieren davon, zurück in ihre Heimat, in der sie womöglich unbekannten Gefahren ausgesetzt sein werden, und er bleibt allein zurück in diesem fremden neuen Land.

Dann wendet er sich ab und tritt seinen indischen Gastgebern entgegen, die ihn empfangen und begrüßen. Ihm ist bewusst, dass er jetzt unter Fremden ist. Heute jedoch, so hat ihn sein langjähriger Freund, der Schauspieler Richard Gere einmal bei einer öffentlichen Veranstaltung vorgestellt, »ist er überall unter Freunden«.

In früheren Zeiten hatte kaum einer, der nicht in Tibet lebte, je Gelegenheit, den Dalai Lama zu sehen – für uns ist es heute fast schon eine Selbstverständlichkeit. Er ist sehr viel in der Welt unterwegs und immer für die Menschen da, heute spricht er in Russland mit buddhistischen Burjaten, nächste Woche in Japan mit Wissenschaftlern, mal in Seminarräumen, mal in überfüllten Auditorien.

Dass der Dalai Lama nicht noch mehr Menschen erreichen kann, liegt in allererster Linie an der Weigerung vieler Staaten, ihm die entsprechenden Einreisevisa auszustellen. Hintergrund ist die Befürchtung, die Wirtschaftsbeziehungen zu China könnten sich dadurch verschlechtern. Die Hardliner in der politischen Führung Chinas deuten so gut wie alles, was der Dalai Lama tut, als politische Aktionen gegen die Herrschaft Chinas über Tibet.

Eine typische Reiseroute des Dalai Lama kann in New Delhi beginnen, wo er über »säkulare Ethik« spricht; dann fliegt er nach Mexico City, wo er (neben etlichen anderen Terminen) vor tausend katholischen Priestern über die Einheit der Religionen spricht, Gespräche mit einem Bischof führt, um schließlich in einem Stadion einen öffentlichen Vortrag über aktives Mitgefühl zu halten. Danach geht es nach New York City, wo er zwei Tage lang Unterweisungen gibt, bevor er auf dem Rückweg nach Delhi einen Zwischenstopp in Warschau einlegt, um an einem Friedensgipfel teilzunehmen.

Kein Zweifel also, dass ihm inzwischen eine Rolle von globaler Bedeutung zugefallen ist, doch das war nicht immer so und hat sich erst mit der Zeit entwickelt.

In den Jahren vor der Verleihung des Friedensnobelpreises kamen nur wenige Berichterstatter zu den Pressekonferenzen des Dalai Lama. Ich erinnere mich an die Bestürzung seiner offiziellen Vertreter in den USA 1988, als er den Chinesen mit den Worten, es gehe für Tibet nicht um Unabhängigkeit, sondern um Autonomie, ein großes Zugeständnis gemacht hatte. [8]

Das war sicher von größtem Interesse für alle, die auf der Seite Tibets stehen (und wohl auch einer der Gründe für die Nobelpreisverleihung im darauffolgenden Jahr), aber in der New York Times erschien nur eine winzige Agenturmeldung, irgendwo im Innenteil versteckt.

Seit dem Nobelpreis werden die Reisen und Auftritte des Dalai Lama aufmerksamer verfolgt und finden auch ein immer größeres Publikum. Er ist zu einer Art Ikone geworden, sein Gesicht erscheint inzwischen sogar in der Werbung, und immer häufiger stoßen wir auf Zitate von ihm (die freilich mitunter etwas vordergründig anmuten).

Er nimmt das alles mit großer Gelassenheit. Man spürt wohl, dass er ganz gern möglichst bald wieder zu seiner in aller Stille geübten Praxis zurückkehren würde, aber seine Beliebtheit und Berühmtheit und der ganze Medienrummel dienen eben auch guten Zwecken. Seine Botschaft des Mitgefühls hat heute, wie es sein langjähriger Dolmetscher für Englisch Thupten Jinpa formulierte, »ein größeres Mikrofon«.

Der Dalai Lama gehört zu den sehr wenigen allgemein anerkannten und beliebten öffentlichen Gestalten, die von erkennbarer innerer Tiefe sind und deren Worte Gewicht haben. Kaum ein anderer kommt ihm an moralischer Statur gleich, kaum einer ist von so überzeugendem Auftreten und so über alle Grenzen hinweg beliebt.

Seit Jahrzehnten bereist er die Welt und lernt Menschen jeglicher Herkunft, Gesellschaftsschicht und Lebenshaltung kennen, und das alles formt auch seine Sicht der Dinge mit. Zu allen Begegnungen, seien es Nobelpreisträger oder auch Bewohner der Barackensiedlungen von São Paulo oder Soweto, bringt er das mit, was ihn stets und vor allem bewegt: Mitgefühl.

Er sieht nur die eine Menschheit, das Wir, und lässt sich auf Unterscheidungen oder Entgegensetzungen –»wir und die anderen« – gar nicht erst ein. Die Probleme »unserer Menschenfamilie«, wie er gern sagt, sind grenzübergreifende weltweite Fragen, beispielsweise die immer weiter klaffende Schere zwischen Arm und Reich oder die Schädigung der Ökosysteme durch menschliches Handeln.

Alle diesen Zutaten setzt der Dalai Lama zu einem Plan um, der uns Hoffnung, Ausrichtung und Schwung geben kann. Es ist eine Art Wegkarte, die uns bei der Orientierung im Leben dienen kann – um die Welt zu verstehen, um zu wissen, was zu tun ist und wie unsere gemeinsame Zukunft gestaltet werden kann.

Seine Vision für die Menschheit, von ihm selbst bereits verkörpert, besteht in einer Lebensform und Betrachtungsweise, die viele unserer heutigen Wertvorstellungen geradezu auf den Kopf stellen. Für ihn ist das ein Zusammenleben, in dem wir mitfühlend füreinander sorgen und mit unseren gemeinsamen Herausforderungen klüger umgehen, denn nur so können wir den Anforderungen einer vernetzten Welt wirklich gewachsen sein.

Es ist eine Vision, aber eben kein bloßes Wunschdenken, sondern ein pragmatischer Ansatz, der auch die Mittel und Gegenmittel bedenkt, auf die es heute ankommt wie nie zuvor.

Die Stimme des Wandels

Er war ein Sohn ungebildeter Eltern, in einem abgelegenen tibetischen Dorf geboren. Er musste aus seiner Heimat fliehen und ist seit über einem halben Jahrhundert ein Mensch ohne Land. Er hat nie ein Haus oder einen Wagen besessen, er hat kein Einkommen und folglich auch keine Rücklagen irgendwelcher Art. Er hat auch nie selbst eine Familie gehabt.

Er hat keine normale Schule besucht. Seine Erziehung bestand in einem vor sechshundert Jahren entwickelten Curriculum der Einführung in Philosophie und Ritual. Heute trifft er sich regelmäßig zu tiefschürfenden Diskussionen mit namhaften Wissenschaftlern.

Er spricht mit hochrangigen Entscheidungsträgern ebenso wie mit Schulkindern oder normalen Bürgern, auch mit den Bewohnern von Slums überall auf der Welt. Er reist sehr viel und ist von unstillbarer Wissbegier.

Die Rede ist natürlich vom Dalai Lama, einem Menschen, wie es nicht viele in dieser Welt gibt, frei von vielen Belangen, die bei uns Übrigen einen Großteil der Aufmerksamkeit und Tatkraft binden – zum Beispiel an Familie und Freundeskreis und unser gesamtes näheres und weiteres Lebensumfeld.

Er ist kein ausgewiesener Spezialist auf irgendeinem Fachgebiet, seine besondere Kompetenz liegt in anderen Bereichen des Lebens, wo es nicht auf erworbene Kenntnisse, sondern auf Weisheit ankommt.

So ist er ein Experte der ganz besonderen Art, nämlich auf dem Gebiet der tiefen Betrachtung und der Stille, der Selbstlosigkeit und des Mitgefühls. Kaum einer von uns käme wohl dauerhaft auf die Idee, wie er fünf Stunden am Tag zu meditieren. Aber was er auf diesem Weg an Einsicht und fürsorglicher Zuwendung gewonnen hat, davon können wir sicherlich einiges lernen, handelt es sich doch um wichtige Zutaten eines guten und erfüllten Lebens.

Wenn es um Geld geht, suchen wir einen Anlageberater auf, und für unsere Gesundheit konsultieren wir den Arzt, aber was unser Innenleben angeht oder die Frage, wie wir in dieser Welt eine Kraft zum Guten sein können, dürfen wir dem Dalai Lama als einem Experten trauen, der uns allen Anleitung geben kann.

Wendet zuerst den Blick nach innen, rät er uns, und sorgt dafür, dass mit Geist und Herz alles zum Besten steht. Von dieser inneren Ausgeglichenheit aus könnt ihr dann den Blick nach außen richten und euch fragen, was ihr Gutes tun könnt.

Er rät uns auch, uns nicht von schlimmen Nachrichten entmutigen zu lassen, da sie nicht das Ganze repräsentieren, sondern nur einen kleinen Teil, nur die Oberfläche. Darunter liegt ein Meer von Feinfühligkeit und Freundlichkeit, das jeder Einzelne von uns noch vergrößern kann.

Ich habe in den letzten Jahren viel über Führung geschrieben und denke, dass der Dalai Lama allen Menschen mit Führungsverantwortung etwas mitteilen kann. Und wie wir sehen werden, schließt seine Vision für eine bessere Welt niemanden aus, sondern spricht jede Gesellschaftsschicht und alle Menschen an, überall auf der Welt. Seine Botschaft richtet sich nicht an Auserlesene oder Eingeweihte, sondern an uns alle.

Er schreibt uns auch nicht vor, wie wir aktiv werden sollen. Zwar hat er ganz bestimmte Ziele im Sinn, aber er überlässt es uns, ob wir ihm darin folgen wollen oder nicht, und falls ja, was wir dann unternehmen.

Er hat kein Interesse an unserem Geld oder unseren »Likes«, und er braucht uns nicht als »Followers«. Er bietet seine Sicht des Lebens einfach dar, gratis. Wir können zugreifen oder eben nicht.

Das Erfrischende an seiner Botschaft liegt für mich darin, dass keine versteckten Absichten dahinterstecken und sich alles um ein zentrales Ordnungsprinzip dreht: echtes Mitgefühl. Und da er so tief um die Verbundenheit aller Menschen weiß, gilt seine liebevolle Zuwendung uns allen.

In Gesprächen mit hohen Verantwortungsträgern, sei es in Davos oder Washington, höre ich immer wieder die gleichen Klagen: Unsere zentralen Wertvorstellungen sorgen dafür, dass die Reichen die Armen einfach ihrem Schicksal überlassen, dass weltumspannende Systeme ihrem Untergang entgegengehen und die Regierungen angesichts all der dringenden Aufgaben wie gelähmt wirken und weitgehend untätig bleiben. Wir brauchen, heißt es dann weiter, Orientierungsgestalten einer neuen Art, die endlich Schluss machen mit diesem Mix aus Zynismus und Eigennutz, von dem keine lebenswerte Zukunft mehr zu erwarten ist.

Je bekannter wir sind, desto mehr Menschen orientieren sich an uns. Der Dalai Lama spricht Millionen an, und dadurch fällt ihm eine Rolle für die ganze Welt zu. Er ist ein Weltbürger geworden, seit über einem halben Jahrhundert überall auf der Welt unterwegs, und das jedes Jahr für etliche Monate. Die Anliegen der Welt sind wahrhaft seine.

Hohe Verantwortungsträger lenken unsere Aufmerksamkeit und bündeln unsere Kräfte in Richtung dessen, worauf es nach ihrer Einsicht ankommt. Bisher waren das allerdings fast ausschließlich die dringendsten kurzfristigen Ziele – die Quartalszahlen, die anstehenden Wahlen und dergleichen.

Im Wirtschaftsteil der Zeitung erfahren wir, woran man wirklich gute Führungskräfte erkennt: Sie entwickeln schlaue Strategien, mit denen man seiner Firma Marktanteile und satte Gewinne sichert, und immer wieder werden Topmanager gefeiert, denen es am besten gelingt, die Gewinne ihrer Firma legal am Fiskus vorbeizuschleusen. Und wenn Regierungsmitglieder einmal Pläne umzusetzen versuchen, die nicht ganz so kurzsichtig sind wie die Aktionen der Tagespolitik, scheitern sie in der Regel an der Trägheit des Systems.

So beschränken sich die meisten darauf, innerhalb dieser mehr oder weniger engen Grenzen »das Machbare« zu tun, was meist auf die Durchsetzung bestimmter Gruppeninteressen hinausläuft. Der Dalai Lama dagegen ist an keine Vorgaben gebunden, und das gibt ihm die Freiheit, unserem Denken so viel Spielraum zu schaffen, dass wir überlegen können, wie unser bestehendes System zum Nutzen möglichst vieler Menschen verändert werden kann.

Das macht ihn zu einer Führungsgestalt des Wandels: Er kann es sich leisten, über die Gegebenheiten der derzeitigen Realität hinauszublicken und Wege in eine bessere Zukunft für die ganze Welt aufzuzeigen. Menschen wie er besitzen einen weiten Horizont und können sich auch unseren größten Herausforderungen zuwenden, da sie in die Zukunft denken und das im Blick haben, was über das Tagesgeschehen hinaus für uns alle zählt.

Sie handeln nicht im eigenen persönlichen Interesse oder dem ihrer Gruppe oder Organisation, sondern für uns alle, für die Menschheit. Die Welt sehnt sich nach dieser Art von Führung, und da sie von den bestehenden Machteliten alles in allem nicht geboten wird, brauchen wir gerade solche Stimmen wie die des Dalai Lama.

Je altruistischer die Leitwerte, je weiter der Zeithorizont und je allgemeingültiger die von einer Orientierungsgestalt angesprochenen Bedürfnisse sind, desto größer wird die Vision dieses Menschen sein. Wahre Leitfiguren des Wandels dienen transzendenten Zwecken und weisen den Weg in eine neue Realität, und das ist es, was mich an der Vision des Dalai Lama so ganz besonders anspricht.

Man mag sich fragen, was gerade den Dalai Lama zu einer solchen Leitfigur macht. Zwar fühlen sich viele Menschen weltweit von seiner Ausstrahlung angezogen und bewundern seine Weisheit und sein Mitgefühl, aber wenige erkennen ihn als zukunftsweisenden Visionär, der unsere Probleme und ihre Lösungen aus einer globalen Perspektive und über Jahrhunderte hinweg betrachtet – und spürt, was nötig sein wird, wenn wir unserer künftigen Realität gewachsen sein wollen.

Der Dalai Lama hat bei seinen Reisen rund um den Globus immer zwei Arten von Zuhörern gehabt: einerseits die am Buddhismus interessierten Teilnehmer bei seinen religiösen Unterweisungen, und zum anderen ein allgemeines Publikum bei seinen öffentlichen Vorträgen. Bedingt durch das, was er als seinen persönlichen Auftrag empfindet, schwindet mit den Jahren seine Neigung, zu immer den gleichen Versammlungen von Buddhisten zu sprechen. Anders gesagt: Seine öffentlichen Vorträge nehmen zu, seine religiösen »Auftritte« ab.

Wenn er seine Vision erläutert, spricht er jeden von uns an, nicht als religiöser Würdenträger, sondern als globale Führungspersönlichkeit, als einer, dem das Wohl jedes einzelnen Menschen auf dieser Erde am Herzen liegt.

Während ich dies schreibe, geht dieser Mann auf seinen achtzigsten Geburtstag zu. Es ist ein guter Zeitpunkt für die Niederschrift einer Botschaft und Wegbeschreibung des Dalai Lama an alle Menschen.

Die Vision

Vor einigen Jahren hieß es in einem provokativen Artikel über den »Tod des Umweltbewusstseins«, die Bewegung sei aufgrund ihrer vielen Untergangsszenarien allzu negativ geworden. [9] Martin Luther King, so wurde es dort pointiert formuliert, eroberte die Herzen der Menschen nicht mit der Schilderung eines Alptraums, sondern mit den Worten: »I have a dream.«

Wir handeln zupackender und mitreißender, wenn uns die Vision einer besseren Zukunft leitet, eine Vorstellung von erfreulicheren Verhältnissen, wie sie eines Tages herrschen könnten. Wie das Leben sein könnte – dieser Gedanke weckt Originalität und regt zu neuen Ideen an.

Um zu überleben, keine Frage, müssen wir uns klar vor Augen führen, was falschläuft. Aber um die Fülle des Lebens zu genießen, müssen wir einer Leitvorstellung folgen können, einem Polarstern, einem GPS anderer Art, das den Weg in ein erfreulicheres Morgen zeigt. Wenn der Dalai Lama von seiner Vision für unsere gemeinsame Zukunft spricht, hält er sich nicht bei all dem auf, was noch im Argen liegt, sondern lenkt unseren Blick auf die Möglichkeiten der Entwicklung zum Besseren.

Jonathan Swift definierte »Vision« als »die Kunst, das Unsichtbare zu sehen«. [10] Die Vision des Dalai Lama fordert uns auf, jenseits der trüben und düsteren Medienbotschaften, die wir täglich empfangen, auch Möglichkeiten und Chancen zur Veränderung zu erkennen.

Auf seinen Reisen hat der Dalai Lama immer wieder Bruchstücke dieser Wegbeschreibung in eine bessere Zukunft formuliert, aber das Ganze ist noch nie in seinem Zusammenhang in einem einzigen Buch dargestellt worden. Unter seiner Anleitung skizziere ich diese Vision hier als eine Abfolge ineinandergreifender Situationsbeschreibungen, in denen ich die Darstellung des Dalai Lama im Zusammenhang mit realen Beispielen beleuchte, das heißt mit Leuten und Initiativen, die bereits an der Realisierung dieser Vision arbeiten.

Es beginnt mit dem, was der Dalai Lama »emotionale Hygiene« nennt: Wir sorgen selbst für einen klügeren Umgang mit unserem Denken und Fühlen, was auf eine Schwächung destruktiver Emotionen und den Aufbau einer positiven Seinsweise hinauslaufen muss.

Sobald wir unser Denken und Fühlen in diesem Sinne beherrschen, können wir die menschlichen Werte besser im Blick behalten, ausbauen und umsetzen. Diese Werte bilden eine universale Ethik auf der Basis der Einheit aller Menschen und bekunden sich als Mitgefühl allen gegenüber.

Was er als Ausgangspunkt und Basis dieser durch Selbstzügelung ermöglichten Ethik des Mitgefühls sieht, mag uns zunächst überraschen. Er geht hier nämlich von keiner Religion oder Ideologie aus, sondern von empirischen Befunden. Der Menschheit wäre nach seiner Auffassung mit einer »Wissenschaft des Mitgefühls« geholfen, die menschlichen Werten eine sichere Grundlage gibt.

Kraftvolles Mitgefühl wird zum Antrieb eines entschlossenen Handelns, das schädliche gesellschaftliche Kräfte wie Korruption, geheime Absprachen und Voreingenommenheit ans Licht bringt und zur Rechenschaft zieht. Entfesseltes Mitgefühl wird zu einer Art Messlatte für die Verbesserung von (beispielsweise) Wirtschaft, Politik und Naturwissenschaft. In der Umsetzung bedeutet das Transparenz, Fairness und Rechenschaftspflicht, an der Börse ebenso wie bei der Wahlfinanzierung oder in der Berichterstattung.

In der Wirtschaft würde eine Ethik des Mitgefühls dafür sorgen, dass man die Verteilung der Güter und nicht nur ihre Anhäufung im Blick hat. Eine mitfühlende Wirtschaft ist nicht auf Habgier angelegt, sondern berücksichtigt die Interessen und Bedürfnisse aller. Jedes Unternehmen kann Gutes tun, auch wenn es dabei für sein eigenes Wohlergehen zu sorgen hat.

Von Mitgefühl geprägte Werte implizieren natürlich auch das Gebot, sich um die Bedürftigen zu kümmern – die Armen, die Machtlosen, die Entrechteten. Dabei kann es aber nicht lediglich um milde Gaben gehen, sondern bedürftige Menschen müssen, wo immer es möglich ist, dahin gebracht werden, dass sie sich selbst versorgen und aus eigenen Kräften in Würde leben können.

Die Erde ist unser Haus, und unser Haus steht in Flammen, mahnt der Dalai Lama. Allzu vieles, was der Mensch tut, untergräbt die lebenserhaltenden Systeme dieses Planeten, aber gemeinsam können wir die Erde heilen.

In einer Zeit der allenthalben auflodernden ethnischen Konflikte erkühnt sich der Dalai Lama, das Bild einer langfristigen Friedensstrategie zu zeichnen. Er sieht den Tag kommen, von dem an alle Streitigkeiten im Dialog bewältigt und nicht mehr in Kriegen ausgetragen werden. Die Mentalität der Gegnerschaft zwischen Gruppen, Völkern und Staaten wird dann überwunden sein.

Diese Vision reicht weit in die Zukunft und sieht ein Erziehungssystem der Herzensbildung kommen, in dem man lernt, wie Selbstbeherrschung und Fürsorglichkeit heranzubilden sind und wie man nach diesen Werten lebt. In einer Welt, in der solch eine Erziehung die Norm wäre, würden spätere Generationen ganz selbstverständlich mitfühlend handeln.

Schließlich der dringende Aufruf des Dalai Lama, jetzt zu handeln und uns in jeder erdenklichen Weise und unter Nutzung aller sich bietenden Mittel in Richtung dieser Vision zu bewegen. Die Veränderungen werden einen langen Zeitraum in Anspruch nehmen, und es ist wichtig, uns jetzt auf den Weg der Evolution zum Mitgefühl zu machen, auch wenn wir die Erfüllung selbst nicht mehr erleben werden. Jeder kann hier etwas tun, jeder kann eine Rolle spielen. Unser entschlossener Einsatz kann darauf hinauslaufen, dass wir die Zukunft neu erfinden.

Die angesprochenen Elemente wirken synergetisch, sie ergänzen und verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung. Wir können die Vision des Dalai Lama als eine Reihe ineinandergreifender Wegentscheidungen auffassen, die unser Leben und die Gesellschaft in eine bessere Zukunft steuern.

Die vom Dalai Lama angesprochene Alternative zum »Weiter so« hat gerade heute ihren Reiz, wo immer mehr Menschen erkennen, dass Macht, Reichtum und Ruhm nicht halten, was sie zu versprechen schienen, dass Hektik und Hetze bis zur Erschöpfung sinnlos sind und dass ein Leben in Großzügigkeit, Klarheit und Freude weitaus befriedigender ist.

Die Vision gilt wie gesagt nicht nur für unser persönliches Leben, sondern bietet so etwas wie Bauprinzipien für eine Gesellschaft, die das Beste im Menschen hervorlockt. Ihr liegen keine nicht begründbaren Glaubenssätze zugrunde, sondern Wissenschaft und menschliche Grundwerte – und sie spricht uns alle an.

Mit diesem Ansatz geht der Dalai Lama über seine eigentlichen Wurzeln hinaus. Er spricht nicht mehr nur für Buddhisten und Tibeter, sondern für alle jetzt lebenden Menschen und alle, die noch kommen.

Für die Menschheit geht es hier um mehr und Besseres, als das triste tägliche Einerlei der Nachrichten vermuten lässt. Die angesprochenen Möglichkeiten sind keine utopischen Spinnereien, sondern es wird in verschiedenen Ansätzen bereits heute praktisch daran gearbeitet. Manche orientieren sich explizit an den Worten des Dalai Lama, andere sind unabhängig entstanden, aber vom gleichen Geist. Die Ziele sind hoch gesteckt, aber es gibt, wie wir noch sehen werden, bereits ermutigende Resultate.

Zur Umsetzung der Vision des Dalai Lama gibt es begleitend zu diesem Buch eine Internetplattform, auf der sich alle, die sich angesprochen fühlen, zusammenfinden können: www.joinaforce4good.org. Wenn Sie sich der Kraft zum Guten anschließen möchten, finden Sie dort weitere Quellen: Anleitungen, nach denen Sie aktiv werden oder eigene Ideen für mögliche Aktionen entwickeln können.