Die Mafia in Prag - Michal Viewegh - E-Book

Die Mafia in Prag E-Book

Michal Viewegh

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Beschreibung

Der ehemalige Lobbyist Darek Balík wird als Kronzeuge von der Polizei bewacht. An wechselnden geheimen Orten versucht er sich Zeit und Angst mit Wein und Zeitungen zu vertreiben. Ohne Vorwarnung entzieht ihm der Innenminister den Zeugenschutz. Damit ist Balík seinen Feinden ausgeliefert: Der Prager Bürgermeister, der lokale Pate, die russische Mafia, sie alle sind hinter ihm und dem kompromittierenden Material, das er gesammelt hat, her. Michal Viewegh hat die Niederungen der Politik in Tschechien genau recherchiert und zu einem Krimi verdichtet. Dass ähnliche Korruptionsaffären die tschechische Regierung tatsächlich zu Fall bringen würden, konnte er nicht ahnen, als der Roman entstand, der mit Witz und Pulp-Fiction-Elementen überzeugt.

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Seitenzahl: 359

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Deuticke E-Book

MICHAL VIEWEGH

DIE MAFIA IN PRAG

Roman

Aus dem Tschechischen von Eva Profousová

Deuticke

Die Originalausgabe erschien erstmals 2011 unter dem Titel Mafie v Praze im Verlag Druhé město, Brünn.

ISBN 978-3-552-06272-6

© Michal Viewegh, 2011 / © Druhé město, 2011

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2014

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

PROLOG

Wie die meisten jungen Leute, die jeden Montagmorgen zur Arbeit müssen, ging auch dieses Paar gerne freitags oder samstags aus. Diesmal haben sie sich für den Samstagabend entschieden.

Als sie von ihrem Lieblingsklub nach Hause gingen, war schon Sonntag. Halb drei Uhr morgens. Die Straßen von Prag 11 waren wie ausgestorben. Die junge Frau trällerte beschwipst ein Lied von Céline Dion vor sich hin, der junge Mann schwieg beharrlich, nur ab und zu spuckte er auf den Boden. Er schlurfte. Das konnte sie nicht ausstehen. Solche Momente waren ausschlaggebend dafür, ob sie später zu Hause streiten oder im Bett landen würden. Sie fand beides verlockend und beschloss, den Dingen freien Lauf zu lassen.

In der Brodský-Straße fiel ihr ein alter weißer Škoda auf. Im gelblichen Licht einer Straßenlaterne sah man hinter der Heckscheibe einen Plüschhund mit Wackelkopf hocken. Sie zeigte mit ihrem künstlichen Nagel auf ihn.

»Wuff wuff!«, bellte sie. Ein kleiner Versuch, die gute Laune wiederherzustellen.

Der junge Mann gab sich amüsiert.

»Sieh einer an«, endlich machte er den Mund auf. »Der typische Jasager, wie die meisten Politiker. Schade, dass wir keine Tomaten dabeihaben.«

Sie lachte, als hätte sie nie etwas Witzigeres gehört. Das munterte ihn auf.

»Er hält sich aber im Moment lieber zurück«, sagte er mit Kennermiene.

Erneut lachte sie. Das brachte ihn richtig in Fahrt. Er blickte sich kurz um, ob ihnen auch keiner zusah, stützte beide Hände auf die verstaubte Motorhaube und brachte die Kiste ins Schaukeln. Fünfundzwanzig Jahre alte Autos hatten bestimmt keine Alarmanlage.

Der Wagen federte hin und her, aber zur großen Enttäuschung der jungen Frau blieb der Kopf des Hundes starr.

Außerdem waren seine Augen komisch.

Irgendwie leer.

MONTAG

1. Kapitel

Um halb vier Uhr morgens riss ein blechernes Scheppern Schinder aus dem Schlaf.

Das Geräusch kam von irgendwo unter dem Dach. Schinder wusste, jetzt würde er nicht mehr einschlafen können. Seit einigen Jahren passierte ihm das, egal ob hier im hintersten Winkel an der Orlík-Talsperre oder im Urlaub. Auf den Kanaren, zum Beispiel: Dieses Jahr hat er dort praktisch kein Auge zugedrückt. Er liebte die Kanarischen Inseln geradezu und flog zwei-, dreimal im Jahr dahin. Inmitten der deutschen Rentner fühlte er sich jung und hatte sogar Lust zu tanzen. Damit er nicht allein aufs Parkett musste, nahm er wahlweise eins von den Weibern mit. Du bist dran, sagte er jedes Mal am Telefon. Die Auserwählte kreischte vor Freude. Manchmal durfte sie auch ihr Kind mitnehmen. Was ihm auch nicht zu Schlaf verhalf. Frau und Kind waren schon längst in der Heia und er hockte immer noch auf dem Balkon und beobachtete misstrauisch jedes Auto, das mehr als einmal den Kreisel vor der Hoteleinfahrt passierte. Tagsüber war es nicht viel besser. Seine Nerven lagen blank. Wenn der Ortspolizist auf seiner motorisierten Klapperkiste in den Dünen auftauchte, bekam Schinder fast einen Herzinfarkt, während die anderen Urlauber dem Ordnungshüter lächelnd zuwinkten. Das war der Punkt, an dem sich Schinder vom Rest der Menschheit unterschied.

Bis zum Morgengrauen war es noch lange hin. Schinder starrte eine Weile in die Dunkelheit, dann stand er auf und machte das Licht an. Die Glühbirne flackerte wie immer, die Stromspannung im gesamten Areal war seit Jahren instabil. Er wusch sich und ging hinaus. Die schwarze Wasseroberfläche der Talsperre kräuselte sich. Schinder hatte schon immer eine Schwäche für diese Landschaft gehabt, außerdem war es nach Příbram von hier aus nur ein Katzensprung. Er drehte sich um und suchte mit den Augen das Haus ab. Der Störenfried war bald gefunden: Ein Teil der Dachrinne hing halb abgerissen herunter und schlug im Wind gegen das Fallrohr. Früher, dachte Schinder, früher wurden solche Dinge repariert. Heute macht das keiner mehr. In der kleinen Butze, wo man den Chemiker untergebracht hatte, war auch schon Licht an. Seltsame Zeiten, in denen keiner schlafen kann. Kein Wunder. Es gibt keine Sicherheit mehr. Das Vertrauen ist hin. Nur mal als Beispiel: Der Chef kauft ein Spiel der Landesliga – und das Gegnerteam gewinnt trotzdem: Man hat den Schiedsrichter einfach überboten. Und dem ist nicht mal was passiert. Was ist das für eine Welt? An einem Tag sagt man Bruder zu dir, und am nächsten knallt man dich ab. So läuft das, sagte Schinder zu sich selbst. Nichts ist, wie es mal war. Ein echter Dschungel. Sobald einer zehn Millionen in der Tasche stecken hat, denkt er, er ist der Größte. Und dann noch die ganzen Russen, Tschetschenen, Armenier, Kroaten und andere Exoten, die hier alles auf den Kopf gestellt haben. Was das betrifft, da ist er, Schinder, schon immer bekennender Patriot gewesen.

Er spannte die Gummibänder an der Plane nach, die über dem Rolls-Royce hing. Beim Anblick von Karossen, die Verstorbenen gehört hatten, wurde er sentimental, das ist schon immer so gewesen. 570 Pferde, von null auf hundert in knapp fünf Sekunden – aber was nützt einem das, wenn man tot ist. So wie der Typ, dem dieser Wagen mal gehört hat. Alles ist relativ, dachte Schinder. Er hat bis jetzt sieben Leute kaltgemacht, was in der Welt des Verbrechens (die er Halbwelt nannte) mit ziemlichem Prestige einherging, im normalen Leben aber zu der abfälligen Bezeichnung blutrünstiges Monster führte. Schinder war zwar darauf bedacht, solchen Journalistenunsinn nicht ernst zu nehmen, von Zeit zu Zeit überfiel ihn aber eine gereizte und, wie die Dinge lagen, auch unstillbare Sehnsucht danach, denen da draußen klarzumachen, dass er mitnichten ein Monster war. Auch er war bloß ein Mensch. In der Hinsicht erinnerte er an einen enttäuschten Schriftsteller, der von der Kritik zwar über den grünen Klee gelobt, vom gewöhnlichen Leser aber nicht angefasst wird.

Schinder kehrte ins Haus zurück und brühte einen Tee auf. Er hat einiges erlebt im Leben, und die meisten Dinge nahm er stoisch hin, aber Kleinigkeiten brachten ihn immer noch auf die Palme. Wie die kleinen Pfeile auf der Keksschachtel: SCHEINBAR deuteten sie auf die Stelle, an der sich die Verpackung öffnen LIESS, aber auch wenn er sich die Augen aus dem Kopf stierte, eine solche Stelle war NICHT da! Die gab es einfach NICHT! Keine Perforierung, kein Aufreißbändchen. NICHTS! Vergeblich fuhr Schinder mit dem Fingernagel an der Verpackung entlang. Wer stellt so was her? Seine Bewegungen wurden immer hektischer. Zum Schluss versuchte er die Packung mit den Zähnen aufzureißen, aber auch das gelang ihm nicht. Was sind das für Kekse, wenn nicht mal ein Riesenkerl wie er sie aufkriegt?

»Scheiße!«, schrie er.

Er zog seinen Colt Defender unter dem Kopfkissen heraus, pfefferte die Schachtel auf den Boden und verfeuerte alle acht Patronen in sie. Sein Gehör setzte aus. Immerhin kriegte er die verdammte Dachrinne so nicht mehr mit. Er atmete schwer. In den Nachbarhäusern gingen die Lichter an, sonst passierte nichts. Frühmorgens herumzuballern gehört hier wohl zum guten Ton. Hätte man auf mich geschossen, könnte ich lange auf Hilfe warten, dachte Schinder bitter. Der Chemiker mit seinem Grauen Star, der sieht ja kaum noch was, falls der jetzt durch den Wald hierher zu Hilfe eilt, bleibt er bestimmt mit seiner Schrotflinte immer wieder zwischen den Bäumen hängen. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man darüber lachen. Sowieso ein Kapitel für sich, der Chemiker. Bis heute hat er die Säure nicht aufgetrieben, dabei hatte er ganze drei Tage Zeit gehabt. Drei Tage! Solch menschliches Material kriegt Schinder zur Verfügung gestellt. Einen Halbblinden! Wie blöd ist das denn? Dieses Land ist komplett ausgehöhlt, dachte Schinder. Menschlich ausgehöhlt. Plötzlich konnte er wieder hören. In dem Moment trat der Chemiker die Tür ein. Schinder grinste schief. Wann man die wohl repariert.

»Jesusmaria, Schinder, drehst du schon wieder durch?«, haspelte der Chemiker mit der Schrotflinte in der Hand, blass wie frischer Knödelteig.

»Solche Kekse können nur Deppen herstellen«, klärte Schinder ihn auf.

2. Kapitel

Mit seinen fünfundfünfzig Jahren war Darek Balík auch jetzt noch ein eleganter Mann. Fünf Monate in konspirativen Wohnungen lassen allerdings keinen besser aussehen. Die wenigen Haare, die er hatte, waren in der Zwischenzeit noch grauer und dünner geworden, seine Muskeln schlaffer. Der tägliche Verzehr von Schinkenbaguette mit Mayonnaise, Salami-Pizza oder Kentucky Fried Chicken, die ihm bis zum Überdruss vom Polizeischutz serviert worden waren, brachte ganze fünf Kilo mehr auf der Waage. Sein Rücken tat immer häufiger weh, chronische Verstopfung quälte ihn – und Schlaflosigkeit.

Er wusste viel zu viel, um schlafen zu können.

An seinem unruhigen Schlaf waren natürlich auch all die Kisten mit toskanischem Rotwein schuld, die Darek Balík in den letzten Monaten leergetrunken hatte. Dem Wein warf er aber nichts vor, im Gegenteil. Ohne ihn hätte er die endlosen einsamen Abende kaum überlebt. Der Wein war sein einziger Kamerad. Er hörte ihm zu und half ihm dabei, seine Verzweiflung und die Selbstvorwürfe zu übertünchen, seine Angst zu beherrschen.

Die Angst vor dem Tag, an dem er aus dem Zeugenschutzprogramm entlassen werden könnte – ohne den vom Innenminister hoch und heilig versprochenen Identitätswechsel.

Ohne ein neues Leben.

Heute wachte Darek Balík um Viertel vor fünf auf und schlief nicht mehr ein. Draußen dämmerte es bereits. Er stand auf und ging in die kleine Küche mit Aussicht auf ein verrostetes Garagentor. Sein Blick streifte das Wenige, das in seinem Leben noch zählte: die heruntergezogenen Jalousien, ein Foto seiner Tochter und eine Holzkiste mit sechs Flaschen Rotwein aus dem Castello di Verrazzano. Er verscheuchte den Gedanken, jetzt sofort eine aufzumachen, und kochte sich einen starken Kaffee. Dann nahm er die gestrige Zeitung in die Hand, um sie endlich zu Ende zu lesen. Wunschgemäß brachte ihm der Polizeischutz die vier meistgelesenen Tageszeitungen vorbei, manchmal legte man noch ein Boulevardblättchen dazu, mit dessen Lektüre sich wiederum die Polizisten ihren Dienst verkürzten. Nachrichten aus der tschechischen Innenpolitik lenkten Darek Balík von seinem tristen Alltag ab: Die Informationen, die in einem durchschnittlich anständigen Leser Entrüstung und Ekel hervorrufen würden, entlockten dem einstigen Lobbyisten höchstens ein zynisches Lächeln.

Auch heute war es nicht viel anders: Der einzige Text, der einigermaßen der Realität entsprach, stammte (wie auch sonst in solchen Fällen) von Alexandr Lounský aus der MFDNES und handelte von Einschüchterungsversuchen gegenüber Bürgeraktivisten von Prag 11. Lounský scheint gute Informationsquellen zu haben, dachte Balík, der ähnlich wie der Journalist längst wusste, worum es in der Causa wirklich ging: um Dreifeldereck. Zweieinhalb Millionen Quadratmeter unbebautes Bauland.

Die restlichen Zeitungsberichte bildeten eine virtuelle Realität ab. Eine Möchtegernanalyse der Affäre rund um die Bestellung der neuen Gripen-Kampfflugzeuge (neunzehn Milliarden sechshundertsechzig Millionen, die Zahl hatte er noch ganz genau im Kopf, waren vom Verteidigungsministerium in den Sand gesetzt worden) nahm Balík noch mit blasierter Nachsicht zur Kenntnis, aber beim nächsten Artikel über die Rolle des ehemaligen Justizministers im Fall der vorzeitigen Haftentlassung des Prinzen von Katar musste er schon lachen: Er vermisste sowohl jegliche Erwähnung von Krejčíř wie auch die Schlüsselinformation über die drei Millionen Dollar Bestechungsgelder. Eine ähnliche Möchtegernenthüllungsfarce lieferte auch das folgende Gespräch mit dem Innenminister: Der Journalist fragte naiv, ob der Minister gewusst habe, dass er indirekt mit Mrázeks Mafia zusammengearbeitet habe, und der Minister schwor Stein und Bein, es nicht gewusst zu haben. Als Beweis wurden die beiden (!) Sicherheitsprüfungen angeführt – nur schien der arme Schreiberling nicht zu wissen, dass das für die Persilscheine zuständige Nationale Sicherheitsamt NBÚ fest in der Hand der Mafia war.

Kein leichter Job, was?, grinste Balík im Geiste den Journalisten an.

Der Grund für Balíks Zynismus war nicht schwer herauszufinden. Mehr als zwanzig Jahre lang hatte er sich in der tschechischen Politik herumgetrieben, einem wahren Kuriositätenkabinett. Ähnlich wie bei ausgepowerten Sittenpolizisten oder Krisenhotline-Telefonistinnen war auch Darek Balíks Sicht der Dinge gnadenlos verformt: In seinen Augen bestand die Gesellschaft lediglich aus Gaunern und psychisch Kranken. Der Zauber, den die abstruse Welt der tschechischen Politik auf ihn ausübte, war allerdings immer noch stärker als sein Abscheu; daher die vier Tageszeitungen.

Heute jedoch wandte sich sein finsterer Zeitvertreib gegen ihn: Als er nach ausgiebiger Lektüre der seriösen Presse nach der zerknitterten Ausgabe des gestrigen Aha! griff, blickte ihn von der Titelseite ein kleines Farbfoto an. Er erkannte es sofort wieder: Zu sehen waren der tschechische Premierminister mit seinem Berater, zwei Rechtsanwälte der Kanzlei der tschechischen Sozialdemokraten ČSSD, Jansta und Kostka, ein Mitschüler des Oberbürgermeisters aus den Gymnasialzeiten, Dr. Muzikář, und drei Lobbyisten.

Der mittlere von ihnen war Darek Balík.

Sein Gesicht war mit rotem Stift eingekringelt.

Unter dem Bild stand eine kurze, scharfe Polemik über das Zeugenschutzprogramm. Viersternehotels und teurer italienischer Wein für einen Kriminellen!, posaunte die Schlagzeile. Auf Kosten unserer Steuerzahler!

Balík spürte ein vertrautes Stechen in der Brust. Hätte er sich die Zeitung bloß früher angeschaut – jetzt hatten sie zwei Tage Vorsprung. Vielleicht hat der Polizeischutz das Blatt absichtlich liegenlassen. Auch das wäre gut möglich. Balík konnte nichts mehr überraschen. Er beugte sich über den Artikel und las ihn erneut, um keine versteckte Andeutung zu übersehen.

Er suchte nach der wahren Botschaft.

Nach dem vierten Lesen verspürte er etwas, das man in einem Detektivroman als der kalte Hauch des Todes bezeichnet.

Jetzt wurde er endgültig von seiner Vergangenheit eingeholt, schoss es ihm durch den Kopf.

3. Kapitel

Das schwarz-gelbe Sonim Enduro piepte genau um fünf Uhr zwanzig.

Ein wasser-, staub- und stoßresistentes Outdoor-Gerät für jeden, der unter einem Mobiltelefon ein sinnvolles Kommunikationsmittel und kein modisches Accessoire versteht.

Marek Konwicki war so jemand.

Heute stand ihm ein außerordentlich wichtiger Tag bevor: Man erwartete ihn in der Sportredaktion von MFDNES zu einem Vorstellungsgespräch. Er hätte sich deswegen eine Ausnahme erlauben und etwas länger schlafen können, aber Marek wusste schon lange, dass der Weg in die Hölle von Ausnahmen gepflastert war. Hat sich einmal eine Ausnahme eingeschlichen, ließ man sie auch nächste Woche gelten. Und schon war man der Hölle wieder ein Stückchen näher.

Im Badezimmer seiner frisch gemieteten und daher kaum eingerichteten Wohnung verbrachte er vier Minuten; um das Laufdress anzuziehen, das er bereits abends herausgelegt hatte, brauchte er weitere zwei Minuten. Im Flur schlüpfte er in seine leuchtend grünen Adidasschuhe, und schon rannte er die Treppe hinunter. Als er in der Eingangstür die Pulsuhr Garmin Forerunner auf seinem linken Handgelenk einschaltete und auf den Straßen der noch schlafenden Plattenbausiedlung losrannte, war es auf die Minute genau halb sechs.

Der Tag fängt gut an, dachte er zufrieden.

Am Samstagmorgen war er ohne festen Plan losgerannt (zwischen den allgegenwärtigen Plattenbauten hatte er immer wieder die Orientierung verloren, zweimal war er sogar dem Autobahnzubringer ohne Fußgängerbrücke in die Falle gegangen), aber gestern hatte er sich im Internet die Karte angeschaut und begab sich nun in die entgegengesetzte Richtung: Vor dem Hotel Chodov überquerte er die Straße der Friedensbewegung und rannte dann an einem Blechzaun entlang, hinter dem wohl die Firma Skanska etwas bauen wollte, bis zum Košíř-Bach. Dem folgte er bis in den Naturpark Hostivař. Während der ersten fünf Minuten machte er seine Lockerungsübungen und lief sich wie immer allmählich warm. Die Morgenluft war angenehm kühl, Marek fühlte sich wohl. Nach dem zweiten Kilometer begann der Pulsmesser auf seinem Handgelenk zu vibrieren. Marek sah aufs Display: vier Minuten und siebenundzwanzig Sekunden. Das Adrenalin machte sich bemerkbar. Wegen der Aufregung über das heutige Vorstellungsgespräch lief er schneller als geplant. Er verlangsamte. Ursprünglich hatte er vor, die Talsperre von Hostivař zu umrunden, aber nach einer Zeit verschwand der Weg im Dickicht, und Marek musste umkehren. Als er erneut neben der Hauptstraße auftauchte, sah er ein großes Wahlplakat des Bürgermeisters von Prag 11.

Wir helfen jungen Familien, eine Wohnung zu finden

Wir erklären Spielhallen und Pfandhäusern den Krieg

Wir kämpfen gegen Hundeexkremente

Wir schützen Grünflächen

Wir schaffen mehr Parkplätze

Wir errichten Seniorenheime

Wir garantieren einen ausgeglichenen Haushalt

Auf dem Bild sah man den lachenden Bürgermeister mit dem Zeigefinger ein Herzchen auf eine beschlagene Fensterscheibe malen; im Hintergrund standen fünf stattliche, kurzgeschorene junge Männer in Lederjacken. Marek erkannte zwei von ihnen: den ehemaligen Schwergewichtsboxer aus Ústí nad Labem und einen noch aktiven Thaiboxer. Die anderen drei sahen eher wie Türsteher vor einer Disco aus. Oder wie Skinheads, schoss es Marek durch den Kopf. Den penetranten Populismus der gemalten Herzchen konnte er noch einigermaßen nachvollziehen – aber warum musste der Bürgermeister auch noch die aggressiv dreinschauenden Muskelprotze aufs Plakat setzen?, überlegte er beim Weiterlaufen. Zuckerbrot und Peitsche?

Er ahnte nicht, wie gut seine Einschätzung war.

Die richtige Lösung war so einfach: Dem Bürgermeister war tatsächlich daran gelegen, genau diesen Eindruck zu erwecken.

4. Kapitel

Endlich hatte der Wachtmeister die Ödnis der vier freien Tage hinter sich gebracht, und nun standen ihm jeweils zwei zwölfstündige Tag- und Nachtschichten bevor.

Die Tagschicht ging um acht Uhr morgens mit der Besprechungsrunde beim Oberleutnant los, aber der Wachtmeister erreichte die Dienststelle der Polizei der Tschechischen Republik Prag 11 schon kurz nach halb acht. In einer der zwei kleinen Gefängniszellen krakeelte ein Betrunkener. Der Wachtmeister begrüßte die Kollegen und schlüpfte in die dunkelblaue Sommeruniform. Wortlos ließ er ihre uralten Sprüche über seine einsamen Wochenenden über sich ergehen, in dem dunklen, stickigen Umkleideraum war ohnehin das eigene Wort kaum zu verstehen: Die Schimpftiraden des Betrunkenen wurden immer lauter. Der Wachtmeister ging den Flur hinunter bis zur Gefängniszelle an seinem Ende und warf einen Blick hinein.

»Brauchen Sie etwas?«

»Ja«, der Arrestant (höchstens dreißig Jahre alt, männlich, auffällig unvollständiges Gebiss) lachte. »Ne Fluppe und einen kleinen Cappuccino!«

Er war immer noch sehr wackelig auf den Beinen und hielt sich lieber an den Gitterstäben fest. Schweiß, Staub und vertrocknete Reste von Erbrochenem hatten auf seinem nackten Oberkörper ein seltsames Gebilde hinterlassen. Die Landkarte des menschlichen Scheiterns, dachte der Wachtmeister.

»Was glotzt du so?«

Der Gefangene drückte sein Gesicht gegen das Gitter und versuchte, den Polizisten zu bespucken, aber der Speichel rann ihm lediglich am Kinn hinunter.

»Na komm schon, du Bullenarsch! Mach die Kamera aus und trau dich rein! Komm her und polier mir die Fresse, du mieser Bullenarsch!«

»Warum sollte ich das tun?«, antwortete der Wachtmeister ruhig und zeigte auf das aufgeschlagene Kinn des Mannes. »Das schaffst du doch prima selber.«

Er drehte sich um, und während er den Flur zurückging, sah er nach, ob er auch wirklich alles Notwendige dabeihatte: Schlüssel, Handy, Ausweis und Polizeiabzeichen mit eingestanzter Nummer, Funkgerät MATRA (das sie untereinander Draht nannten), Dienstmütze, Schlagstock, Handschellen und Pfefferspray. Der Schwall von Beschimpfungen in seinem Rücken verstummte allmählich, der Wachtmeister betrat den Raum des diensthabenden Offiziers.

»Aah, unser Serpico«, sagte der Oberleutnant wie immer.

»Guten Morgen«, erwiderte der Wachtmeister.

Er zog den Schlüssel aus der Tasche und öffnete den Spind, in dem seine Dienstpistole CZ75DCOMPACT, Kaliber 9 mm Luger lag. Inzwischen tauchte auch die Kollegin Zuzana auf. Sie hatte noch keine Uniform an, wahrscheinlich wollte sie ihr weiß-rotes Sommerkleid vorführen, dachte der Wachtmeister. Für ihre vierzig Jahre sah sie blendend aus, aber sie wusste selbst am besten, dass es nicht ewig so bleiben würde.

»Hast du endlich deinen Grill angeschmissen, Radek?«, wollte sie wissen. »Bei dem herrlichen Wetter am Wochenende?«

Unter ihren Achseln breiteten sich jetzt schon dunkle Ringe aus. Der Wachtmeister war auf ähnliche Fragen vorbereitet. Er wandte den Blick von der Übersichtskarte der häufigsten Diebstähle ab (die Markierungen waren leider längst zu einem einzigen schraffierten Riesenteich zusammengeflossen) und sah seiner geschiedenen Kollegin direkt in die Augen.

»Klar hab ich«, log er ohne Gewissensbisse.

»Echt? Und was gab’s?«

»Nur ein paar Würstchen«, antwortete er und zuckte mit den Schultern: »Wir haben uns bloß einen netten Abend gemacht, meine Mutter, meine Schwester und ich.«

Er wusste genau, dass die Erwähnung seiner Schwester jedem Gespräch ein rasches Ende bereitete.

»Ach so.« Zuzana senkte den Blick und ging sich umziehen.

Der dreiundvierzigjährige Wachtmeister hieß Radek Staněk. Auch er war geschieden, im Gegensatz zu Zuzana hatte er aber keine Kinder. Seine vier Jahre jüngere Schwester war mit einer mentalen Behinderung zur Welt gekommen. Für Radek war es mittlerweile kein Problem mehr, aber während seiner Kindheit und seiner Jugendjahre rief ihr Anblick unbeherrschbare Wutanfälle in ihm hervor: Er fand ihre Krankheit ausgesprochen ungerecht.

Gerechtigkeit war ohnehin sein Schlüsselthema, er war regelrecht besessen von ihr. Schon immer. Krankhaft besessen, pflegte seine Exfrau zu sagen, und sie erinnerte ihn daran, dass Gerechtigkeit eher sporadischem Luxus gleicht als dass man sie automatisch für alle beanspruchen könnte.

»Du brauchst mehr Abstand«, riet sie ihm unzählige Male. »Und du solltest mehr lächeln.«

Alles vergeblich. Der Wachtmeister schien ihr nicht zuzuhören. Jedes Mal, wenn er auf eine offensichtliche Lüge oder Ungerechtigkeit gestoßen war (beim Einkaufen oder in der Politik, auf dem Parkplatz, bei einem Behördengang oder in der Ehe), wurde er von einer geradezu widerwärtigen Verbissenheit übermannt. In letzter Zeit zum Beispiel sammelte er Zeitungsartikel über die sogenannte Konkursmafia und las sie aufgeregt in voller Länge seinen genervten Kollegen vor. Heute auch.

»Hier. Hört mal zu«, sagte er bei der Morgenbesprechung. »Um 10.15 Uhr wird beim Richter Berka eine Konkursanmeldung eingereicht – und schon fünfzehn Minuten später leitet man das Insolvenzverfahren ein?! Wie soll das denn gehen?«

Der Oberleutnant warf resigniert die Arme auseinander.

»Offensichtlich geht das, Radek. Hast du ja selber gesehen.«

»Obwohl sich die Mafiosi ihre Forderungen nur ausgedacht haben? Nur weil sie die entsprechende Firma übernehmen wollen? Bis zu dem Moment haben die doch keine Geschäfte mit ihr gemacht – wieso können sie auf einmal finanzielle Forderungen an die Firma stellen?!«

»Warum regt dich das so auf?«, fragte Zuzana.

Der Wachtmeister wedelte mit dem Zeitungsartikel.

»Die Mafia besticht den hauseigenen Juristen – damit der seine eigene Firma zu Fall bringt: Findet Ihr das nicht widerlich?«

Der Oberleutnant schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Für die Morgenbesprechung waren höchstens zehn Minuten anberaumt – wegen Radek fiel sie jedes Mal deutlich länger aus.

»Was geht uns das an? Beruhige dich endlich!«

Radek riss sich zusammen – und nickte. Zum Glück signalisierten ihm die Reste seines gesunden Menschenverstandes, dass er sich auf dem besten Weg befand, sich zu den halblaut murmelnden und schimpfenden Gestalten zu gesellen, denen man hin und wieder auf der Straße begegnete.

»Unsere Aufgabe ist das hier«, sagte der Oberleutnant und legte ein paar Fotos auf den Tisch, die aus der Videoüberwachung der Metrostationen Háje und Roztyly stammten. Sie zeigten einen stattlichen jungen Mann, der dort serienmäßig alte Menschen überfiel. »Wann begreifst du das endlich?«

»Du hast schon recht«, versicherte der Wachtmeister seinem Vorgesetzten hastig. Aber keiner im Raum nahm ihm den plötzlichen Sinneswandel so richtig ab.

5. Kapitel

Wann immer Diana Renková in den folgenden Monaten und Jahren über die ersten Stunden dieser dramatischen Woche nachdachte, suchte sie nach Hinweisen auf die späteren bahnbrechenden Änderungen, die ihrem Leben bevorstanden. Aber wie angestrengt sie sich auch erinnern mochte, es wollten ihr keine entsprechenden Anzeichen einfallen.

Am Montagmorgen war sie wie an jedem anderen Arbeitstag um halb sieben aufgestanden (die Wochenenden verbrachte sie meistens in Mähren bei ihrer Mutter, die sie gerne auch bis elf Uhr mittags schlafen ließ), duschte, zog ihren Morgenmantel an, setzte Wasser für einen grünen Tee auf und bereitete sich ein kleines Frühstück zu. Dabei blieb ihr Blick immer wieder an dem großen, eingerahmten Foto über dem Küchentisch hängen. Vor neun Jahren hatte sie es von Luigi zugeschickt bekommen, und seitdem hat das Bild sie in jede neue Wohnung begleitet: ein Schloss mit steinernem Wachturm, Zypressen, Weinberge. Es war klar, wie ein Psychiater es deuten würde.

Lass die Vergangenheit los, sagte sie sich. Genieße den Tag. Single mit dreißig ist doch kein Handicap. Ein Leben frei von Illusionen, unbeschwert und zufrieden. Man darf es sich nicht durch Kleinigkeiten verderben lassen, nahm sich Diana zum wiederholten Male vor. Sie müsste einfach mehr lesen. Regelmäßig das Badezimmer putzen. Eine neue Liebe finden. Sie aß ihr Joghurt und ging im Geiste rasch die Aufgaben durch, die sie heute im Büro erwarteten. Nach einer Minute war sie damit durch. Es machte ihr Spaß, für andere (und für sich) Geld zu verdienen, aber es machte ihr keinen Spaß, lange darüber nachzudenken. Sie stand auf und lief zerstreut durch ihre allzu große Wohnung, in der sie sich auch nach sechs Monaten immer noch etwas fremd fühlte. Auch heute posaunten die leerstehenden Räume die unangenehme Wahrheit heraus, dass ihre Lebensplanung der Realität hinterherhinkte: Im (potenziellen) Kinderzimmer standen lediglich ein Wäschetrockner und ein Lauftrainer herum, im Arbeitszimmer des Ehemannes fehlte alles – inklusive Gatte, im ehelichen Schlafzimmer fehlte ein Doppelbett – inklusive Ehemann. Außerdem wies die Wohnung ärgerliche Baumängel auf. Obwohl sie sich bei der Abnahme von einem Experten hatte begleiten lassen, dem Besitzer einer kleinen Baufirma, haben sie doch nicht alle versteckten Fehler entdeckt. Diana ließ kurz ihren Blick über den Riss zwischen der cremeweißen Küchenwand und der Decke streifen, die größeren Mängel wie die Ungleichmäßigkeiten im Marmorfußboden, die klemmende Tür im eingebauten Schlafzimmerschrank oder die rissige Silikondichtung zwischen dem Wandputz und den Türzargen ignorierte sie heute lieber. An ihrem dreißigsten Geburtstag wollte sie sich nicht die Laune verderben. Während sie durch die Wohnung lief, zog sie sich langsam an. Hauptsache nichts Auffälliges, das war schon immer ihre Devise. Seit sie fünfzehn war, musste sie sich immer wieder anhören, wie schön beziehungsweise sexy sie wirkte, und daher war sie stets bemüht, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; als einzige Frau (zudem noch schön und sexy) inmitten von acht Börsenmaklern hatte sie es allerdings schwer. Diana schminkte sich leicht, trug flüssige Schuhcreme auf ihre Pumps auf und polierte sie rasch. Sie wusch sich die Hände, sah sich in der Wohnung um, überprüfte den Inhalt ihrer Handtasche und schloss sorgfältig die Tür ab. Als sie vor dem Haus ihre Sonnenbrille aufsetzte und sich in die zur Metro eilenden Menschenmassen einfügte, erfasste sie eine Welle von Traurigkeit. Seit sieben Monaten schon lebte sie allein, ihre Mutter wohnte zweihundertvierzig Kilometer entfernt, und ihren Vater hat sie seit zehn Jahren nicht gesehen. Da finden sogar Abituriententreffen häufiger statt, fiel ihr neulich ein. Heute ist sie dreißig geworden – aber angesichts dessen, was ihr über seine momentane Lebenslage bekannt war, brauchte sie mit seinem Anruf kaum zu rechnen.

Sie hatte einen runden Geburtstag, aber am heutigen Morgen fühlte sie sich ähnlich einsam wie an allen Morgen davor.

6. Kapitel

Auf der Straße, auf der Marek Konwicki unterwegs war, herrschte dichter Verkehr. Daher wechselte er rasch in die Richtung, wo ihm gestern auf der Karte eine große Grünfläche aufgefallen war (er wusste schon, dass man dieses weitläufige Gebiet, durch das sich der schmale Bach Botič schlängelte, Dreifeldereck nannte). Lange folgte er einem schönen Weg an einem Mischwald entlang, dann bog er in eine schmale Asphaltstraße ab, die durch niedrigen Strauchbestand nach Süden führte. Auf dem letzten Kilometer verlangsamte er in gemächlichen Trab. Er überquerte die Straße der Friedensbewegung, und vor dem Plattenbau in der Brodský-Straße, in den er letzte Woche eingezogen war, wechselte er zum Gehen. Er drückte die Stopptaste auf seiner Pulsuhr: Genau nach Plan ist er etwa eine Stunde unterwegs gewesen. Es war kurz nach halb sieben, die Stadt wachte allmählich auf, und er hatte schon über dreizehn Kilometer in den Beinen. Einen solchen Tagesanfang mochte er.

Einunddreißig Jahre, athletische Figur, hübsch geschwungene Lippen, sandsteinfarbene Haare und blaue Augen. Wäre er imstande, sich aus der Perspektive von Frauen in seiner Heimatstadt zu sehen, hätte er längst gewusst, dass er derjenige war, der unter ihnen hätte wählen können – aber interessanterweise war ihm sein ansprechendes Äußeres nicht einmal bewusst. Außerdem hatte er kaum Gelegenheiten gehabt: Er trieb zu viel Sport (Basketball und Boxen) und arbeitete zu viel (täglich schrieb er Sportartikel für die regionale Beilage der MFDNES). Darüber hinaus rauchte und trank er nicht. Daher hielten ihn die meisten Frauen für eine Schlaftablette. Auf dem Gymnasium hatte er zwar versucht, sein wenig schmeichelhaftes Image zu beseitigen, aber das Einzige, was seine Anstrengungen zustande brachten (die ehrlich gesagt höchstens eine Woche gedauert haben), war ein aufgeschlagener Kopf und eine durchbissene Oberlippe.

Seine ehemalige Freundin fand seine asketische Lebensweise allerdings sehr gut: Sie selbst trank ausschließlich Jasmintee. Auch sie wurde in Turnov geboren, auch sie hat ihr ganzes Leben dort gelebt, aber ihre große Liebe galt Japan. Diese Liebesbeziehung kam während eines weit zurückliegenden Aufenthaltes in Tokyo zustande und hat nie nachgelassen: Sie trug ihre Haare zu einem Knoten hochgesteckt, den sie mit riesigen Haarnadeln festmachte, sie kannte sich mit Ikebana aus und vergötterte Sushi. Ihre Blumenvasen und der rohe Fisch mit Reis standen Marek allmählich bis zum Hals, aber er behielt es für sich. Genauso schlecht konnte er ertragen, dass seine Freundin nahezu pausenlos lächelte und sich bei jeder Begrüßung leicht verneigte. Er war ehrlich bemüht, ihren exzentrischen Vorlieben Verständnis entgegenzubringen (andere Leute sammeln Bierdeckel oder treiben sonst was für einen Unsinn, dachte er), aber das Wort schräg tauchte trotzdem immer häufiger in seinen Gedanken auf.

Sie wollte ihn um sieben Uhr anrufen, um ihm Mut für das Vorstellungsgespräch zu machen, aber sie schien es vergessen zu haben. Das fand er ärgerlich, er wollte sie doch in Sachen Kleiderwahl konsultieren. Aus Turnov hatte er seinen dunkelgrauen Anzug mitgebracht, den er vor vier Jahren für die Feier zu seinem Universitätsabschluss gekauft hatte, aber als er sich heute in ihm vor dem Spiegel sah, kam er sich komisch vor. Marek runzelte die Stirn und warf das Jackett und die Hose übers Bett. Sein Mobiltelefon schwieg hartnäckig. Er zog Jeans, ein orangefarbenes T-Shirt mit kurzen Ärmeln und luftige Sportsandalen an.

Er wollte zum neuen Star der heutigen Sportjournalistik werden, das schon, aber sich deswegen anzubiedern, das wollte er auf keinen Fall.

7. Kapitel

Der Journalist der MFDNES Alexandr Lounský, den alle (außer seine zahlreichen Feinde aus den Reihen korrumpierter Politiker und zweifelhafter Unternehmer) nur Saša nannten, frühstückte selten zu Hause. So früh am Morgen bekam er keinen Bissen hinunter. Er verabschiedete sich von seiner Frau und von den Kindern und schlüpfte in seine Mokassins. Noch ein letzter Blick in die riesige Ledertasche, die ihm Renate im letzten Jahr zu seinem vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte (seine Frau wusste, dass er immer wieder von der Arbeit ganze Ordner mit Material nach Hause brachte, und hat ihm daher eine Aktentasche gekauft, in der man den ganzen Hausrat hätte unterbringen können; allerdings hat sie nicht bedacht, dass für den mageren und zarten Saša diese Megatasche in vollgepacktem Zustand nur schwer zu transportieren sein würde), dann konnte er gehen. Es war alles drin, was drin sein sollte: Geldbörse, Journalistenausweis, Zugangsberechtigungskarte fürs Redaktionsgebäude, Netbook, drei Handys, Terminkalender, Regenschirm, Papiertaschentücher, Sony-Diktiergerät, kleine, als Autoschlüssel getarnte Abhöranlage, ultradünne Panasonic-Digitalkamera, Pfefferspray, elektrischer Paralysator – und zusätzlich noch eine umfangreiche Plastikmappe mit den neuesten Informationen zu Prag 11. Entschlossen stemmte er die Aktentasche und verließ die Wohnung.

Er war es gewohnt, immer wieder zu hören, er sei dünn wie ein Bleistift und müsse mehr essen. In letzter Zeit hörte er das von allen Seiten, also nahm er die Sache ernst und kaufte sich auf dem Weg zur Straßenbahn nicht nur das übliche Schinkenbaguette, sondern auch noch einen Blaubeermuffin. An der Haltestelle standen etwa zehn Menschen. Einige von ihnen sprachen russisch. Die Zahl der Russen in Prag schien sich konstant zu vergrößern. Es war keinesfalls Russophobie, was Saša empfand, ein paar seiner Freunde kamen ja aus Russland, aber die vielen gewaltsamen Firmenübernahmen, von denen ihm sein Freund, der Oberst, erzählt hatte, fand er allmählich beunruhigend. Wie vom Fahrplan angekündigt, kam die Straßenbahn Nummer 7 genau vier Minuten vor halb neun, was im Lichte der Informationen, die Saša über den Oberbürgermeister und seine halbseidenen Geschäfte mit dem Städtischen Verkehrsverband besaß, einem kleinen Wunder glich. Aber vielleicht hat Renata recht, polemisierte er innerlich mit sich selber, vielleicht sah er die Dinge zu schwarz. Ewiger Querulant. Er hat ja selber zugelassen, dass sein Lebenshorizont aus ausgehöhlten Banken und Sparkassen bestand, aus kriminellen Seilschaften und himmelschreienden, betrügerischen Machenschaften mit Prager Grundstücken, Palästen und Firmen. Der ekelhafte Morast, in dem er täglich waten musste, war schuld daran. Wenn er das Wort Flughafen hörte, fielen ihm zunächst weder Flugzeug noch Urlaub, sondern Korruption ein. Wenn ein Rolls-Royce vorbeifuhr, dachte er an Gewalt. Die Reihe ließ sich endlos fortsetzen. Das ganze Land schien verdorben zu sein. Saša fiel ein Fußballerspruch ein, den er mal gelesen hatte: Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß! Am anderen Ende der Straßenbahn unterhielten sich laut ein paar Studenten. Saša nahm an, dass sie zur medizinischen Fakultät Albertov unterwegs waren und bald aussteigen würden.

Beim Anblick der jungen, lachenden Gesichter fiel ihm mit überraschender Nostalgie seine eigene Studienzeit ein: Im nächsten Sommer werden es zwanzig Jahre sein, seit er seinen Abschluss an der Karls-Universität gemacht hat. Nicht zu fassen. Als die Straßenbahn quietschend vom Palacký-Platz auf die Moldaubrücke abbog, sah Saša ein riesiges Porträt des lächelnden Oberbürgermeisters von einer Hausfassade hängen.

Prag ist ein guter Wirt, verkündete der Text darunter.

Vielleicht sollte ich doch lieber zu Hause frühstücken, dachte Saša.

Es gibt Dinge, die man sich auf nüchternen Magen nicht antun sollte.

8. Kapitel

Der frische Morgenwind trieb die weißgrauen Wolken über dem Letná-Plateau voran. Mit ähnlicher Geschwindigkeit bretterte auch der Wagen des Ministers über das Letná-Plateau, aber der Innenminister Stanislav Langross schien das Verhalten seines Fahrers für richtig zu halten. Vom pausenlosen Telefonieren dröhnte ihm der Kopf, und sein Ohr tat weh, aber er fasste diese Unbequemlichkeiten stoisch als einen unvermeidlichen Tribut auf, den er den paradiesischen Privatspielräumen seines hohen Amtes zu zollen hatte. Wäre er bei der Eisenbahn geblieben, würde er bis heute im Plattenbau hocken und jeden Monat sein Kreditkonto überziehen – schon dieser Gedanke reichte aus, um seine Stimmung aufzuhellen.

Die Škoda-Superb-Limousine hielt vor dem Ministerium.

Im Büro hatte er noch drei Telefongespräche von höchster Geheimstufe zu erledigen. Der Minister schob den USB-Stick mit Chiffrierschlüssel in eine silbrigschwarze Schachtel, die ein gelber Draht mit dem Telefon verband, wartete das Signal Ready ab, nahm den Hörer ab und rief den Direktor des Tschechischen Fernsehens an, um ihm sein Missfallen über zwei in seinem Sender ausgestrahlte Reportagen mitzuteilen. Danach rief er beim Abgeordneten Tlustý an, der für ihn kompromittierendes Material über den Premierminister zusammenstellen und sich langsam etwas sputen sollte. Ganz zum Schluss meldete er sich bei seinem Investor-Freund, um sich nach »Kompensationsangeboten« der Baufirma Skanska zu erkundigen.

»Vierundzwanzig Millionen«, teilte Sekyra ihm mit.

Der Innenminister bemühte sich nicht einmal, seine Enttäuschung zu kaschieren.

»Ich hab mir mindestens fünfzig erhofft.«

»Ein paar Extras sind noch drin, das ist aber kein Thema fürs Telefon.«

Na, hab ich’s mir doch gedacht, sagte sich der Minister. Geht alles. Er schwieg.

»Außerdem hab ich ein wirklich schönes Hochzeitsgeschenk für dich. Besonders deine bessere Hälfte, die wird begeistert sein.«

Das war eine erfreuliche Nachricht, aber wie jeder gute Geschäftsmann achtete der Minister darauf, seine Freude für sich zu behalten.

»Nett von dir, danke«, sagte er möglichst gleichgültig. »Du hast recht, wir sollten uns treffen. Auch ich habe was mit dir zu besprechen. Es könnte für dich von Interesse sein: Immobilien, Prag, sechshundert Millionen. Du bist doch der Fachmann.«

»Prima. Ich habe wiederum eine Fernsehgeschichte für dich. Und eine Einladung zum Golf.«

Eigentlich ein netter Morgen, dachte Stanislav Langross, als er endlich auflegte. Wenn es den Balík nicht gäbe.

Das Erste, was dem Minister in diesem Zusammenhang einfiel, war fehlende Dankbarkeit. Heutzutage kannst du keinem vertrauen, sinnierte er. Da habe ich dem Mann buchstäblich das nackte Leben gerettet, ihn seit Monaten wie eine Jungfrau vor den Tatarenhorden durch das Zeugenschutzprogramm abgeschirmt – und der Sack ignoriert unsere Abmachung und fängt an, aus dem Nähkästchen zu plaudern. Anstatt Informationen über die Mafia zu liefern, deutet der Herr an, auch über Politiker Material gesammelt zu haben. An dem Punkt wurde es für den Minister etwas brenzlig: Würde Balíks Plauderei nur ein Drittel von dem enthüllen, was an den Tag gebracht werden könnte, müsste er sofort seinen Posten räumen. Dann wäre alles vorbei. Eine echte Niederlage. Auf der Internetseite des Innenministers prangte zwar ein Zitat von Theodore Roosevelt, das die Niederlage ausgesprochen positiv darstellte (Der Lorbeer gebührt dem Mann, der tatsächlich in der Arena steht, dessen Gesicht mit Staub und Schweiß und Blut verschmiert ist … der für eine Sache, die es wert ist, alles gibt; der im besten Falle schließlich den Triumph einer großen Leistung kennenlernt und im schlimmsten Fall scheitert, weil er Großes gewagt hat, sodass sein Platz niemals bei den kalten, furchtsamen Seelen ist, die weder Sieg noch Niederlage kennen), aber ganz tief in seiner Seele hielt der Minister sein angebliches Lieblingszitat für großmaulige Schaumschlägerei. Eine Niederlage fand er weder würdevoll noch großartig. Eine Niederlage würde schlicht und ergreifend das Ende bedeuten – und das wollte er auf jeden Fall vermeiden.

Er wollte nicht ins Kittchen.

Im Vorzimmer wartete bereits der stellvertretende Verteidigungsminister Grosche auf ihn. Er lümmelte leger auf der Schreibtischkante der Vorzimmersekretärin, starrte ihr ins Dekolleté und schlürfte genüsslich seinen Cappuccino.

»Standa, mein Freund!«, rief er theatralisch, sobald er den Innenminister in der Tür erblickte.

»Sei gegrüßt, o du Vaterlandsverteidiger.«

Der Minister mochte Grosche eigentlich gerne. Würde er ihn nicht um seine in die Millionen gehenden Provisionen beneiden, die aus den milliardenschweren Armeeaufträgen flossen, könnten sie sogar Freunde werden. Aber wo sich die Monatseinnahmen um eine Null am Ende unterscheiden, dort kann keine Freundschaft gedeihen, dachte der Minister. Trotzdem gab er sich jovial.

»Morgengymnastik vorbei? Staatsflagge gehisst?«

Er hielt sich für einen Mann (sagte er zumindest in einem Interview für die Zeitschrift Profit), der sein Gegenüber nicht nur durch sein Verhalten und sein Aussehen beeindruckte, sondern auch durch seine Wortgewandtheit. Die Sekretärin schmunzelte eifrig. Auch Grosche lächelte. Der Minister wusste allerdings, dass für den stellvertretenden Verteidigungsminister das Problem Balík noch gefährlicher war als für ihn. Er bat ihn in sein Büro und machte die beiden gepolsterten Türen sorgfältig zu.

»Gut gemacht, mit dem Artikel! Die Artillerie in Angriffsposition?«

Zur großen Verwunderung des Innenministers schien Grosche nichts von dem diskreditierenden Artikel in Aha! zu wissen – und ausnahmsweise nahm Langross ihm das ab. Im Fall Balík hatten sie dieselben Interessen, es gab für Grosche also keinen Grund, ihn anzulügen. Stanislav Langross schenkte achtzehnjährigen Malt Whisky in zwei schwere Bleikristallgläser ein und erzählte währenddessen seinem Gast den Inhalt des Boulevard-Unsinns nach.

»Das kommt wie gerufen«, stellte Grosche zufrieden fest.

»Vielleicht hat es Mort zusammen mit dem Oberbürgermeister in Auftrag gegeben. Beim Schweizer.«

»Klingt logisch.«

»Mort hockt zwar in Zadar, aber das heißt ja nichts.«

Grosche nickte.

»Vielleicht haben sie für unseren Balík auch eine Überraschung parat. An Gründen würde es den beiden nicht mangeln.«

Das kleine Wörtchen auch könnte als eine Art Geständnis gedeutet werden, das war gefährlich, aber fürs Erste ließ der Minister es durchgehen.

»Das macht uns nichts aus, oder?«

»Im Gegenteil. Synergie, verstehst du?«

Der Innenminister legte die Stirn in Falten. »Um ehrlich zu sein …«

Grosche lachte.

»Macht nichts. Ich habe einen Plan«, sagte er.

9. Kapitel

Der Oberbürgermeister stand im Schlafzimmer vor dem Spiegel. Er war nackt, aber wie immer suchte er sich zuallererst eine Armbanduhr aus.

Auch wenn es nicht der erste Stadtringabschnitt war, den er heute eröffnen sollte, handelte es sich in gewissem Sinne um einen Festtag. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und holte aus seiner Sammlung aus dem großen Schranktresor die Patek Philippe mit einem von zwölfkarätigen Diamanten umsäumten Zifferblatt heraus. Die Uhr hatte ihm neulich der Direktor der vom Verkehrsminister Řebíček protegierten Eisenbahngesellschaft Viamont geschenkt. Eine Weile betrachtete er sie entzückt, dann fing er sich aber wieder, legte das Juwel in das samtene Etui und entschied sich für die Zenith. Er mochte ihre einfache Eleganz (wäre sie nicht so teuer gewesen, hätte er Schlichtheit gesagt). Er band sich die Uhr um und besah sich seine Hand mit der Armbanduhr im Spiegel. Es war eine gute Entscheidung. Mehr oder minder unauffälliges Zifferblatt, schmales Lederriemchen – nichts, was provozieren könnte. Nur der Markenname trübte die Zufriedenheit des Oberbürgermeisters: El Primero. Der Oberste. Die Eins.

Er war aber nicht die Nummer eins von Prag.

Magistratsbeamte, einflussreiche Unternehmer und die meisten Journalisten waren sich schon lange einig, der wahre Herrscher über Prag sei nicht der Oberbürgermeister, sondern Mort. Es war ein offenes Geheimnis, dass es in Prag keinen einzigen Neubau gab, der nicht von Mort abgesegnet worden wäre. Mit welchen Stempeln und Genehmigungen auch immer die Unternehmer und Investoren aufwarteten – solange ihr Projekt nicht von Mort abgenickt wurde, hatten sie keine Chance. Sein Nicken war allerdings nicht billig.

Langer Rede kurzer Sinn: In Prag wurden die Entscheidung längst nicht mehr im Magistratsgebäude auf dem Marienplatz getroffen, sondern im Palais Fénix auf dem Wenzelsplatz. Das wussten sogar die Spatzen, die auf den goldenen Dächern tratschten. Der Oberbürgermeister ist erst die Nummer vier!, stand neulich über den wahren Herrscher von Prag in der Zeitung.

»Quarto«, wiederholte der Oberbürgermeister düster und sah sich im Spiegel an.

Er war die Nummer vier. Daran konnten weder die El Primero noch die goldene Bürgermeisterkette etwas ändern.

Konnte sich der Oberbürgermeister bei der Entscheidung für die Armbanduhr gerade noch zügeln, war er bei der Wahl seiner Unterwäsche weniger zimperlich: Agent Provocateur. Das Wäscheunternehmen hatte während der sechzehn Jahre seines Bestehens seinen Kundinnen beigebracht, dass Unterwäsche mehr sein konnte als eine weiße, im Laufe der Zeit grau angelaufene Baumwollunterhose. Nicht nur das: Die Frauen ließen sich überzeugen, dass rosa-schwarze Spitzen oder raffinierte Strumpfbänder auch unter einem Businesskostüm durchaus passend waren. Oder unter einem Anzug aus dem Salon Richter, schmunzelte der Oberbürgermeister und öffnete die Schubladen seiner Schrankwand. Eine Weile wühlte er darin, und da es heute draußen wohl etwas windig war, entschied er sich für eine rote Nahtstrumpfhose mit passendem Tanga-Slip. Natürlich kam heute kein Lippenstift in Frage, aber einen ausprobieren durfte er schon. Normalerweise bevorzugte er dunkle Töne, aber nun trug er den teuren rosa Lippenstift von Chanel auf. Zu seiner Überraschung sahen die Lippen voll aus, und das kräftige Rosa wirkte nicht vulgär; der Stift trocknete weder die Lippen aus, noch war er zu stark parfümiert. Das alles half aber nichts, er musste weg. Während er den wunderbaren Lippenstift abwischte (statt normaler Schminktücher benutzte er feuchte Babytücher mit Kamille), dachte er besorgt nach. In letzter Zeit häuften sich überall um ihn herum Probleme: Angebohrte Tunnel brachen ein, die neue elektronische Monatskarte Opencard drohte zu floppen, die waghalsigen Stauseepläne von Hydroprojekt kannten weder Maß noch Ziel, genau wie die neuesten Vorhaben von Metrostav – und der Vertrag mit der Pariser Veolia Environnement S.A. über den Bau einer Kläranlage hat sogar die EU-Kommission in Aufregung versetzt. Juristen beider Koalitionsparteien führten sich immer unverschämter auf, als gäbe es keine Grenzen für ihre Gier. Aber die Bürgermeister einiger Prager Stadteile waren noch schlimmer: Sie sackten Millionen ein, während er selbst höchstens Armbanduhren bekam … Und mitten in dieses Desaster war noch die unglückliche Kläranlage hereingeschneit. Der Oberbürgermeister besah sich erneut im Spiegel.

Dass er den Lippenstift nicht drauflassen durfte. Das war wirklich schade.

10. Kapitel

Den ganzen Vormittag dachte Darek Balík an nichts anderes als an den Artikel.

Er wusste ja, wer der Auftraggeber war: Das Boulevard-Blättchen Aha! wurde von jenem Schweizer Milliardär herausgegeben, an den Mort gemeinsam mit dem Oberbürgermeister das Palais Škoda verkauft hatte, damit die Stadt es später für zweihundert Millionen jährlich mieten konnte … Und beide, sowohl Mort als auch der Schweizer, hatten tausend gute Gründe, ihn, Balík, zu diskreditieren. Wenn nicht gleich liquidieren. Die beiden waren kein unbeschriebenes Blatt (und natürlich hielt er alles, was er über sie wusste, in einem sicheren Versteck).

Auch die Journalistenmeute kannte er in- und auswendig.

Fleischfressendes Pack, zitierte er in Gedanken den Urvater der tschechischen Literaturkritik F.X. Šalda. Prostituierte des Herzens und der Gedanken



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