Die Macht unserer Gene - Daniel Wallerstorfer - E-Book

Die Macht unserer Gene E-Book

Daniel Wallerstorfer

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Beschreibung

Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge leidet jeder Mensch unter mindestens 2.000 Gendefekten. Sie lassen unser Immunsystem schlechter funktionieren, führen zu Arthrose und Osteoporose, können Diabetes und Sehschwäche verursachen, und sie machen dick. Aber Gene sind kein Schicksal mehr. Der Molekularbiologe Dr. Daniel Wallerstorfer zeigt, wie wir mit der richtigen Vorsorge, guter Ernährung und dem geeigneten Lebensstil unsere Erbanlagen steuern und unsere Gesundheit kontrollieren können.

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Seitenzahl: 283

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Hinweis

Impressum

Widmung

Ein paar Worte vorweg

1 Gene: Anweisungen der Natur

2 Die Gene und der Brustkrebs

3 Wenn die Eisenspeicher überquellen

4 Das Blutgerinnsel und die Rolle der Gene

5 Viren: Genetisches Gift oder geniale Therapie?

6 Pharmakogenetik: Wie unsere Gene die Wirkung von Medikamenten beeinflussen

7 Genetische Zeugen der Steinzeit: die Sache mit der Laktoseintoleranz

8 Gluten und das falsch programmierte Immunsystem

9 Unser genetisches Gewicht

10 Antioxidantien: Feuerwehr des Körpers

11 Die Seefahrerkrankheit

12 Wenn wichtige Nährstoffe nicht wirken

13 Die Blutfette und unsere genetische Müllabfuhr

14 Und jetzt erst mal eine Zigarette!? Wie Gene unser Suchtverhalten beeinflussen

15 Das asiatische Glühen

16 Das Geheimnis der Kraft- und Ausdauer-Gene

17 »Man sieht Ihnen Ihr Alter gar nicht an!«

Exkurs Der Traum vom ewigen Leben

… und noch ein paar Worte zum Schluss

Quellenverzeichnis

Anmerkungen

Über dieses Buch

Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge leidet jeder Mensch unter mindestens 2.000 Gendefekten. Sie lassen unser Immunsystem schlechter funktionieren, führen zu Arthrose und Osteoporose, können Diabetes und Sehschwäche verursachen, und sie machen dick. Aber Gene sind kein Schicksal mehr. Der Molekularbiologe Dr. Daniel Wallerstorfer zeigt, wie wir mit der richtigen Vorsorge, guter Ernährung und dem geeigneten Lebensstil unsere Erbanlagen steuern und unsere Gesundheit kontrollieren können.

Über den Autor

Dr. Daniel Wallerstorfer, 1982 in Salzburg geboren, ist Molekularbiologe und promovierter Biotechnologe. Zu seinen Fachgebieten zählen die medizinische und die Lifestyle-Genetik sowie die Nutrigenetik. 2009 gründete er in Salzburg die Novogenia GmbH. Ihr Ziel: Menschen mithilfe von Genanalysen zu einem gesunden und glücklichen Leben zu verhelfen. Bis heute hat sein Labor mehr als 200.000 Menschen genetisch analysiert.

DR. DANIEL WALLERSTORFER

DIE MACHTUNSERERGENE

Wie Sie mit dem Wissenüber Ihre Anlagen gesund bleiben

Hinweis

Die Inhalte in diesem Buch sind von Autor und Verlag sorgfältig erwogen und geprüft worden. Sie ersetzen jedoch keinen Arztbesuch. Alle Angaben in diesem Buch erfolgen daher ohne jegliche Gewährleistung oder Garantie seitens des Verlags oder des Autors. Eine Haftung des Verlags oder des Autors und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ebenfalls ausgeschlossen.

Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden in diesem Buch zudem die Namen einiger im Text erwähnter Personen verändert.

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Swantje Steinbrink, Berlin

Umschlaggestaltung: U1berlin / Patrizia Di Stefano unter Verwendung einer Illustration von © Tomas Rodriguez, Köln

Illustrationen im Innenteil: © Daniel Wallerstorfer

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

978-3-7517-0427-4

Sie finden uns im Internet unter luebbe-life.de

Bitte beachten Sie auch: lesejury.de

Für meine Mutter Theresia,von der ich Selbstständigkeit, ethisches Handelnund vor allem den Glauben an michund meine Fähigkeiten gelernt habe.

Für meinen Vater, von dem ich gelernt habe,dass einzelne Menschen durch Ehrgeiz,harte Arbeit und Durchhaltevermögendie Welt verändern können.

Euch beiden verdanke ichden bestmöglichen Start ins Lebenund vor allem, der Mensch

Ein paar Worte vorweg

Alles begann mit Dinosauriern. Als ich vier war, schenkten mir meine Eltern ein Buch über Dinosaurier. Wie wohl jeder Junge dieses Alters war ich sofort begeistert und fest entschlossen, Dinosaurierforscher zu werden. Ich sah mich schon mit Schaufel und Zahnbürste bewaffnet in der Wüste nach Fossilien graben. Die Jahre vergingen, und während die Kinder um mich herum Interessen wie Fußball und Tennis entwickelten, blieb ich meiner Faszination für Dinosaurier treu.

Mit elf reiste ich in ein Sommercamp nach Canterbury, um Englisch zu lernen. Eines Abends ging ich zusammen mit den anderen Kindern und unserem Betreuer ins Kino, um uns den Film Kevin – Allein in New York anzusehen. Doch kaum war ich mit der Gruppe durch den Einlass, waren die anderen verschwunden, und ich stand allein in der Halle vor mehreren Kinosälen. Daniel – Allein im Kino. Als ich mich nach kurzem Schreck damit abgefunden hatte, stahl ich mich in irgendeinen der Kinosäle und setzte mich in die freie erste Reihe. Und dann begann der Film, der mein Leben verändern sollte. Jurassic Park. Dinosaurier auf der Leinwand. Das war genau mein Ding! Nach den 120 spannendsten Minuten meines jungen Lebens wusste ich: »Ich will Dinosaurier klonen!« Hier verband sich meine Begeisterung für Dinosaurier mit der neuen Begeisterung für die Möglichkeiten der Gentechnik und Molekularbiologie.

Die Ernüchterung folgte natürlich auf dem Fuße, denn als Elfjähriger darf man keine Dinosaurier klonen, geschweige denn wissen, wie das gehen könnte. Insofern blieb mir nichts anderes übrig, als den mühsamen Weg durch Schule und Universität zurückzulegen, um schließlich die Grundsätze und Techniken der Genetik zu beherrschen. Da ich mit den Jahren nicht nur wissender, sondern auch erwachsener geworden bin, interessierten mich neben Dinosauriern alsbald auch Humangenetik und Evolution. Womit ich jedoch haderte, war die Herangehensweise der medizinischen Genetik: Schadensbegrenzung statt Vorsorge. Dabei sind die meisten Gendefekte, die Krankheiten auslösen, von Geburt an vorhanden und entwickeln sich oft erst nach etlichen Jahren zu schweren Krankheiten. Wüssten wir nun, dass dieses genetische Risiko in uns schlummert, wären wir in vielen Fällen in der Lage, das Entstehen der Krankheit zu verhindern. Und genetische Krankheitsrisiken sind wahrlich keine Seltenheit. Experten schätzen, dass jeder Mensch etwa 2000 Gendefekte in sich trägt, die seine Gesundheit negativ beeinflussen. Trotzdem beschränkt sich die traditionelle Schulmedizin auf die Schadensbegrenzung. Das heißt, man wartet, bis die Erkrankung da ist, bestätigt die Ursache der Erkrankung bisweilen mithilfe eines Gentests und versucht dann, den Schaden bestmöglich, jedoch meist wenig erfolgreich zu minimieren.

Ich habe dieses Buch deshalb mit dem Ziel geschrieben, interessierten Menschen ohne Fachausbildung in Genetik einen erhellenden Einblick in die Welt der Gene zu ermöglichen. Dabei habe ich mich um eine allgemeinverständliche Sprache bemüht und bewusst auf fachspezifische Spitzfindigkeiten verzichtet. Oder interessiert es Sie, dass Genwissenschaftler nicht einfach von einem Gendefekt sprechen, sondern präzise zwischen Mutation, Genvariation, Polymorphismus, Deletion, Insertion etc. unterscheiden? Insofern mögen es mir einzelne Fachleute verübeln, wenn ich hie und da dem Fachchinesisch ausweiche, aber die meisten Menschen können nun mal mit Sätzen wie »Sie ist eine heterozygote Trägerin eines Polymorphismus im Breast Cancer 1 Gen, der durch ein frühzeitiges Stopcodon die Aminosäurenkette verkürzt« weniger anfangen als mit der sinngemäß gleichwertigen Aussage: »Eines ihrer beiden Anti-Brustkrebsgene ist defekt.«

Abgesehen davon gilt es, im Hinterkopf zu behalten, dass die Biologie keine mathematisch exakte Wissenschaft ist. So variieren die Häufigkeiten bestimmter defekter Gene in der Bevölkerung zum Beispiel nicht nur von Asiaten zu Europäern, sondern auch zwischen Nachbarländern und sogar von Kleinstadt zu Kleinstadt. Daher gibt es für viele in diesem Buch genannten Häufigkeiten oder genetischen Risiken eine Spanne wie »46 bis 85 Prozent tragen diesen Gendefekt«. Da ich es jedoch bevorzuge, ein Risiko zu überschätzen, statt es zu unterschätzen, halte ich mich generell an das obere Ende der bekannten Häufigkeit bzw. des Risikos, wenn ich Zahlen oder Statistiken erwähne.

Und nun hoffe ich, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches zu der Erkenntnis gelangt sein werden, dass jeder von uns genetische Stärken und Schwächen hat und dass wir gut daran tun, unsere Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen.

Viel Vergnügen auf Ihrer Reise in die Welt der Gene!

Ihr

Daniel Wallerstorfer

1Gene: Anweisungen der Natur

Bevor wir in die Materie eintauchen, sollten wir erst einmal der Frage nachgehen, was Gene eigentlich sind. Bestimmt kennen Sie die Redewendung: »Das muss wohl in den Genen liegen.« Gene, so viel ist also schon mal klar, haben etwas mit den spezifischen Eigenschaften eines Individuums zu tun, die – wiederum in Form der Gene – vererbt, sprich an unsere Kinder und Kindeskinder weitergegeben werden können.

Da ich meine eigenen Gene schon ausführlich analysiert habe, sind sie als Anschauungsmaterial für einen genetischen Bauplan geradezu prädestiniert. Somit lade ich Sie hiermit herzlich auf eine Entdeckungstour in eine meiner Zellen ein.

Beginnen wir mit einem Blick auf meinen rechten Handrücken. Was wir dort sehen, ist Haut, die aus Millionen einzelner Zellen besteht. Die Haut hat nur vier verschiedene Zelltypen, während die etwa 30 Billionen Zellen meines restlichen Körpers zu rund 200 verschiedenen Zelltypen gehören, darunter sind Gehirnzellen, Knochenzellen, Leberzellen und diverse Blutzellen.

Fast jede Zelle enthält meinen kompletten genetischen Bauplan. Einige Zelltypen werden hingegen ohne Zellkern und Gene produziert, so beispielsweise die roten Blutzellen; und andere Zellen wie Spermien und Eier enthalten nur die Hälfte des genetischen Bauplanes. Wir aber schauen uns jetzt mal eine (Haut-)Zelle mit meinem kompletten genetischen Bauplan an. Dazu müssen wir meinen Körper etwa eine Million Mal vergrößern, bis ich gut 2000 Kilometer groß bin und die Internationale Raumstation in Kniehöhe an mir vorbeizischt. Meine sonst nur 100 Mikrometer kleinen Zellen sind jetzt so groß wie ein Hochhaus. Im Zentrum jedes »Zellenhochhauses« befindet sich ein etwa sechs Meter großer Raum mit einer Bibliothek – der Zellkern – samt vielen sehr dicken Büchern. Alle Bücher zusammen enthalten die Bauanleitung meines Körpers, auch Erbgut genannt. Lediglich 13 Gene (0,06 Prozent), die Mitochondriale DNA1, schwirren außerhalb der Bibliothek im Gebäude herum. Der Rest ist in der Bibliothek enthalten.

In der Bibliothek jedes anderen der 30 Billionen Nachbargebäude stehen übrigens exakt die gleichen Bücher mit genau den gleichen Inhalten2.

Die Bibliothek des menschlichen Körpers

Wenn wir nun schon mal in einer Bibliothek sind, sollten wir auch einen Blick auf die Bücher werfen. Zunächst fällt auf, dass es sich um nur 23 unterschiedliche Titel handelt. Auf dem dicksten Buch steht: Chromosom 1. Es hat einen Umfang von sage und schreibe 69 000 DIN-A4-Seiten (sofern der genetische Code jedes Chromosoms in normaler Schriftgröße gedruckt ist).

Das zweitdickste Buch trägt den Titel: Chromosom 2, ist mit 67 000 Seiten aber nur wenig schmaler als das erste. Tatsächlich sind alle nun folgenden Titel immer ein bisschen dünner, bis wir bei dem Titel Chromosom 22 mit nur 14 000 Seiten angekommen sind. Titel Nummer 23 ist etwas anders; den sehen wir uns später gesondert an.

Interessanterweise gibt es von jedem der 22 Titel ein inhaltliches Pendant. Der einzig erkennbare Unterschied ist, dass das eine Buch einen rosa und das andere einen blauen Umschlag hat.

Abbildung 1: Die genetische Bibliothek

Gespannt darauf, was in dem Bauplan meines Körpers steht, holen wir uns eine Stehleiter, klettern zu dem rosa Buch mit dem Titel Chromosom 1 und schlagen die erste Seite auf. Aber was ist das denn? Ein Buchstabenwirrwarr ohne erkennbaren Inhalt. Wir blättern auf die nächste Seite, aber auch dort nichts als bedeutungslose Buchstabenreihen. Frustriert blättern wir eine Seite nach der anderen um, bis wir plötzlich am unteren Rand der Seite 18 Wörter entziffern können:

»(…) acgcgtattagctcgatcgtacgccgcgatgctgcatgctagc wenn ein stark riechender Stoff erkannt wird, informiere die Zelle gccgcaactgcgatgcatgcccatagctgatgccgat (…)«

Hurra! Wir haben das erste Gen in meinem Chromosom 1 gefunden. Dieses Gen heißt OR4F5 und ist in Zellen der Nasenschleimhaut aktiv. Es erklärt dem Körper, wie er Gerüche erkennt und diese Information an die Zelle weiterleitet, die daraufhin das Gehirn informiert. Natürlich steht diese Anweisung nicht in deutschen Wörtern im genetischen Code, sondern in einer für die Zelle entzifferbaren biologischen Sprache, die ich hier aber der Einfachheit halber für Sie übersetzt habe.

Gut zu wissen!

Jedes Gen ist in jeder Körperzelle vorhanden, aber nur dort aktiv, wo es gebraucht wird.

Blättern wir also tapfer weiter. Mal sehen, wo wir auf mein zweites Gen stoßen. Auf Seite 239 ist es so weit: das Gen SAMD11: »(…) gcgtattagcttttcgatcgtgacgctgaaaattagca entwickle in der Netzhaut des Auges lichtempfindliche Rezeptoren, um das Sehen zu ermöglichen ggtgcttatacttctgtgcccatgccgctagatagctgcc ctagcgatgcctgatgtacattag (…)«

Dieses Gen ist also wichtig, damit die Netzhaut weiß, wie sie Licht erkennen und die entsprechende Information an das Gehirn weiterleiten kann. Aber nun weiter im Takt … Bereits nach sechs Seiten entdecken wir das Gen NOC2L, das dem Körper erklärt, welche Gene wann und wo aktiviert werden müssen bzw. dürfen.

Eines ist inzwischen deutlich geworden: Gene sind nichts anderes als präzise Anweisungen für bestimmte Körperfunktionen.

Seite um Seite arbeiten wir uns vor. Auf Seite 3247 finden wir zum Beispiel das MTHFR-Gen: »Wandle Folsäure in die aktive Form 5MTHF um«, und auf Seite 47 094 das sogenannte Faktor-5-Gen: »In den Adern muss das Blut flüssig bleiben, damit sich kein Blutgerinnsel bildet.« Auf den gesamten 69 000 Seiten des rosa Chromosom 1-Buches sind 2058 verschiedene Gene beziehungsweise Anweisungen notiert. So enthält jeder Titel der rosa Bände eine gewisse Anzahl weiterer Anweisungen. Chromosom 15 beispielsweise enthält auf Seite 7710 das OCA2-Gen: »Mache einen braunen Farbstoff in den Augen«, und Chromosom 16 weist auf Seite 19 363 das NQO1-Gen auf: »Wandle den Stoff Coenzym Q10 in die aktive Form Ubiquinol um, und schütze so vor schnellerem Altern.«

Bisher haben wir ja nur in den rosa Büchern geblättert, doch was hat es mit dem jeweils blauen Pendant auf sich?

Neugierig schlagen wir mal die Seite 7710 im blauen Buch Chromosom 15 auf – und siehe da, die bedeutungslosen Buchstabenreihen sind identisch mit denen im rosa Buch. Doch dann stellen wir erstaunt fest, dass das OCA2-Gen eine andere Anweisung enthält: »Mache keinen braunen Farbstoff in den Augen, und lasse sie dadurch grün aussehen.« In meinem genetischen Code gibt es also zwei Versionen des OCA2-Gens. Wie kommt es dann aber, dass ich dunkelbraune Augen habe? Ganz einfach: Wenn das rosa Buch sagt »Mache (…)!« und das blaue Buch »Mache nicht!«, dann übertrumpft das produzierende Gen das nicht produzierende Gen – und die Augen werden braun. Die eine Anweisung ist also stärker als die andere.

Wenn ich Ihnen nun erzähle, dass meine Mutter braune Augen hat und mein Vater grüne, leuchtet es ein, dass jeder Titel in einer blauen und in einer rosa Fassung vorhanden ist. Die blauen Bücher habe ich von meinem Vater geerbt, die rosa Bücher von meiner Mutter. Das heißt, ich habe auch sämtliche Gene und die darin enthaltenen Anweisungen beider Elternteile geerbt.

Jeder Mensch3 hat von jedem Gen in den 22 Chromosom-Bänden zwei Fassungen, die eine vom Vater, die andere von der Mutter. Und mal ist die eine Genversion stärker, mal die andere.

Läsen wir alle 44 Bücher in der Bibliothek, hätten wir am Ende rund 23 000 verschiedene Gene mit ebenso vielen genetischen Anweisungen gefunden, jeweils umgeben von unverständlichen Buchstabenreihen.

Abbildung 2: Mit 69 000 Seiten und 2058 verschiedenen Genen ist das Chromosom 1 das umfangreichste Buch der genetischen Bibliothek.

Genetische Schreibfehler

Nun möchte ich Ihnen etwas Interessantes zeigen. Dafür schlagen wir das rosa Buch Chromosom 2 auf Seite 37 719 auf. Hier liegt das LCT-Gen: »Wenn der Milchzucker Laktose im Darm entdeckt wird, muss dieser in zwei kleinere Zucker (Glukose und Galaktose) gespalten werden, damit diese aufgenommen werden können und keine Verdauungsbeschwerden entstehen.« Dieses Gen erklärt meinem Körper also, wie er mit Laktose umgehen soll, damit ich sie vertrage. Mal sehen, was der entsprechende blaue Band an dieser Stelle sagt. Wieder schlage ich Seite 37 719 auf und entdecke in dem ansonsten identischen Text einen Schreibfehler: »Wenn der Milchzucker Xaktose im Darm entdeckt wird, muss dieser in zwei kleinere Zucker (Glukose und Galaktose) gespalten werden, damit diese aufgenommen werden können und keine Verdauungsbeschwerden entstehen.« Na, so was. Während das LCT-Gen meiner Mutter in seiner Anweisung verständlich ist, macht der Rechtschreibfehler in dem LCT-Gen meines Vaters die Anweisung zunichte.

Glücklicherweise ist es für die Verdaulichkeit von Milchprodukten ausreichend, wenn eine der beiden Genversionen die Anweisung enthält. Der Körper ist nämlich in der Lage, die Anweisung in dem von der Mutter geerbten Buch zu lesen und korrekt auszuführen. Wäre der Rechtschreibfehler in beiden Genen vorhanden, wüsste mein Körper nicht, wie er Laktose verdauen soll, und ich litte unter Laktoseintoleranz (siehe auch Seite 90).

In meiner Bibliothek finden sich etwa 2000 solcher als Gendefekt bezeichnete Schreibfehler, die meine Gesundheit auf die eine oder andere Weise negativ beeinflussen.

Nehmen wir ein anderes Beispiel und schlagen Seite 31 664 im Buch namens Chromosom 16 auf. Dort finden wir das CETP-Gen mit der Anweisung: »Sorge dafür, dass ausreichend HDL-Cholesterin im Blut vorhanden ist.« Dieses Gen stellt also sicher, dass ich genug von dem guten Cholesterin (dazu siehe Seite 136) im Blut habe, womit wiederum meine Herzgesundheit gewährleistet ist. Vergleichen wir die Gene jedoch in beiden Büchern, sehen wir, dass das eine bei mir normal funktioniert, während das andere einen Schreibfehler enthält und folglich von meinem Körper nicht gelesen werden kann. Im Vergleich zum LCT-Gen mit der Laktoseintoleranz reicht es bei diesem Gen leider nicht, wenn nur eines der beiden Gene ordnungsgemäß funktioniert. Diese Gene sind von Natur aus als Team vorgesehen. Mein Schutz gegen schlechte HDL-Cholesterinwerte ist also nur halb so stark, wie er sein könnte, weshalb sich das HDL-Cholesterin bei der jährlichen Blutuntersuchung auch stets dem besorgniserregenden Bereich annähert. Wären allerdings beide Gene defekt, sähe das Problem gleich um einiges ernster aus.

Abbildung 3: Ein Schreibfehler im LCT-Gen

Gut zu wissen!

Schreibfehler sind zu 99,9 Prozent geerbt und irgendwann vor Tausenden von Jahren mal in einem Menschen entstanden. Sie können aber auch durch Kopierfehler bei der Zellteilung sowie durch UV-Strahlung, krebserregende und somit DNA-zerstörende Stoffe oder durch Radioaktivität entstehen.

Sonderedition X- und Y-Chromosom

Kommen wir nun, wie bereits angekündigt, zu dem 23. Chromosom-Titel, den es ebenfalls in einer rosa und einer blauen Fassung gibt. Allerdings steht auf dem rosa Umschlag X-Chromosom und auf dem blauen Umschlag Y-Chromosom. Es gibt aber noch einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Büchern: Das rosa Buch ist zweieinhalbmal so dick wie das blaue. Da kann man gespannt sein, inwiefern sich das auf den Geninhalt auswirkt … Der Blick in das Buch X-Chromosom zeigt dasselbe Muster: Hunderte Gene, diesmal sind es 842, mit den unterschiedlichsten Anweisungen, jeweils umgeben von Buchstabengewirr. Schlagen wir nun also das viel dünnere blaue Y-Chromosom-Buch auf. Dort begegnet uns als Erstes das sogenannte SRY-Gen: »Sei ein Mann.« Entsprechend sind die meisten der übrigen 70 Gene Anweisungen für männliche Geschlechtsteile und Fortpflanzung. Demnach ist das SRY-Gen »Sei ein Mann« der Auslöser für das Individuum, sich als männliches Geschlecht zu entwickeln.

Gut zu wissen!

Ist ein Y-Chromosom-Buch in der Bibliothek vorhanden, handelt es sich um ein männliches Menschenkind. Fehlt das Y-Chromosom, so stehen in der Bibliothek stattdessen zwei X-Chromosom-Bücher, was wiederum bedeutet, dass der Mensch weiblich ist.

Das ist insofern bemerkenswert, als Frauen demnach jeweils zwei Exemplare von jedem Gen im X-Chromosom-Buch haben und Männern das zweite X-Chromosom und somit auch jedes der darauf enthaltenen (Reserve-)Gene fehlt. Die Folge: Tritt ein Rechtschreibfehler bzw. Gendefekt auf, besitzen Frauen ein korrektes Reserve-Gen, das die Funktion übernehmen kann; bei Männern hingegen fehlt es. Da habe ich leider in Bezug auf das sogenannte COL4A5-Gen Pech gehabt. Schlagen wir doch mal die entsprechende Seite 30 122 im X-Chromosom-Buch auf. Dort steht: »Produziere den Baustein Nummer 5 von Kollagen, der ein sxarkes Nierengewebe aufbaut.«

Da ist es: Ein Schreibfehler auf meinem X-Chromosom – und das Y-Chromosom kann nicht aushelfen. Dieser Rechtschreibfehler führt zum Alport-Syndrom, einer Erkrankung, bei der das Nierengewebe mit steigendem Alter immer schwächer wird, bis die Nieren irgendwann versagen. Dann bleiben nur noch Dialyse und eine Nierentransplantation. Das relativ seltene Alport-Syndrom4 ist einer von rund 6000 bekannten Gendefekten, die eine 100-prozentige Krankheitswahrscheinlichkeit mit sich bringen. Das heißt, es gibt keinen Weg, diese Krankheit zu verhindern.

Da dieser Gendefekt in meinem rosa X-Chromosom-Buch ist, stammt er eindeutig von meiner Mutter, die aber wegen des intakten COL4A5-Gens auf ihrem zweiten X-Chromosom nicht von der Krankheit betroffen ist.5

Aus eins mach zwei: Faszinosum Fortpflanzung

Zum Abschluss unserer ersten Entdeckungstour möchte ich Ihnen noch etwas Faszinierendes zeigen. Dazu verlassen wir die Hautzelle und wandern in eine Samenzelle, auch Spermium genannt. Dabei handelt es sich um eine Keimzelle, die für die Spermienproduktion verantwortlich ist. Die Bibliothek im Zellkern sieht erst mal genauso aus wie in der Hautzelle. Allerdings müssen wir die Anzahl der dortigen Bücher halbieren, um ein Spermium zu erhalten. Vereint sich dann das Spermium mit der Eizelle, die ebenfalls einen um die Hälfte reduzierten Buchbestand hat, wird diese befruchtet und auf diese Weise die neue vollständige Genbibliothek eines zukünftigen Erdenbürgers erschaffen.

Daher müssen wir die Bücher in der Samenzelle in zwei Gruppen aufteilen, nennen wir sie Spermium 1 und Spermium 2, wobei jede der beiden Gruppen ein eigenständiges Spermium werden wird. Welcher der beiden jeweiligen Chromosom-Bände in welche Spermien-Gruppe kommt, ist prinzipiell egal, wichtig ist nur, dass jedes Spermium ein Exemplar von jedem der 22 Chromosome abbekommt.

Machen wir uns also an die Arbeit und schieben das rosa Buch Chromosom 1 zum Beispiel zu Spermium 1 und das blaue Chromosom 1 zu Spermium 2. Bei Chromosom 2 fällt Ihnen ein, dass das LCT-Gen im blauen Exemplar jenen Schreibfehler hat, der Laktoseintoleranz auslösen kann. Nach kurzem Zögern schieben Sie es zu Spermium 1 und das korrekte rosa Chromosom 2-Exemplar zu Spermium 2.

So teilen wir nach und nach alle Bücher nach dem Zufallsprinzip zwischen beiden Spermien-Gruppen auf, bis Sie schließlich zu den X- und Y-Chromosom-Büchern kommen. Wir erinnern uns: Das Y-Chromosom-Buch enthält die Anweisung, dass das Kind männlich wird. Ob ein Spermium Träger dieser »Sei ein Mann!«-Anweisung enthält, hängt also davon ab, ob es das Y-Chromosom-Buch in seiner Bibliothek hat. Ansonsten wird es ein weibliches Spermium. Sie beschließen, das X-Chromosom-Buch zu Spermium 1 zu geben, folglich kommt das Y-Chromosom-Exemplar zu Spermium 2.

Sobald die Aufteilung der Bücher abgeschlossen ist, beginnen sich das »Zellenhochhaus« und damit die Bibliothek zu spalten, sodass sich zwei kleinere Gebäude beziehungsweise Zellen mit jeweils einer halben Bibliothek bilden, bestehend aus je einem Band der Chromosomen-Reihe. Ist die Zellteilung vollendet, haben wir zwei fertige Spermien (mit jeweils einer halben Bibliothek an nun blauen Büchern).

Das Ergebnis: Spermium 1 hat den Gendefekt mit der Nierenkrankheit (auf dem X-Chromosom) sowie die Anweisung für braune Augen erhalten, während Spermium 2 den Laktoseintoleranz-Defekt (auf dem Chromosom 2) und die Anweisung für grüne Augen in der Genbibliothek hat. Hätten wir die Bücher anders aufgeteilt, wäre eine andere Kombination dabei herausgekommen.

In einer Eizelle passiert übrigens genau dasselbe: Die vollständige Bibliothek (mit zwei X-Chromosomen-Exemplaren!) wird in zwei halbe Bibliotheken aufgeteilt und alle Bücher der beiden neuen Eizellen werden entsprechend rosa. Ob aus einer Befruchtung ein Junge oder ein Mädchen hervorgeht, hängt also immer von dem Spermium ab, denn nur wenn es das X-Chromosom enthält, wird es ein Mädchen.

Da jeder Mann ein X-Chromosom und ein Y-Chromosom in seiner genetischen Bibliothek hat, Frauen hingegen zwei X-Chromosome besitzen, steckt in jedem Mann auch der Bauplan für einen weiblichen Körper, aber nicht umgekehrt. Insofern liegt die biblische Schöpfungsgeschichte, wonach Gott eine Rippe des Mannes nahm und daraus eine Frau kreierte, gar nicht so falsch

Gut zu wissen!

Jedes Spermium des Vaters und jede Eizelle der Mutter ist eine neu zusammengewürfelte Kombination aus guten und schlechten Genen, weshalb jedes Kind, auch von denselben Eltern, ein einzigartiges Lebewesen mit einer einzigartigen Mischung aus angeborenen Stärken und Schwächen ist.6

2Die Gene und der Brustkrebs

Der »Angelina-Effekt«

Am 27. April 2013 erwachte Angelina Jolie im Pink Lotus Breast Center in Los Angeles aus der Vollnarkose. Sie hatte soeben den letzten Schritt einer sogenannten Doppel-Mastektomie abgeschlossen, wobei der Großteil des Brustgewebes entfernt wurde. Diesen gravierenden Eingriff ließ sie durchführen, obwohl sie vollkommen gesund war. Der Auslöser dafür war ein Gentest gewesen, der bestätigte, dass sie einen Gendefekt (auch Mutation genannt) im BRCA1-Gen7 geerbt hat. Dieser ist in Jolies Familie bereits für sechs Krebsfälle verantwortlich. Ihre Cousine, Großtante und Tante sind an Brustkrebs verstorben; Angelinas Mutter, Marcheline Bertrand, verlor nach einem acht Jahre langen Kampf gegen den Eierstockkrebs ihr Leben; ihr Großvater starb an Schweißdrüsenkrebs und ihr Onkel an Prostatakrebs.

»[Meine Kinder und ich] sprechen oft über ›Mamas Mama‹, und (…) sie haben mich gefragt, ob mir das Gleiche passieren könnte. Ich habe ihnen immer gesagt, sie sollten sich keine Sorgen machen«, schreibt Angelina Jolie in ihrem Artikel My medical Choice, der wenige Wochen nach jener letzten OP in der New York Times veröffentlicht wurde. »Aber die Wahrheit ist, dass ich ein ›defektes‹ Gen habe, BRCA1, durch das ich ein erheblich höheres Risiko habe, an Brustkrebs oder einem Ovarialkarzinom8 zu erkranken.«

2008 hatte sich auch Schauspielerin Christina Applegate aufgrund des gleichen Gendefekts für den Eingriff entschieden. Und die Osbourne-Familie ist ebenfalls von einem fehlerhaften BRCA1-Gen betroffen, weshalb sich Sharon Osbourne einer Doppel-Mastektomie unterzogen hat, bei der das gefährdete Gewebe der Brust entfernt wurde. »Als ich herausfand, dass ich das Brustkrebsgen habe, dachte ich, dass die Wahrscheinlichkeit nicht auf meiner Seite ist«, sagte sie in einem Interview mit dem Hello! Magazin. »Ich hatte schon früher Krebs, und ich wollte nicht unter dieser Wolke leben.«

Sharons Tochter Kelly hat diesen Gendefekt geerbt und plant, nach Erfüllung ihres Kinderwunsches, die Operation durchführen zu lassen.

Mittlerweile entschließen sich jedes Jahr beinahe 100 000 Frauen in den USA zu diesem Schritt. Und das tun sie aus gutem Grund: Studien zufolge haben Menschen mit einem defekten BRCA1-Gen eine bis zu 87-prozentige Wahrscheinlichkeit, Brustkrebs zu entwickeln. Zudem tritt diese Form von Brustkrebs in vergleichsweise jungem Alter (bis 45 Jahren) auf. Eine Doppel-Mastektomie wiederum senkt das Brutkrebsrisiko auf etwa 5 Prozent und ist somit niedriger als das 12-prozentige Risiko einer durchschnittlichen Frau ohne derartigen Gendefekt.

Ein defektes BRCA1-Gen hat allerdings noch eine weitere gesundheitliche Konsequenz: Es erhöht auch das Risiko, an Eierstockkrebs zu erkranken, und zwar von den üblichen 1 Prozent auf etwa 40 Prozent. In vielen Fällen lässt sich Eierstockkrebs anhand eines spezifischen Bluttests (CA 125) frühzeitig erkennen. Als dieser Wert bei Angelina Jolie auffällig hoch war, entschloss sie sich mit 39 Jahren, ihre Eierstöcke und Eileiter präventiv entfernen zu lassen – immerhin war ihre Mutter, von der sie den Gendefekt geerbt hatte, damals bereits an Eierstockkrebs erkrankt. Sieben von zehn Trägerinnen des Gendefekts im BRCA1-Gen gehen daher lieber auf Nummer sicher und entschließen sich für die Entfernung des Brustgewebes wie auch der Eierstöcke. Und tatsächlich wird bei etwa jeder zehnten Eierstock-Operation ein bis dahin unerkannter Krebs entdeckt.

Während die Brüste durch plastische Chirurgie wiederhergestellt werden können, hat die Entfernung der hormonproduzierenden Eierstöcke die sofortige Menopause zur Folge. Deshalb werden diese Eingriffe meist erst nach Erfüllen des Kinderwunsches im Alter zwischen 35 und 40 Jahren durchgeführt.

Nachdem Angelina Jolies Artikel über die präventiven Operationen aufgrund des Gendefekts erschienen war, stieg die Zahl der BRCA1-Analysen binnen zwei Wochen um 64 Prozent. Fraglos ist es der Schauspielerin und ihrem offensiven Umgang zu verdanken, dass die Öffentlichkeit für das Thema »Brustkrebsgene und Genanalyse« sensibilisiert wurde. Aktivist*innen protestierten nun auch vermehrt gegen Genpatente, die es nur den Inhabern solcher Patente erlaubte, entsprechende Analysen durchzuführen. Zwanzig Jahre lang ein überaus lukratives Geschäft. Am 13. Juni 2013 aber stellte der Supreme Court der Vereinigten Staaten klar, dass menschliche Gene ein Produkt der Natur sind und deshalb nicht patentiert werden können. Mit diesem Gerichtsbeschluss verfielen die Patente an gut 4300 menschlichen Genen9.

Unsere Gene und der Krebs

Das »Breast Cancer 1 Gene«, abgekürzt BRCA1-Gen, ist das bekannteste Gen seiner Art. Es gibt allerdings noch eine Reihe anderer Gene, die im Fall eines Gendefekts das Risiko, an Krebs zu erkranken, signifikant steigern können.

Um zu verstehen, was Krebs genau ist und welche Rolle unsere Gene dabei spielen, müssen wir in der Evolution gut vier Milliarden Jahre zurückgehen, in eine Zeit, als alles Leben auf der Erde einzellig war. Das heißt, jedes Lebewesen bestand aus einer einzigen Zelle, die sich einfach in zwei Zellen spaltete, um sich fortzupflanzen. Und je schneller diese Zellteilung vonstattengeht, desto höher ist die Überlebenschance der Spezies. So haben schneller wachsende Arten von Einzellern im Laufe von Jahrmillionen die langsamer wachsenden Arten verdrängt und sich kräftig vermehrt. Dabei wurde der Mechanismus der Zelle dank neuer, wachstumsanimierender Gene auf schnellstmögliche Zellteilung optimiert.

Abbildung 4: Jede Zelle enthält die Basisprogrammierung: »Teile dich, so schnell du kannst!«

Vor rund 575 Millionen Jahren haben sich schließlich auch mehrzellige Lebewesen entwickelt, denn in manchen Situationen ist die Überlebenschance in Gruppen nun mal höher. So bildeten sich zum Beispiel Zellgruppen, bei denen sich die hinteren Zellen um den Antrieb zur Fortbewegung kümmerten, während sich die vorderen Zellen auf das Einfangen und Verdauen von »einsamen« Einzellern spezialisierten. Die Nährstoffe des Fanges wurden dann an alle beteiligten Zellen verteilt. Mit diesem Prinzip waren die simplen Mehrzeller letztlich erfolgreicher als die einzellige Konkurrenz. Allerdings mussten sich mehrzellige Lebewesen an die neue Komplexität anpassen. Auf einmal war es nämlich nicht mehr von Vorteil, alle Zellen so schnell wie möglich wachsen zu lassen, weil dann wichtige Strukturen verloren gingen. Ein für Mikroorganismen lebenswichtiges »Antauch-Ruder« beispielsweise hat eine bestimmte Anzahl an Zellen und eine spezifische Form. Wenn sich jede Zelle kontinuierlich immer wieder teilen würde, käme dabei ein formloser Zellklumpen heraus, der keine Funktion mehr erfüllen kann. Denken Sie nur daran, was passieren würde, wenn Ihre Knochenzellen permanent und in alle Richtungen wüchsen …

Deshalb galt es, Anzahl und Wachstumsrate der verschiedenen Zellarten zu regulieren. Dafür waren wiederum neue Gene nötig, die bestimmen, wann sich welche Zelle teilen darf und wann nicht.

So entwickelten sich Gen-Arten, die vereinfacht in zwei verschiedene Gruppen unterteilt werden können:

»Gaspedal-Gene« sind zellteilungsfördernde Gene, sogenannte Proto-Onkogene.

»Bremsen-Gene« sind zellteilungsbremsende Gene, sogenannte Tumorsupressorgene.

Gene, die wie ein Gaspedal agieren, animieren die Zellen, eine Zellteilung einzuleiten, während die wachstumsbremsenden Gene das Einleiten der Zellteilung verhindern. Funktionieren all diese Gene, wie sie sollten, bilden sie ein sehr effektives Steuerungssystem: Soll die Zelle nicht wachsen, überwiegen die bremsenden Gene, sodass das Wachstum stillsteht. Soll sich die Zelle teilen, treten die wachstumsanimierenden Gene in Aktion und leiten eine Zellteilung ein. Problematisch wird es erst, wenn eines dieser Gene beschädigt und in seiner Funktion gestört ist. Bei Angelina Jolie ebenso wie bei den meisten genetisch bedingten Brustkrebsfällen ist das zellteilungsbremsende BRCA1-Gen betroffen, weshalb die Wachstumsbremse nicht mehr effektiv arbeitet. Unter Umständen fällt sie in einer Zelle sogar komplett aus. Diese Zelle kehrt dann in den Ur-Modus des schnellstmöglichen Wachstums zurück und teilt sich entsprechend rasch. Aus einer schadhaften (Krebs-)Zelle werden erst zwei, dann vier, dann acht, dann 16 – und so beginnt ein Tumor heranzuwachsen.

Gut zu wissen!

Das BRCA1-Gen ist eines der wichtigsten wachstumsbremsenden Gene im Brust- und Eierstockgewebe, weshalb sich bei Trägerinnen eines BRCA1- Defekts häufig genau dort Krebs entwickelt. Die Wachstumsregulierung ist außer Kraft gesetzt, sodass die Teilung der Krebszellen ungebremst fortschreitet.

Aber auch defekte »Gaspedal-Gene« können die Tumorbildung in Gang setzen. So gibt es zum Beispiel Schädigungen, die animierende Gene hyperaktiv machen. Das Signal zur Zellteilung wird dann so stark, dass die »Bremsen-Gene« wie BRCA1 nicht mehr in der Lage sind, das Wachstum zu stoppen; die Zellen beginnen, sich unkontrolliert zu teilen, und führen schließlich zu Krebs.

Weitere brustkrebsassoziierte Gene

Bis vor wenigen Jahren war die Analyse von BRCA1 und dem verwandten BRCA2-Gen Standard für Frauen mit einem gehäuften Brustkrebsvorkommen in der Familie. Inzwischen gab es in diesem Bereich einen erheblichen technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt, weshalb heute in umfangreichen Genanalysen mehr als zehn weitere Gene getestet werden. Diese sind zwar seltener die Ursache von Brustkrebs, spielen jedoch eine relevante Rolle bei dessen Entstehung. Hier sehen Sie eine Auflistung der relevanten Gene und wie hoch die Erkrankungswahrscheinlichkeit bei einem Gendefekt ist.

AuslösendesGen

Anzahl derbetroffenen Frauen

Krebswahrscheinlichkeitbei Gendefekt

BRCA1

1 von 670

87 % Brust, 40 % Eierstock

BRCA2

1 von 2000

84 % Brust, 40 % Eierstock

PALB2

1 von 5000

58 % Brust

BARD1

1 von 12 000

22 % Brust

BRIP1

1 von 13 000

50 % Brust

RAD51D

1 von 15 000

9 % Eierstock

RAD50

1 von 18 000

48 % Brust

TP53

1 von 20 000

60 % Brust

XRCC2

1 von 35 000

20 % Brust

ATM

1 von 50 000

52 % Brust

NBN

1 von 100 000

36 % Brust

PTEN

1 von 100 000

50 % Brust

CDH1

1 von 100 000

52 % Brust

CHEK2

1 von 100 000

44 % Brust

STK11

1 von 100 000

50 % Brust

Tabelle 1: Krebsrisiko bei diversen Gendefekten

Zum Vergleich: Eine Frau ohne genetische Vorbelastung hat ein durchschnittliches Brustkrebsrisiko von 12 Prozent und ein durchschnittliches Eierstockkrebsrisiko von 1 Prozent.

Gut zu wissen!

Sollte ich mich als Frau testen lassen?

Bei derart seltenen Gendefekten ist es üblicherweise nicht nötig, sich testen zu lassen, es sei denn, Sie gehören zur Hochrisikogruppe. Wenn Sie eine der folgenden Fragen mit Ja beantworten, ist eine Analyse der oben genannten Gene empfehlenswert:

Hat ein Elternteil …

vor dem Alter von 50 Jahren Brustkrebs entwickelt?sowohl Brust- als auch Eierstockkrebs entwickelt?Brustkrebs in beiden Brüsten entwickelt?Prostata-, Bauch-, Schilddrüsen-, Bauspeicheldrüsenoder Darmkrebs entwickelt?

Gibt es in Ihrer Familie …

mehr als einen Fall von Brustkrebs?sowohl Brust- als auch Eierstockkrebs?die Abstammung aus dem jüdischen »Ashkenazi«-Zweig10?

Der altersbedingte und der zufällige Brustkrebs

Schätzungen zufolge werden nur rund 10 Prozent aller Brustkrebsfälle als »genetisch bedingt« eingestuft und somit von einem der Gene im letzten Abschnitt ausgelöst. Demnach gelten 90 Prozent der Brustkrebsfälle als »altersbedingt/sporadisch« und werden folglich nicht mit Genen in Verbindung gebracht. Aktuelle wissenschaftliche Studien zeigen jedoch, dass auch hier die Gene eine wichtige Rolle spielen.

All jene Gene, die in fortschrittlichen Brustkrebsanalysen analysiert werden, werden als »monogenetisch mit hoher Penetranz« eingestuft. Das bedeutet, dass ein Defekt in einem dieser 15 Gene ausreicht, um Krebs auszulösen (= monogenetisch) und dass ein Defekt in einem dieser Gene ein erhebliches Krankheitsrisiko in sich birgt (ein Defekt im BRCA1-Gen z. B. bedeutet eine 87-prozentige Wahrscheinlichkeit zu erkranken). Solche Gendefekte respektive Brustkrebsrisiken sind somit vergleichsweise einfach zu diagnostizieren.

Anders sieht es aus bei Genmutationen, die in bestimmten Kombinationen verstärkt Brustkrebs auslösen können. Ein anschauliches Beispiel ist das FGFR2-Gen. Ein defektes FGFR2-Gen steigert das Risiko, im Laufe des Lebens an Brustkrebs zu erkranken, um durchschnittlich 2,76 Prozent. Verglichen mit dem 87-prozentigen Krebsrisiko bei einem BRCA1-Defekt ist das verschwindend gering. Doch nun kommt’s: Jeder Mensch hat ja zwei Exemplare dieses Gens geerbt, eines vom Vater und eines von der Mutter. Insofern sind drei Kombinationen denkbar: zwei funktionierende Exemplare, ein funktionierendes und ein defektes oder sogar zwei defekte Exemplare dieses Gens. Tatsächlich sind Defekte im FGFR2-Gen sehr häufig. So hat fast die Hälfte der Bevölkerung ein defektes Exemplar; und bei 17 Prozent funktionieren sogar beide FGFR2-Gene nicht richtig. Demnach haben lediglich 36 Prozent der Bevölkerung zwei normal funktionierende Gene und somit kein erhöhtes Brustkrebsrisiko infolge dieses Gens.

Gut zu wissen!

Die Auswirkung eines defekten FGFR2-Gens auf das Krankheitsrisiko ist zwar relativ gering, aber ein Großteil der Bevölkerung ist von diesem Gendefekt betroffen.

Hinzu kommt, dass das Brustkrebsrisiko steigt, wenn weitere »Brustkrebsgene« defekt sind. Die folgende Tabelle verdeutlicht, dass beinahe jede Frau mindestens ein defektes »Brustkrebsgen« in sich trägt.

AuslösendesGen

Wie viele Frauenhaben zwei defekteExemplare?

DurchschnittlicheKrebswahrscheinlichkeitbei Gendefekt