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Die Welt lag ihm zu Füßen, aber Noel wollte nur das hier: Nur Luciens Blick auf ihm, ein warmes Heim und Musik im Takt seines Herzens. Romantische Cosy Fantasy über die Liebe zum Partner, zur Familie und zu sich selbst Wie ein unsichtbares Netz durchweben magische Fäden die Welt von Brinon und verbinden auch Familien miteinander. Wenn eine Person stirbt, muss jemand an ihre Stelle treten, um das magische Gewebe zu erhalten – ansonsten drohen schwere Konsequenzen. Für Lucien, der Magie sehen und hören kann, ist der unerwartete und viel zu frühe Tod seiner Zwillingsschwester Celine eine doppelte Herausforderung: Er muss sein idyllisches Landgut Cinq Soleils verlassen, das ihm Schutz vor der Welt bietet, und zur Beerdigung seiner letzten Verwandten in die Großstadt Villeneuf reisen, die für seine empfindsamen Sinne die reinste Qual ist. Und all das nur, weil die Magie ihn verpflichtet, den Platz seiner Schwester einzunehmen und Celines Witwer Noel zu heiraten! Als die Großstadt ihn zu zerbrechen droht, bleibt nur die Rückkehr auf sein Landgut. Der trauernde Noel wiederum leidet sehr darunter, dem ihm unvertrauten Lucien zuliebe nun auch noch sein Zuhause verlassen zu müssen und ausgerechnet aufs Land zu ziehen – fernab von der High Society Villeneufs, in der er brilliert. Doch während der Sommer das Landgut erstrahlen lässt, entdecken die beiden Männer, dass Liebe viele Facetten hat und Magie in bisher unbekannten Formen existiert. Einfühlsam, berührend, hochemotional: Queere Wohlfühl-Fantasy für die Leser*innen von T. J. Klunes Mr Parnassus' Heim für Magisch Begabte oder Madeline Millers Das Lied des Achill. Auf diese Tropes kannst du dich freuen: - queere Liebe - arranged marriage - strangers to lovers - grumpy x sunshine - slowburn - no spice - found family - who did this to you - happy end - consent - soft parenting - everyone needs a big hug »Dieser Fantasy-Roman ist für alle, die ein bisschen anders sind und sich alleine fühlen, und für alle, die Licht in der Dunkelheit finden wollen.« Eleanor Bardilac
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Seitenzahl: 501
Veröffentlichungsjahr: 2024
Eleanor Bardilac
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Die Welt lag ihm zu Füßen, aber Noel wollte nur das hier: Nur Luciens Blick auf ihm, ein warmes Heim und Musik im Takt seines Herzens.
Romantische Cosy Fantasy über die Liebe zum Partner, zur Familie und zu sich selbst
Wie ein unsichtbares Netz durchweben magische Fäden die Welt von Brinon und verbinden auch Familien miteinander. Wenn eine Person stirbt, muss jemand an ihre Stelle treten, um das magische Gewebe zu erhalten – ansonsten drohen schwere Konsequenzen.
Für Lucien, der Magie sehen und hören kann, ist der unerwartete und viel zu frühe Tod seiner Zwillingsschwester Celine eine doppelte Herausforderung: Er muss sein idyllisches Landgut Cinq Soleils verlassen, das ihm Schutz vor der Welt bietet, und zur Beerdigung seiner letzten Verwandten in die Großstadt Villeneuf reisen, die für seine empfindsamen Sinne die reinste Qual ist. Und all das nur, weil die Magie ihn verpflichtet, den Platz seiner Schwester einzunehmen und Celines Witwer Noel zu heiraten! Als die Großstadt ihn zu zerbrechen droht, bleibt nur die Rückkehr auf sein Landgut.
Der trauernde Noel wiederum leidet sehr darunter, dem ihm kaum vertrauten Lucien zuliebe nun auch noch sein Zuhause verlassen zu müssen und ausgerechnet aufs Land zu ziehen – fernab von der High Society Villeneufs, in der er brilliert. Doch während der Sommer das Landgut erstrahlen lässt, entdecken die beiden Männer, dass Liebe viele Facetten hat und Magie in bisher unbekannten Formen existiert.
Einfühlsam, berührend, hochemotional: Queere Wohlfühl-Fantasy für die Leser*innen von T. J. Klune oder Travis Baldree.
»Dieser Fantasy-Roman ist für alle, die ein bisschen anders sind und sich alleine fühlen, und für alle, die Licht in der Dunkelheit finden wollen.« Eleanor Bardilac
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Content Notes - Hinweis
Alles ist eins
Ein Schicksal in fremder Hand
Die Stadt der Lichter
Schlaflos durch Villeneuf
Wer Wind sät
Porzellangeschöpfe
Auf- und Umbruch
Seidene Fäden
Reparaturversuche
Annäherungen
Novemberblau und Trauerrot
Zart geknüpfte Bande
Kupfer, Gold, unbekannte Gaben
Pinke Federn, süßes Gift
Atempause
Bewährungsproben
Ein Sturm zieht auf
Geister und Gegenwart
Ein Prosit der Gemütlichkeit
Thesen auf den Tisch
Zeit für Experimente
Im Krieg und in der Liebe
Cinq Soleils putzt sich heraus
Die Beständigkeit von Wasser
Der Wert von Familie
Geborstener Stahl und goldene Wurzeln
Epilog
Danksagung
Content Notes
Mein Mondfisch,
du hast mich einmal darum gebeten, dass Lucien und ich dir den Anfang unserer gemeinsamen Geschichte erzählen. Sieh die folgenden Seiten als einen entsprechenden Versuch.
Manche unserer damaligen Erlebnisse und Gefühle waren schmerzhaft und beunruhigend, und sicher haben wir alle nicht immer das Richtige in deiner Erziehung getan, aber ich möchte dir nichts vorenthalten und die Geschehnisse so ungeschönt wie möglich schildern. Lass dir diese Zeilen dennoch eine Warnung sein und achte auf dein Wohlergehen beim Lesen. Lucien und ich fügen der folgenden Erzählung am Ende eine Liste an Hinweisen zu potenziell aufwühlenden Themen in jedem Abschnitt hinzu. Wirf, wenn du möchtest, vor dem Beginn deines Leseabenteuers einen Blick darauf und entscheide selbst, was du dir zumuten möchtest.
Ich hoffe, dass du an dieser Geschichte Freude hast und vielleicht ein wenig mehr herausfindest über die Familie, die wir uns geschaffen haben. Und natürlich über deine Mutter und wie viel sie uns bedeutet hat.
Wir alle lieben dich sehr. Ich freue mich auf deine Meinung zu dem Text, der vor dir liegt, und kann es nicht erwarten, mit dir eines unserer wundervollen Gespräche darüber zu führen.
Innig und für immer,
dein Vater.
Lucien
Im Schneidersitz neben dem Leichnam seiner Schwester sitzend, nahm Lucien nichts wahr außer der Magie: Magie in den damit vollgesogenen Tempelmauern. Magie im Körper der Zeremonienmeisterin. Magie, satte Magie in Noel Moreau, aus dem sie in trüben, zittrigen Klängen über seine rote Trauerkleidung tropfte.
Außer Lucien fiel dieser magische Lärm weder Noel noch der Zeremonienmeisterin auf. Die meisten Menschen sahen und hörten die magischen Fäden nicht, die der Hauptteil der Bevölkerung webte. Deswegen konnten sie in einer Großstadt wie Villeneuf auch problemlos leben – während Lucien am liebsten sofort wieder Reißaus genommen hätte. Es gab Gründe, warum er seine Prothesenwerkstatt auf dem Land aufgebaut hatte und die Besuche in der Hauptstadt in den letzten Jahren an einer Hand abzählen konnte.
Bei der Spinnerin, mit dem roten Spitzenschleier vor seinem Gesicht konnte er kaum sehen! Lucien kratzte sich an der Nase, atmete tief durch, verlagerte das Gewicht. Neben ihm verlor Noel keinen Moment die Haltung, sondern saß still wie eine Statue: Kopf geneigt, Hände am Schoß verkrampft. Feuchte Flecken auf seinem eigenen Schleier: Tränen. Lucien schluckte schwer. Vermisste Noel Celine? Fürchtete er sich vor der Verbindung mit Lucien? War er genauso überwältigt, wie Lucien sich fühlte? Ein Teil von ihm hätte Noel am liebsten versichert, dass sie hier gemeinsam in einem Boot saßen. Der Rest biss die Zähne zusammen und versuchte, nicht zu schreien unter den Eindrücken, die über seine Nerven kratzten: Magie, die als disharmonischer Akkord durch seinen Körper vibrierte; Villeneufs Klänge; Noels Weinen; der Gesang der Zeremonienmeisterin, der auf die Herzzeremonie einstimmte, in der Noel und er miteinander verheiratet werden würden.
Lucien hatte nicht um das hier gebeten, nicht um diese kurze Rückkehr nach Villeneuf und nicht um Noel. Aber in Brinon bestimmten die Toten, wer ihre Lücke im magischen Familiengeflecht zu schließen hatte, und Celine hatte von allen infrage kommenden Leuten – es waren zugegeben nicht viele – ausgerechnet ihn erkoren. Er hätte sich weigern können. Doch weder Noel noch Celeste verdienten die Konsequenzen, die ein Nichtauffüllen der Lücke im Familiengewebe der Moreaus bedeutet hätte. Und die beiden einer seiner Tanten überlassen? Dieses Schicksal hätte Lucien nicht einmal seinem ärgsten Feind gewünscht.
»Celine Moreau.« Die Zeremonienmeisterin sprach mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme. Wie Noel und Lucien war sie völlig in Rot gekleidet, nur unverschleiert. Ihre mit schwarzen und weißen Punkten bemalten Handflächen zeigten über Celines grau gewordenem Gesicht nach oben. »Deine Essenz kehrt zurück zur Essenz der Welt und nährt das Netz, wie das Netz dich nährte. Alles ist eins.«
»Alles ist eins«, wiederholte Noel, während stechender Schmerz sich hinter Luciens Schläfe ankündigte, als er auf das fremd gewordene Gesicht seiner Schwester starrte.
Alles war eins, aber er würde nie wieder ihr Lachen hören, nie wieder Erinnerungen teilen, nie wieder sehen, wie sie sich mit keckem Gesichtsausdruck den Lavendelhonig von den Fingern leckte. Sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen und auch sonst nur wenig Kontakt gehabt, aber das bedeutete nichts. Celines Verfügung fühlte sich an wie ein Handausstrecken – und wie eine Bürde. Ein zweischneidiges Schwert wie vieles, was sie getan hatte. Hatte sie so entschieden, weil sie Lucien mit ihrem Mann und Kind vertraute? Vermutlich. Und das war viel wert. Egal, wie wenig er sie am Ende ihres Lebens noch gekannt hatte: Einst war sie die Einzige gewesen, die ihm zugehört hatte – sein lindernder Schatten in grellem Licht. Also würde er die beiden Menschen aufnehmen, die ebenfalls ihre Liebe erfahren hatten.
»Alles ist eins, und ohne das Eine ist das Alles nicht komplett«, sagte die Zeremonienmeisterin und schloss die Augen. »Celine Moreau, ich rufe dich an, noch einmal den Weg aus dem Nebel zu finden und zu uns zu kommen. Celine Moreau, Tochter – Schwester – Gefährtin – Mutter, schließ mit uns das Loch im Geflecht.«
Rostrote Fäden schossen aus ihren Händen in die Tote. Magie sirrte und vibrierte unerträglich im Raum. Lucien biss die Zähne zusammen, bis es knirschte und heißer Schmerz nun endgültig in seine Schläfen schoss. Verschwommen bemerkte er, wie Noel ein wenig seine Position veränderte, unruhig aufgrund der Magie, die er nur fühlen, aber nicht wie Lucien hören und sehen konnte – und dann öffnete die Zeremonienmeisterin die Augen.
»Sie ist hier«, sagte sie mit der Schwere einer zweiten Präsenz in ihrem Blut. »Reicht mir eure Hände. Über dem Leib der Verstorbenen, unter ihrem Blick, werde ich diese Verbindung und das Loch im Gewebe der Welt schließen.«
Noel legte eine Hand in ihre rechte, Lucien eine in ihre linke. Kupfergefärbtes, windspielwarmes Sirren mischte sich mit den rostroten Fäden der Zeremonienmeisterin: Celine, oder zumindest ein magisches Echo von der, die sie gewesen war. Noel atmete scharf ein. Ob Noel Celine auch erkannte? Seine Gestik und Körperhaltung waren Lucien noch zu fremd, um subtilere Facetten davon deuten zu können, besonders unter Umständen wie diesen – und mit den Schleiern zwischen ihnen, die einen Blick auf seine Mimik unmöglich machten.
»Reicht euch die Hände.« Die Zeremonienmeisterin fixierte sie mit starrem Blick. »Über dem Leib der Verstorbenen, unter ihrer Präsenz, überwindet den Abstand zwischen euch und schließt das Loch im Gewebe der Familie.«
Noels und Luciens freie Hände fanden einander über Celines erkalteter Brust.
»Was der Tod zu trennen versuchte, binden Liebe und Magie.« Die Zeremonienmeisterin bewegte die Finger. »Noel, sei Lucien ein Gefährte, wie du Celine ein Gefährte warst. Lucien, ehre Noel als Blut von deinem Blut. Das ist würdig und recht, denn für Celine ist es würdig und recht.«
»Ist es würdig und recht für das Eine, so ist es für alle würdig und recht«, sagte Noel leise. Wie leicht ihm die Worte kamen, die Lucien mit bewusster Anstrengung suchen musste.
»So seid ihr verbunden im Geist. Verbindet euch nun auch im Fleisch, denn im Fleisch liegt die Essenz.«
Die Zeremonienmeisterin reichte ihnen die scharfen Ritengebisse in einer üppig verzierten Schatulle, die sie zwischen sich ablegten. Sie schlug das rote Tuch zurück, das Celines Brust bedeckte. Erneut erhob sich ihr Gesang, als sie das stille Herz aus Celines bereits geöffneter Brust herausholte. Noels Finger bebten in Luciens. Er schaffte es noch, sie leicht zu drücken – dann wusch eine Welle aus Magie über ihn und ließ ihn vor Schmerz aufstöhnen. Laut Ablauf sollte nun die Zeremonienmeisterin das Herz in ihren Händen aufwärmen. Das Einzige, was davon bei Lucien ankam, war das Knistern ihrer Magie. Man hatte das Herz zuvor rituell gereinigt, um die Übertragung von Krankheiten bei dem folgenden Teil der Zeremonie zu vermeiden. Drei Tage – so lange wurde das Herz gereinigt. Das hatte Lucien einmal in einem Artikel gelesen. Die Reinigung bedurfte mehrerer ritueller Durchgänge. Sich an die Details zu erinnern half ihm, sich nicht gänzlich im Augenblick zu verlieren. Eine speziell dafür entwickelte Webform befreite das Herz so von allen Schadstoffen. Ein intrikater Vorgang – den er spannender gefunden hatte, als noch nicht das Herz seiner Schwester davon betroffen gewesen war.
»Erkennt euch nun.« Die Zeremonienmeisterin nickte ihnen zu.
Lucien ließ den Atem entweichen und streckte angestrengt eine Hand aus, um den roten Schleier von Noels Kopf zu ziehen.
Blaue Augen. Dickes, goldenes Haar wie direkt aus Noels Fäden gesponnen. Ein edles, sofort einnehmendes Gesicht. Andere Leute mochten Noel Moreau wohl als außergewöhnlich schön bezeichnen. Lucien sah nur die Rötung seiner Augen, die Tränen auf seinen Wangen und Noels kurzes Zögern, bevor er Lucien ebenfalls den Schleier zurückschlug. Flüchtig huschte sein Blick über Lucien, ehe er fortsah. Gefiel Lucien ihm? Sah er für Noel sympathisch aus? Es spielte wohl keine Rolle.
Entschieden warf Lucien die Schultern zurück und schob sich wie Noel das Ritengebiss in den Mund. Besser, dass sie diese Zeremonie endlich hinter sich brachten.
»Erkennt euch, werdet eins in Fleisch und Geist und überwindet den Tod.« Die Zeremonienmeisterin reichte das Herz an Noel.
Die metallischen Reißzähne glänzten golden im Licht, als Noel es hob und wisperte: »Schlag in mir aufs Neue, mein Herz.«
Schmatzend fraß das Gold sich in rote Fasern. Blut mischte sich mit Tränen.
Die Magie, die in knisternden Funken durch Noel rann und sich mit dem tosenden Strudel in ihm verband, war so unerträglich laut und vibrierend, dass Lucien sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Er wurde durch unzählige, nachdrücklich eingebläute Lektionen in Sachen Etikette daran gehindert. Lindernder Druckabbau durch erneutes Zähneknirschen war durch das Ritengebiss unmöglich. Die Haut wurde ihm zu eng, während Noel ihm die Hand mit dem Herz entgegenstreckte.
»Über dem Leib meiner Frau, unter ihrem Blick, reiche ich dir Hand und Herz«, sagte er leise.
Vermutlich sah Noel ihn dabei an, aber Lucien war bereits derart angespannt, dass es nicht mehr reichte, um an Blickkontakt auch nur zu denken.
Mund aufmachen. Aus den Windungen seines Verstandes die Worte hervorziehen: jedes einzelne von ihnen ein Kraftakt. »Über dem Leib meiner Schwester, in ihrer Präsenz, nehme ich Hand und Herz an.«
»So seid ihr verbunden im Geist und verbunden im Fleisch«, sagte die Zeremonienmeisterin, während Lucien in Celines Herz biss; nur einer von vielen nahezu unerträglichen Sinneseindrücken an diesem Tag.
Der Rest der Zeremonienworte war sinnloses Rauschen in seinen Ohren. Er ignorierte Noel, dessen Finger sanft über Celines aufgebrochenen Brustkorb streichelten. Luciens Körper war bei der Toten, doch seine Gedanken galten der Lebenden. Blitzende Augen und rasches Mundwerk. Immer drei Schritte voraus. Immer zu einer Auseinandersetzung bereit. Immer mit ausgestreckter Hand hinter einer oftmals harten Fassade. Der Geschmack ihres Herzens glitt seinen Rachen hinab: ein völlig entrückter Sinneseindruck, den er kaum fassen konnte. Gut, dass Fleisch in Brinon generell nur zu rituellen Angelegenheiten wie diesen konsumiert wurde – er hätte die Intensität unmöglich tagtäglich ertragen.
Celines vertraute Magie begann in seinen Adern zu kribbeln. Sie suchte nach Fäden, mit denen sie sich verbinden konnte, und er konnte nicht nur fühlen, sondern auch hören, wie sie sich daran festsaugte. Es gab einen Grund, warum er nicht an den Beerdigungen seiner Großeltern und Eltern teilgenommen hatte, warum Celine und Noel diese Pflicht übernommen hatten, warum er so weit außerhalb des Familiengewebes stand. Doch Celine war sein Zwilling gewesen. Wenn er fremdes magisches Knüpfwerk ertrug, dann ihres. Dennoch: Sie hatte mindestens geahnt, was sie ihm mit alldem antat, und es willig in Kauf genommen. Das war schwer zu schlucken.
Aber welchen Sinn hatte es, wütend auf eine Tote zu sein?
Celine, dachte er, und er dachte es wie einen Abschied. Celine. Ich kann nichts versprechen, aber ich werde mich bemühen.
Noel
Monsieur Noel kann einem nur leidtun.«
Noel verharrte mit einer Hand um die Türklinke auf der Schwelle zur Terrasse. Im Licht der Fassadenbeleuchtung klar zu sehen, hatte das Ehepaar Boillot die Köpfe zusammengesteckt und klatschte so schamlos auf der Trauerfeier seiner Frau über sein Schicksal, dass es einem Schlag ins Gesicht gleichkam. Noel biss die Zähne zusammen und blieb, wo er war. Jacques hätte nun sicherlich gesagt, dass Noel immer schon gerne gelitten habe. (Was nicht stimmte. Gern hatte er es nie getan.)
»Nicht wahr?«, seufzte Madame Boillot. »Bei der Spinnerin, es gibt ja Gründe, warum man Madame Celines Bruder fortgeschickt hat. Und jetzt hat Monsieur Noel die Steinhaut am Hals? Was hat sie sich mit der Verfügung nur gedacht?«
»Furchtbar.« Monsieur Boillot schüttelte den Kopf und biss herzhaft in ein Canapé. »Sie sollten die Gesetze ändern. Genau wegen so was ist es überholt, die Verstorbenen den Ersatz im Familiengewebe bestimmen zu lassen. Das ist ein Schicksal – vor allem für einen Mann wie ihn! Wenn sie wenigstens eine ihrer Tanten bestimmt hätte. Das wäre eine vernünftige Partie gewesen!«
Noels Hand verkrampfte sich bei dem Gedanken um die Klinke.
Monsieur Boillot wischte sich den Mund ab. »Und das Gewebe wäre stabil genug geblieben, dass niemand daran gestorben wäre. Die Steinhaut ist ja nicht einmal auf der Trauerfeier erschienen. Von seiner eigenen Schwester!«
»Unmenschlich«, pflichtete Madame Boillot ihm bei und schenkte ihnen beiden Champagner nach.
In dieser einen Sache hatte das Ehepaar einen Punkt. Noel hatte sich kaum die Tränen von den Wangen gewischt, da war Lucien bereits ohne ein Wort aus dem Tempel geflohen und hatte sich in einem der Gästezimmer des Anwesens verschanzt, womit die ganze Arbeit der Trauerfeier an Noel hängen geblieben war. Auf die Ausrede dazu – wenn es überhaupt eine gab – war Noel gespannt. Genauso wie darauf, ob damit schon der ganze Ton dieser Ehe gesetzt worden war. Was bei allen Wirrfäden hatte Celine sich mit ihrer Verfügung nur gedacht? Nicht, dass er darauf erpicht gewesen wäre, eine ihrer Tanten zu heiraten, um das Familiengewebe aufrechtzuerhalten, doch sicherlich wäre es weniger einsam gewesen als …
Wut war besser als dumpfe Traurigkeit, die sich so tief in seine Knochen fraß, dass sie ihn völlig bewegungslos machte. Sie war auch ein besserer Antrieb dafür, ein strahlendes Lächeln aufzusetzen und mit schwungvollem Schritt auf die Terrasse zu treten.
»Endlich habe ich Sie gefunden!«, verkündete er den beiden, die ihn mit den betretenen Mienen der frisch Ertappten ansahen – vermutlich, ohne sich dessen bewusst zu sein. Vertraulich fasste er Madame Boillot am Ellbogen. »Mein guter Freund Monsieur Germaine hat bereits nach Ihnen beiden gefragt – ich habe ihm von Ihrer neuen Gartenanlage berichtet, und er ist darüber ganz aus dem Häuschen.« Er schob sich mit kleiner, präziser Geste eine Strähne hinter das Ohr. »Würden Sie mir den Gefallen tun und das Gespräch mit ihm suchen, bevor er den Heimweg antritt?« Er senkte den Blick und sah mit einer Extraportion hilflosen Flehens unter seinen Wimpern zu Monsieur Boillot auf. »Ich bin momentan leider nicht in der Verfassung für Geplänkel und möchte keine Falschinformationen weitergeben, sonst würde ich Ihnen die Atempause natürlich gönnen …«
»Natürlich, mein Lieber, machen Sie sich keine Sorgen«, versicherte Monsieur Boillot mit großen, geradezu erschrockenen Augen, während seine Frau heftig nickte.
Noel schenkte ihm ein warmes, schwaches Lächeln. »Ich danke Ihnen. Und verzeihen Sie mir – Sie sind hoffentlich bessere Gastgeberfähigkeiten von mir gewohnt, aber –«
»Darüber machen Sie sich bitte keine Gedanken.« Madame Boillot tätschelte beinahe mütterlich seinen Arm.
Er konnte sich noch gut an den abschätzigen Blick erinnern, mit dem sie ihn vor Jahren bei seiner Herzzeremonie mit Celine gemustert hatte. Jetzt fraß sie ihm geradezu aus der Hand – wie so viele andere, die einst die Nase gerümpft hatten. »Unter diesen Umständen können Sie immer noch sehr stolz auf sich sein, es ist alles ganz wunderbar – das Essen, das Streichquartett, die Blumenarrangements …«
»Das bedeutet mir sehr viel, besonders aus Ihrem Mund, Madame.« Noel deutete einen Knicks an und hauchte einen Kuss in die Luft über ihrer Hand. »Sie wissen, dass ich Ihre geschmackvollen Salons verehre.«
»Und Sie sind immer ein willkommener Gast.«
Die Herzlichkeit in ihrer Stimme war ehrlich. Diesmal war es auch Noels Lächeln. Immerhin, seinem hart erarbeiteten Ruf schien die neue Verbindung nicht zu schaden. Er richtete sich auf und sah zu, wie die beiden nach ein paar weiteren Worten hinein in den Salon zum Rest der Gesellschaft zurückkehrten. Sobald die Tür hinter ihnen zugefallen war, atmete er aus und ließ das Lächeln von seinen Lippen rutschen.
Sein Körper mochte erschöpft sein, aber seine Magie war es nur selten. Selbst jetzt kostete es ihn wenig, die Hand zu heben und dem Schloss der Terrassentür seinen Willen abzuverlangen. Mit seinen Fingerspitzen zeichnete er magische Webmuster in die Luft, und die Tür schloss sich mit einem Klicken. Noel sackte auf der Stufe zusammen, die hinunter zum Garten führte, und grub mit fahrigen Bewegungen in der Tasche seines Kleides, bis er sein silbernes Zigarettenetui fand.
Bald hatte er seine Ruhe. Die Gesellschaft war am Aufbrechen: Er hatte bereits öfter geknickst und Hände zum Abschied geküsst. Auch die letzten Verbliebenen würden zu bewältigen sein.
Und immer noch keine Spur von Lucien.
Noel versuchte, das in ihm aufsteigende Brennen fortzuatmen. Lieber konzentrierte er sich darauf, eine Zigarette aus dem Etui und ein Feuerzeug aus der zweiten Kleidertasche zu fischen, anzuzünden und einen tiefen Zug zu machen. Celines unmutiges Schnauben in seinem Rücken fehlte so sehr, dass das Brennen aus der Brust in seine Augen wanderte. Er bedeckte sie mit einer Hand, versuchte, regelmäßig zu atmen, scheiterte. Die abnehmenden Geräusche der Trauerfeier drangen nur gedämpft an sein Ohr, genau wie der Stadtverkehr, der hinter den Grenzen des Anwesens begann. Er war allein.
Natürlich war er nicht der erste Mensch, der sich in einer Situation wie dieser befand. Ganz im Gegenteil: dass Leute aus schwächeren Familiengeweben die Person verloren, durch die sie einem stärkeren Familiengewebe einverleibt worden waren, stand in ganz Brinon an der Tagesordnung. Dass diese Leute an möglichst nahe Verwandte weiterverheiratet wurden, um sie abzusichern und das Familiengewebe intakt zu halten, besonders wenn Kinder im Spiel waren, war ebenfalls nichts Neues. Das hier war nicht einmal für ihn selbst die erste Ehe. Seit vielen Jahren schon hatte er den Namen seiner Geburtsfamilie für den anderer abgelegt.
Mit Celine war er nur das erste Mal glücklich in einer Verbindung gewesen. Vielleicht tat es deshalb so weh.
Immerhin war er noch Teil eines Gewebes. (Immerhin musste er nicht zu Jacques zurück – nein, was für ein undankbarer Gedanke! Gleich fort damit.) Noch war unklar, ob Lucien wirklich ein bemerkenswert unsensibles Arschloch war oder einfach … anders funktionierte. Was wusste Noel schon von Steinhäuten außer dem, was die Leute eben so sagten: dass sie keine Magie wirken konnten, oder wenn, dann nur so instabile, dass sie eine Gefahr für sich und andere darstellten. Dass man Leute wie Lucien daher zwar nicht aus den Geweben entfernte, sie aber gerade in vermögenderen Familien einfach wegschickte, kam immer wieder vor. Spürte Lucien überhaupt genau wie er ein Kribbeln und Ziehen im ganzen Körper, dort, wo die Magie sich neu aufzuspulen und zu sortieren begann? Oder war er dazu vielleicht gar nicht fähig? Litt er genauso unter Celines Tod wie Noel? Konnte er auch nur ansatzweise seinen Verlust nachvollziehen, oder ließ er Noel auch damit allein?
Wie seltsam, dass seine Zigarette heute nur nach Asche schmeckte und keine Linderung brachte.
Das Aufgehen der Terrassentür ließ ihn zusammenzucken, doch seine Schultern entspannten sich umgehend: Es war Babette, die Celeste an der Hand führte. Bei seinem Anblick glätteten sich sogleich die Falten auf ihrer Stirn.
»Der Spinnerin sei Dank, Monsieur, da sind Sie ja!« Babette steckte sich eine ergraute Strähne zurück unter die Haube, ehe sie auf ihn zukam, seine siebenjährige Tochter mit niedergeschlagenen Augen und verkrampften Händen neben sich. »Ich kann unseren kleinen Mondfisch hier einfach nicht dazu bringen, ins Bett zu gehen.«
Kein Wunder. Noel nahm rasch den letzten Zug von seiner Zigarette, erhob sich und dämpfte sie in dem Aschenbecher aus, der auf der Balustrade stand.
Augenblicklich löste Celeste sich von Babette und umklammerte stattdessen sein Bein. Sie verbarg das Gesicht in seinen Kleiderfalten und sagte kein Wort, aber das musste sie auch nicht. Natürlich war ihr die ganze Situation zu viel – es wäre überraschend gewesen, wenn nicht.
Er widerstand dem Bedürfnis, sie an sich zu drücken. Diese Geste hätte nur ihm geholfen und nicht ihr. Stattdessen legte er sachte die Hand auf ihren Kopf. »Möchtest du heute bei mir schlafen, Herzchen?«
Celeste nickte gegen seine Hüfte und schob den Kopf etwas deutlicher gegen seine Hand, was er als Aufforderung sah, um ihr über das blonde Haar zu streichen.
Er sah auf und begegnete Babettes Blick. »Danke, Babette, ich übernehme das schon. Es war ein harter Tag für sie.«
»Nicht nur für sie.« Babette schenkte ihm einen Blick, der ihre Sorge um ihn recht eindeutig bekundete. »Die Madame fehlt uns allen.«
Noel nickte nur, weil er seiner Stimme nicht traute. Celestes Zupfen lenkte seine Aufmerksamkeit auf sie: zwei kurze Rucke, die bedeuteten, dass sie hochgehoben werden wollte. Er bemühte sich für Babette um ein besonders warmes Lächeln und wandte sich dem Haus zu. Bei dem Gedanken daran, wieder zur Gesellschaft zurückzukehren, auch wenn sie sich bald zerstreuen würde, zog sich alles in ihm zusammen.
Er atmete aus und drehte sich noch einmal zu Babette. »Weißt du, wo genau sich Monsieur Lucien gerade aufhält?«
Babette zog die Brauen zusammen, schüttelte den Kopf und spielte unruhig mit den Rüschen ihrer sorgfältig gestärkten Schürze. »Er wollte Madames Studierzimmer sehen. Ich wusste nicht, ob wir ihn abhalten sollten oder nicht, immerhin ist er jetzt … Nun, jedenfalls hätten wir ihn vermutlich ohnehin nicht aufhalten können, er ist nämlich einfach losmarschiert. Aber ich könnte Pierre Bescheid geben, dass er –«
»Nicht nötig, chérie, vielen Dank.« Noel winkte sanft ab. »Du hast völlig recht, dies ist auch sein Heim – und das mindestens so lange, bis das Familiengewebe sich wieder eingespielt hat. Es ist wichtig, dass wir uns jetzt alle miteinander arrangieren und das Beste aus der Situation machen. Nicht wahr, Celeste?«
Celeste zuckte mit den Achseln. Ihre Stimme war sehr leise. »Es ist alles anders jetzt, ich mag das nicht.«
»Ich weiß, mein Liebling, ich weiß«, murmelte Noel. Dass er ihr nicht helfen konnte! Es war die schlimmste Qual von allen.
Normalerweise hatten alle direkt Beteiligten im ersten halben Jahr nach der Reparatur von Lücken im Familiengewebe Schwierigkeiten mit ihrer Magie, weil sich erst alles wieder einpendeln musste. Das war in Ordnung: Man half sich gegenseitig durch diese Zeit und trat in den meisten Fällen gestärkt daraus hervor. Oder man merkte, wenn Gewebe überhaupt nicht kompatibel waren, und löste die Verbindung. Auch nach seiner Herzzeremonie mit Celine hatte alles eine Weile gebraucht – aber wie schön waren diese goldenen Tage gewesen, in denen sie gemeinsam gewebt hatten und einander nähergekommen waren als jemals zuvor! Niemals würde es mit Lucien so sein wie mit ihr.
Er schluckte schwer, doch die aufkommende Welle von Traurigkeit ließ sich nicht unterdrücken. Das Fassadenlicht brandete hell genug auf, dass Babette einen besorgten Laut von sich gab und Celeste wimmernd die sensiblen Augen an Noels Brust verbarg.
»Entschuldige, mein Liebling.« Noel richtete den Blick in den Himmel und zählte gedanklich langsam bis zehn, dann noch einmal, bis er das Licht mit ein paar präzise webenden Fingerbewegungen zurück auf seine gewohnte Helligkeit dimmte. Verfluchte Technik! Kerzen sprangen nie so stark auf Magiegewebe an wie all die Gerätschaften und Einbauten, die man sich in Villeneuf leistete, um schneller, höher, weiter, glanzvoller zu leben. Normalerweise war es Noel so selbstverständlich wie Atmen, seine Umgebung mit Bedacht zu nutzen. Außerdem hatten die meisten Häuser magische Energiespeicher, an die er überschüssige Magie abgeben konnte, um das Gebäude selbst dann zu versorgen, wenn die darin Wohnenden erschöpft waren. Jetzt allerdings, in seinem unkontrollierten Zustand, wäre es deutlich angenehmer, weniger potenzielle Gefahrenquellen um sich zu haben. Er fuhr mit der Hand, die nicht Celeste hielt, flüchtig zu seiner Frisur. Genug davon.
»Ich bringe die Kleine selbst ins Bett. Hat Monsieur Lucien bereits zu Abend gegessen?«
»Nein, Monsieur.«
»Dann sei so gut und bring uns ein leichtes Abendessen auf den Balkon.« Noel hielt einen Moment inne. »Ich weiß nicht, ob Monsieur Lucien Allergien oder Unverträglichkeiten hat, bring also bitte eine kleine Auswahl mit.«
»Natürlich, Monsieur.« Babette knickste, tippte Celeste sanft gegen die Hand und lief in Richtung Küche.
Eine Sache nach der anderen. Auf dem Weg verabschiedete er die letzten Leute, die sich mit einem charmanten Lächeln und einem einigermaßen subtilen Hinweis auf das müde Kind hinauskomplimentieren ließen. Danach war ihm der Kopf so schwer, dass er blinzelnd gegen die Müdigkeit ankämpfen musste. Mit bleischweren Schritten stieg er die Treppen zu den Privaträumen hinauf und machte Celeste bettfertig. Normalerweise erledigte sie diese Dinge relativ selbstständig, doch heute war sie ruppig und nervös. So bald wie möglich klammerte sie sich an den Stoffbären Pinot, den sie schon fast ihr ganzes Leben lang besaß. Noels Kehle wurde eng. Celine und er hatten Pinot für Celestes ersten Geburtstag ausgesucht, und die Erinnerung daran war schmerzhaft lebendig. Er atmete tief durch. Trotzdem begann das Licht zu flackern. Celeste sah ihn fast strafend an, bis er ihr in einem Ablenkungsversuch unter die Decke half. Als auch er sich gesetzt hatte, reichte sie ihm schweigend das Buch, das sie momentan miteinander lasen: ein Pferderoman, der eigentlich nicht für Kinder ihres Alters gedacht war, aber mit ausführlichen Fellbeschreibungen daherkam, die für Noel langatmig und für Celeste das Großartigste auf der Welt waren. Er schlug die Seite auf. Vor wenigen Tagen noch hatten er, Celeste und dieses Buch in einer Welt existiert, in der Celine ihnen hohlwangig und mit mattem Lächeln (aber am Leben!) von ihrem Lager aus zugehört hatte.
»Papa, bitte lies.« Celeste schob ihm das Buch näher zu. Sie drückte schweigend, aber insistierend den Bären gegen seine Seite, bis er es schaffte, die verkrampften Finger von den Seiten zu lösen und nach seinem Stofftaschentuch zu tasten, um sich die Wangen zu trocknen. »Du kannst Pinot nehmen, wenn du magst.«
Noel nickte, schluckte und nickte wieder. Unerträglich, wie er völlig daran scheiterte, ein Sinnbild von Stärke für sein Kind zu sein, sein Kind, das den Tod der eigenen Mutter schweigend entgegengenommen hatte. Celeste schien das Ganze wesentlich besser zu verkraften als er, und das war auch gut so. Warum aber ließ auch sie ihn mit seinem Schmerz allein?
Und was war eigentlich falsch mit ihm, dass er seiner Siebenjährigen wünschte, dieses Leid noch stärker mit ihm zu teilen?
Er drückte Bär und Kind an sich und leistete gedanklich Abbitte, ehe er laut zu lesen begann. Seine Stimme war nicht so fest wie üblich. Doch es schien zu reichen, dass Celeste nach und nach die Augen schwer wurden, bis sie schon halb eingeschlafen war. Noel schloss das Buch, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, verließ leise das Zimmer und zog behutsam die Tür hinter sich zu.
Ein paar Atemzüge lang stand er auf dem stillen Flur und drückte die Hände schmerzhaft fest gegen seinen Brustkorb, in dem sein Herz immer noch voll sinnloser Todesangst vor sich hindonnerte.
»Beruhig dich«, murmelte er sich selbst zu, was manchmal besser funktionierte und manchmal schlechter.
Heute hatte es mäßigen Erfolg, aber Noel war das Weitermachen vom Tiefpunkt aus gewohnt, also schaffte er es auf den Balkon und zündete sich eine weitere Zigarette an. Villeneuf warf sich bereits in sein nächtliches Gewand. Am anderen Ende des Balkons wurde der kleine Tisch vor dem Hauptschlafzimmer fürs Abendessen vorbereitet. In wenigen Momenten würde Celine die Schreibtischlampe ausknipsen, die Tagesarbeit liegen lassen und zu ihm kommen, damit sie bei einer Flasche Wein die Stadt genießen und später vielleicht sogar ausgehen konnten.
Noel hielt die Illusion ein paar Herzschläge lang fest. Dann ließ er sie los. Er krümmte sich nach vorn, versuchte zu atmen und holte doch nur Schmerz zwischen seinen Rippen hervor.
Was für wundervolle Jahre sie miteinander gehabt hatten, bevor Celine schwächer und schwächer geworden war. Aber auch in diesen Tagen hatte Noel sie geliebt, hilflos während ihres Kampfes und jetzt mit ihrem Herz in seiner Brust. Alles, was von ihr blieb, war ihre Magie und das, was ihre Liebe und Leidenschaft erschaffen hatten. Er war jeden Tag dankbar dafür – und doch, was hätte er alles gegeben, um Celine noch einmal im Arm zu halten, nur ein letztes Mal.
Das Licht im Studierzimmer ging aus.
Beinahe ließ Noel seine Zigarette fallen. Ein Geist? Aber nein, wie unsinnig – Babette hatte doch gesagt, dass Lucien im Arbeitszimmer hatte vorbeischauen wollen. Erleichtert schloss er eine Sekunde lang die Augen. Tatsächlich öffnete sich wenig später die Balkontür des Studierzimmers, und Lucien trat heraus.
Es war nicht zu leugnen, dass die Spinnerin es mit Luciens Äußerem genauso gut gemeint hatte wie mit Celine – das konnte Noel jetzt, da er nicht mehr das Gefühl hatte, völlig zu zerfasern, etwas mehr wertschätzen. Lucien hatte das Zeremonienkleid gegen eine absurd simple Hose und ein rotes Hemd eingetauscht. Immerhin war die Farbe angemessen für die offizielle Trauerphase bis zum Ende der nächsten Woche. Kräftige, gebräunte Unterarme kamen unter hochgerollten Ärmeln zum Vorschein. Anscheinend hatte er außerdem versucht, die Pomade aus seinem kurzen, kastanienbraunen Haar zu bekommen. Einige Strähnen waren allerdings immer noch damit verklumpt. Und wer lief denn bitte, einfach so barfuß herum? Wer trug als Mitglied der Oberschicht freiwillig Hosen? Wie konnte man sich derart wenig Sorgen darüber machen, wie andere auf einen reagierten – besonders, wo Lucien sich doch ohnehin schon in einer schlechteren Situation befand und jede noch so kleine Sympathiebekundung brauchen konnte? Unbegreiflich.
»Entschuldigung«, sagte Lucien.
Noel riss den Kopf hoch. Das war ein Fehler: Ein Blick in Luciens Gesicht, und in ihm begann es zu kochen. »Ah, scheinbar haben Sie sich ja ganz gut eingelebt, während ich unten die komplette Arbeit gemacht habe.«
Lucien wirkte … verwirrt. Der Ärger, mit dem Noel aus irgendeinem Grund gerechnet (auf den er vielleicht sogar gehofft) hatte, blieb aus. Stattdessen nickte Lucien langsam. »Es geht mir … besser. Danke. Für die Arbeit, meine ich.«
Noel hielt sich an der Balustrade fest und atmete erschöpft aus. Was sagen, wenn ihm Worte wie diese entgegenschlugen? Es war keine Entschuldigung, aber es war zumindest etwas – mehr als erwartet sogar. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, ehe sein Blick auf das Fotoalbum fiel, das Lucien in seinem Arm hielt.
»Das ist Celines Album!« Eine recht sinnlose Feststellung angesichts der Tatsache, dass Celines Name auf dem Einband stand, also schob Noel rasch hinterher: »Eines davon zumindest. Haben Sie – möchten Sie es sich etwa ansehen?«
»Deswegen borge ich es aus, ja.« Eine kleine Falte grub sich in Luciens Nasenwurzel, während er Noel weiter mit seinen wolkengrauen Augen musterte. »Ich verstehe, dass es Brauch ist, sich zu siezen, wenn man nicht allein ist, aber wir sind doch allein. Muss das wirklich sein?«
Noel blinzelte und nahm einen Zug von seiner Zigarette. »Wir sind allein, aber wir sind kein –« Er konnte schlecht damit argumentieren, dass sie kein Paar waren. Zeit kaufend langsam stieß er den Rauch aus und führte die Zigarette noch einmal zu den Lippen. »Wir kennen uns doch überhaupt nicht. Es wäre unangemessen.«
Lucien schüttelte langsam den Kopf. »Ich finde das unlogisch und sinnlos, aber wir können es gerne so beibehalten, wenn es Ihnen lieber ist. Wann kennen wir uns denn gut genug?«
Noel blinzelte erneut. Führte er diese Unterhaltung gerade tatsächlich, oder spielte ihm sein überlasteter Verstand einen Streich? Celine hatte er erst zu duzen begonnen, als er sie das dritte Mal nach Hause begleitet hatte, um auf der Türschwelle erst ihre Hände zu küssen und dann ihre – er räusperte sich. »Das werden wir schon merken.«
»Sie werden das merken, ich wohl nicht.« Die Worte hätten wie ein Angriff klingen können, vielleicht auch herablassend; Lucien sprach es einfach wie einen Fakt aus. »Aber das ist in Ordnung. Bitte geben Sie mir einfach Bescheid.« Er sah auf das Album hinunter. »Ist es Ihnen also recht, wenn ich das Album ausborge? Ich weiß wenig über das Leben, das Celine in den letzten Jahren geführt hat. Vielleicht hätte ich öfter schreiben sollen, aber jetzt ist es zu spät.«
Was sollte man darauf sagen? Noel drückte seine Zigarette aus und straffte die Schultern. Zeit, wieder die Kontrolle über dieses Gespräch zu bekommen. »In Ordnung. Aber Sie werden auch Zeit haben, mehr herauszufinden, wenn Sie sich erst in Ruhe hier niedergelassen haben.«
Erneut erschien die kleine Falte über Luciens Nasenwurzel. »Wie meinen Sie das?« Der Mann hatte eine Tendenz, Noel an seinen kommunikativen Fähigkeiten zweifeln zu lassen.
»Ich meine damit, dass Sie sicher Gelegenheit dazu finden werden, wenn erst Ihre Sachen hier angekommen sind und Sie sich wieder an das Stadtleben gewöhnt haben.«
»Oh, nein, nein.« Einmal mehr schüttelte Lucien den Kopf, diesmal sehr kräftig. »Die Stadt bringt mich um, ich kann nicht in Villeneuf bleiben. Das hier ist nur temporär, bis Sie und Celeste alles gepackt und Ihre Angelegenheiten zufriedenstellend abgeschlossen haben. Wir werden alle nach Cinq Soleils gehen.«
»Wir sollen mit aufs Land?« Noel schnaubte und vergrub die Hände in den Haaren. »Mitten ins Nirgendwo?«
»Ich bitte Sie. Das Gut ist sogar in Spazierweite vom nächsten Ort, das ist wohl kaum Nirgendwo.«
Noel war nicht überzeugt. »Höchstens ein Dorf, nehme ich an. Und was soll ich dort tun? Was soll Celeste dort tun? Ihre Hauslehrkräfte sind hier, und sie gewöhnt sich nur mühsam an unbekannte Menschen – außerdem schließt sie schwer neue Freundschaften, und Dorfkinder sind besonders grausam. Sie hat schon ihre Mutter verloren, wir können sie nicht einfach an einen völlig fremden Ort verpflanzen!«
Lucien presste die Lippen fest aufeinander. Seine Augen waren voller Sturm, aber seine Stimme war kontrolliert ruhig, als er schließlich leise sagte: »Sprechen wir in zwei Wochen noch einmal über die Angelegenheit. Solange das Gewebe sich nicht gesetzt hat, wird es schwierig werden, uns ohne größere Probleme zu weit räumlich voneinander zu entfernen, aber vielleicht fällt uns etwas ein.«
Lucien würde eindeutig nicht von seinem Punkt abweichen – genauso wenig wie er. Noel fuhr sich erneut in die Haare und grub die Finger darin ein, bis erdender Schmerz durch seine Kopfhaut schoss. Großartig, schon wieder seine Frisur ruiniert, für die er heute fast eine Stunde gebraucht hatte. Er schluckte schwer, warf die Schultern nach hinten und nickte nur. Erbärmlich. Wieso, wieso fiel es ihm so verdammt schwer, einfach auf seinem Wunsch zu beharren?
Glücklicherweise schien dies Lucien für den Moment zu reichen, denn er schenkte ihm sogar ein kleines, wenn auch bemüht wirkendes Lächeln – das erste, das er seit seiner Ankunft in Villeneuf gezeigt hatte. Noel atmete tief durch und löste die Finger aus seinen Haaren. Ruhe bewahren. Nerven behalten. Zusammenreißen. Sein Leben lang hatte er nichts anderes getan und damit eine Krise nach der anderen bewältigt. Jetzt würde er nicht damit aufhören.
»Ich habe zu Abend decken lassen.« Essen brachte die Leute zusammen. Vielleicht war zumindest das mit Lucien genauso wie mit jeder anderen Person auch. »Würden Sie mir dabei Gesellschaft leisten?«
Lucien sah auf das Album in seinem Arm hinab und wieder zurück zu ihm. Was auch immer ihm dabei durch den Kopf ging, blieb ein Mysterium, denn in seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen, als er fast sachte erwiderte: »Gerne. Bitte, nach Ihnen.«
Lucien
Villeneuf war so unerträglich, wie Lucien es in Erinnerung hatte.
Er verbrachte die erste Nacht zurück auf dem Hauptsitz seiner Familie mit Gliederschmerzen und Sodbrennen. Die Magie, die durch das Haus rann und alles befeuerte, war fast so schlimm wie das verworrene Knäuel, das er selbst durch die Wände hindurch in Noel fühlte. Selten war ihm jemand untergekommen, der so gesättigt von Magie war wie sein neuer Gefährte.
Irgendwann in den frühesten Morgenstunden gab Lucien auf und kletterte in den Schrank, wo er der Magie zwar auch nicht entkommen konnte, aber trotzdem aufatmete, als wenigstens die restliche Belastung aus Geräuschen und Gerüchen wegfiel. Immerhin musste er diese Situation nicht mehr als junger Mensch stemmen, der keine Werkzeuge und kein Wissen besaß, mit denen er seine Umgebung handhaben konnte. Heute wusste er wesentlich besser darüber Bescheid, wo seine Grenzen lagen und was er brauchte, um so gut wie möglich eine Welt zu bewältigen, die in großen Teilen nicht auf seine Bedürfnisse zugeschnitten war.
Die Folgen der Herzzeremonie brachten sein geregeltes Leben auf mehr als nur eine Art und Weise durcheinander. Noel litt, und aufgrund ihrer neu gewobenen Verbindung zog dieses Leid sich an glühenden Schmerzfäden auch durch Lucien. Es war genau das, was Lucien immer hatte vermeiden wollen. Ein Platz am Rand des Familiengewebes, wo seine Verbindung zu den anderen Familienmitgliedern durch viel räumliche Distanz ins kaum Spürbare abgeschwächt war, war ihm nur recht. Stattdessen also das: Noel und Celeste so nah bei ihm, dass er nicht auskam.
Hinter seinen Schläfen pochte es. Er zog die Beine an und legte die Stirn gegen die Knie, atmete tief durch und dachte an Cinq Soleils, wo François vermutlich gerade das Frühstück vorbereitete. Florence würde ihren Kaffee auf der Terrasse einnehmen, dann im Arbeitszimmer die finanziellen Angelegenheiten des Gutes durchgehen, solange ihre Kraft noch reichte. Aline im Haus. Mer im Garten. Und er selbst … er selbst an einer Prothese schraubend in seiner Werkstatt, dort, wo sich alles an seinem Platz befand und er genau wusste, was ihn erwartete – dort, wo er richtig war.
Dieser Haushalt war das genaue Gegenteil davon.
Irgendwann musste er doch noch eingeschlafen sein, denn Noels aktivierte, unruhige Magie ließ ihn wieder aufschrecken. Er knirschte mit den Zähnen, öffnete die Schranktür und blinzelte in das flackernde Licht. Was tun? Hinübergehen und Noel trösten? Dafür war er selbst zu erschöpft. Das konnte nur schlecht ausgehen, und außerdem kannten sie sich dafür in Noels Augen wahrscheinlich auch noch nicht gut genug. Das Anwesen zu verlassen, solange das Gewebe zwischen ihnen so frisch und instabil war, würde es nur schlimmer machen. Egal, wie sehr es ihm missfiel: Für den Moment steckte er hier fest. Vielleicht half es, zumindest etwas zu essen.
Er wusch sich, zog Hemd und Hose vom Vortag an, machte einen halbherzigen Versuch, seine Haare zu bändigen, und ließ es recht schnell sein. Wenn er eines gelernt hatte, dann, dass es keinen Unterschied machte, wie sehr er versuchte, sich anzupassen. Für die meisten Leute in Villeneuf war er so oder so ein Fremdkörper. Die Bediensteten zumindest wussten nichts mit ihm anzufangen.
Nach einem kurz entschlossenen Griff zu seinen Zeichenutensilien ging er in die Küche, um sich Tee zu machen. Auf Cinq Soleils war das keine große Sache. Hier allerdings sprangen die Bediensteten auseinander und beäugten seine Anwesenheit in den ihnen vorbehaltenen Sphären fast argwöhnisch. Als er das Heizfeld für die Teekanne mit seinen Magiefäden füttern wollte, sprang eine Köchin herbei und erledigte es für ihn. Lucien war nicht besonders versiert in subtilen Aspekten sozialer Kommunikation, aber er wusste, wie es sich anfühlte, wenn Leute Zuvorkommenheit zeigten … und wie es sich anfühlte, wenn einem abgesprochen wurde, dass man mit bestimmten Dingen zurechtkam. Irgendwann musste man sich aussuchen, welche alltäglichen Verletzungen man ansprach. In diesem Fall trat Lucien nur schweigend einen Schritt vom Herd zurück. Nicht viele der alten Bediensteten, an die er sich vage aus seiner Jugend erinnerte, schienen noch hier zu arbeiten. Was war mit ihnen geschehen? Nicht, dass er sie sonderlich vermisste, denn selbst die vagen Erinnerungen waren zum Großteil keine guten, aber verwunderlich war es doch. Es war nicht üblich, dass langjährige Bedienstete gekündigt wurden, und er konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet Celine mit dieser Konvention gebrochen hatte, nachdem sie das Familienoberhaupt geworden war. Außer es hatte einen guten Grund dafür gegeben.
Tausend Gedanken. Aber auch tausend Fäden, die kreuz und quer durch die Küche schossen und unermüdlich von den Webenden dahinter gesponnen wurden, um alles in Gang zu halten. Ihre unterschiedlichen Harmonien bildeten einen dissonanten Tonhaufen. Stimmenwirrwarr, dessen Lautstärke ihn ein- oder zweimal zusammenfahren ließ. Normalerweise hatte er sich besser unter Kontrolle. Normalerweise war er auch kein freigelegter Nerv. Die Küche hatte ihren eigenen Takt. Lucien war in ihrem Lied eine falsche Note, die man permanent anschlug. Das Stechen hinter seiner Schläfe kehrte zurück. Er wartete geduldig – duldsam? Für Lucien oft ein fließender Vorgang in Vokabular wie Gefühl – auf seinen Tee, ignorierte die Art, wie man ihm hastig auswich, und holte einen Teil der kalten Platte aus dem Kühlschrank, die von seinem eher schweigsamen Abendessen mit Noel übrig geblieben war. Anschließend floh er mit seinen Eroberungen auf einem Tablett so rasch wie möglich in den Garten.
Sein Elternhaus war nie ein Ort des Glücks für ihn gewesen. Es hatte aber immer ein paar Ecken gegeben, in denen es sich aushalten ließ. Eine davon war die Laube im hintersten Bereich des Gartens gewesen, die sein Großvater einst angelegt hatte. Am Tag zuvor hatte er sie ein wenig vernachlässigt gefunden. Umso charmanter: Auch auf Cinq Soleils griff sein Haushalt nur behutsam in die Natur ein, und die Ähnlichkeit zu seinem Garten war dringend benötigter Trost. Lucien suchte Zuflucht unter dem wilden Wuchs der Laube, ließ sich unsanft auf dem Boden nieder und legte Essen und Zeichenutensilien ab. Seine Finger fuhren zu der Kette um seinen Hals und drehten an ihren beweglichen Gliedern. Hin, her, hin, her. Wie eine Prothese, die sich verklemmt hatte und neu ausgerichtet werden musste. Die Laube legte ihren beruhigend schweren Mantel aus dichtem Grün um seine Schultern. Das Licht zwischen ihren Blättern war weich, der hindurchstreichende Wind ein sanftes Lied, auf das er seinen Atem einstimmen konnte. Er schloss die Augen, hinter denen es immer noch drückte. Irgendwo im Haus vibrierte Noels goldgewebtes, trauerzerfasertes Herz, und Noel selbst wusste vermutlich nicht einmal, was er ihm damit antat.
Ruhe. Ruhe. Lucien machte noch einen tiefen Atemzug. Er zwang sich, ein paar Bissen zu essen, was tatsächlich gegen die Kopfschmerzen half. Irgendetwas Schönes ohne Druck zu erschaffen, würde ihm guttun. Also schlug Lucien seinen Block auf und ließ den Bleistift genau wie seine Gedanken wandern. Die Stadt staute die Sommerhitze genauso, wie sie Licht und Magie staute, aber in der Laube – im Gras – war davon nur wenig zu spüren.
Ein Schatten fiel über das Papier.
Er blickte auf.
Vor ihm stand Celeste, akkurat zurechtgemacht und vermutlich wie immer auf Noels eigene Tagesaufmachung abgestimmt. Sie hatte den Stoffbären im Arm, der eine farblich zu ihrem Kleid passende Schleife trug, und starrte auf seinen Block. »Was zeichnest du da?«
Lucien schaute selbst hinunter auf das Papier und drehte ihr die Seite zu. »Das wird eine Amsel. Vorher ist eine da drüben im Gras gesessen.«
Celeste legte den Kopf schief und betrachtete die Skizze lange. Sie nickte geradezu wohlwollend und setzte sich unaufgefordert zu ihm ins Gras, nahe genug, dass die Spitze ihres kleinen Schuhs sein Knie streifte. Lucien fühlte sich plötzlich sehr wach, denn er hörte, wie sich die Harmonie ihrer Webmagie nach und nach der seinen anpasste. Als ob sie sie auch hören konnte und sich darauf einpendelte. Er drehte eines der Zahnräder seiner Kette. Ob Noel es wusste – ob Celine es gewusst oder zumindest geahnt hatte …? Das würde zumindest erklären, warum viele der alten Bediensteten, die ihre Abneigung ihm gegenüber damals besonders offen gezeigt hatten, nicht mehr hier arbeiteten. Ob irgendjemand schon mit Celeste darüber gesprochen hatte, dass sie –
Seine Nichte strich sich über das Kleid. Eine ähnliche Geste hatte er auch schon bei ihrem Vater beobachtet. »Papa sagt, man soll nicht im Gras sitzen, weil das Flecken auf den Kleidern macht und die schwer rauszukriegen sind.«
»Ich trage kein Kleid«, sagte Lucien und bot nach kurzem Nachdenken an: »Möchtest du auf meinen Schoß, um Grasflecken zu vermeiden?«
»Nein danke, ich beweg mich einfach nicht, Grasflecken kommen nur beim Herumrutschen«, sagte Celeste. Pragmatisches Kind. »Zeichnest du mir ein Pferd?«
Lucien strich sich über das Kinn und blätterte ziellos durch den Skizzenblock. »Das kommt drauf an, was für eine Rasse es sein soll. Kaltblüter kann ich besser, davon haben wir welche auf Cinq Soleils. Das ist mein Zuhause.«
Celeste schnappte so laut nach Luft, dass er vom Block aufschaute. Sie begann, den Bären in ihren Armen zu kneten – definitiv nicht beunruhigt, sondern begeistert. »Du hast echte Pferde?!«
Was für ein charmantes Kind. Lucien lächelte, nickte und blätterte jetzt zielgerichtet in seinem Notizbuch, bis er zu der Seite mit Étoile kam, seinem Boulonnais-Wallach. »Das ist Étoile.« Lucien wies auf die Ganzdarstellung – Étoile mit prächtigem Haarschmuck stolz vor die Kutsche gespannt. »Er ist schon ein etwas älterer Herr, aber immer noch sehr kräftig.« Lucien blätterte um. »Er hilft uns weiterhin bei der Arbeit, damit er sich nicht langweilt.«
Celeste betrachtete lange und still die Zeichnung von Étoiles Halbprofil, in der die wachen, dunklen Augen und die namensgebende, sternförmige Zeichnung in seinem Gesicht gut zur Geltung kamen. Lucien hatte Celeste bisher noch nie so aufmerksam erlebt. Er neigte ein wenig den Kopf. Sie hatte die blonden Haare ihres Vaters geerbt – aber die Nasen- und Kinnpartie war ganz Moreau. Ganz Celine.
Celeste berührte behutsam das Papier. »Ist er sehr weich?«
»Nicht so weich wie unsere Nuage.« Lucien schlug eine Seite um und zeigte ihr die stattliche Comtois-Schimmelstute, die er mit dem schweren Kopf in einem Eimer steckend festgehalten hatte. »Sie ist noch recht jung und hat einen ordentlichen Dickkopf, aber auch sehr viel Geduld und Freundlichkeit.«
»Die Langhaarbüschel an den Fesseln sind aber ungewöhnlich für Comtois-Pferde.« Celeste legte den Kopf schief, während Lucien ein zustimmendes Geräusch von sich gab. »Ich mag die Blumen in ihrer Mähne.«
»Die Büschel kommen von ihrer Ardenner-Abstammung.« Lucien beobachtete das reglose Gesicht seiner Nichte und lächelte, als sie spürbar angetan leicht zu wippen begann. »Im Gegensatz zu Étoile genießt sie es auch sehr, wenn man ihr die Mähne zurechtmacht.«
»Papa könnte das sicher gut.« Es hatte etwas Ehrfürchtiges, wie Celeste Nuage betrachtete. »Er macht zusammen mit Babette immer seine Frisur und meine auch, und es ziept nie.« Noels goldglänzendes Haar blitzte einen Herzschlag lang vor Luciens innerem Auge auf, da fügte sie hinzu: »Er hat es auch immer für Maman gemacht, als sie nicht mehr konnte.«
Mit einem Mal brannte Villeneufs Sommerhitze in Luciens Brust, dass er kaum atmen konnte. Langsam schloss er das Notizbuch und strich in rhythmischen Kreisen mit dem Daumen über den weichgenutzten Ledereinband. Was war es, das ihm die Brust so verengte? Ein paar Atemzüge unter Celestes aufmerksamem Blick, während er in sich horchte. Ah, natürlich: Es war knochentiefe Traurigkeit. Wie unangenehm, besonders in einem Moment wie diesem – unangenehm und gefährlich. Er berührte seine Kette. Einer von ihnen musste den Takt halten. Wenn alle Harmonien im Haushalt durcheinandergerieten, konnte sich niemand mehr konzentrieren, und auf Noel war nicht zu zählen. Stimmte sein Verdacht, dass Celeste genau wie er die Fäden hören und sehen konnte, dann konnte sie nicht noch mehr Belastung vertragen. Die ganze Situation war schon anstrengend genug.
»Deine Maman war meine Schwester«, sagte er schließlich. Als Celeste nur nickte und mit dunklen, ernsten Augen auf seine Finger blickte, mit denen er am Gras zupfte, fuhr er leise fort: »Als wir Kinder waren, hatte ich auch lange Haare. Unsere Eltern wollten das so – lange Haare und lange Kleider, das ist, wie Leute unseres Standes sich zu präsentieren haben, das ist angemessen – was auch immer das heißt.« Seine Hand fuhr zur Kette und drehte an ihren Gliedern. »Ich mochte beides nie, weil ich immer hängen geblieben bin und viele Kleiderstoffe mir unangenehm sind. Celine hat mir jeden Tag die Kletten aus den Haaren gebürstet, bevor ich sie abgeschnitten habe. Irgendwann war sie so geübt darin, dass ich es gar nicht mehr gespürt habe. Sie war immer gut zu mir.«
Celeste gab einen so tiefen Seufzer von sich, wie es nur Katzen und Kinder vermochten, und begann ebenfalls, am Gras zu zupfen. »Ich vermisse sie.«
Lucien nickte nur. Was tun mit dem Schmerz eines Kindes, das er noch kaum kannte? Er konnte ja nicht einmal seinen eigenen Schmerz lindern.
Schon hatte er den Stift erhoben, um ihr zumindest ein weiteres Pferd zu zeichnen, als intensive, disharmonische Wellen an Magie über den Rasen wogten und Noels Präsenz ankündigten. Tatsächlich kam er mit wehendem rotem Rock durch den Garten und blieb vor ihnen stehen. Er wechselte einen Blick zwischen ihm und Celeste hin und her, ehe er den Atem entweichen ließ. Auf seiner Stirn erschien eine Falte. Unmut oder Sorge? »Celeste –«
»Sie rutscht nicht herum, also kann sie auch nicht dreckig werden«, sagte Lucien.
Noel musterte ihn einen Moment lang und rieb sich über das Gesicht. Unmöglich zu sagen, ob er wirklich wütend war, wie es die Stirnfalte vermuten ließ. Solche Unterschiede waren schon bei Leuten, die Lucien gut kannte, manchmal schwer zu erkennen. Bei Noel gestaltete es sich noch einmal schwieriger – auch, weil er ein überdurchschnittlich belebtes Gesicht hatte. Und ganz besonders, weil sein Verhalten nicht immer zu dem passte, was Lucien in ihm spürte. »Nun. Schön. In Ordnung. Es tut mir leid, falls sie Sie belästigt hat.«
»Belästigt?« Lucien blickte zu dem Mädchen und schüttelte den Kopf. »Nicht im Geringsten. Es ist doch gut, wenn wir uns besser kennenlernen.«
»Lucien hat mir seine Pferde gezeigt!«, verkündete Celeste, woraufhin Lucien ihrem Vater ergeben die Zeichnung von Nuage hinhielt.
»Oh … ich wusste nicht, dass Sie zeichnen können«, sagte Noel, während er den Pferdekopf betrachtete.
»Es gibt einiges, was Sie über mich nicht wissen«, erwiderte Lucien sachte. Kein Grund, Noel das Gefühl zu geben, dass er vielleicht beleidigt war, also lieber den Tonfall so bewusst entgegenkommend wie möglich gestalten. »Aber wir haben ja Zeit, diese Dinge über einander herauszufinden, nicht wahr?«
Noels Mund lächelte, aber der Rest seiner Mimik schien davon unberührt zu bleiben. »In der Tat, das haben wir wohl.« War er ungehalten darüber? Verunsichert? Bevor Lucien versuchen konnte, mehr aus ihm herauszulesen, hatte er sich schon an Celeste gewandt und die Arme vor der Brust verschränkt. »Es ist trotzdem Zeit für deine Klavierstunde, junge Dame. Du kannst Nein sagen, wenn du möchtest, aber dann muss ich deiner Lehrerin Bescheid geben.«
»Ich gehe.« Ohne Eile rappelte Celeste sich auf und schüttelte das Kleid genau wie ihre Locken aus, ehe sie in Richtung des Hauses spazierte.
Noch etwas langsamer kam auch Lucien auf die Beine, klappte sein Skizzenbuch zu und schaute dem Mädchen hinterher. »Sie ist musikalisch?«
Noel nickte. Zum vielleicht ersten Mal seit ihrer Herzzeremonie entspannten sich die Fäden in seiner Brust und sangen zart. »Stolz«, schoss es Lucien mit überraschender Gewissheit durch den Kopf. Noel war stolz.
»Klavier und Gesang. Sie denkt sich den ganzen Tag irgendwelche Melodien aus und summt sie oder sitzt im Musikzimmer und spielt. Das hat sie schon sehr früh gemacht, also haben wir uns entschlossen, es zu fördern.«
»Sie geht in keine reguläre Schule, nicht wahr?«
»Nein. Es war …« Noel stieß einen langen Atem aus und betastete seine Frisur. »Wir haben es versucht, aber sie war dort extrem unglücklich. Wir haben es nicht übers Herz gebracht.« Er zuckte mit den Achseln. »Sie hat zwei Hauslehrkräfte, die die grundsätzlichen Inhalte abdecken. Das Zwischenmenschliche kann sie auch von anderen lernen. Sie ist mit ein paar Kindern in der Nachbarschaft befreundet, und das tut ihr gut, ich … Celine und ich wollten sie nicht zwingen.«
Lucien nickte und erinnerte sich mit ein wenig Verzögerung daran, sanft und entgegenkommend zu lächeln. Die meisten Leute fühlten sich vor den Kopf gestoßen, wenn man nicht lächelte. Normalerweise kam ihm das mittlerweile einfacher. Heute musste er sich dazu zwingen, die Energie aufzubringen, aber er nahm den Aufwand in Kauf. Das war es wert. »Ich wünschte, meine Eltern wären damals zu dem gleichen Schluss gekommen.« Das Lächeln entglitt ihm. Er fühlte sich außerstande, es wieder aufzuheben. »Bis zu einem gewissen Zeitpunkt wurde ich auch daheim unterrichtet, aber sie waren überzeugt davon, dass ich auf die Akademie gehen sollte, genau wie Celine.«
»Ein guter Ort, um Netzwerke zu bilden.« War auch Noels Stimme ein wenig sanfter geworden? Jedenfalls betastete er seine Frisur, ließ die Hände sinken, als es ihm auffiel, und strich sich stattdessen das Kleid glatt.
»Sicherlich.« Lucien rieb mit dem Daumen über den Schnitt des Skizzenblocks. »Celine hat sich dort wohlgefühlt, denke ich. Aber nicht nur verabscheue ich die Waffenindustrie, ich bin auch nicht sonderlich talentiert im Netzwerken, besonders, wenn die entsprechenden Menschen mich nicht interessieren. Außerdem sind Orte, an denen viele Menschen zusammenkommen, ein Gräuel für mich.«
»Das kann ich mir gar nicht vorstellen.« Sarkasmus? Vielleicht. Noel lächelte wenigstens dabei. Eine gewisse Vorsicht lag darin, aber gleichzeitig wirkte es nicht so, als ob er sich bösartig über Lucien lustig machte. »Sie mögen also auch keine Feiern? Waren Sie deswegen gestern nicht …?«
»Bei der Trauerfeier? Ja. Unter anderem.« Lucien rieb sich mit der Faust über das Brustbein. »Es ist sehr anstrengend für mich, besonders bei unliebsamen Anlässen. Heute kann ich solchen Ereignissen besser ausweichen und anderweitig Energie einsparen. Aber damals in der Akademie …« Er seufzte. »Wenn man sich nicht konzentrieren kann oder doppelt so viel Energie für alles aufbringen muss wie andere, nun, dann sieht es auch entsprechend mit den Leistungen aus. Die Auswirkungen auf meine Noten können Sie sich denken. Ich glaube, Sie haben für Celeste richtig entschieden.«
Noel seufzte ebenfalls und steckte sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Sein Blick wanderte von Lucien über die Laube, den Rest des Gartens und das Haus, bis er wieder auf ihm landete. »Wissen Sie, Sie haben in Ihren Ansichten einige Ähnlichkeit mit Celine. Zumindest was die Haltung gegenüber der Waffenindustrie betrifft – ganz im Gegensatz zum Rest der Moreaus.« Er lächelte ein mondsichelschmales Lächeln. War ihm eigentlich bewusst, wie unglücklich er wirkte? Vielleicht interpretierte Lucien aber auch nur wieder falsch und –
»Das war nicht geplant, aber es ist eine perfekte Überleitung, also warum sie nicht gleich nutzen.« Noels Haltung straffte sich: Plötzlich war er ganz undurchdringliche Eleganz und Etikette. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, das alles andere schluckte und sich schrecklich falsch anfühlte, besonders angesichts des Fadenknäuels, das sich in Noel krümmte und zusammenzog. Hatte Noel Angst vor ihm? Vor seiner Reaktion? »Ich wollte mit Ihnen sprechen.«
Noels Stimme war fast heiter. Lucien spürte erneut Kopfschmerzen. Wieso, bei der Spinnerin und all ihren Nadeln, war jeder Versuch, Noel zu lesen, nur so anstrengend? »Dann sprechen Sie bitte.«
Noel zog die Brauen zusammen, räusperte sich jedoch und strich sich über die Falten seines Rocks. »Unglücklicherweise haben Ihre Tanten sich morgen zum Dinner eingeladen, und mein Bruder Jacques wird sie begleiten.«
»Laden wir sie wieder aus«, sagte Lucien prompt. »Diese Muränen kommen mir nicht ins Haus.«
Die zwei Schwestern seiner Mutter hatten ihm als Kind das Leben zur Hölle gemacht. Glücklicherweise hatte er sie seit Jahren nicht mehr sehen müssen. Aimée und Giselle Moreau waren schöne, intelligente Frauen, die hart für ihr Geschäft arbeiteten und nicht umsonst einen gewissen Ruf in ihrem Metier genossen. Die Waffen aus den Fabriken der Moreaus wurden in mehr als einem Krieg in den umliegenden Ländern von Brinon genutzt. Die exzellente Beherrschung ihres Familiengewebes verlieh ihnen zusätzliche Macht. Mitnichten kamen sie ihm ins Haus – besonders nicht in dieses, und besonders nicht, wenn hier ein Kind lebte, das vielleicht so war wie er.
Noel starrte ihn an. Entsetzt? »Das können wir nicht machen.«
Lucien zog die Augenbrauen zusammen. »Warum nicht?«
»Weil es unhöflich ist?« Noel warf schnaubend die Hände in die Höhe. Gekrümmte, dissonante Fäden in ihm, wohin Lucien auch schaute. »Wir können die Familie nicht einfach ausladen, besonders nicht in der Trauerwoche. Sie haben ein Recht darauf, mit den frisch gewebten Magiefäden im Netz zu interagieren.«
»Sie haben ein Recht darauf, mich am Arsch zu lecken.«
»Monsieur!« Noel fasste sich wohl nur deswegen nicht schockiert an die Perlenkette, weil er keine trug. Generell trug er für seinen Stand interessanterweise wenig Geschmeide. Was momentan nichts zur Sache tat.
Lucien massierte sich, von seiner Ablenkung genervt, die Schläfen. »Sie haben recht, ich nehme es zurück.« Er machte eine dramatische Pause und fügte hinzu: »Das muss man sich erst verdienen, und meine Tanten verdienen höchstens einen Fußtritt.«
»Sie sind unmöglich!« Auf Noels bleichen Wangen erschienen hektische rote Flecken.
»Sie sind auch nicht so liebenswert, wie Sie vielleicht denken.« Lucien verschränkte die Arme vor der Brust. »Finden Sie die Muränen wirklich so großartig?«
Fahrig klopfte Noel die Taschen seines Rocks ab, sichtlich ohne zu finden, was er suchte. »Natürlich nicht, sie sind schreckliche Menschen.«
Immerhin etwas, in dem sie sich einig waren. »Warum bestehen Sie also darauf, ihnen Tür und Tor zu öffnen?«
»Für Sie ist immer alles so einfach, oder?« Noels Augen blitzten. Die Fäden in ihm entrollten sich, streckten sich mit aufgeregtem Klingeln – und blieben doch, wo sie waren. Er erwartete vermutlich ohnehin keine Antwort von Lucien, denn er fuhr augenblicklich fort: »Es ist völlig irrelevant, was Sie oder ich wollen, man muss sich bestimmten Regeln fügen, wenn man nicht die Konsequenzen tragen will. Ich hatte eigentlich nicht erwartet, Ihnen das erklären zu müssen, nachdem wir aus genau diesem Grund in dieser Misere gelandet sind.«
Lucien blinzelte. »Mit der Misere meinen Sie unsere Verbindung, ja?«
»Natürlich tue ich das!« Noels Hand fuhr zu seinem Kopf. Er machte Anstalten, an seinen Haaren zu ziehen, zuckte aber in letzter Sekunde von der aufwendig aussehenden Flechtfrisur zurück und atmete stattdessen schwer aus. »Die Regeln sagen, dass das Gewebe erhalten bleiben muss, dass Löcher im Todesfall gestopft werden müssen, dass die Toten bestimmen, wer dazu anrücken soll. Soziale Verpflichtungen sind nichts anderes als das. Also –«
»Jetzt hören Sie mir gut zu, Monsieur.« Erst die Nacht, die Lucien jeden Nerv geraubt hatte, ständig Noels weiterhin ungehemmte, verletzte Magie, der Aufenthalt in der Küche und das latente Gefühl, überall anzuecken, und jetzt … Es war endgültig genug. »Ich bin zu alt, um mich an Regeln zu halten, die in meinen Augen keinen Sinn machen. Es gibt unendlich viele davon. Einige befolge ich aus Rücksicht auf andere. Viele habe ich aus Angst befolgt, aber das ist lange her und kein Leben, zu dem ich zurückwill.«
Noel starrte ihn mit großen Augen an, was den unangenehmen Druck in Lucien verstärkte. Kaltes Tosen, das sich in festen Schlieren in ihm zusammenballte: Ärger. »Ich habe Sie geheiratet, weil ich den Wunsch meiner Schwester respektiere, und ich bleibe hier in dieser verdammten Stadt, weil ich respektiere, dass Sie noch nicht bereit sind.« Lucien ballte die Hände zu Fäusten im Versuch, sich zu beherrschen. »Aber erstens werde ich nicht hier rumstehen und mir einen Vortrag über das Befolgen von Regeln und etwaige Konsequenzen anhören, und zweitens weigere ich mich, meine furchtbare Verwandtschaft zu bewirten, wenn es keinen richtigen Grund dafür gibt. Verstehen Sie mich?«