Die magischen Saiten des Frankie Presto - Mitch Albom - E-Book

Die magischen Saiten des Frankie Presto E-Book

Mitch Albom

0,0

Beschreibung

Frankie Presto ist ein Waisenjunge, der von einem blinden Musiklehrer in einer spanischen Kleinstadt großgezogen wird. Im Alter von neun Jahren schickt ihn sein Ziehvater in die USA, mit nur einer alte Gitarre und sechs wertvollen Saiten im Gepäck. Frankie fasst rasch Fuß in dem neuen Land und wie von Zauberhand wird er schnell geachteter und respektierter Teil der Musikszene des 20. Jahrhunderts, von Klassik über Jazz bis zu Rock'n'Roll. Er trifft und beeinflusst auf vielerlei Weise Hank Williams, Elvis, Carole King, Wynton Marsalis, KISS und viele weitere Größen der Musikszene. Irgendwann wird er selbst zum Star, nimmt eigene Platten auf und wird verehrt. Doch seine Begabung wird zur Bürde, als er feststellt, dass er durch seine Musik das Leben der Menschen verändern kann. Denn jedes Mal, wenn eine Saite seiner Gitarre blau leuchtet, hat er Einfluss auf das Leben eines Menschen genommen. Auf dem Zenit seines Erfolgs verschwindet Frankie spurlos, seine Legende wächst. Erst Jahrzehnte später taucht er wieder auf, nur um kurz vor seinem eigenen Tod noch ein letztes Menschenleben zu verändern. Mitch Albom hat in diesem Forrest Gump-gleichen Ritt durch die Musikwelt einen wunderbar magischen Roman geschaffen über die Gruppen, deren Teil wir im Leben sind. Denn, so sagt der begeisterte Hobbymusiker Mitch Albom: "Wir alle sind im Leben Teil einer Band."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 485

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Teil I
1
Marcus Belgrave
2
3
Clem Dundridge
4
5
Darlene Love
6
7
8
Leonard »Tappy« Fishman
9
10
11
12
13
Abby Cruz
14
15
16
Teil II
Niles Stango
17
18
19
20
21
22
23
24
Burt Bacharach
25
26
27
28
29
30
31
32
Teil III
Cecile (York) Peterson
33
34
35
36
37
38
39
40
Roger McGuinn
41
42
43
Teil IV
Pau Sanz
44
45
46
47
Tony Bennett
48
49
50
51
Teil V
Paul Stanley
52
53
Teil VI
54
Wynton Marsalis
55
56
Ingrid Michaelson
57
58
59
60
John Pizzarelli
61
62
63
Danksagung
Zum Autor

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.deabrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2016

© 2016 by Lago, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Copyright der Originalausgabe © 2015 by ASOP, Inc.

Die englische Originalausgabe erschien 2015 bei ASOP, Inc. unter dem Titel

The magic strings of Frankie Presto.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des 

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.muenchner-verlagsgruppe.de

Für meinen Onkel Mike, den ersten von vielen Musikern in meinem Leben, bei denen ich sagte: »So möchte ich auch spielen können.«

Here’s to all the boys who came along

Carrying soft guitars in cardboard cases

All night long

And do you wonder where those boys have gone?

PAUL SIMON

Für alle Jungs, die anmarschierten

Mit Gitarrenkoffern aus Karton

Die ganze Nacht lang

Fragst du dich nie, wo diese Jungs hingekommen sind?

Teil I

1

Ich bin gekommen, um meinen Preis zu fordern.

Er ist da, dort im Sarg. Eigentlich gehört er mir längst. Aber ein guter Musiker bleibt respektvoll sitzen, bis die letzten Noten verklungen sind. Das Lied dieses Mannes ist endgültig verstummt, aber die Trauergäste sind von weit her gekommen, um noch ein paar Strophen dranzuhängen. Als Koda sozusagen.

Hören wir mal, was sie so zu bieten haben.

Der Himmel kann warten.

Habe ich Sie jetzt erschreckt? Das war nicht meine Absicht. Nein, ich bin nicht der Tod. Ein Sensenmann mit Kapuze, der nach Verwesung riecht? Wie sagen eure Kids immer: Also echt! Ich bin auch nicht der große Richter, vor dem ihr am Ende immer Angst habt. Wer bin ich denn, dass ich ein Leben in eine Waagschale lege? Ich lebe bei den Guten ebenso wie bei den Bösen. Und ich verurteile die Fehler nicht, die dieser Mann gemacht hat. Genauso wenig, wie ich seine Tugenden abwäge.

Aber ich weiß so einiges über ihn: über den Zauber, den er mit seiner Gitarre gewebt hat, über die Menschenmassen, die er mit seiner tiefen, rauen Stimme berührt hat. Über die Leben, die er mit seinen sechs blauen Saiten umgekrempelt hat.

Ich könnte Ihnen all das erzählen.

Oder mich einfach ein bisschen ausruhen.

Ich nehme mir immer genug Zeit zum Ausruhen.

Finden Sie mich kapriziös? Manchmal bin ich das. Ich kann aber auch freundlich sein, beruhigend, einfach, so sanft wie rieselnder Sand, aber auch misstönend, wild, schwierig und so durchdringend wie ein Nadelstich.

Ich bin die Musik. Und ich bin gekommen, um mir die Seele von Frankie Presto zu holen. Nicht die ganze natürlich. Nur das ziemlich große Stück, das ich ihm zur Geburt in die Wiege gelegt habe. Auch wenn er mit meiner Gabe gut gewirtschaftet hat, ist sie nur eine Leihgabe und nicht sein unveräußerlicher Besitz. Und als solche fällt sie nach Vertragsende wieder an den Eigentümer zurück.

Ich werde Frankies Talent also wieder an mich nehmen und es an eine oder mehrere neugeborene Seelen verteilen. Und eines Tages werde ich dasselbe mit Ihrem Talent tun. Ihr Menschen richtet nicht ohne Grund instinktiv die Augen zum Himmel, wenn ihr einer Melodie lauscht oder zum Beat einer Trommel mit dem Fuß wippt.

Alle Menschen sind musikalisch. Warum sonst hätte Gott ihnen ein schlagendes Herz in die Brust gepflanzt?

Natürlich haben manche mehr von mir im Blut als andere. Bach, Mozart, Antônio Carlos Jobim, Louis Armstrong, Eric Clapton, Philip Glass, Prince – um nur ein paar von denen zu nennen, die unter euch Menschen gelebt haben. Bei allen habe ich gespürt, wie ihre winzigen Hände – kaum geboren – schon nach mir griffen.

Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten. Auf eben diese Weise werden Talente verliehen: Noch ehe ein Neugeborenes seine Augen öffnet, umschweben wir Talente es als leuchtende Farben. Und wenn es zum ersten Mal seine Händchen öffnet, greift es nach der Farbe, die ihm am besten gefällt. Dieses Talent begleitet es dann durch sein ganzes Leben. Die Glücklichen (in meinen Augen) entscheiden sich für mich: die Musik. Von diesem Moment an lebe ich in jedem Summen, jedem Pfeifen, in jedem Anschlag einer Klaviertaste, jedem Zupfen einer Saite.

Ich kann euch Menschen nicht vor dem Tod bewahren. Diese Macht ist mir nicht gegeben. Aber ich kann euch erfüllen.

Und ja, der Mann in diesem Sarg war von mir erfüllt, der geheimnisvolle und so oft missverstandene Frankie Presto, verstorben erst dieser Tage vor den Augen einer riesigen Menschenmenge bei einem ausverkauften Festival. Diese Leute sahen, wie sich Frankies Körper hoch in die Lüfte erhob, bevor er leblos zu Boden fiel.

Diese Geschichte hat einige Aufregung verursacht. Selbst heute an diesem Tag, an dem sich alle in dieser jahrhundertealten Basilika versammeln, wird immer wieder die Frage laut: »Wer hat Frankie Presto getötet?« Denn, so heißt es, kein Mensch stirbt von selbst auf diese Weise.

Und das ist richtig.

Wussten Sie, dass sein Vorname eigentlich »Francisco« lautete? Seine Manager haben immer versucht, das geheim zu halten. »Frankie«, so dachten sie, kommt bei den amerikanischen Fans besser an. Die jungen Mädchen könnten bei seinen Konzerten dann schreien: »Frankie! Ich liebe dich, Frankie!« Da lagen sie richtig. Zweisilbige Namen eignen sich besser für hysterische Anfälle. Aber niemand kann seine Vergangenheit ändern, ganz egal, was er aus seiner Zukunft macht.

Sein wahrer Name war Francisco. Francisco de Asís Pascual Presto.

Mir gefällt der Name. Ich war ja auch dabei, als man ihm seinen Namen gab.

Richtig. Ich kenne die unterschlagenen Geheimnisse von Frankie Prestos Geburt, die für Biografen und Kritiker – ja auch für Frankie selbst – lange Zeit ein Rätsel blieben. Ich kann Ihnen erzählen, wie alles abgelaufen ist.

Wundert Sie das? Dass ich so mir nichts, dir nichts bereit bin, eine Story zu erzählen, die alle so brennend interessiert? Nun, wozu noch warten? Mein Talent ist ohnehin nicht von der »langsamen« Sorte wie die Logik oder die Mathematik. Ich bin die Musik. Wenn ich Ihnen das Talent zum Singen schenke, dann können Sie singen, sobald Sie das erste Mal den Mund aufmachen. Komponieren? Meine besten Wendungen sind oft die ersten Noten eines Stücks. Mozarts »Kleine Nachtmusik«? Ta, da-dam, da-dam da-dam da-dam? Er brach in Gelächter aus, als er das auf dem Klavier nachspielte. Das hat keine Minute gedauert.

Aber Sie wollten ja wissen, wie Frankie Presto zur Welt kam. Ich werde es Ihnen sagen. Ganz einfach.

Es ist genau hier passiert, in Villareal in Spanien, einer Stadt unweit des Meeres, die vor über 700 Jahren von einem König gegründet worden war. Ich fange gern mit der Zeit an, dem Takt eben. Beginnen wir also im August 1936, am ehesten angebracht wäre wohl ein, sagen wir, erratischer »6/5«-Takt, denn es war eine ziemlich blutige Epoche in der Geschichte des Landes. Bürgerkrieg. El Terror Rojo – der Rote Terror – wütete in den Straßen und bewegte sich auf eine Kirche zu. Der Großteil der Priester und Nonnen war schon aufs Land geflohen.

Ich kann mich an diesen Abend noch gut erinnern. (Ja, ich habe ein Gedächtnis. Keine Arme und Beine, aber ein nahezu unerschöpfliches Erinnerungsvermögen.) Ein Gewitter brodelte über der Stadt, die Regentropfen schlugen hart aufs Straßenpflaster. Eine Hochschwangere schlüpfte in diese Kirche hinein, weil sie für ihr Kind beten wollte. Sie hieß Carmencita. Ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen ging fast unter in der Wolke ihres dichten schwarzen Haars. Sie zündete zwei Kerzen an und legte die Hand auf ihren dicken Bauch. Dann ließ sie sich stöhnend zu Boden sinken. Die Wehen setzten ein.

Sie schrie. Eine junge Nonne mit haselnussbraunen Augen und einem winzigen Spalt zwischen den Vorderzähnen eilte zu ihr und half ihr beim Aufstehen. »Tranquila«, beruhigte sie sie und nahm Carmencitas Gesicht zwischen die Hände. »Ganz ruhig.« Doch bevor sie nur überlegen konnte, wie sie die Frau ins Krankenhaus transportieren sollte, stieß jemand die Kirchenpforte auf: Die Plünderer fielen ein.

Es handelte sich um Revolutionäre und versprengte Soldaten paramilitärischer Einheiten, die gegen die faschistischen Putschisten kämpften. Sie waren gekommen, um diese Kirche zu zerstören, wie sie es bei anderen in ganz Spanien gemacht hatten. Statuen und Altäre hatten sie entweiht, die Kirchen in Brand gesteckt, Priester und Nonnen, die man als Helfershelfer der Putschisten ansah, ermordet.

Man könnte vermuten, dass ein neues Leben instinktiv zögert, die Bühne zu betreten, wenn es inmitten solcher Schrecken zur Welt kommen soll. Nein. Weder Freude noch Angst können eine Geburt verhindern. Der künftige Frankie Presto hatte keine Ahnung, wie die Welt außerhalb des Mutterleibs aussah. Er war bereit für seinen Auftritt.

Und ich ebenfalls.

Die junge Nonne brachte Carmencita in ein verstecktes Kämmerchen, das schon vor Jahrhunderten eingerichtet worden war. Die Revolutionäre mochten die Kirche zerstören, doch Frankies Mutter hatte eine von Kerzen erhellte Ecke und eine graue Decke, auf der sie ihr Kind gebären konnte. Die Frauen atmeten schnell und rhythmisch: ein und aus. »Tranquila, tranquila«, beruhigte die Nonne Carmencita immer wieder.

Der Regen hämmerte wie mit Schlägeln aufs Dach, der Donner gab die Pauke dazu. Unten steckten die Plünderer das Refektorium an. Das Feuer knisterte laut wie Kastagnettengeklapper. Wer nicht aus der Kirche geflohen war, schrie und kreischte. Dazu kamen die gebellten Befehle der Revolutionäre. Hohe Stimmen, tiefe Stimmen, Flammenknistern, Windgeheul, Trommelregen und der immer wieder dreinschlagende Donner steigerten sich zu einer wütenden Symphonie, die schnell auf ihr Crescendo zutrieb. Gerade als die Eindringlinge das Grab des heiligen Pascual öffnen und seine Gebeine verstreuen wollten, begannen die Glocken der Basilika zu läuten. Alles richtete den Blick nach oben.

In eben diesem Augenblick kam Frankie Presto zur Welt. Mit fest geschlossenen Händchen. Und griff sich sein Stück von mir.

Ah … Lasse ich mich zu sehr mitreißen von meiner Geschichte? Ich muss mir etwas zur Komposition überlegen. Die Geschichte einer Geburt zu erzählen ist eine Sache, die eines ganzen Lebens eine völlig andere.

Lassen wir also für einen Moment den Sarg mit Frankie Presto, wo er ist, und treten wir vor die Pforte der Basilika, hinaus in die Morgensonne, die die Menschen blendet, die aus ihren Autos steigen. Die engen Straßen beginnen sich zu füllen, obwohl noch nicht viele Trauergäste da sind. Eigentlich müssten es mehr sein. Meinen Berechnungen zufolge (die immer stimmen) hat Frankie Presto während seiner Zeit auf Erden mit genau 374 Bands gespielt. Das sollte doch eine zahlreiche Trauergemeinde ergeben.

Jeder gehört im Laufe seines Lebens einer Band an. Und einige dieser Bands machen Musik. Frankie, mein kostbarer Schützling, war mehr als nur ein Gitarrist, mehr als ein Sänger, mehr als ein berühmter Künstler, der eine lange Zeit seines Lebens von der Bühne verschwand. Denn da er als Kind einiges durchgemacht hatte, wurde er für sein Leid mit einer ganz besonderen Gabe entschädigt. Einem Satz Saiten, die ihm die Fähigkeit verliehen, Leben zu verändern.

Sechs Saiten.

Sechs Leben.

Aus eben diesem Grund dürfte dieser Abschied interessant werden. Aus eben diesem Grund bleibe ich hier, um die Trauerredner zu hören – die ihn kannten und die Frankies einzigartige Symphonie erklingen lassen. Und dann ist da natürlich noch die Frage nach seinem merkwürdigen Tod. Und nach der dunklen Gestalt, die man kurz davor in seiner Nähe gesehen hatte.

Ich will dieses Rätsel gelöst sehen. Musik verlangt nach Lösungen.

Aber für den Moment ruhe ich mich lieber noch ein bisschen aus. Schließlich habe ich Ihnen ja schon ein paar Takte vorgegeben. Sehen Sie die Zigaretten rauchenden Männer dort auf den Kirchenstufen? Den einen mit der Ballonmütze aus Tweed? Auch ein Musiker. Er spielt Trompete. Früher hatte er sehr geschickte Finger, heute ist er alt und kämpft gegen die Krankheit. Hören Sie ihm doch einen Augenblick zu. Frankie hat mal in seiner Band gespielt. – Jeder schließt sich im Laufe seines Lebens einer Band an.

Marcus Belgrave

Jazztrompeter. Spielte in Marcus Belgrave and His Quintet und der Ray-Charles-Band. Begleitete McCoy Tyner, Dizzy Gillespie, Ella Fitzgerald und andere.

Kann ich mal Feuer haben … mmm … mmm … danke.

Nein, ich kann’s auch nicht glauben. Kein Mensch stirbt so. Aber ich sage Ihnen, Frankie hat da irgendwas Seltsames getrieben, irgendwas mit Zauberei, Voodoo oder so … Ich habe diese Geschichte bisher niemandem erzählt, aber ich schwöre bei Gott, sie ist wahr.

Wir spielten in so ’nem Club in Detroit, 1951 oder vielleicht 1952. In jenem Teil der Stadt, den man Black Bottom nennt. Da gab’s damals eine Menge guter Clubs, aber nach dem Krieg kam das Viertel immer mehr herunter.

Wie auch immer. Wir spielten Freitagnacht, vier Auftritte – um acht, zehn, um Mitternacht und um zwei Uhr früh. Frankie war auch dabei. Damals war er nur ein magerer Teenager, der Gitarre spielte – also lange, bevor er die ganzen Hits aufnahm, ja sogar lange, bevor er überhaupt zu singen anfing. Verdammt, ich glaube, ich kannte damals nicht mal seinen Nachnamen. Er war einfach nur »Frankie«. Eigentlich hätte er gar nicht dabei sein dürfen, weil er noch so jung war, aber er hat nie Geld verlangt, und dem Typen, der den Club damals führte, war das natürlich mehr als recht. Wir postierten ihn ganz hinten, außerhalb der Scheinwerferkegel, so war im Halbdunkel nur sein dichter, dunkler Haarschopf zu sehen. Nach jedem Auftritt bekam er einen Teller mit Hühnchen, und wir hatten einen Gitarristen, den wir nicht zu bezahlen brauchten.

Ich weiß, ich weiß, ich bin schon mittendrin in der Geschichte – wie gesagt, der Club war damals ziemlich heruntergekommen, und es geschah Folgendes: Eines Abends sind dort im Club einige komische Typen, unter ihnen auch ein riesengroßer, bärtiger Kerl mit einem hübschen blonden Mädchen, das viel zu jung ausgesehen und mächtig Lippenstift aufgetragen hat, vermutlich, um älter zu wirken.

Irgendwann spielen wir »Smokehouse Blues«. Na ja, irgendwas muss passiert sein, denn plötzlich springt der Bärtige auf und drückt das Mädel gegen die Wand. Sein Stuhl fliegt durch den Raum, und in seiner Hand hat er ein Messer, das er ihr an die Kehle drückt. Er würgt sie, brüllt sie an, beschimpft sie übel. Tilly, unser Pianist, steht auf und verlässt schnurstracks den Raum. – So war er einfach. Wir haben ihn immer »Ich will keinen Ärger«-Tilly genannt. – Der Rest der Band spielt weiter, mit dieser Miene, wenn man etwas eigentlich gar nicht sehen will, aber trotzdem immer hinschauen muss. Kennen Sie das?

Wir haben das Gefühl, dass der Typ das Mädchen umbringt, sobald wir aufhören zu spielen. Er schreit, fuchtelt mit dem Messer herum, sie wird knallrot im Gesicht, doch keiner tut was, denn der Kerl ist echt ein Monstrum.

Das Nächste, was ich weiß, ist, dass Frankie plötzlich ganz vorn steht und richtig laut zu spielen anfängt – und schnell. Er spielt so gut, dass die Leute die Augen nicht von ihm wenden können. Und Frankie brüllt: »Hey!« Der Bärtige sieht auf und lallt irgendwas, aber Frankie spielt weiter, nur noch schneller. Ich, Tony und Elroy versuchen mitzuhalten, aber irgendwas ist mit Frankie los. Seine Finger rasen, als ob sie verhext sind.

»Hey!«, schreit Frankie noch mal, und er spielt wie der Teufel, obwohl jede Note immer noch ganz klar rüberkommt. Jeder wartet darauf, dass der Kerl sich vor ihm aufbaut und ihm das Messer an die Kehle setzt, so, als ob er die Herausforderung annimmt.

Aber der Bärtige grunzt nur: »Schneller.«

Also spielt Frankie schneller. Im Publikum fangen Einzelne an, ihn anzufeuern, als sei das Ganze ein Spiel. Kaum ist er durch »Smokehouse«durch, spielt er den »Hummelflug« aus dieser russischen Oper. Ich versuche, die Noten für die Trompete zu finden, und Elroy gibt auf dem Schlagzeug einen Beat vor, dass man meint, der Fuß fällt ihm gleich ab.

Und wieder brüllt der Kerl: »Schneller!«

Wir haben geglaubt, dass kein Mensch auf Gottes Erdboden das noch schneller spielen kann, doch ehe wir diesen Gedanken zu Ende denken können, legt Frankie schon wieder los. Seine Finger gleiten so schnell über die Saiten, dass ich hinterher schwöre, einen Hummelschwarm aus der Gitarre habe fliegen sehen. Er sieht nicht mal auf sein Instrument, sondern fixiert nur den Kerl. Seine Lippen stehen leicht offen, das Haar fällt ihm in die Stirn, und dann klatscht wirklich der ganze Raum und versucht, mit Elroy und Frankie mitzuhalten. Frankie schwirrt nur so von den höchsten Tönen zu den tiefsten und wieder zurück, der Bärtige starrt ihn an wie hypnotisiert und tritt näher, um zuzusehen. Frankie sieht das Mädel mit dem Lippenstift an und sie ihn. Dann schüttelt er den Kopf, und schwupp ist sie draußen, schnell wie eine Kugel.

Das ganze Publikum feuert ihn nun an: »Whoo! Whoo! Whoo! Whoo!« Der Kleine presst die Lippen aufeinander, jetzt ist er bei den allerhöchsten Tönen. Die Gitarre klingt wie ein weinendes Baby, so lässt er sie jammern. Der Bärtige steht an der Ecke der Bühne, und Frankie schüttelt den Kopf dauernd in seine Richtung wie ein Maschinengewehr: Bangadedy, bangadedybang – und dann ist auf einmal Schluss. Aus. Er wirbelt die Gitarre über den Kopf, und im Club bricht die Hölle los. Frankie aber rennt zur Tür hinaus, dem Mädel hinterher.

Aber das Seltsame kommt erst noch:

Ich gucke mir seine Gitarre an, und ich schwöre: Eine der Saiten ist blau geworden. Blau wie das Herz einer Flamme. Und ich denke bei mir: »Ich weiß nicht, woher er kommt. Und ich will’s auch gar nicht wissen.«

2

Tja. Das war schon ein erster Hinweis. Das junge blonde Mädchen mit dem Lippenstift wäre tot, hätte Frankie nicht getan, was er getan hat. Aber er war noch viel zu jung, um das zu verstehen. Er wusste nicht, dass er diese Macht besaß …

Entschuldigung. Hallo, hier bin ich. Auf dem Fenstersims. Ich höre dem Küchenradio zu, das Blondies »Heart of Glass« spielt. Das Radio steht am Fenster und tönt in die kleine Straße hinter der Kirche hinaus. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie anders Musik klingt, wenn man sie draußen spielt? Ein Cello bei einer Gartenparty? Eine Dampforgel im Vergnügungspark?

Das liegt daran, dass ich, die Musik, sozusagen als Freiluftbaby zur Welt gekommen bin: im Brechen der Meereswellen, im Pfeifen der Sandstürme, im Schrei der Eule, im Schnarren der neuseeländischen Tui-Vögel. Ich schwinge im Echo, reite auf der Brise. Ich wurde in der freien Natur geboren. Nur der Mensch glättet meine Ecken und Kanten, um mich zu verschönern.

Durchaus mit Erfolg, ich streite es ja gar nicht ab. Aber ihr Menschen habt auch eine Menge merkwürdiger Behauptungen aufgestellt. Zum Beispiel, dass ich umso reiner sei, je stiller die Umgebung ist. So ein Unsinn. Einer meiner Schüler, ein hoch aufgeschossener Saxophonist namens Sonny Rollins, spielte sein Instrument drei Jahre lang auf einer Brücke in New York City, wo seine sachten Jazzweisen sich mit dem Verkehrslärm verflochten. Ich war oft dort und habe, auf dem Träger sitzend, zugehört.

Oder mein geliebter Frankie, der inmitten einer Kakophonie höllischer Verwüstung und himmlischen Glockengeläuts auf die Welt gekommen ist. Erinnern Sie sich? Die Nacht in der brennenden Kirche? Carmencita, Frankies Mutter, musste ihr Neugeborenes am Schreien hindern, sonst wären sie von den Brandstiftern entdeckt worden. Sie lagen eng aneinandergeschmiegt auf der grauen Decke, und Frankies Mutter summte ihm ein Lied ins Ohr. Ein Lied, das sie aus den Vierteln von Villareal kannte. Es war von einem der berühmten Söhne der Stadt geschrieben worden, meinem wunderbaren Gitarristen Francisco Tárrega. Carmencita summte es so rein, wie nur je ein Lied erklang, während ihre Tränen die Wangen ihres Jungen benetzten.

Er schrie nicht.

Und das war gut so, denn die Revolutionäre hatten mittlerweile den Hauptaltar erreicht und schlugen alles kurz und klein. Sie kamen immer näher. Bald würden sie die Treppe entdecken, die nach oben führte. Die Nonne mit den haselnussbraunen Augen und dem Spalt zwischen den Vorderzähnen zitterte. Sie wusste, dass sie die junge Mutter nicht einfach wegbringen konnte. Carmencita war wegen des Blutverlusts zu schwach. Die Revolutionäre würden sie als Nonne mit Sicherheit töten. Also murmelte sie ein Gebet, zog das Nonnengewand über den Kopf und löschte mit den Fingern die Kerzen.

»Silencio«, flüsterte sie. »Still.«

Carmencita hielt inne in dem einzigen Lied, das sie je für ihren Sohn gesungen hatte.

Das Lied hieß »Lágrima«.

Das bedeutet »Tränen«.

All das erscheint völlig aus der Luft gegriffen, wenn Sie Frankie Presto nur während der Jahre gekannt haben, in denen seine Berühmtheit ihren Höhepunkt erreicht hatte. Das war Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre. Als man ihn den »nächsten Elvis Presley« nannte, er Schallplatten aufnahm, im Fernsehen auftrat und Konzerte gab. Als dieses Foto von ihm gemacht wurde, das heute jeder kennt: Er in ockerfarbenem Sakko und Hemd mit pinkfarbenem Kragen, wie er sich aus dem Wagenfenster lehnt und seinen Namen auf den Arm einer hübschen Brünetten schreibt.

Dieses Foto, das von einem Fotografen des berühmten LIFE-Magazins geschossen wurde, zierte das Cover seines meistverkauften Albums: Frankie Presto Wants To Love You. Es hat sich mehrere Millionen Mal verkauft und brachte ihm mehr Geld ein, als er es sich als Junge in den ärmlichen Straßen von Villareal, wo Männer mit Pferdewagen Orangen in Kisten ausgeliefert haben, je erträumt hatte.

Aber zur Zeit des Fotos war Frankie schon ein amerikanischer Künstler mit amerikanischem Manager, und in seinem Gesang war auch nicht ein Hauch von spanischem Akzent. Sogar die Gitarre war in den Hintergrund getreten. Die Lieder, die man ihn singen ließ, waren offen gestanden weit unter seinem Niveau.

Aber ich habe Ihnen ja auch noch nichts von seinem ersten Instrument, von dem haarlosen Hund, dem Mädchen im Baum, von El Maestro, dem Krieg oder Django, Elvis und Hank Williams erzählt. Oder warum Frankie verschwand, als er auf dem Gipfel seiner Popularität war.

Und auch nicht, wie er starb und wie er sich über sein staunendes Publikum erhob.

Frankies Reise. Eine unglaubliche Geschichte. Ja, jetzt werden Sie neugierig, nicht wahr? Und das gefällt mir. Ich werde immer schwach, wenn ich irgendwo ein geeignetes Publikum entdecke.

Jetzt werden es mehr Autos. Die Sonne erhebt sich hoch über der Stadt. Der Priester legt in der Sakristei seine Gewänder an. Ein bisschen Zeit haben wir wohl noch. Dann halten wir uns mal ran. Schließlich heißt unser lieber Frankie nicht umsonst Presto. Heute kennt den Ausdruck ja wohl kaum noch jemand. Früher aber stand er für das schnellste Tempo: fröhlich, flott, energiegeladen. Presto eben. Im Spanischen heißt es aber auch »bereit« oder »fertig«. Und in Amerika ist es das Codewort für jede Art von Verwandlung. Wie »Simsalabim«.

Sind Sie bereit? Dann erzähle ich jetzt Frankies Kindheit zu Ende.

3

Jeder schließt sich im Laufe seines Lebens einer Band an.

In die erste Band werden Sie hineingeboren. Ihre Mutter übernimmt die Führung. Sie teilt die Bühne mit Ihrem Vater und Ihren Geschwistern. Möglicherweise ist der Vater abwesend, ein leerer Stuhl im Lichtkegel des Scheinwerfers. Aber er gehört zu den Gründungsmitgliedern, und wenn er eines Tages auftaucht, müssen Sie ihm seinen Platz geben.

Während das Leben voranschreitet, werden Sie sich anderen Bands anschließen – durch Freundschaft, Liebschaften, Nachbarschaften, die Schule, die Armee. Vielleicht werden Sie und die Band sich gleich kleiden oder Ihren eigenen Jargon entwickeln, über den Sie sich köstlich amüsieren. Vielleicht werden Sie backstage auf dem Sofa herumlungern, oder Sie sitzen fein gewandet um einen Tisch im Besprechungsraum. Oder Sie hängen alle am selben Ruderbalken in einem Boot. Aber in jeder einzelnen Band, der Sie sich anschließen, werden Sie eine ganz bestimmte Rolle spielen. Und diese Rolle wird Sie genauso formen, wie Sie Ihrerseits die Rolle prägen.

Und wie das bei Bands nun mal so ist: Die meisten werden sich wieder auflösen – aufgrund von Distanz, Differenzen, Trennung, Tod.

Frankies erste Band war ein Duo – Mutter und Kind. Die Gnade des Herrn verbarg sie in dieser Nacht vor den Revolutionären. Sie konnten aus der Kirche entkommen. Doch die Frau zog sich, traumatisiert durch ihre schlimmen Erfahrungen, ans andere Ende der Stadt zurück, um nie wieder über diese Nacht reden zu müssen. In Spanien begegneten sich die Bürger damals mit Misstrauen. Am besten behielt man seine Geheimnisse für sich. Wenn Leute aus der Stadt vorübergingen, senkte die junge Mutter den Blick.

»Que niño más guapo!«, sagten sie. »Was für ein hübscher Junge!«

»Gracias«, sagte sie dann und ging schnell weiter.

Bald hatte das Kind einen dichten, schwarzen Haarschopf. Die Monate vergingen, und der jungen Frau fiel auf, dass es sich jedes Mal den Glocken zuwandte, wenn ihr Klang in den Lüften schwang. Wann immer sie an einem Straßenmusikanten vorbeikamen, öffnete der kleine Francisco die Hände, als wolle er nach mir (der Musik) greifen. (Dabei hatte er schon genug von mir in sich.)

Eigentlich war er ein ganz normales Kind, nur weinte er lange Zeit nicht. Eigentlich gab er überhaupt keinen Laut von sich. Die beiden lebten in einem Zimmerchen oberhalb der panadería des Dorfs. Wann immer sie hungrig waren, und das kam oft vor, ging die junge Mutter nach unten zum Bäcker und wartete, bis er sie nach ihrem stillen Kind fragte. Dann schlug sie die Augen nieder, und er seufzte mitfühlend. »Machen Sie sich keine Sorgen, junge Frau. Ich bin sicher, er wird irgendwann zu reden anfangen.« Und dann gab er ihr einen Teller mit Brot und Olivenöl. Manchmal konnte sie sich ein paar Groschen verdienen, indem sie für jemanden nähte oder wusch. Doch das Land litt unter dem Bürgerkrieg, und Geld war rar. Allein schaffte sie es mit dem Baby kaum, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Monat um Monat brachte sie sich und ihr Kind nur mit Mühe durch.

»Gehen Sie doch zur Kirche. Dort wird man Ihnen helfen«, sagten die Nachbarn. Doch sie wollte nicht. Sie wollte keine Kirche mehr von innen sehen.

An Frankies erstem Geburtstag trug sie ihn auf die einzige gepflasterte Straße der Stadt, die Calle Mayor, da er einmal etwas anderes sehen sollte. Sie marschierte mit ihm in die Casa Medina, den größten Laden dort, nur damit er Dinge sehen konnte, die sie niemals besitzen würden. Sie sah sich die Kinderwagen an und wünschte, sie könnte sich einen kaufen. Es gab sogar ein Grammofon zum Aufziehen. Auf dem Weg nach draußen blieb sie stehen, um es zu bewundern. Der Besitzer, ein gut gekleideter Mann mit einem dünnen Schnurrbart, trat auf sie zu. Vermutlich hatte er gesehen, dass sie keinen Ehering trug. Er lächelte, als er eine neue Schellackplatte auflegte.

»Hören Sie doch mal, Señora«, sagte er stolz. Der Künstler, dessen Platte er auflegte, war der spanische Gitarrist Andrés Segovia. Bei diesen Klängen wurde der kleine Frankie ganz still. Er hielt sein Köpfchen schief, presste die Hände zusammen und lauschte. Und als das Stück zu Ende war, fing er an zu schreien. Zum ersten Mal. Und ziemlich laut.

Die Stimme des Babys war so laut wie die eines erwachsenen Mannes. Der Besitzer schnitt eine empörte Grimasse. Die Kunden ebenfalls. Entsetzt schüttelte die Mutter den Kleinen und zischte: »Silencio!« Doch er schrie immer weiter, so laut, dass man ihn bis in den hintersten Winkel des Ladens hörte. Ein Verkäufer nahm ein Bonbon vom Ladentisch und steckte es dem Jungen in den Mund, doch Frankie fuchtelte wie wild mit seinen Händchen und schrie nur noch lauter.

Schließlich hob der Besitzer den Arm des Grammofons erneut an. Erneut erklang Segovia. Und Frankie lauschte.

Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, welches Stück er gespielt hat.

»Lágrima«.

Von diesem Tag an war das Kind nicht mehr zu beruhigen. Es schrie und schrie zu jeder Tages- und Nachtzeit. Egal, ob es im Bett oder auf der Decke lag. Es schrie lauter als alle Hähne im Viertel, lauter als die Straßenhunde bellen konnten. Irgendwie schien es nach etwas zu verlangen, was es nicht bekam.

»Ruhe!«, brüllten die Nachbarn aus den Fenstern. »Geben Sie ihm doch endlich Milch, damit er aufhört zu schreien!«

Aber nichts konnte den Jungen beruhigen. Nacht für Nacht heulte er, sodass die Nachbarn mit Fäusten gegen die Wände hämmerten und mit dem Besenstiel an die Decke klopften. »Tun Sie doch etwas!« »Wir brauchen unseren Schlaf!« Niemand konnte sich an ein Baby erinnern, das je so laut geschrien hätte. Selbst der Bäcker im Erdgeschoss hörte auf, der Mutter Brot zu schenken, in der Hoffnung, dass sie dann ausziehen würde.

Ohne Hilfe wurde das Essen immer knapper. Die arme Frau wusste nicht mehr ein noch aus. Sie konnte nicht mehr schlafen und verfiel in tiefe Depressionen. Der Hunger tat weh, und ihre Gesundheit verschlechterte sich. Als der Winter kam, wurde sie krank. Sie bekam Fieber und verfiel immer wieder ins Delirium. Mit einem roten Handtuch um den Hals verließ sie die Wohnung und ging allein durch die Straßen. Francisco ließ sie zu Hause weinen. Manchmal murmelte sie einzelne Worte, weil sie glaubte, jemand hätte etwas zu ihr gesagt.

An einem kalten Wintermorgen, an dem sie keinen einzigen Bissen Brot mehr für das Kind hatte und der Kleine immer weiter und weiter schrie, packte sie ihn und trug ihn hinaus vor die Stadt, wo der Mijares ins Meer mündet. Sie ging den Hügel hinab bis ans Wasser. Der Wind pfiff und wirbelte trockene Blätter von der Sandbank auf. Sie sah das Kind an, das sie in seine graue Decke eingewickelt hatte. Einen Augenblick lang hörte es auf zu weinen, und ihr Gesicht nahm einen weichen Ausdruck an. Dann aber läuteten in der Ferne die Kirchenglocken, und sein Geheul ging wieder los. Entschlossen warf sie den Kopf zurück und stieß selbst einen lauten Schrei aus.

Sie schleuderte das Bündel ins Wasser.

Dann lief sie weg.

Eine Mutter sollte so etwas nicht tun. Doch diese Frau tat es. Tränen strömten aus ihren Augen. Sie lief, bis ihre Lungen zu platzen schienen, und blickte nicht einmal zurück. Nicht aufs Kind und nicht auf den Fluss.

Eine Mutter sollte so etwas nicht tun. Doch diese Frau war nicht Frankies Mutter. Die war, ins Gewand einer Nonne gehüllt, in dem Kämmerchen in der Kirche gestorben.

Clem Dundridge

Backgroundsänger bei den Kingtones, den Jordanaires und der Frankie-Presto-Band.

Wie geht’s denn so? … Sind Sie für einen Fernsehsender hier oder so was? … Haben Sie eine Ahnung, wann diese Beerdigung losgehen soll?

Ich! Ach … Ich war noch nie in Spanien – aber die Musik find ich toll. Ha! Kennen Sie dieses Lied? … Wer ist das noch gleich? Dang … Drei irgendwas … Ja, genau: »Three Dog Night!« Komischer Name, nicht?

Keine Sorge. Wo ich lebe – nun in Greenville, im Süden von Carolina, in Amerika – fangen Beerdigungen nie pünktlich an. Echt nie …

Nein, ich habe Frankie schon seit 20 Jahren nicht mehr gesehen. Wir haben uns einfach aus den Augen verloren, wissen Sie. Die meisten Leute haben ihn irgendwann aus den Augen verloren, oder etwa nicht? So war das einfach. Ich wusste nicht mal, dass er noch spielt, bis ich gehört habe, wie er gestorben ist …

Wie ich ihn kennengelernt habe? Ja, das ist eine coole Geschichte. Ich habe ihn 1956 bei Elvis Presley kennengelernt, beim Louisiana Hayride, der Country-Show. Ja, das ist eine wahre Geschichte. Jetzt kann ich sie ja erzählen, ich musste versprechen, dass ich die Klappe halte, bis Elvis tot ist und Frankie auch. Aber jetzt sind sie ja beide von uns gegangen, und ich bin 82. Ich soll erzählen? Na ja, vielleicht erzähle ich die Geschichte ja in der Kirche. Dürfen wir während des Gottesdienstes eine Rede halten? Der hier ist katholisch, oder? Die lassen einen vielleicht gar nicht über den Verstorbenen reden …

Jetzt gleich? … Ich sage Ihnen was: Wenn Sie mir was von dem Kaffee abgeben, den Sie da schlürfen, dann erzähle ich’s Ihnen … Danke … Sehr verbunden.

Also, das war so: Ich sang damals bei den Jordanaires, die Elvis’ Back­groundgruppe waren. Über die Jahre haben ziemlich viele Jungs für die Jordanaires gesungen, meistens Gospelsänger. Einige von ihnen waren Geistliche, die irgendwann doch zurück zur Kirche gegangen sind. Ich war nur kurz bei ihnen, aber es war gerade zu der Zeit, als Elvis anfing, bekannt zu werden. Jede Show war größer und besser besucht als die letzte.

Frankie sah Elvis ziemlich ähnlich, das ließ sich nicht leugnen. Beide entblößten beim Lächeln stets die ganze Zahnreihe, und dann dieser dichte, dunkle Haarschopf. Obwohl Elvis seine Haare ja gefärbt hat, seine Naturfarbe war eher rötlich-braun. Frankie war auch ein bisschen größer und schlanker. Und damals wusste noch keiner, dass Frankie nicht nur gut Gitarre spielen konnte. Ich weiß gar nicht, wie er nach Louisiana gekommen ist. Jemand hat mir mal erzählt, er sei im Kofferraum eines Wagens aus Detroit mitgefahren. Ernsthaft. Aber er hielt sich hübsch für sich, rauchte nicht, soff nicht. Und wenn Sie das in einer Band nicht machen, kennt Sie am Ende niemand …

Aber was soll’s, also, an einem Nachmittag hatten wir unsere Show in der Stadthalle von Shreveport. Dort wurde immer Louisiana Hayride aufgezeichnet. Das war eine echt bekannte Radiosendung, die damals jeder gehört hat. Wir machten uns also nachmittags an den Soundcheck für abends, aber Elvis war noch nicht da, er war noch mit irgendeinem Mädchen Gott weiß wo unterwegs. Colonel Parker, Elvis’ Manager, war deswegen so sauer, dass er am liebsten jemandem an die Gurgel gegangen wäre. Der Colonel war immer ziemlich streng, er hasste es, wenn jemand zu spät kam, sogar Elvis. Wir warteten also fünf oder zehn Minuten, dabei sah er ununterbrochen auf seine Uhr, und schließlich brüllte er: »Spielt einfach irgendwas! Wir müssen jetzt anfangen!« Nun, dem Colonel widersprach man nicht, also fingen wir mit der ersten Nummer an: »I Want You. I Need You. I Love You.« Die Jordanaires sangen die Backgroundparts, aber ohne Elvis hörte sich das natürlich blöd an, immer nur: »Whoooo, whoooo!« Man spürte förmlich, wie sich der Colonel immer mehr aufgeregt hat. Sein Gesicht wurde röter und röter. Er sah immer wieder zur Tür und rannte auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Auf einmal hörten wir eine Stimme, die Elvis’ Part sang. Es hörte sich an wie Elvis, nur dass Frankie am Mikro stand. Und er sang die Nummer absolut perfekt. Ich warf den anderen einen Blick zu. Wir waren uns einig, dass der Colonel ihn gleich erwürgen würde! Elvis zu imitieren, vor den Augen des Bosses? So was machte man einfach nicht. Dem Colonel jedenfalls gingen die Augen über, er kaute auf seiner Zigarre herum, die immer zwischen seinen Lippen hing, und ich dachte mir: »War nett, mit dir gearbeitet zu haben, Frankie!« Aber der Colonel scheuchte ihn nicht weg vom Mikro. Wir spielten die Nummer zu Ende, und er sagte lediglich zu dem Typen vom Sound: »Sind wir hier dann fertig?«

Also hörten wir auf, schüttelten ungläubig die Köpfe, und Hoot, unser Klavierspieler, überreichte Frankie ein Bier. Frankie fragte ihn: »Wofür das denn?«, worauf Hoot antwortete: »Weil du noch in einem Stück bist, mein Junge.«

Jetzt spulen wir ein paar Monate vor, bis zum Sommer 1957.

Wir waren mit Elvis auf Festivaltour im Nordwesten und sollten in Vancouver spielen, in Kanada. Ein ganzes Footballstadion, ausgebucht. Da hörten wir, dass der Colonel mit der Army in Verhandlungen stand, weil Elvis eingezogen werden sollte. Elvis sollte seinen Dienst sofort antreten, doch der Colonel wollte, dass er vorher noch ein paar Platten aufnahm. Ihm lag gerade ein Millionen-Dollar-Vertrag vor, und er würde den Teufel tun und Elvis an die Armee abtreten, bevor der diesen Vertrag erfüllt hatte.

Die von der Army waren eigentlich recht nett. Sie stimmten einem geheimen Treffen in Virginia zu … blöderweise genau an dem Tag, an dem wir in Vancouver spielen sollten. Und das Ganze ließ sich nicht verschieben, weil sich irgendein hohes Tier von General extra dafür Zeit genommen hatte. Er wollte Elvis kennenlernen, und das hieß: Entweder ihr seid an diesem Tag da, oder der Junge bekommt seinen Einberufungsbefehl. Nun, die meisten Menschen hätten die Show dann wahrscheinlich einfach abgesagt, doch Colonel Parker gehörte nicht zu diesen meisten Menschen. Er wollte nicht einfach die Einnahmen von einem ganzen Footballstadion sausen lassen, nicht für alles in der Welt. Es sollten gut 20 000 Leute kommen. Das bedeutete damals viel Geld. Am Abend vor dem Konzert ließ uns der Colonel antreten. Er bestellte uns etwa um Mitternacht in ein kleines Theater. Es war leer, auf der Bühne war unsere ganze Ausrüstung aufgebaut, Elvis war nicht da, dafür der Colonel und raten Sie mal, wer noch? Frankie. Die beiden flüsterten, und Frankie nickte. Wir fragten uns, was das Ganze sollte. Schließlich drehte sich der Colonel zu uns um und sagte: »Ich möchte, dass ihr die ganze Show durchgeht, und der Junge wird singen.« Wir haben uns angesehen, sagten aber kein Wort. Wir machten einfach, was uns gesagt wurde. Wir spielten. Frankie sang. Und so wahr ich hier stehe: Am Ende der Show konnte ich bei geschlossenen Augen nicht sagen, wer am Mikro war: Frankie oder Elvis. Der Junge war einfach unglaublich musikalisch. Unter seinen Händen hörte sich eine Kickdrum an wie eine Nachtigall, wenn Sie wissen, was ich meine?

Aber natürlich fragten wir uns am Ende der Show immer noch, was das Ganze sollte: Frankie mochte ja wie Elvis aussehen, aber er war nicht Elvis! Kaum waren wir fertig, meinte der Colonel: »Hört mal zu. Der Junge wird bei euch hinten stehen, er wird nicht nach vorne an die Bühne gehen! Merkt euch das! Und zwischen den einzelnen Songs wird nicht geredet. Ihr geht einfach von einem Song in den anderen über. Und zwar ein wenig flott.«

Und dann kam es: »Wenn einer von euch Vögeln auch nur einen Pieps von dieser Sache ausplaudert, dann werde ich euch vor Gericht zerren und euch fertigmachen, bis euer Gesicht nach hinten guckt.« Das hätte er nicht zu sagen brauchen. Niemand von uns wollte auf den Elvis-Gig verzichten. Schließlich hatten auch wir hier einen Tiger im Tank.

Und dann kam der schicksalhafte Abend. Der echte Elvis war irgendwo in Virginia mit den Jungs von der Regierung, und wir waren in Vancouver. Der schwarze Sedan mit unserem Elvis fuhr aufs Stadion zu. Frankie saß hinten zwischen uns. Er hatte das goldene Satinjackett an, trug eine Sonnenbrille und war ganz still. Ich konnte wirklich nicht erkennen, ob er einfach nur extrem entspannt war oder Todesangst hatte. Wir sollten ihn in die Mitte nehmen, wenn wir auf den Bühneneingang zugingen, und nur ja niemanden, nicht mal die Polizei, in seine Nähe lassen. Gesagt, getan. Als wir auf die Bühne gingen, noch bevor der Vorhang hochgezogen wurde, hörten wir die Menge draußen und haben gedacht, dass wir damit nie und nimmer durchkommen würden.

Aber dann ging der Vorhang auf, und die Fans waren echt weit weg. Vor der Bühne standen jede Menge Holzböcke, wie man sie zum Sägen von Brettern benutzt. Zu Elvis’ Sicherheit, hieß es. Da waren also mindestens 15 Meter zwischen uns und den Fans. Genau so hatte es der Colonel haben wollen. Es war immer noch hell draußen, wir hatten ja Sommer. Die Punktstrahler waren nicht an. Das machte es schwieriger, aus der Ferne etwas zu erkennen. Ich flüsterte Bill zu, einem der anderen Sänger: »Was denkst du?« Und er meinte: »Clem, wenn es schiefgehen sollte, renn einfach nach rechts, dort stehen die Autos.«

Und dann der Ansager: »Ladies and Gentlemen, Elvis Presley!« Und alles kreischte. Frankie trat heraus in goldenem Jackett und schwarzem Hemd, die Gitarre am Riemen um den Hals, genau wie Elvis sie immer trug. Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass die Menge anfängt zu buhen, aber nichts. Sie nahmen uns das Ganze ab! Frankie blieb auf der Bühne weit hinten bei uns, wie es der Colonel befohlen hatte, und er redete nicht, sondern fing gleich an mit Well, since my baby left me aus »Heartbreak Hotel«. Von diesem Moment an war es, glaube ich, egal, ob Frankie, ich oder Pearl Bailey gesungen hätten, die Leute kreischten so laut, dass man ohnehin nichts verstand. Natürlich rannten nun die Teenies nach vorne, aber Frankie machte einfach weiter mit »I Got a Woman« und »Rip It Up« und »Ready Teddy«. Wir haben uns angesehen und gegrinst wie die Schuljungs, denn er war echt gut. Ab da waren wir fast sicher, dass wir mit dem Bluff durchkommen. Die Polizei trieb die Teenies wieder zurück hinter die Absperrung, aber natürlich rannten wieder ein paar nach vorn. Frankie ist mit jedem Song in seine Rolle hineingewachsen. Er imitierte Elvis’ Leg Shakes und kreiste sogar mit den Hüften wie er. Ich habe versucht, seinen Blick einzufangen und ihn zu warnen. Schließlich wollte ich hier sicher rauskommen. Aber dann kam »Hound Dog«, und das ging einfach mit ihm durch. Er hat die volle Show abgezogen. Er stand nun ganz vorne und ruderte mit den Armen, ging auf die Zehenspitzen und twistete über die Bühne. Mit demselben verächtlichen Lächeln, das Elvis immer auf den Lippen getragen hat. Und das war`s: Die Menge stürmte übers Feld, die Polizei versuchte, sie zurückzuhalten, blies in ihre Pfeifen, was das Zeug hielt, der ein oder andere bekam sogar eine übergebraten.

Sobald »Hound Dog« zu Ende war, haben uns die Sicherheitsleute von der Bühne geführt. Und Frankie grinste und winkte der Menge zu: »Good bye, wir sehen uns noch!«

22 Minuten. So lange hat die Show gedauert. 22 Minuten. Wir haben es durchgezogen. Und die Leute reden bis zum heutigen Tag davon, dass das Konzert eines der wildesten und verrücktesten war, die Elvis je gegeben hat. Und sein letztes in Kanada. Und nur die Bank, die Jordanaires, der Colonel und Elvis selbst haben gewusst, was damals wirklich abgelaufen ist.

Und Frankie natürlich. Er hat die Band schon am nächsten Tag verlassen. Ich glaube, er wollte Elvis einfach nicht gegenübertreten. Vielleicht wollte auch Elvis ihn nicht sehen. Wie auch immer, er war jedenfalls weg, und ich habe ihn erst wiedergesehen, als er mich Monate später gebeten hat, mit ihm auf Tournee zu gehen. Da hatte er sich verändert, war selbstsicherer geworden. Mehr wie ein Star, wissen Sie. Ich glaube, dieses Konzert hat auf ihn großen Eindruck gemacht. Er hat da irgendwie Blut geleckt. Nun wollte er das Ganze für sich selbst haben.

Niemand hat je etwas über diesen Abend vor 50 Jahren gesagt. Aber ich bin jetzt 82, und Frankie ist tot, also zum Teufel damit, er hat die Lorbeeren wirklich verdient. Denken Sie nur mal, wie viele Leute Elvis-Imitatoren geworden sind und einen Haufen Geld damit verdient haben. Aber Frankie war der erste – und der beste, könnte man sagen. Wenn er die Leute davon überzeugen konnte, dass er der King war, dann war er doch der Einzige, der Elvis tatsächlich spielen konnte.

4

Vermutlich gibt es noch mehr Geschichten wie die von Mr. Dundridge. Aus diesem Grund ist wohl auch das Fernsehen hier. Ein großer bärtiger Mann mit einer Kamera und diese hübsch frisierte junge Dame mit dem Mikro neben ihm, die die Trauergäste auf den Stufen zur Kirche anspricht. Ein so spektakulärer Tod wie der von Frankie erregt natürlich das Interesse der Öffentlichkeit. Doch wie viele Geschichten auch erzählt werden mögen, keine von ihnen wird je die ganze Wahrheit enthüllen. Ganz einfach, weil niemand die ganze Wahrheit kennt. Außer mir natürlich. Nun ja, eine Person gibt es da noch. Doch diese Person wird nicht anwesend sein.

Wo waren wir doch gleich stehen geblieben? Ah ja, am Mijares-Fluss. An jenem Wintermorgen. Die Frau, die einfach wegläuft. Und das Kind, das jemand – in eine graue Decke gewickelt – ins Wasser schleudert. Ohne Schutz, ohne Hilfe.

Daran erinnerte sich der Junge nicht. Für Frankie Presto setzte die Erinnerung erst in der nächsten Phase seines Lebens ein, die er als »meine Anfänge« bezeichnen würde.

Doch selbst Anfänge haben ihre Hinführung. Ein Präludium zum Beispiel, eine verbreitete kompositorische Form. Heute kann das Präludium ein perfekt ausgearbeitetes eigenständiges musikalisches Werk sein, ursprünglich aber, in seinen Anfängen, hießen so die Fingerübungen der Lautenspieler der Renaissance, mit denen sie sich einspielten, »die Saiten testeten«, »tastar de corde«. Nicht sehr poetisch vielleicht, aber richtig. Man sollte tatsächlich die Saiten seines Lebens prüfen, den Bogen spannen, das Mundstück befeuchten und sich auf die innere Musik einstimmen, die man vortragen wird.

Das Präludium für Frankie Presto begann mit seiner turbulenten Geburt und endete mit dem Platschen, mit dem er im Mijares auftraf. In einem Jahr hatte er Tod, Bedrängnis, Hunger und Verlassenheit erlebt. Und nun drang ihm das kalte Wasser des Flusses in die Augen und ließ ihn zwinkern, während die Strömung ihn flussabwärts trug. Er hätte eigentlich schnell sinken und ertrinken müssen. Ich war da, um sein ungenutztes Talent wieder an mich zu nehmen, wäre es so weit gekommen. Doch es gibt in eurer Welt einfach immer wieder diese Momente, in denen etwas absolut Unerklärliches geschieht. Ich kann nur erzählen, was ich sah: Die graue Decke, auf der einst Frankies leibliche Mutter Carmencita lag, saugte sich einfach nicht voll. Sie trug den Jungen mindestens drei Minuten lang, während er wieder auf die Stadt zutrieb, während er sich die Äuglein rieb und aus Leibeskräften schrie – so laut, dass nicht einmal Gott ihn überhören konnte.

An dieser Stelle will ich Ihnen ein Geheimnis enthüllen, das Sie eines Tages noch verstehen werden: Die Gabe der Musik ist nicht nur dem Menschen eigen, sondern auch den Tieren. Eigentlich ist das offensichtlich, wenn man sich mal die Mühe macht, dem Gesang der Vögel zu lauschen oder dem Geschnatter von Delfinen und dem tiefen Brummen der Buckelwale. Tiere machen aber nicht nur Musik, sie haben auch ein einzigartiges Gehör.

Frankies Geschrei im Fluss traf auf ein nichtmenschliches Ohr. Ein haarloser Hund mit dünnen, krummen Beinen und schwarzer Haut, die wie aufgemalt wirkte, rannte auf das Flussufer zu, die Leine hinter sich herziehend. Als der schreiende Frankie näher kam, sprang der Hund bellend ins flache Wasser, und zwar an der Biegung, wo die Strömung etwas langsamer war. Die Kinderhand griff nach dem Gebell und erwischte die Leine. Der Hund biss in die Decke und zog, so gut er konnte, bis schließlich beide sicher ans Ufer gelangten.

Das Kind rollte aus der Decke heraus, der Fluss nahm sie mit sich fort. Der Hund aber stellte sich mit den Vorderpfoten über Frankies Köpfchen und ließ, schwer atmend, den Kopf sinken.

Damit endet das Präludium.

Und ich musste kein Talent zurücknehmen.

5

Nun wollen wir unsere Erzählung aber ein bisschen vorantreiben. (Der Priester braucht schließlich nicht ewig, um seine Gewänder anzulegen, und die Autos der Trauergäste füllen längst die Straße vor der Kirche.) Machen wir also einen kleinen Sprung vorwärts in der Zeit, an den Ort, wo Frankie dann wohnte: Ein Haus in der Calle del Calvario mit einem Ziegeldach, einem kleinen Vorbau und zwei tiefen Rinnen im Boden, die durch das Tor in den Hof führten. Dort haben sich die Räder zahlloser Karren eingegraben. Es war dies das Haus von Baffa Rubio, dem Eigentümer einer kleinen Sardinenfabrik, eines italienischen Wagens und eines haarlosen Hundes. Der Mann, der Frankie schließlich am Flussufer fand.

Baffa war unverheiratet und um die 40. Er ging regelmäßig zur Kirche, und in seinem Schlafzimmer hing ein Kreuz. Als er das Kind am Flussufer entdeckte, deutete er dies als Fingerzeig der göttlichen Vorsehung. Er dachte an den kleinen Moses im Schilf, und so nahm er den Jungen bei sich auf. Er badete ihn, fütterte ihn, wiegte ihn abends in den Schlaf. Nicht viele Männer würden so etwas tun. Ich achte immer gerne darauf, welche Namen im Spiel sind. (In meinem Fall heißt zum Beispiel allegro, dass man mich schnell spielt, adagio langsam und so weiter.) Rubio bedeutet »blond« oder »hellhaarig« – obwohl sein Haupt mit dünnen, schwarzen Haaren bedeckt war. Das zeigte also, dass dieser Mann nötigenfalls dem Lauf der Dinge eine kleine Korrektur zu verpassen wusste.

Er nannte das Kind Francisco Rubio. Das Kind nannte ihn Papa.

Baffa hatte einen ordentlichen Bauch, über den sich eine schlaffe Männerbrust wölbte. Dies zusammen mit seinen Stirnfalten und den nach unten zeigenden Schnurrbartspitzen ließ ihn aussehen wie einen ganzen Stapel Sorgenfalten, wenn er sich abends in seinen Sessel fallen ließ. Der Junge aber machte ihn glücklich. Baffa hatte seine Sardinenfabrik geerbt, und als Fischkonservenfabrikant war er in Villareal, der Stadt der Orangenpflanzer, -pflücker, -packer und -fuhrmänner ohnehin eine Ausnahmeerscheinung. Er hatte sich ans Alleinsein gewöhnt, schließlich roch er immer nach Fisch. Und da war nun plötzlich dieses Menschlein, das sein Leben mit ihm teilte. Wochentags fuhren sie beide in seinem italienischen Automobil in die Arbeit. Am Wochenende saßen sie gemeinsam im Garten und lauschten dem Radio, während der haarlose Hund unter dem Granatapfelbaum schlief. Das Radio war immer an, von morgens bis abends, und solange er Musik hörte, war der kleine Frankie ruhig und zufrieden. Er hockte sich immer neben den Lautsprecher und trällerte mit seinem hohen, angenehmen Stimmchen jedes Lied mit. Wenn Baffa den Sender wechselte, um Nachrichten zu hören (schließlich tobte in Europa ein schlimmer Krieg), brüllte der Junge, bis der Mann nachgab und wieder einen Sender suchte, der Musik spielte: ein Konzert, eine Oper oder eine spanische Jota, einen lebhaften Volkstanz im 6/8-Takt. Der schien Frankie überhaupt am allerbesten zu gefallen.

Kurz vor Frankies fünftem Geburtstag (der natürlich nicht sein richtiger Geburtstag war, aber der Sardinenfabrikant hatte einfach einen Tag bestimmt) beobachtete Baffa, wie Frankie einen komplizierten Flamenco mit den Fingern auf der Tischplatte mittrommelte. Und er blieb perfekt im Rhythmus, obwohl ein 6/8-Takt nun wirklich nicht leicht zu halten ist.

»Komm mal her, Kleiner«, sagte Baffa stolz. Der Junge mit seinem schwarzen Haarschopf drehte sich um, lächelte und marschierte stracks auf ihn zu. Leider stolperte er dabei über das Stuhlbein, fiel hin und weinte. Baffa hob ihn auf und drückte ihn liebevoll an sich. »Tut ja gar nicht weh, tut ja gar nicht weh«, flüsterte er ihm ins Ohr. Allem Anschein nach waren die Augen des Jungen immer noch nicht in Ordnung. Er hatte sich vom Flusswasser eine Infektion geholt, die seine blauen Augen trübte. Schon der kleinste Sonnenstrahl genügte, dass sich seine Bindehaut rötete. Manchmal konnte er rechts und links von sich gar nichts sehen. Die Ärzte hatten Baffa gewarnt, dass der Junge möglicherweise sein Augenlicht verlieren würde. Jedenfalls waren seine Augen dauernd entzündet, und die Nachbarskinder lästerten deswegen: »Heulst du schon wieder, Francisco?« Und verpassten ihm gleich einen Spitznamen: Llorica, Heulsuse. Während alle in der Straße Ball spielten, saß Francisco allein zu Hause und summte vor sich hin.

Baffa, der ein praktisch denkender Mensch war, machte sich Sorgen um die Zukunft seines Sohnes. Was war, wenn er ganz ohne Freunde aufwuchs? Welche Arbeit konnte er mit seinen schlechten Augen finden? Wie sollte er sich einmal durchbringen? An jenem Tag saßen die beiden abends im Garten, und plötzlich hatte Baffa eine Eingebung. Ein gut ausgebildeter Musiker konnte immer arbeiten, auch wenn er nichts sehen konnte. Er erinnerte sich, wie er vor einigen Jahren in einer Taverne einen blinden Gitarristen gesehen hatte. Das Publikum hatte ihm trotzdem zugejubelt. Nach seinem Auftritt war eine schöne, junge Frau gekommen und hatte ihn an der Hand von der Bühne geführt. Sie hatte ihn sogar geküsst. Erst da hatte Baffa gemerkt, dass der Mann blind war.

Dies, entschied Baffa, war die Zukunft für dieses gottgesandte Kind. Musik – dann würde er Arbeit haben. Und die Liebe finden. Da Baffa nie viel Zeit verlor (Effizienz mochte er, selbst in seiner Sardinenfabrik), nahm er den Jungen mit zu einer kleinen Musikschule in der Calle Mayor, der gepflasterten Straße im Stadtzentrum. Der Besitzer hatte ein langes Kinn und runde Brillengläser.

»Kann ich Ihnen helfen, Señor?«

»Ich möchte, dass mein Sohn Gitarre spielen lernt.«

Der Mann sah auf Frankie hinunter, der sich die Augen rieb.

»Er ist zu jung, Señor.«

»Er singt den ganzen Tag.«

»Er ist zu jung.«

»Er kann sogar den Takt halten, wenn er ein Musikstück mit den Fingern mittrommelt.«

Der Mann nahm die Brille ab.

»Wie alt ist er?«

»Fast fünf.«

»Zu jung.«

Frankie rieb sich wieder die Augen.

»Warum macht er das ständig?«

»Was?«

»Sich die Augen reiben.«

»Er ist ein Kind.«

»Weint er?«

»Er hat eine Infektion.«

»Er kann nicht Gitarre spielen, wenn er sich dauernd die Augen reibt.«

»Aber er singt den ganzen Tag.«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Zu jung.«

Das war übrigens nicht das erste und einzige Mal, dass einer von euch Menschen einen der Meinen zu entmutigen versucht. Wenn ich für jedes zungenschnalzende Individuum, das Kinder für zu jung, Instrumente für zu groß und Musizieren überhaupt für einen müßigen Zeitvertreib hält, ein Kettenglied bekäme, könnte ich die ganze Welt in Ketten legen, ob diese Glieder nun von unwilligen Eltern, herablassenden Plattenproduzenten oder rachsüchtigen Kritikern stammen.

Manchmal denke ich, das höchste Talent von allen ist die Beharrlichkeit.

Aber nur manchmal.

Denn als Baffa noch mit dem Leiter der Musikschule stritt, zeigte mir Frankie, worum es wirklich ging. Er ließ die beiden stehen und ging in die hinteren Räumlichkeiten, wo die Instrumente aufbewahrt wurden. Seine Augen weiteten sich, als er all die Schätze sah, die er in seinem jungen Leben noch nicht zu Gesicht bekommen hatte – ein Spinett, eine alte Laute, eine Tuba, eine Klarinette, eine Wirbeltrommel – und eine Gitarre. Die Gitarre lag auf dem Fußboden. Er trat zu ihr und setzte sich neben das Instrument. Es hatte einen einfachen Holzkorpus mit einer rot-blauen Rosette um das Schallloch. Die meisten Kinder hätten sie wohl am Hals angefasst, an ihren Saiten gezupft und an den Wirbeln herumgespielt. Frankie sah sie einfach nur an. Er studierte ihre Form. Er legte den Kopf schief, als würde er darauf warten, dass die Gitarre den Mund aufmacht. Ich fand den Respekt, den er dem Instrument bezeugte, köstlich. Und da der Kleine durch den Neinsager mit dem langen Kinn durchaus einiges auszustehen gehabt hatte, wollte ich ihm einen kleinen magischen Moment schenken. Hin und wieder kann das Talent in einem Menschen sozusagen »aufwallen« und etwas Unglaubliches (zumindest in euren Augen) zuwege bringen. Ihr nennt das dann »Geniestreich«.

Frankie presste seinen Finger auf die dritte Saite, genau auf einen der Bundstäbe. Dann ließ er schnell los, und ein sanfter Laut ertönte. Er lächelte und machte es noch mal. Wieder erklang dieser sanfte Ton. Gitarrenspieler nennen dies die »Hammertechnik« – man drückt schnell nieder und lässt dann unvermittelt los. Eine Note. Und noch eine. Er kam schnell dahinter, dass er unterschiedliche Noten hervorbringen konnte, indem er die Finger auf die verschiedenen Bünde legte. Einfacher ausgedrückt: Er brachte sich gerade eine Tonleiter bei.

Also gab ich ihm noch einen kleinen Schubs.

Bald fand er zu einer Melodie. Seine Augen weiteten sich bei jeder neuen Note, denn zum ersten Mal ein Lied zu spielen ist die größte Offenbarung, die ich euch Menschen schenken kann. Das ist so, als würden Sie entdecken, dass Sie auf einem Regenbogen laufen können. Frankie begann leise mitzusummen. Hätten die beiden Männer im Vorderzimmer auch nur einen Augenblick aufgehört zu streiten, hätten sie das kleine Wunder vernommen: Francisco Asís Pascual Presto bzw. Francisco Rubio, noch nicht einmal fünf Jahre alt, tastete sich mit seinen Fingern zu einem Lied vor, das er fast jeden Samstagmorgen im Radio gehört hatte: ein Abzählreim, der heute zu den Klassikern des Jazz gehört:

A tisket, a tasketA brown and yellow basketI wrote a letter to my loveAnd on the way, I dropped it.

Es war Frankies erste Vorstellung auf der Gitarre. Und niemand bekam sie mit – außer mir. Denn vorne verlor Baffa gerade die Geduld mit dem Musikschulenbesitzer. Er rief: »Francisco! Wir gehen!« Das Kind erhob sich, legte zum Abschied noch mal die Hand auf die Gitarre, und weil Frankie gefunden hatte, was er suchte, rieb er sich nicht mal mehr die Augen.

Aber natürlich hatte er immer noch keinen Lehrer. Die Musikschule fiel flach, und leider war sie die einzige, die es in Villareal gab. Baffa ließ den Kopf hängen, doch auf dem Heimweg kaufte er eine Tüte voller Orangen. Er schälte eine für Francisco und gab auch dem Hund ein Stück, der laut schmatzend darauf herumkaute. Dann marschierten sie zusammen die Straße hinunter, Frankies zweite Band, ein Trio mit acht Beinen.

»Der Mann ist ein Idiot«, murmelte Baffa.

Der haarlose Hund bellte zustimmend.

»Idiot«, plapperte Frankie nach.

Baffa lachte und wuschelte Frankies Haarschopf durcheinander. Das Wort gefiel dem Jungen, auch wenn er nicht wusste, was ein Idiot war. Sie gingen heim, und Frankie summte »A tisket, a tasket« vor sich hin, während der haarlose Hund lautlos mitsang. In jener Nacht machte sich Baffa auf in die Taverne, wo er damals den blinden Gitarristen gesehen hatte. Der Barmann erinnerte sich noch, doch der Mann war schon vor einigen Jahren gefeuert worden. Er hatte zu viel getrunken und war immer zu spät gekommen. Aber der Barmann glaubte, dass der Kerl über der Wäscherei in der Crista-Senegal-Straße wohnte, wenn er noch nicht gestorben war.

»Gestorben?«, fragte Baffa.

Der Barmann zuckte mit den Schultern. »Er soff wie einer, der sein Leben loswerden will.«

Am nächsten Tag war Sonntag. Baffa nahm den Jungen und den haarlosen Hund mit in die Crista-Senegal-Straße, wo er hoffte, den Gitarristen zu finden. Selbst wenn er ein Säufer war, so sollte er doch wenigstens am Sonntag gute Laune haben.

Er fand die Wäscherei. Die blau gestrichenen Fensterläden darüber waren geschlossen. Der Klingelknopf war mit Klebeband zugeklebt, also blieb den dreien gar nichts anderes übrig, als einfach die Treppen hinaufzusteigen. Es war heiß, und Baffa, der seinen Kirchgängeranzug trug, lief der Schweiß in Strömen übers Gesicht. Er wischte sich die Schweißperlen mit einem Taschentuch ab und klopfte. Nichts. Er klopfte wieder. Nichts.

Baffa zuckte mit den Schultern, Frankie aber versuchte es noch einmal. Er schlug zweimal mit seiner kleinen Faust gegen die Tür, als spiele er auf einer Conga.

»Sí … Que pasa? Was gibt’s?«, fragte eine Stimme. Sie war heiser und rau, als wäre die Person noch nicht ganz wach.

»Señor, ich möchte mit Ihnen über Unterricht sprechen.«

»Welchen Unterricht?«

»Gitarre?«

»Gehen Sie weg.«

»Es ist wichtig.«

»Ich werde Sie bezahlen.«

»Wen soll ich unterrichten?«

»Mein Kind.«

»Junge oder Mädchen?«

»Junge.«

»Mädchen sind bessere Schüler.«

»Er ist ein Junge.«

»Wie alt?«

Baffa hielt inne. Er dachte an die Musikschule.

»Sieben.«

Frankie sah ihn an.

»Er ist ein bisschen klein für sein Alter.«

»Keine Jungen.«

»Er ist sehr talentiert.«

»Keine Jungen.«

»Er ist wirklich sehr talentiert.«

»Ich auch.«

»Ich werde Sie bezahlen.«