Die Magd des Jürgen Doskocil - Ernst Wiechert - E-Book

Die Magd des Jürgen Doskocil E-Book

Ernst Wiechert

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Beschreibung

Fährmann Jürgen hat es nicht einfach. Er sieht nicht sonderlich gut aus, die Dorfgemeinschaft akzeptiert ihn nicht. Und seine Ehe, die ihn bisher so viel Kraft gegeben hat steht auf der Kippe. Ein Buch voller Liebe, Schmerz und Menschlichkeit.

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 Ernst Wiechert

Die Magd des Jürgen Doskocil

Roman

Impressum

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ISBN: 9783756215164

Public Domain

Inhaltsverzeichnis
Impressum
I
II
III
IV
V

I

Die Stimme der Sterbenden ist leise, aber so scharf, daß das tröpfelnde Licht neben dem Bett unaufhörlich zittert. Der Atem ist schon mühsam, der die Stimme bewegt, aber er wird nicht zu Ende sein, bevor sie alles gesagt hat. Die Hände liegen nebeneinander auf dem blaugemusterten Bettuch. Sie haben schon die Farbe der anderen Welt. Sie sind in sich bewegungslos, aber die Finger heben sich noch einzeln auf und drücken sich wie bei der Aufzählung einer Schuldenreihe wieder in den knisternden Stoff.

Der Fährmann Jürgen Doskocil sieht weder in das sterbende Gesicht noch auf die Bewegung der Finger. Er sitzt vornübergeneigt auf dem Schemel aus Holz, die schweren Hände hilflos in dem leeren Raum vor seinen Knien. Man sieht nur seine riesigen Schultern und den wilden Haarwuchs über seinem gebeugten Haupt. Aber er hört die Bewegung der Finger, die Zahl auf Zahl in das blaue Tuch schreiben. Er weiß, daß sie falsch schreiben, daß selbst der Tod dieser Frau falsch ist, aber er bewegt kein Glied seines Körpers. Er krümmt sich gleichsam zusammen, um mit der Schwere seiner Glieder sein Herz zu schützen, in das die kalten Worte hineinzielen.

Er weiß, daß es vorübergehen wird. Er weiß, daß alles vorübergeht: der Hunger und der fröstelnde Schlaf, die langen Nächte beim Fischen im schwarzen Wasser, der Spott der Kinder über seine Gestalt, die Jahreszeiten wie die Jahre seines Lebens, die schwer wie die Glieder einer Kahnkette ins Dunkle fallen.

»Wie ein Bär hast du ausgesehen«, fährt die leise und scharfe Stimme fort. »Und wie ein Bär bist du gewesen, der durch die Büsche kriecht. Hast du mir einmal etwas mitgebracht vom Markt? Bist du einmal mit mir zum Tanz gegangen? Hast du mir einmal einen Ring gekauft?«

Fünf Stunden Schlaf hab' ich gehabt, denkt der Fährmann, die ganzen fünf Jahre … von trocknem Brot hab' ich gelebt …

»Kinder wolltest du haben von mir, in jedem Jahr eins, damit sie aussehen wie du und die Hunde bellen, wenn sie vorüberkommen …«, fährt die Stimme fort, und wieder drückt der Finger sich in das blaue Tuch.

Wenn man nach Hause kommt, denkt Jürgen, aus dem kalten Wasser, aus dem Regen und dem bösen Wind … und so ein warmes Spielzeug ist da, so ein kleines, das man aufheben kann mit einer Hand …

»Und als ich geboren hatte«, fährt die Stimme fort, »da sahst du es nicht an, bis es starb in diesem Nebel und Tau, der hereinkriecht bis an den Herd …«

Drei Monate nach dem Altar, denkt Jürgen, und es war nicht von mir, und eine Geweihstange von einem Hirsch legten sie mir vor die Tür …

»Mach den Mund auf!« fährt die leise Stimme fort. »Hörst du denn nicht?«

Da hebt der Fährmann sein graues und schweres Gesicht. Es sieht wie ein Stein aus den Moorwäldern aus, als sei vierzig Jahre lang der Regen darauf gefallen. Es ist die Rinde eines Gesichts, und man weiß nicht, was darunter ist. Es ist noch keine Hand gekommen, die es entkleidet hätte, und nur die Augen brechen aus der Tiefe auf, und sie haben viel gesehen.

»Man darf nicht so sterben«, sagt Jürgen Doskocil leise. Er hat es nicht drohend gesagt. Er hat es nicht einmal anklagend gesagt. Aber es ist nun, als sei mit dem Wort vom Sterben die Luft im Zimmer anders geworden. Die Rede der Frau ist ausgelöscht, das Licht brennt mit unbewegter Flamme, und vor dem niedrigen geöffneten Fenster ist das Wasser zu hören, wie es mit dunklen, verstohlenen Klängen unter dem Holz der Fähre versinkt. Ein früher Falter rauscht um das Licht. Jürgen möchte aufstehen, um ihn in seine große Hand zu nehmen und ihn hinauszutragen, wie er zu tun gewohnt ist, aber er fürchtet den Laut seines schweren Schrittes. Vielleicht ist es auch der Tod, denkt er.

Und dann hört der kreisende Flug auf und erlischt in einem zischenden Geräusch. Ein dunkler Schatten wirft sich über die Wand, die Flamme krümmt sich sterbend hin und her, knisternd wie unter feuchtem Holz. Dann ist wieder das unbewegte, matte Licht. Aber es ist, als sei jemand dagewesen, ein fremder Atem, ein fremder Blick, und sei noch einmal fortgegangen, um wiederzukehren zu seiner Zeit.

»Es ist noch nicht zu Ende«, sagt die Stimme der Frau. Aber auch diese Stimme ist nun anders geworden, nicht freundlicher oder böser, sondern ferner, weiter zurück im gleichgebliebenen Raum. Und obwohl sie nicht leiser geworden ist, beugt Jürgen sich ein wenig vor. »Auch später wird es nicht zu Ende sein«, sagt die Stimme, »auch später nicht …«

Jürgen weiß, was sie meint. Er hat Gesichte gehabt, solange er denken kann. Alle wissen es, und ihr Hohn ist schwerer gewesen als die Last der Gabe, vor der die Türen ins Dunkle sich öffnen. Er weiß, daß sie wiederkommen will.

Ein leiser Wind geht draußen durch das Schilf, und es spricht die Ufer entlang. Langsam gehen seine Gedanken hinaus, gehen an das schwarze Wasser und bleiben dort mühsam stehen. Da sind die Netze, die im See liegen, da ist der Acker, der gepflügt werden muß. Da ist Regen, Wind und weite Wege im nassen Kleid. Da ist der Spott der Kinder und der Haß zwischen den beiden Dörfern, dem auf seiner Seite, das sie das grüne nennen, und dem auf der andern am Moor, das sie das schwarze nennen. Und er zwischen ihnen als der einzige Weg, als eine zitternde Brücke, über die die blutigen Füße gehen. Und der Herd wird nun kalt sein … und im Schatten wird ein Gesicht stehen …

Es ist jemand unterwegs, denkt er. Er weiß, wann jemand kommt, um an die rostige Pflugschar zu schlagen, die hüben und drüben am Fährweg hängt. Er erwacht in der Nacht, bevor der dunkle, erzene Klang über das Wasser kommt. Er hat ein »Fährgewissen«, wie der Pfarrer sagt.

Er hebt den Kopf und lauscht. Das Schilf ist still, und nur das Wasser zieht in leisen Wirbeln unter den Weidenwurzeln entlang. Im Schatten seiner Stirn blickt er nach dem Lager hin. Die Augen der Frau sind aufgeschlagen in dem weißen Gesicht, aber sie sehen an ihm vorbei, durch das kleine Fenster hinaus, und es muß ein weiter Raum hinter den Fenstern sein.

Er will sie fragen, ob er aus der Bibel lesen soll, den Psalm von den Flügeln der Morgenröte, aber es dauert lange bei ihm, bis das Wort aus der Seele über die Lippen tritt. Und als es den Weg zu Ende gegangen ist bis an das Tor des Mundes, zerbricht die stille Luft unter den schweren Wellen des ehernen Rufes, der von drüben über das Wasser kommt. Eine Hand hat an die Pflugschar geschlagen, mit dem eisernen Klöppel, ein einziges Mal, und in dem unbewegten Schweigen stößt jede der Schwingungen einzeln an Jürgens Ohr. Er liebt den großen Ernst dieses Tones, der fremd und fast drohend durch die Landschaft geht, ohne Verwandtschaft mit Wind oder Wasser oder dem spielerischen Menschenruf, wie eine Glocke von einem dunklen Turm. Am Jüngsten Tage könnte es so rufen …, denkt Jürgen, wenn jeder andere Ruf erloschen ist.

»Hol über!« sagt die Frau. Sie hat die Augen geschlossen und das Gesicht zur Seite gewendet. Ihre Stimme ist noch weiter zurückgegangen in das Unbekannte, und es ist, als wiederhole sie nur im Traume, was sie hart und mahnend zu sprechen pflegte, wenn Jürgen noch still unter seiner Decke lag, schon wach, bevor der Ruf ihn erreichte, aber lauschend, bis der letzte Ton des Eisens erstarb.

Das Erz ist verklungen, und Jürgen steht auf. Es ist jemand da in der dunklen Nacht und wartet. Nichts weiß er von ihm. Vielleicht sind seine Augen herübergewendet nach dem matten Licht, und vielleicht hat er die Hand, die gerufen hat, wieder im Mantel verborgen. Das ist alles, was er weiß. Und jedesmal fährt er in ein Geheimnis hinein. Und einmal könnte Christus dastehen, der zu einem Sterbenden will … und einmal könnte Gott dastehen. »Ich habe es mir nun bedacht, Jürgen Doskocil«, könnte er sprechen. »Und ich will dir einen Acker geben und einen stillen See, wo du dich nicht mehr so zu quälen brauchst … Ruhe nun aus, mein Knecht Doskocil …«

»Hol über!« sagt die Frau noch einmal.

Jürgen nimmt die Schlüssel für die Kahnkette und das schwere Ruder hinter dem Herd. Seine Füße sind mit Lappen umwickelt, und er geht aus der Stube wie ein schweres, lautloses Tier. Im Flur zündet er die Laterne an, und dann schließt er leise die Tür.

Wie ein warmes Gewölbe tut die Nacht sich vor ihm auf. Er fühlt die schweren Wolken am Himmel und riecht die Erde, in der der Frühling erwacht. Hinter dem schwarzen Dorf ruft ein Vogel über dem Moor. Es klingt, als habe man ihn vergessen. Das Wasser murmelt unter dem Holz der Fähre, und im Schilf rührt sich eine fremde Hand.

Jürgens Schatten schwankt wie der Schatten eines Baumes, und die Gräser sehen falsch und böse aus im weißen Licht. Wie in einer erhellten Kugel geht er durch die Nacht, und die Kugel bewegt sich langsam zum Wasser hinab. Wenn sie versänke, würde es leise aufzischen wie der Falter im Licht. Die Kette klirrt am Holz des Kahnes, und die Laterne wirft einen weißen Schein auf den dunklen Spiegel rings um das Boot. Dann rauscht das Schilf um das gleitende Holz, und dann ist nur das Flüstern des Wassers unter dem flachen Kiel.

Sie könnten mich wieder narren, denkt Jürgen, wie so oft … aus dem schwarzen Dorf … und fortlaufen, wenn ich komme … aber es rief wirklich … es ruft anders sonst … Christus könnte zu ihr kommen … zu ihrem bösen Tod …

Vor seinen Augen ist nichts als eine schwarze Wand, die sich lautlos teilt. Aber er fühlt das Ufer, wie er den kommenden Regen fühlt oder das flachwerdende Wasser. Denn die toten Dinge sind ihm vertraut, und nur der Mensch baut die Mauer der Fremdheit von Herz zu Herz.

Der Kiel stößt leise auf, und Jürgen hält mit dem Ruder den Kahn in der Strömung.

»Wer ist da?« fragt er scheu.

Die Erde schweigt. Ein unsichtbarer Wirbel mahlt sich leise durch die Flut, taucht unter das Boot, versinkt. Der Vogel ruft noch einmal hinter dem Moor. Der Hauch eines Windes kommt aus dem Erlenwald, rührt an das Gras und stirbt. Das Boot ist nun ganz allein.

»Ist niemand da?« fragt Jürgen.

Er nimmt die Laterne und steigt an Land. Er fürchtet sich nicht, aber seine Augen sind schwer wie von einem »Gesicht«. Er hebt die Laterne an die Pflugschar. Tau liegt in Perlen auf dem dunklen Rost. Kein Fleck zeigt an, daß eine Hand den Klöppel gegen sie geschlagen hat. Er bleibt noch stehen neben dem grauen Holzgerüst und sieht über das Wasser nach dem Licht, das zu Häupten der Sterbenden steht. Es könnten die Jungen sein aus dem schwarzen Dorf, denkt er. Spurlos sind sie, wie Katzen aus dem Wald … Und dann atmet er einmal tief auf und fährt zurück. Seine Gedanken verlieren sich in der ziehenden Flut, und er muß den Kahn am Ufer entlang rudern, stromauf, weil die Strömung ihn abgetrieben hat bis zu der toten Eiche vor dem Fichtenwald.

Er tritt leise ein und weiß, was geschehen ist. Das weiße Gesicht ist noch warm, aber unter der Haut steigt langsam die Kälte empor. Unter den Lidern ist ein schmaler Spalt, und man sieht tief hinein in die Brunnen des Todes. Der Zeigefinger der rechten Hand ist noch leise gekrümmt von der letzten Zahl, die er in die Schuldreihe geschrieben hat.

Jürgen schließt die kühlen Lider über dem fremden Tod und glättet die Finger der Hand. Und weiter weiß er nichts zu tun mit diesem Tod. Er sitzt wieder auf dem Schemel, die Schläfen in die Hände gestützt, und starrt in das Dunkel hinter dem Herd. Er sieht nicht in das schweigende Gesicht, denn es gehört nicht zu ihm. Viel Leid hat er von ihm empfangen, fünf Jahre hindurch. Sein Spaten ist ihm vertraut und sein Pflug, sein Ruder und sein Boot. Aber dieses war ihm nicht vertraut, kam in sein Leben herein wie ein fremder Stein, schlug an sein Herz und fiel von ihm ab. Das Kind war fremd, das sie gebar, der Leib, der es trug, der Mund, der mit ihm haderte. Sie hatte ihn genarrt, wie alle ihn narrten. »Hol über!« Aber dann lief es davon, durch die Nacht, und nichts war er als die Brücke, über die man ging.

Um die Morgenzeit wäscht er die Tote, zieht ihr das Sterbehemd an und deckt ein Tuch über das schweigende Gesicht. Er hält die Augen geschlossen, als er den toten Leib entkleidet, denn er gehört ihm nicht an, und auch über dem Tode steht das Gesetz der Scham.

Dann nagelt er im Netzeschuppen den Sarg. Es sind gehobelte Fichtenbretter, und sie riechen nach Sommer und Wald. Er hat kein Geld zu einem schwarzen Sarg, und die Bretter sind rein. Keine Hand außer der seinen hat sie berührt zwischen Baum und Sarg.

Als die Sonne aufgeht über dem dampfenden Wald, sitzt er auf dem Sägebock vor dem Schuppen, ißt sein schwarzes Brot und trinkt den kalten Kaffee vom Herd. Die Netze, denkt er, und dann zum Pfarrer und zum Amt … ich kann die Fische mitnehmen und verkaufen … der Totengräber bekommt zehn Pfund … die Träger bekommen fünf … ein Brot muß ich mitbringen … nachmittags Heini rufen und pflügen … Zeit für die Kartoffeln … Netze in der Schilfbucht auslegen … bis zuletzt waren die Finger gekrümmt … Krebsreusen fertig machen … morgen ist Markt … bei der Fähre bleiben … Saatkartoffeln schneiden … wer wird zu mir kommen in meiner Not?

Das Finkenpaar vom letzten Sommer ist wieder da, sitzt vor seinen Füßen und wartet auf die Krumen aus seiner Hand. Ein tröstliches Band schlingt sich von ihnen wieder zurück. Der Sommer wird kommen, die Gewitter über dem Wald. Die Fische wandern zu reichem Fang, wenn das Wetter leuchtet über dem See. Und junge Tiere wird er wieder fangen im Wald, in ihre feuchten Augen sehen, die zitternde Haut streicheln. Tiere sind besser als Kinder. Sie spotten nicht, und sie können nicht sprechen hinter ihm her.

Als er zum Kahn geht, mit dem Ruder in der Hand, sieht er wie ein Tier aus dem Moorwald aus. Das dunkel Haar fällt über das graue Gesicht, die Schultern werfen einen Schatten wie ein Baum, die Beine sind gekrümmt. Als er die Kette vom Pfahl nimmt, sieht er sein Gesicht im schwärzlichen Wasser. Er hält die Hände still und beugt sich ihm entgegen. Der andere sieht ihn an, aus der Tiefe aufsteigend, ein fremder Mensch. Er weiß nicht, wie er aussieht, und erschrickt. Er hat Arbeit, Gram und Not, aber er weiß nichts von seinem Gesicht. Er weiß von seinen Händen und der Last seiner Glieder, von seiner Kraft und seinem lautlosen Schritt. Aber der Mund? Er spricht nicht und er lächelt nicht. Wozu hat er einen Mund? Wozu Wangen und Stirn? In seinem Leben liegt sein Gesicht wie ein Stein im Wald. Nur die Augen reichen tief bis in sein Herz. Traurige Augen wie bei einem alten Wolf. Augen, die Gesichte haben, weit hinter der Welt. Er dreht sich schnell um und blickt nach der Hütte. Aber das Laken hängt vor dem Fenster, und auf der Eiche über dem grauen Dach sitzt der Fink. Als er wieder abwärts blickt, hat die Kette sich gerührt, und das Bild sinkt zerbrochen in die Tiefe.

Um die Mittagszeit ist er zurück. Es ist alles bestellt, und der Pfarrer hat versprochen, daß die Glocken läuten werden. Er tut es umsonst. »Du bist das Kind meiner Gemeinde, Doskocil«, pflegt er zu sagen, »Gottes treuester Knecht … viel trägst du auf deinen Schultern.«

Es ist schön, daß sie läuten werden, denkt Jürgen unterwegs. Es ist nur ein weißer Sarg, aber vor den Glocken machen sie oben das Tor auf. Wer arm ist, muß sich melden … und die Kinder sollen singen … es ist ja nicht für mich …

Hinter der Biegung taucht die Hütte auf. Sonne liegt über dem sich begrünenden Wald. Die Ziege auf dem Wiesenstück hebt den Kopf und blickt ihm entgegen. Ja, wie eine Furche im Wasser ist der Tod, und rechts und links geht alles seinen dunklen Gang. Am linken Ufer sitzen die Kinder aus dem schwarzen Dorf und angeln. »Doskocil!« ruft eine helle Stimme. »Doskocil … kann nicht viel … kriegt ein Kind, das er nicht will …«

Jürgen sieht die lachenden Gesichter. Wer wird mir Kinder schenken? denkt er. Sie würden nicht so singen … Er rudert vorbei, ohne zu antworten, aber seine Arme sind müde, und die Sonne ist kalt über Wasser und Land.

Er sieht einmal in die dämmernde Stube hinein. Die Luft ist kühl über der weißen Gestalt, und es ist wie ein fremdes Haus, in das er hineinsieht zur Nacht. Alle Dinge sind versiegelt und sehen ihn feindlich an. Er ist nicht schuldig, er lebt nur, aber dieses hat Macht gewonnen über den Raum, seit er fortgewesen ist. Mehr als eine Furche ist der Tod. Die Luft steht still mit einem fremden Geruch. Der Atem seiner Jahre ist fortgewischt wie von einem getrübten Glas. Er hat geteilt mit einem andern, und der andere hat auch seinen Teil fortgenommen in einem listigen Spiel. Es ist mehr gestorben als die Frau. Etwas von dem Raum ist mitgestorben, ein Stück vom Herde, von der Sicherheit der Dielen, vom Dunkel des Daches. Ja, mehr als eine Furche ist der Tod.

Er kocht ein paar Weißfische in einem Feuerloch aus Steinen und richtet währenddes den Sarg. Er hat nichts als Hobelspäne und Sägemehl. Darüber deckt er ein grobes weißes Tuch. Zum Abend wird er Tannenäste holen für den Rand.

Als der Schatten des Daches die Bootsspitze berührt, weiß er, daß es noch fünf Stunden sind bis zum Untergang. Er schlägt zweimal an die hängende Pflugschar, und nach einer Weile ist Heini da. Es ist das Zeichen für ihn. Er kommt den grünen Weg zwischen Wald und Bruch entlang, eine Weidenrute in der Hand, ohne rechts oder links zu sehen, gehorsam und demütig wie ein treuer Hund. Er ist einer Waldarbeiterin uneheliches Kind, sechzehn Jahre alt, verwachsen wie ein Weidenbaum. Sein Gesicht ist unendlich alt, mit andern Linien als denen der Menschen, zugeschlossen, kalt, mit langen Wimpern, in sich gekehrt und für sich allein wie der Pilze stilles Gesicht. Nur wenn er die Wimpern hebt, leuchtet das braune Auge sanft, von innen kindlich erhellt. Aus einem Schwanenhalseisen hat Jürgen ihn befreit, das der Förster tief im Bruch gestellt. Stumm, ohne Klage, wie ein Tier saß er darin, vierundzwanzig Stunden durch Tag und Nacht. Seither kommt er, wenn das Eisen zweimal ruft.

»Müssen pflügen, Heini«, sagt Jürgen.

Heini nickt. Er sieht nach dem Laken vor dem Fenster. Als Jürgen nichts sagt, geht er hinein. Jürgen setzt den Pflug an den Rand des kleinen Feldes und legt den breiten Gurt um seine Brust. Ein Pferd, denkt er, steht ohne Ungeduld wartend da und blickt nach dem Wald. In fünf Jahren ist vielleicht ein Pferd da … aber das Leben geht auch so …

Heini kommt stumm zurück, nur sein Gesicht ist unruhig, als habe er gestohlen.

Und dann legt Jürgen sich in den Gurt des Geschirrs und zieht die erste Furche durch das schwarze Land. Von weitem sieht es aus, als habe sich ein Tier aufgerichtet und gehe auf den Hinterbeinen mühsam im Gleichgewicht. Und die viel zu langen Arme hinter ihm, die die Pfluggriffe halten, könnten die behutsame Gebärde eines Wärters sein, der das unnatürlich Aufgerichtete vor dem Sturze zu bewahren trachtet.

Aber sie blicken beide zur Erde, und die Erde ist ihnen merkwürdig nah, weil sie jeden Fußbreit des Bodens mit jedem Halm und jedem Stein zum letzten Male sehen, ehe die blanke Schar ihn in das Dunkel legt. Und weil kein Mittler zwischen ihnen und der Erde ist, ein Ochsengespann oder ein Pferd. Es ist ihnen beiden, als höben sie jede Scholle mit ihrem eignen Körper hoch. Heini hat noch immer die Weidenrute in der Hand. Er denkt nicht daran, sie antreibend zu heben, aber es würde etwas unvollkommen für ihn an dem Bilde sein, in dem er geht, wenn sie fehlte. Erst als sie zum erstenmal den Pflug wenden und vor der neuen Furche aufatmend stehen, sagt er, den Blick zur Hütte zurückgewandt: »Wie ein kalter Ofen ist der Mensch …« Jürgen muß ihn erst eine Weile ansehen, wobei er seine dunklen Brauen auf eine schmerzliche Weise zusammenzieht, bevor er statt einer Antwort nickt.

Sie pflügen bis zur Kaffeepause. Sie atmen beide schwer, und nur wenn sie den Pflug wenden, fällt ab und zu ein Wort, wie ein Stein aus einer müden Hand. »Der Bussard ist da«, oder »Sie wollen auch läuten«, oder »Zwei Hechte liegen im Kahn für dich.«

Erst als sie den kalten Kaffee aus einer blauen Blechkanne trinken und das schwarze Brot mit ihren Händen brechen, gibt es eine Unterhaltung. Sie sitzen auf der warmen Grasböschung neben dem Pflug und sehen beide auf das Moor hinter dem Wasser. Eine schwere Wolke steht über dem leuchtenden Horizont, und die Sonne liegt auf schrägen blauen Balken über ihrem Rand.

»Der Schwarzspecht hat gerufen, vormittags«, sagt Heini.

»Ja, er ruft auf Regen.«

»Was sagtest du … wie ist es mit der Springwurzel?«

Jürgen blickt einmal zur Seite, nach dem schweigenden Wald. »Er trägt sie am Freitag … bei zunehmendem Mond.«

»Man kann es sehen?«

»Manchmal.«

»In einem hohlen Baum?«

»Ja.«

»Sie gibt alle Schätze?«

»Der Großvater hat so gesagt.«

»Auch … auch daß man wieder gerade wird?«

»Er hat so gesagt.«

Das Kind faltet die langen Hände der Buckligen um seine Knie und sieht über das Moor. Seine Augen sind weit aufgeschlagen, und die Sonne weckt goldene Punkte in dem sanften Braun seiner Iris. Jürgen seufzt und streckt die Beine aus, weil seine Knie vom Pflügen zittern. »Man muß auskommen«, sagt er still. »Wenn sie uns nicht haben, würden sie die Hunde quälen …«

Heini nickt. Er lächelt sogar. »Du bist stärker als alle zusammen«, sagt er. »Dann ist es nicht so schwer …«

Als die Sonne untergeht, sind sie fertig. Jürgen holt die Hechte aus dem Boot. »Danke«, sagt er, als er sie dem Jungen reicht. Dann fährt er mit den dreimaschigen Stellnetzen hinaus.

Es dunkelt, als er wiederkommt, aber er riecht die Tannen, die der Bucklige auf die Schwelle gelegt hat, einen dick geflochtenen Kranz und einen kleinen Hügel grüner Äste. Er öffnet die Türen, wobei seine starken Hände zittern, und stellt die beiden Schemel zurecht. Dann zündet er das Licht an und steht wartend mit angehaltenem Atem, bis die Helle das Lager umfaßt, die Wände, den Herd. Nichts ist geändert, aber alles ist erstarrt: die Gestalt, die Luft, der Raum. Der Tod füllt sein Haus, und er fühlt sich eingefroren wie ein Schilfhalm im Eis des Sees. Stärkeres gibt es als seine Kraft. Schrecklich ist es, wenn ein Mensch erstarrt. Pflügen kann man und fischen, aber immer wird dies da sein. Niemals geht ein Tod fort. Niemals stirbt ein Mensch für sich allein … Heini könnte dasein oder wenigstens ein Tier … ein ganz kleines, warmes Tier …

Dann hebt er den Sarg im Schuppen auf seine Schulter und trägt ihn hinein. Der Sarg ist leichter als der Tod. Bevor er die Leiche hebt, sieht er sich um, aber es ist niemand außer seinem Schatten da.

Als er die Ziege gemolken hat, bleibt er noch ein wenig auf dem Schemel sitzen: sie dreht den Kopf und sucht mit schnuppernden Lippen nach der Tasche in seinem grauen Rock. Da legt er die Stirn auf den warmen Rücken des Tieres, der nach Gras und Sonne riecht und dem fremden Leben einer fremden Kreatur. Ein später Wagen kommt den Waldweg entlanggerollt. Das Echo läuft knatternd und mahlend mit. Der ganze Wald ist laut und geht tönend und mahnend neben dem Wagen her. Jürgen steht schon neben der Fähre, damit das Eisen nicht laut durch den Wald klingt. Es ist jemand von hinter dem Moor.

»Die Frau ist tot?« fragt eine Stimme aus dem Dunkel, als das Wasser schon unter der Fähre zieht.

»Ja«, sagt Jürgen.

»Schwer ohne Frau«, sagt es nach einer Weile. Und dann rauschen nur wieder die Wirbel unter den Fugen im Holz.

Zwei Münzen klingen aneinander, und dann geht die tönende Nacht wieder fort. Das Licht auf der Fähre erlischt, und die Rolle stöhnt über dem Drahtseil. Wildenten pfeifen unter den Sternen, als Jürgen zum Schuppen geht, um auf den Hobelspänen zu schlafen.

Am nächsten Tage ist das Begräbnis. Das grüne Dorf begräbt die Tote, aber auch das schwarze stellt das Gefolge. Der Tod löscht für eine Stunde die Gebärde des Hasses. Der Pfarrer sieht aus, als habe man ihn eben von dem Pfluge geholt und ihm einen Talar umgeworfen. Seine Hände sind braun und schwer, und Jürgen fühlt sich ruhig und zu Hause bei diesen Händen, deren Gebärde über das offne Grab geht wie über ein Saatfeld. Er fühlt, daß dies eine seltsame Predigt ist, die der Pfarrer hält, aber auch in den Worten fühlt er sich zu Hause. Denn der Pfarrer predigt von Simson, dem Knecht des Herrn, und es ist Jürgen in seinem schweren, müden Sinn, als sei da etwas mit einer Frau gewesen und als sei diese Bibelstelle vielleicht etwas hart für die Tote unter dem hellen Fichtenholz. Aber als er seine Augen zu dem Gesicht des Pfarrers aufhebt, weiß er, daß da alles gut und gerecht aufgehoben ist: das Schicksal der Lebenden und der Toten.

»Vieles hast du übergeholt in deinem Leben, du getreuer Fährmann Jürgen Doskocil«, sagt der Pfarrer, »die Grünen und die Schwarzen, das Leben und den Tod. Und dein Ruder war gerecht, wie deine Münze gerecht war. Und als der Tod zu deinem Hause wollte, bist du übergefahren und hast ihn geholt, so treu und gehorsam, als hätte ein Kind in seiner Schwachheit nach dir gerufen. Es wird dir vergolten werden, du getreuer Fährmann. Und die nun anklopfen wird an Gottes Tür, wird es ausrichten von deiner Treue, weil von ihr abgefallen sein wird, was unsre Augen trübt.«

An sein kleines Kornfeld denkt Jürgen, als er die Erde auf den Sarg wirft, und an die Halme, die er mit der Toten geschnitten hat, als noch kein Zorn ihr Herz gegen ihn bewegte. Und die dritte Handvoll Erde wirft er bis zu ihren Füßen, als hebe er sie aus einem Laken, und er weiß, daß es wahr ist, was der Pfarrer von der Auferstehung sagt.

Die Schulkinder singen, in langgezogenen Tönen, und die Stimmen der Frauen schweben hoch und klagend über der schleppenden Melodie.

Jürgen steht noch neben dem Pfarrer an dem gewölbten Hügel, und es ist ihm schön, daß er nichts zu sagen braucht. »Und wenn sie wiederkommt, Doskocil«, sagt der Pfarrer, »so wisse immer, daß sie aus unserer Seele aufsteigen und nicht aus dem Grabe. Und man soll ihnen nicht verbieten, noch weiter bei uns zu wohnen. Aber du mußt nun jemand zu dir nehmen, daß du einen Teller auf dem Tisch und eine Menschenstimme in deinem Herzen hast.«

»Die Ziege ist da«, sagt Jürgen.

Aber der Pfarrer schüttelt den Kopf und sieht nach seiner Gemeinde, ob die Dörfer sich schon getrennt haben. »Nicht von diesen«, sagt er noch. »Vielleicht ruft es einmal wie in jener Nacht. Dann fahre hinüber und sieh, ob Gott dir etwas schickt.« Die Glocken verstummen, als Jürgen zur Fähre geht. Der Himmel wird gleichsam leer, und er tritt leise auf, als gehe er durch ein schlafendes Haus. Erst als er von weitem die Ziege neben der Hütte sieht, wird der Atem ihm etwas freier in der schweren Brust.

Er setzt das Trauergeleit aus dem Moordorf über, verweigert das Geld und sagt: »Ich danke auch.« Er zieht den grauen Rock wieder an, macht die Netze fertig, steht lange vor der Schwelle und geht dann endlich hinein. Noch immer schweigen die Dinge. Aber die Luft riecht schon etwas nach See und Wald, und als er mit der Hand über den Lehmherd fährt, ist etwas von der Sonne da, die durch das kleine Fenster fällt.

Es dämmert schon, als er vom Wasser kommt. Er hat vieles zu bedenken. Er melkt das Tier und schüttelt die Streu zurecht. Er schneidet Kartoffeln zur Saat und hämmert an einer Kette für den Fischkasten. Und als er in das Haus geht, um ein Stück Draht zu holen, das hinter dem Herde hängt, hat er vergessen, daß das Fremde noch nicht vergangen ist aus Zeit und Raum. Ein kühler Wind geht über ihn hin, als er die Türe öffnet, und noch bevor er denken kann, daß es der Zug ist, dem er einen Weg bereitet hat, sieht er sie neben dem Herde sitzen. Es ist nur der Umriß im dunkelnden Licht, die Neigung der Stirn und der Schultern, und Augen und Hände sind auf etwas Unsichtbares gerichtet, weit von ihm fort, ohne Frage oder Drohung. Und bevor sein schwerer Geist sich mit der Erkenntnis des Geschehens erfüllt hat, ist das Bild fort, an der Grenze noch, erlischt hinter einer lautlos zufallenden Tür, ohne Nachklang, ohne Spur.

Jürgen nickt einmal vor sich hin, in den leeren Raum. Dann geht er zum Herd und holt den Draht. Er muß zweimal zufassen, ehe seine Hand ihn hält. Er macht die Kette fertig, aber er öffnet die Tür zum Ziegenstall, hängt die Laterne an den Pfosten und arbeitet dort, wobei er ab und zu innehält, um zu hören, wie das Tier an seinem Nachtfutter nascht.

Diese Nacht schläft er neben dem Herd.

II