Wer im Himmel auf dich wartet - Mitch Albom - E-Book

Wer im Himmel auf dich wartet E-Book

Mitch Albom

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Beschreibung

Ein spiritueller Pageturner! Annie und ihre Jugendliebe Paulo wollen ihre Hochzeitsreise mit einem romantischen Ballonflug krönen. Doch der Ballon stürzt ab...  Annie erwacht im Himmel wieder und sucht nach Paulo, von dem sie nicht weiß, ob er überlebt hat. Nacheinander trifft sie dort auf Menschen, die ihr seltsam bekannt und sogar vertraut vorkommen. Doch erst durch ihre Geschichten erfährt Annie, was für eine wichtige Rolle jeder einzelne von ihnen in ihrem Leben gespielt hat - und wie wenig ihr das bewusst war. Am spannenden Ende - mit einer überraschenden Wendung - realisiert sie deren Wert und auch, wie sehr jedes einzelne menschliche Leben zählt.  Wieder gelingt es dem Autor in seinem unverwechselbaren Stil, seine Leser in eine Welt zu entführen, in der die Grenzen zwischen Himmel und Erde fließend werden und wo in jedem Ende ein Anfang liegt.

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Das Buch

Annie und ihre Jugendliebe Paulo wollen ihre Hochzeitsreise mit einem romantischen Ballonflug krönen. Doch der Ballon stürzt ab …

Annie erwacht im Himmel wieder und sucht nach Paulo, von dem sie nicht weiß, ob er überlebt hat. Nacheinander trifft sie dort auf Menschen, die ihr seltsam bekannt und sogar vertraut vorkommen. Doch erst durch ihre Geschichten erfährt Annie, was für eine wichtige Rolle jeder einzelne von ihnen in ihrem Leben gespielt hat – und wie wenig ihr das bewusst war. Am Ende erkennt sie deren Wert und auch, wie sehr jedes einzelne menschliche Leben zählt.

Wieder gelingt es dem Autor in seinem unverwechselbaren Stil, seine Leser in eine Welt zu entführen, in der die Grenzen zwischen Himmel und Erde fließend werden und wo in jedem Ende ein Anfang liegt.

Ein spiritueller Pageturner!

Der Autor

Bevor Mitch Albom Bestsellerautor wurde, verdiente er sein Geld als Amateurboxer, Nachtclubsänger und Pianist. Mit den Einnahmen aus seinen Büchern gründete er die Hilfsorganisationen »A Time to Help« und »Have Faith Haiti«. Er tritt regelmäßig in Fernsehsendungen auf und hat eine eigene Radioshow. 2011 wurde er mit der Ehrendoktorwürde der Michigan State University ausgezeichnet.

Mitch Albom

Wer im Himmel auf dich wartet

Roman

Aus dem Amerikanischen von Jochen Winter

Das Original erschien 2018 unter dem Titel THE NEXT PERSON YOU MEET IN HEAVEN bei Harper / Harper Collins Publishers, NY, USA.

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ISBN: 978-3-8437-2100-4

© 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin© 2018 by ASOP, Inc.Übersetzung: Jochen WinterLektorat: Barbara KrauseUmschlaggestaltung: Simone Mellar, zero-media.net, MünchenSatz: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinAlle Rechte vorbehalten

Für Chika, das »kleine Mädchen« aus unserem Leben,das bereits den Himmel erhellt.Und für all jene Krankenschwestern da draußen,die wie Chikas Pflegerinnenunsere Seelen tiefer berühren,als es ihnen bewusst ist.

Notiz des Autors

Diese Geschichte wurde – wie schon Die fünf Menschen, die dir im Himmel begegnen – durch meinen geliebten Onkel Eddie Beitchman inspiriert, einen Veteranen des Zweiten Weltkriegs, der sich für einen »Niemand« hielt, »der nie etwas gemacht hat«.

Als ich ein Kind war, erzählte mir Eddie von einer Nacht, da er, in einem Krankenhaus dem Tode nah, aus seinem Körper emporstieg, um seine verstorbenen geliebten Wesen zu sehen, die neben dem Bett auf ihn warteten.

Von jenem Moment an erschien mir der Himmel als ein Ort, wo wir denen begegnen, die wir auf der Erde berührten, und wohin wir gelangen, um sie wiederzusehen. Doch ich gebe zu, dass dies nur meine persönliche Anschauung ist. Es gibt viele weitere, einschließlich der zahlreichen religiösen Definitionen des Himmels, die allesamt respektiert werden sollten.

Daher ist der vorliegende Roman wie auch seine Darstellung des Lebens nach dem Tod ein Wunsch, kein Dogma, eine Sehnsucht, dass geliebte Menschen wie Eddie den Frieden finden mögen, der ihnen auf der Erde versagt blieb, und erkennen, wie sehr wir alle einander beeinflussen – an jedem Tag dieses kostbaren Lebens.

Das Ende

Dies ist die Geschichte über eine Frau namens Annie, und sie beginnt am Ende, wenn Annie vom Himmel fällt. Da sie jung war, dachte Annie nie an Dinge, die enden, noch an den Himmel. Aber jedes Ende ist auch ein Anfang.

Und der Himmel denkt immer an uns.

Zum Zeitpunkt ihres Todes war Annie groß und schlank, mit langen goldblonden Locken, hervorstehenden Ellbogen und Schultern und einer Haut, die sich am Hals rötete, wenn sie verlegen war. Sie hatte feurige Augen in hellem Olivton sowie ein weiches, ovales Gesicht, das Kollegen als »hübsch« bezeichneten, »sobald man sie näher kennenlernt«.

Als Pflegerin in einem nahe gelegenen Krankenhaus trug Annie blaue Arbeitskleidung und graue Laufschuhe. Und in ebenjenem Krankenhaus geschah es, dass sie die hiesige Welt verließ – nach einem dramatischen wie tragischen Unfall, nur einen Monat vor ihrem einunddreißigsten Geburtstag.

Man mag sagen, das sei »zu jung«, um zu sterben. Aber was ist zu jung für ein Leben? Als Kind war Annie einmal vom Tod verschont geblieben, bei einem anderen Unfall an einem Ort namens Ruby Pier, dem Vergnügungspark am großen grauen Meer. Einige meinten, ihr Überleben sei »ein Wunder« gewesen.

Daher war sie vielleicht schon älter, als sie hätte sein sollen.

»Wir sind heute hier versammelt …«

Wenn Sie wüssten, dass Sie bald sterben, wie würden Sie dann Ihre letzten Stunden verbringen? Annie, die es nicht wusste, verbrachte die ihren damit, dass sie heiratete.

Ihr Verlobter hieß Paulo. Er hatte blassblaue Augen von der Farbe flachen Tümpelwassers und einen dichten Schopf aus rosinenschwarzem Haar. Sie war ihm an der Grundschule begegnet, beim Bockspringen auf einem asphaltierten Spielplatz. Annie war eine neue Schülerin, scheu und verschlossen. Als sie die Arme über dem gebeugten Kopf verschränkte, sagte sie sich immer wieder: Könnte ich mich doch bloß in Luft auflösen.

Dann drückten die Hände eines Jungen auf ihre Schultern, und wie ein abgeworfenes Paket landete er vor ihr.

»Hallo, ich bin Paulo«, sagte er lächelnd, wobei ihm eine Stirnlocke über die Braue fiel.

Plötzlich wollte Annie nirgendwohin gehen.

»Willst du, Annie, diesen Mann zu deinem …«

Mit noch vierzehn Stunden Lebenszeit legte Annie ihr Ehegelübde ab. Sie und Paulo standen unter einem Baldachin an einem See, dessen Ufer mit Heidelbeersträuchern gesäumt war. Beide hatten sich als Teenager aus den Augen verloren und waren erst kürzlich wieder zusammengekommen. Die Jahre dazwischen gestalteten sich für Annie schwierig. Sie ertrug unglückliche Beziehungen und litt unter vielerlei Verlusten, bis sie schließlich zu der Überzeugung gelangte, niemals mehr einen Mann zu lieben und ganz gewiss niemals zu heiraten.

Aber da standen sie nun. Annie und Paulo. Sie nickten dem Pastor zu. Sie nahmen sich an der Hand. Annie trug Weiß, Paulo Schwarz, und beider Haut war gebräunt von den Stunden in der Sonne. Als sie sich zur Seite drehte, um ihrem künftigen Ehemann in die Augen zu sehen, fiel ihr Blick auf einen Heißluftballon, der über dem Sonnenuntergang schwebte. Wie entzückend, dachte sie.

Dann nahm sie Paulos Grinsen wahr, so breit wie der Horizont. Während er sich abmühte, ihr den Ring über den Finger zu streifen, war nervöses Gelächter zu hören. Kaum hatte sie den Finger triumphierend in die Höhe gereckt, rief jeder: »Herzlichen Glückwunsch!«

Es blieben dreizehn Stunden, um zu leben. Arm in Arm schlenderten sie den Gang hinunter, ein frisch vermähltes Paar, das über alle Zeit der Welt verfügte. Als Annie sich die Tränen wegwischte, sah sie in der letzten Reihe einen alten Mann mit Schiebermütze sitzen, ein Schmunzeln um die vorspringende Kinnlade. Sie hatte das Gefühl, ihn zu kennen.

»Paulo«, flüsterte sie, »wer ist dieser Mann?«

Doch sie wurden unterbrochen. »Du siehst so wunderschön aus!«, sagte eine halbwüchsige Cousine mit Zahnspange. Annie lächelte und erwiderte leise »Danke!«

Als sie zurückschaute, war der alte Mann verschwunden.

Es blieben zwölf Stunden. Annie und Paulo betraten die Tanzfläche, über die Drähte mit weißen Glühbirnen gespannt waren. Paulo hob einen Arm und fragte: »Bist du bereit?« Annie erinnerte sich an jenen Abend in einer Turnhalle der Junior High School, als sie auf Paulo zuging und sagte: »Du bist der einzige Junge, der mit mir spricht, also sag mir auf der Stelle, ob du mit mir tanzen willst, ja oder nein, denn sonst geh ich nach Hause und seh fern.«

Damals hatte er sie angelächelt, wie er es auch jetzt tat, und aufs Neue fanden sie zueinander wie Puzzleteile. Ein Fotograf sprang herbei und rief: »Schaut hierher, glückliche Eheleute!«, und instinktiv versteckte Annie ihre ein wenig kleinere linke Hand hinter Paulos Rücken – die Hand, die noch immer Narben trug von dem Unfall vor mehr als zwanzig Jahren.

»Wunderbar!«, sagte der Fotograf.

Noch elf Stunden. Annie lehnte sich an Paulos Arm und ließ den Blick durch den Saal schweifen. Das Fest wurde ruhiger. Tortenstücke waren halb aufgegessen und die hochhackigen Schuhe der Frauen unter den Tischen abgestreift worden. Es handelte sich um eine eher bescheidene Feier – Annies Familie war nicht groß –, und sie hatte mit fast allen Gästen geplaudert, von denen viele förmlich hervorsprudelten: »Sehen wir uns doch öfter!«

Paulo wandte sich Annie zu und sagte: »Hey, ich hab was für dich gemacht.« Annie lächelte. Immerzu fertigte er kleine Geschenke für sie: Holzfiguren, einfache Schmuckgegenstände. In Italien, wohin seine Familie mit ihm als Teenager gezogen war, hatte er schnitzen und malern gelernt. Damals dachte Annie, dass sie Paulo nie wiedersehen würde. Doch Jahre später kam sie während ihrer Pflegetätigkeit an einem Krankenhaustrakt vorbei, der gerade umgebaut wurde, und da stand er, ein Schreiner.

»Hey, ich kenne dich«, sagte er. »Du bist Annie!«

Zehn Monate danach waren sie verlobt.

Anfangs war Annie glücklich. Aber als die Hochzeit näher rückte, wurde sie ängstlicher und zunehmend um den Schlaf gebracht. »Wann immer ich etwas plane, geht’s schief«, sagte sie zu Paulo. Er legte ihr den Arm um die Schultern und erinnerte sie daran, dass sie an jenem Tag im Krankenhaus doch nicht »geplant« habe, ihm zu begegnen, stimmt’s?

Annie zog die Augenbrauen hoch. »Wie willst du das wissen?«

Paulo lachte. »Das ist die Annie, die ich heiraten werde!«

Aber ihre Sorge blieb.

»Hier«, sagte Paulo jetzt und reichte ihr ein kleines, gelbes, drahtiges Gebilde, weich und flauschig, mit ovalen Ohren oben und ovalen Füßen unten.

»Ein Hase?«, fragte sie.

»Hmm.«

»Aus Pfeifenreinigern?«

»Genau.«

»Wo hast du den her?«

»Ich hab ihn gemacht. Warum?«

Annie trat von einem Fuß auf den anderen und fühlte sich plötzlich unwohl. Sie schaute über den Boden und sah den alten Mann von vorher. Sein Kinn war übersät mit langen weißen Bartstoppeln, sein Anzug seit dreißig Jahren aus der Mode. Aber gerade seine Haut erregte Annies Aufmerksamkeit; sie schien merkwürdig, fast leuchtend.

Woher kenne ich diesen Mann?

»Magst du ihn nicht?«

Annie blinzelte. »Wen?«

»Deinen Hasen.«

»Oh, ich liebe ihn. Wirklich.«

»Wirklich«, wiederholte Paulo, als würde er nachdenken. »Heute sagen wir oft ›wirklich‹.«

Annie lächelte und strich über das kleine Gebilde. Doch ein kalter Strahl schoss ihr durch den Körper.

Ein Hase aus Pfeifenreinigern – wie der, den Paulo gefertigt hatte – war in Annies Händen gewesen am Tag des verhängnisvollen Unfalls; ein Geschenk jenes alten Mannes, den sie nun bei ihrer Hochzeit sah.

Ein Mann, der vor mehr als zwanzig Jahren gestorben war.

Sein Name war Eddie. Er hatte im Vergnügungspark Ruby Pier gearbeitet und Fahrgeschäfte repariert – Schienen eingefettet, Schrauben festgezogen und endlose Wege zwischen den Attraktionen zurückgelegt, um zu erfahren, wo es technische Probleme gab. In der Tasche seines Arbeitskittels bewahrte er Pfeifenreiniger auf, um daraus Spielzeugfiguren für die jüngeren Kunden zu basteln.

Am Tag des Unfalls war Annie alleingelassen worden von ihrer Mutter, die sich mit ihrem aktuellen Freund davongemacht hatte. Eddie blickte gerade hinaus aufs Meer, als Annie sich näherte, bekleidet mit abgeschnittenen Jeansshorts und lindgrünem T-Shirt, auf dessen Vorderseite eine Cartoon-Ente prangte.

»’tschuuuldigung, Eddie Wartung«, sagte sie, die Bezeichnung auf der Applikation seines Arbeitskittels lesend.

»Einfach Eddie«, seufzte er.

»Eddie?«

»Hmm.«

»Kannst du mir …«

Sie legte ihre Handflächen aneinander, als würde sie beten.

»Komm schon, Kleine. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Kannst du mir ein Tier basteln? Kannst du das?«

Eddie hob neckisch den Blick, als müsste er darüber nachdenken. Dann nahm er seine gelben Pfeifenreiniger hervor und bastelte ihr einen Hasen – genau wie jener, den Paulo ihr soeben überreicht hatte.

»Daaaaanke!«, sagte sie und tänzelte davon.

Zwölf Minuten später war Eddie tot.

Der tödliche Unfall ereignete sich, als sich am Freifallturm namens Freddy’s Free Fall eine Kabine während der Fahrt aus der Verankerung löste. Sechzig Meter über dem Erdboden wurde sie von einem Sicherheitsseil aufgefangen und baumelte in der Luft wie ein sterbendes Blatt. Eddie, der die Szene von unten mitverfolgte, sah, dass das Seil an einer Kante scheuerte. Falls es riss, würde die Kabine in die Tiefe stürzen.

»ZURÜCKTRETEN!«, schrie er.

Die Menge stob auseinander.

Doch im allgemeinen Chaos rannte Annie in die falsche Richtung und kauerte sich direkt neben dem Turm nieder, zu verängstigt, um sich vom Fleck zu rühren. Das Seil riss. Die Kabine stürzte herab. Sie hätte Annie zerschmettert, wäre Eddie nicht in letzter Sekunde über die Plattform gehechtet, um das Mädchen zur Seite zu stoßen. So prallte die Kabine mit voller Wucht auf ihn.

Das kostete ihn das Leben.

Aber auch Annie wurde etwas genommen: die linke Hand. Ein durch den Aufprall abgebrochenes Metallstück hatte sie säuberlich vom Knochen abgetrennt. Mehrere geistesgegenwärtige Arbeiter legten das blutige Körperglied auf Eis, und Sanitäter fuhren Annie rasch zum Krankenhaus. Dort waren Chirurgen vier Stunden lang damit beschäftigt, Sehnen, Nerven und Arterien zusammenzufügen, Haut zu transplantieren so­wie mit Hilfe von Platten und Schrauben die Hand wieder mit dem Gelenk zu verbinden.

Der Unfall machte Schlagzeilen im ganzen Bundesstaat. Journalisten bezeichneten Annies Überleben als »kleines Wunder von Ruby Pier«. Fremde beteten für sie. Einige wollten ihr sogar begegnen, als hütete sie aufgrund ihrer Rettung das Geheimnis der Unsterblichkeit.

Annie, erst acht Jahre alt, erinnerte sich jedoch an fast nichts. Der erlittene Schock verwischte die Spuren im Gedächtnis, so wie starker Wind eine Flamme auslöscht. Bis zum heutigen Tag entsann sie sich nur bruchstückhafter Bilder und aufzuckender Blitze, eines diffusen Gefühls, unbekümmert nach Ruby Pier gegangen und deutlich verändert nach Hause zurückgekehrt zu sein. Die Ärzte verwendeten Begriffe wie bewusste Verdrängung und traumatische Störung, nicht wissend, dass bestimmte Erinnerungen für diese Welt vorgesehen sind, manche hingegen erst in der nächsten zum Vorschein kommen.

Jedenfalls war ein Leben gegen ein anderes eingetauscht worden.

Und immer wacht der Himmel über allem.

»Viel Glück! … Gott segne euch!«

Mit Reiskörnern aus Pappbechern beworfen, trippelten Annie und Paulo zu der wartenden Limousine. Er öffnete die Tür, Annie schlüpfte ins Wageninnere und zog die Schleppe hinter sich her.

»Hurra!«, sagte Paulo lachend und schwang sich neben sie.

Der Fahrer drehte sich um. Er war schnurrbärtig, hatte braune Augen und von Tabak gefleckte Zähne.

»Gratulation, Leute!«

»Danke!«, antworteten beide gleichzeitig.

Annie hörte ein Klopfen an der Scheibe; ihr Onkel Dennis, Zigarre im Mund, blickte sie von oben an.

»Okay, ihr zwei«, sagte er, als Annie das Fenster herunterließ. »Seid brav. Seid vorsichtig. Seid glücklich.«

»Alle drei schaffen wir nicht«, erwiderte Paulo.

Dennis lachte. »Dann seid einfach glücklich.«

Er ergriff Annies Finger, und sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Dennis war der Bruder ihrer Mutter und ein angesehener Chirurg in dem Krankenhaus, wo Annie arbeitete. Nach Paulo war er ihr bevorzugter Mann in dieser Welt. Kahlköpfig, dickbäuchig und mit einem Hang zum ungezwungenen Lachen hatte er sich für sie stets eher wie ein Vater angefühlt als ihr leiblicher Vater namens Jerry (ihre Mutter nannte ihn »Jerry the Jerk«, Jerry, der Trottel), der in Annies frühen Jahren die Familie verlassen hatte.

»Danke, Onkel Dennis.«

»Wofür?«

»Für alles.«

»Deine Mutter hätte das hier geliebt.«

»Ich weiß.«

»Sie schaut zu.«

»Meinst du?«

»Ja.« Er lächelte. »Annie. Du bist verheiratet.«

»Ich bin verheiratet.«

Er tätschelte ihr leicht den Kopf.

»Ein neues Leben, Kind.«

Es blieben zehn Stunden.

Keine Geschichte ist losgelöst von der anderen. Unsere Leben verbinden sich wie Fäden auf dem Webstuhl, sind zu vielfältigen Mustern verwoben, die wir niemals erkennen können.

Zur gleichen Zeit, als Annie und Paulo auf ihrer Hochzeit tanzten, wollte gut sechzig Kilometer entfernt ein Mann namens Tolbert gerade nach seinen Schlüsseln greifen. Da fiel ihm ein, dass der Tank seines Lastwagens nahezu leer war, und in der Gewissheit, zu später Stunde kaum eine offene Tankstelle zu finden, nahm er stattdessen die Schlüssel für das Auto seiner Frau – ein kleines, kastenartiges Fahrzeug, bei dem ein Reifen zu wenig Luft hatte. Er verließ das Haus, ohne die Tür zu verschließen, und blickte kurz zu den Wolken auf, die den Mond in graue Schleier hüllten.

Hätte er den Lastwagen benutzt, würde diese Geschichte anders ausgehen. Hätten Annie und Paulo unterwegs nicht noch einmal angehalten, wäre diese Geschichte eine andere. Hätte der Fahrer der Limousine nicht vergessen, eine Tasche mitzubringen, die vor seiner Wohnungstür stand, nähme diese Geschichte einen anderen Verlauf. Die Geschichte eines Lebens wird von Sekunde zu Sekunde fortgeschrieben und wechselt ebenso schnell wie die Position des Radiergummis auf einem Bleistift, den man zwischen den Fingern um die eigene Achse dreht, der etwas notiert und im nächsten Augenblick auslöscht.

»But we’re gonna get maaaaa-rried!«1, sang Paulo, und Annie lachte, da er sich an die folgenden Textzeilen nicht mehr erinnern konnte. Sie kehrte ihm den Rücken zu und zog an seinen Armen, damit er sie fest umfasste. Es gibt Berührungen, an denen man eine Person selbst bei geschlossenen Augen erkennt. Für Annie waren es Paulos Hände auf ihren Schultern, wo sie schon beim Bockspringen vor vielen Jahren zugedrückt hatten.

Und genau an dieser Stelle lagen sie jetzt.

Annie sah seinen goldenen Ehering. Sie stieß einen tiefen, zufriedenen Seufzer aus. Beide hatten es geschafft. Sie waren verheiratet. Sie brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen, dass ein unvorhergesehenes Ereignis alles zum Scheitern bringen könnte.

»Ich bin wirklich glücklich«, sagte Annie.

»Ich auch«, erwiderte Paulo.

Die Limousine fuhr los. Annie winkte durchs Fenster, während die Gäste klatschten und den Daumen nach oben reckten. Der Letzte, den sie erspähte, war der alte Mann mit der Schiebermütze, der fast mechanisch zurückwinkte.

Jeder kennt den Ausdruck »Himmel auf Erden«. Er weist auf etwas Wunderbares hin, etwa bei der überschwänglichen Verabschiedung eines Brautpaares nach der Hochzeit. Doch er kann auch eine andere Bedeutung haben, die Annie jetzt in den Sinn kam, als der alte Mann – Eddie aus dem Vergnügungspark Ruby Pier – ihren Blicken entschwand.

In bestimmten Momenten, wenn der Tod nahe ist, heben sich die Schleier zwischen dieser Welt und der nächsten. Himmel und Erde überlagern sich. Wenn das geschieht, ist es möglich, gewisse bereits entschlafene Seelen flüchtig wahrzunehmen.

Man kann sehen, wie sie unsere Ankunft erwarten.

Und sie sind imstande, uns kommen zu sehen.

Noch neun Stunden. Die Nacht war dunstig, und es begann zu regnen. Der Fahrer schaltete die Scheibenwischer ein. Während sie hin und her schlugen, dachte Annie daran, was bevorstand. Zuerst ihre Flitterwochen, eine seit Langem geplante Reise nach Alaska, um die Nordlichter zu sehen. Paulo war von ihnen regelrecht besessen. Er hatte ihr Hunderte von Fotografien gezeigt und sie neckend einer Prüfung über die Entstehung jener Lichter unterzogen.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Annie, als hätte sie den Text auswendig gelernt. »Von der Sonne schießen Partikel ins All und wehen zur Erde. Es dauert zwei Tage, bis sie unseren Planeten erreichen. Sie durchdringen die Atmosphäre dort, wo diese extrem dünn und empfindlich ist, am …«

»… oberen Ende der Welt«, pflegte Paulo zu ergänzen.

»… oberen Ende der Welt«, wiederholte Annie.

»Sehr gut. Du hast bestanden.«

Nach Alaska erwartete sie ein neues Leben. Beide hatten sich einer Organisation angeschlossen, die verarmte Dörfer mit Wasser versorgte, und sich für ein Jahr verpflichtet. Für Annie, die nie im Ausland gewesen war, schien das ein großer Sprung. Aber ihre in der Krankenpflege erworbenen Fähigkeiten mochten durchaus von Nutzen sein; Paulo wiederum glaubte an die Wohltätigkeit und fertigte Gegenstände oft kostenlos an (seine Freunde scherzten, er »wolle an jedem Tag seines Lebens ein Verdienstabzeichen erhalten«). Darüber musste Annie lächeln. Früher hatte sie sich immer die falschen Männer ausgesucht. Aber Paulo … Endlich ein Partner, auf den sie stolz sein konnte.

»Ich kann es kaum erwarten«, sagte Annie, »anzukommen in …«

Plötzlich geriet die Limousine ins Schlingern und verpasste die Ausfahrt.

»Verdammt«, rief der Fahrer, in den Rückspiegel blickend. »Der Typ hat mich nicht reingelassen.«

»Ist schon gut«, sagte Paulo.

»Ich nehm die nächste …«

»Geht in Ordnung …«

»Normalerweise hab ich mein GPS dabei …«

»Macht nichts …«

»Aber das hab ich zu Hause vergessen …«

»Keine Sorge …«

»Der Typ kam so schnell herangerauscht …«

»Alles okay«, beschwichtigte Paulo und drückte Annies Finger. »Wir genießen die Fahrt.«

Er lächelte seine Braut an, und sie lächelte zurück, ohne zu ahnen, wie sehr sich die Welt gerade verändert hatte.

Nachdem die Limousine schließlich abgebogen und wieder auf der Autobahn war, bemerkte Annie durch den dichten Regen zwei Warnblinklichter, die vor ihnen aufleuchteten. Auf dem Seitenstreifen stand ein kleines, kastenartiges Fahrzeug, neben dem ein völlig durchnässter Mann kauerte. Als die Limousine sich näherte, stand er auf und winkte.

»Wir sollten anhalten«, sagte Annie.

»Meinst du wirklich?«, erwiderte Paulo.

»Er ist klitschnass. Er braucht Hilfe.«

»Er kommt bestimmt schon zurecht …«

»Sir, können Sie bitte rechts ranfahren?«

Der Fahrer lenkte die Limousine behutsam vor den liegen gebliebenen Wagen. Annie betrachtete Paulo. »Wir können unsere Ehe mit einem Akt der Freundlichkeit beginnen«, sagte sie.

»Es könnte Glück bringen«, bestätigte Paulo.

»Genau«, gab Annie zurück, obwohl sie versucht war hinzuzufügen, dass sie bereits ihre Heirat als ein großes Glück empfand.

Paulo stieß die Tür auf. Der Regen trommelte auf den Asphalt. »Hallo, Kamerad!«, rief er. »Gibt’s Probleme?«

Der Mann nickte, als Paulo auf ihn zuging. »Das Auto meiner Frau«, sagte er mit lauter Stimme. »Der Reifen ist platt. Und natürlich hat sie keinen Wagenheber im Kofferraum. Haben Sie so was?«

»Eine Ehefrau?«

»Einen Wagenheber.«

»War nur ein Scherz.«

»Aha.«

Beiden lief der Regen über das Gesicht.

»Ich denke, in der Limousine ist einer.«

»Das wäre großartig.«

»Eine Sekunde.«

Paulo eilte zum Kofferraum der Limousine, warf Annie ein Lächeln zu und machte übertriebene Armbewegungen, wie ein Filmschauspieler in Zeitlupe. Der Fahrer drückte auf einen Knopf, der Kofferraum öffnete sich. Paulo fand den Wagenheber und hastete zu dem hilflosen Autofahrer zurück.

»Vielen Dank«, sagte der Mann. »Ehefrauen, Sie wissen schon.«

»Nun, ich bin kein Experte«, erwiderte Paulo.

Es blieben acht Stunden. Annie verfolgte durch das Heckfenster, wie Paulo und Tolbert ihre Handflächen an einem Tuch abwischten. Der Reifen war gewechselt worden. Beide plauderten miteinander im strömenden Regen.

Sie befingerte ihren Ehering und sah die Männer lachen. Paulo, der dicht an der Fahrbahn stand, wandte sich ihr zu und hob das Handgelenk des Fremden, als wollte er damit zu erkennen geben: Wir sind Helden. Für einen Augenblick staunte sie über ihr Glück – ein neuer Ehemann im durchnässten Smoking, so stattlich, dass er fast glühte.

Dann aber fiel ihr auf, dass das Glühen von Scheinwerfern stammte. Hinter Paulo näherte sich ein Auto mit hoher Geschwindigkeit und beleuchtete seine Silhouette. Annie wurde von Panik ergriffen. Sie schrie seinen Namen. Doch Tolbert ergriff Paulos Arm und zerrte ihn zur Seite.

Das Auto raste vorbei.

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