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Wird man als Mörder geboren oder zum Mörder gemacht? Im Wiener Wald wird die grausam zugerichtete Leiche eines angesehenen Wiener Rechtsanwalts gefunden. Statt des Kopfes wurde dem Toten ein Schrumpfkopf an den Halsstumpf genäht. Die Ermittler tappen im Dunkeln, bis eine zweite Leiche auftaucht - mit dem Kopf des ersten Opfers auf dem Hals. Für die Gerichtspsychiaterin Theres Lend und den LKA-Ermittler Richard Schwarz wird der Fall zu einem Wettlauf mit der Zeit.
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Seitenzahl: 450
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jennifer B. Wind
Die Maske des Zorns
Ein Richard-Schwarz-Thriller
Blinde Rache Im Wiener Wald wird die grausig zugerichtete Leiche eines angesehenen Wiener Rechtsanwalts gefunden – aufgehängt an einem Ast, der Kopf abgetrennt und durch einen Schrumpfkopf ersetzt. Nur wenig später taucht eine zweite Leiche auf, ebenfalls verstümmelt, mit dem Kopf des ersten Opfers auf dem Hals. Während die Ermittler nach einer Verbindung zwischen den beiden Opfern suchen, erhält die Gerichtspsychiaterin Theres Lend, die sich gerade vom zurückliegenden Anschlag mit vergifteten Pralinen im Krankenhaus erholt, eine weitere Morddrohung, die mit denselben Initialen unterschrieben ist wie die letzte. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Währenddessen stürzt der Zirkus-Partner von Richard Schwarz’ Schwester Sarah bei einer Aufführung vom Trapez. Wurde das Sicherungsseil manipuliert? Galt der Anschlag in Wirklichkeit Sarah, die kurz zuvor meinte, ihren ehemaligen Entführer im Publikum entdeckt zu haben?
Jennifer B. Wind schreibt Krimis, Romane, Gedichte, Songtexte, Theaterstücke, Drehbücher und Kurztexte, die bereits mit zahlreichen Preisen und Nominierungen ausgezeichnet wurden. Ihre Bücher sind regelmäßig auf diversen Bestsellerlisten im DACH-Raum vertreten. »Als Gott schlief« war für den Wiener Kriminachwuchspreis, »Die Maske der Schuld« für den Fine Crime Award nominiert. Die von ihr herausgegebene Anthologie »Einmal kurz die Welt retten« erhielt 2023 den goldenen Skoutz Award. In ihrer Freizeit setzt sich die Autorin aktiv für Umwelt- und Tierschutz ein, zeichnet, malt und macht Musik. Zudem ist sie auch als Jurorin und Schreibcoach tätig sowie Mitglied im Syndikat, bei den Mörderischen Schwestern, Writers for Future und A.I.E.P.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2025 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Susanne Tachlinski
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Carina Baumgartner / unsplash
ISBN 978-3-7349-3354-7
Für Lotte R. Wöss und Erich Bauer, die sich schon sehr auf dieses Buch freuen. Danke für eure Begeisterung und langjährige Unterstützung.
Ein Sommer in Wien, um die Jahrtausendwende
Das Mädchen summt ihre Lieblingsmelodie, als es durch die menschenleere Gasse tanzt. Ihre Arme sind ausgestreckt und die Hände bewegen sich wie Flügel. Ihre Fersen hebt sie weit vom Boden ab, gerade so, dass sie noch auf den Spitzen weitertanzen kann. Das Top liegt eng an ihren Brüsten und gibt den Blick auf ihr Bauchnabelpiercing frei. Der Rock, der ihr bis zu den Knien reicht, flattert beim Tanzen.
Sie bleibt an einer Reklamewand stehen. Dann nimmt sie Schwung und hebt eines der Beine vor ihrem Körper an und dreht sich um die eigene Achse auf dem anderen Fuß. Geschafft. Stolz lächelt sie und dreht eine andere Pirouette mit der nach hinten ausgestreckten Gliedmaße. Auch diese gelingt. Sie wird täglich besser.
Beim grauen Haus hebt sie ihr Knie und dehnt sich an der Wand, so weit es geht. Sie wiederholt die Dehnung mit dem anderen Bein. Eines Tages wird sie die berühmteste Ballerina auf Erden sein. Das erreicht sie nur, wenn sie nicht aufhört zu üben. Die Stunden in der Ballettschule sind ihr zu wenig.
Mit geschlossenen Augen stellt sie sich die Bühne vor, den Vorhang, die Zuschauer im Parkett und in den Rängen. Ihre Mutter wird in der Loge sitzen und vor Freude weinen. Im Geiste sieht sie ihr weißes Tutu und die rosa Spitzenschuhe. Wie von selbst greift sie sich an den Kopf und streicht widerspenstige Haare, die sich aus dem Dutt gelöst haben, zurück. Sie summt ihre Lieblingsmelodie aus dem Nussknacker und öffnet ihre Augen.
Sie streckt ihren Hals, bis ihre Nasenspitze zum Himmel zeigt, auf dem Krähen in Schwärmen ihre Runden ziehen.
Gestern hat sie sie auf dem Baum hinter dieser Gasse gesehen und sich gewundert. Der ganze Baumwipfel war über und über voller Krähen. Ein bisschen gegruselt hat es sie da schon. Trotzdem ist sie heute dorthin unterwegs. Drüben in der Gasse, neben der ein großes Feld liegt, lebt ein Junge. Und den will sie wiedersehen. Auch er tanzt gern.
Sie trippelt summend weiter und blickt sich um.
Ihr Herz hüpft, als sie ihn an der Ecke im Feld hocken sieht.
Seine Shorts sind schmutzig und seinem Shirt fehlen die Ärmel. Die hat er absichtlich abgeschnitten, damit jeder das Muskelspiel seiner Arme bewundern kann. Löcher wie von Motten zerfressen sind am Rücken zu erkennen. Sie weiß, dass es keine Motten waren. Es sind die Stellen, an denen sein Vater seine Zigaretten ausdrückte.
Sein schwarzer Schopf bewegt sich im Wind hin und her.
Jetzt guckt er zu ihr, er hat sie gehört. Jedes Mal, wenn sie seine Augen sieht, hört sie das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie sind so hell, dass das Blau in ihnen verblasst. Zusammen mit dem Haar sieht er aus wie der Dämon in ihrem Lieblingsmanga.
Er grinst sie an. »Da bist du ja endlich.«
Seine Stimme erinnert sie daran, dass er kein Dämon ist, sondern bloß ein Junge, ein Teenager. Einer, den sie mögen könnte. Auch wenn sie ein seltsames Gefühl überkommt, jedes Mal wenn sie mit ihm zusammen ist. Und dann sind da noch die Krähen, die über sein Zuhause fliegen oder bedrohlich am Baum davor sitzen. Dennoch zieht es sie hierher. Jeden Tag.
»Was machst du da?« Irgendetwas liegt zwischen seinen Beinen auf dem Boden. Er verdeckt es mit den Händen.
»Sing ein Lied«, fordert er sie auf. Sie nickt und summt den Tanz der kleinen Schwäne. Er grinst noch einmal und hebt seine Hände. An seinen Fingern sind Schnüre angebunden, und als er die Hände höher hebt, sieht sie die Katze an den Schnüren hängen.
»Schau mal, sie macht alles, was ich will.«
Die Katze tanzt zur Melodie, die sie summt. Der Junge bewegt geschickt seine Finger und lässt die Glieder der Katze im Rhythmus tanzen. Sie miaut und hält den Schwanz steif.
Das Mädchen hört zu summen auf.
»Ich glaub, sie mag das nicht«, sagt sie. »Lass sie los!«
Der Junge schaut verdutzt, dann bindet er die Katze von den Schnüren. Mit einem lauten Fauchen verschwindet sie im Feld.
Der Junge lacht. Dann streift er die Schnüre von seinen Fingern und steckt sie in seine Hosentasche. Sie will sie ihm wegnehmen, damit er nicht an einem anderen Tag die Schnüre verwendet, doch er springt zur Seite. Sie liebt Katzen, aber auch Hunde. Sie hasst es, wenn man den Tieren wehtut. Es wäre besser zu gehen. Doch ihre Beine bleiben wie steif gefroren an Ort und Stelle. Sie hat ihn vermisst. Die ganze Nacht an ihn gedacht.
»Jetzt ist meine Marionette weg.« Er sieht traurig aus und kommt näher. Seine Gesichtszüge verfinstern sich. Sie hält den Atem an. Mit seinem Zeigefinger hebt er ihr Kinn hoch und sieht ihr tief in die Augen. »Das ist deine Schuld.«
Ihr wird ganz anders, und dennoch will sie nicht weg von hier. Von ihm.
»Willst du meine Marionette sein?« Er sagt es so, dass es nicht wie eine Frage klingt, eher wie eine Feststellung. Sie schluckt. Er wertet es als Zustimmung, nimmt eine Schnur aus seiner Hosentasche und ihre Hand. Sanft wickelt er die Schnur um ihr Handgelenk und bindet sie zu. Das gleiche macht er bei der anderen Hand. Obwohl ihre Knie zittern, wehrt sie sich nicht. In ihrem Bauch kribbelt es seltsam.
Er nickt.
»Jetzt gehörst du mir.« Er haucht jeweils einen Kuss auf ihre Handgelenke, an den Stellen, wo die Schnur in ihre Haut schneidet. »Knie nieder, damit ich dich zum Tanzen bringen kann.«
Wie von selbst gehorcht ihr Körper. Er hebt seine Arme, die durch die Schnüre mit ihren verbunden sind.
»Musik«, sagt er knapp und tritt hinter sie.
Sie summt. Er lässt ihre Hände einen grotesken Tanz vollführen. Immer schneller werden die Bewegungen. Ihre Halsmuskeln geben auf, ihr Kopf wackelt hin und her und ihr wird schwindelig.
Er hört nicht auf. Stopp, will sie sagen, aber ihrer Kehle entkommt kein Ton. Ihre Zunge klebt am Gaumen fest und der Mageninhalt drückt nach oben. Schweiß rinnt von ihren Achseln über den Bauch.
»Summ lauter.« Seine Stimme ist belegt und heiser. Er keucht und bewegt ihre Hände noch stärker. Er drückt seinen Körper enger an sie und reibt ihn an ihrem Rücken. Sein Atem geht stoßweise. Sie summt und starrt angestrengt auf einen Punkt in der Ferne. Ein Baum? Ein Mast? Ein Kirchturm? Sie weiß es nicht. Alles verschwimmt vor ihren Augen zu einer Masse in Grau-Grün.
Dann beißt er auf einmal in ihren Nacken, stöhnt auf und lässt seine Arme sinken. Die Marionette tanzt nicht mehr.
Das Mädchen hält den Atem an, als er sie von hinten umarmt. Kurz schwindelt ihr noch.
Wäre sie bloß nicht gekommen. Der Junge ist seltsam, das weiß sie doch. Es ist falsch, hier zu sein.
»Du blutest.« Er leckt über die Bissstelle, dann saugt er daran. Es kribbelt im Nacken, im Bauch. Zwischen ihren Beinen pulsiert es schmerzhaft. Er greift rasch unter ihren Rock. Seine Finger sind flink wie beim letzten Mal. Er hält seine Hand über ihren Mund. Dann macht sich Erleichterung in ihr breit. Und im selben Moment weiß sie, dass sie wiederkommen wird.
Er steht abrupt auf. Sie fällt nach vorne auf den Weg, Kieselsteine schneiden in ihre Knie. Sie rappelt sich auf. Blut rinnt über ihre Schienbeine. Mit den Fingern kratzt sie einen Stein aus der Wunde.
»Warte.« Er gräbt mit den bloßen Händen im Feld. »Ich hab ein Geschenk für dich.«
In Erwartung strahlt sie ihn an und steht auf. Das Zittern ihrer Knie hat aufgehört. Vielleicht ist er doch nicht so eigenartig, wie sie denkt. Er kommt näher. Die Arme hinter seinem Rücken versteckt. Er zwinkert ihr zu.
Was wird es wohl sein? Blumen? Ein Ring? Ein Buch?
Beide geschlossene Fäuste streckt er ihr entgegen.
»Links oder rechts?«
Sie tippt auf seine rechte Hand. Seine Augen glitzern im Sonnenlicht. Diabolisch. Gefährlich. Sie kann sich ihnen nicht entziehen.
»Deine Wahl«, sagt er im Flüsterton und öffnet langsam die Finger.
Das Mädchen schreit.
»Wo Zorn und Rache heiraten, da wird Grausamkeit geboren.«
(Sprichwort aus Russland)
September, Wien, Lainzer Tiergarten
Richard
»Da ist noch eine Kastanie, Onkel Richie.« Seine siebenjährige Nichte Alice strahlte über das ganze Gesicht, als sie ihm die glänzende Frucht hinhielt. »Hier sind so viele davon.«
Ihre Stiefel stapften durch einen Haufen bunter Blätter. Es knirschte. Cracker, der brav neben ihm an der Leine hergetrottet war, bellte aufgeregt und versuchte, die hochfliegenden Blätter aufzufangen. Seine Nichte lachte, als ein Eichenblatt auf Crackers Nase kleben blieb und der Collie darauf schielte.
Richard sog die Luft ein, die nach feuchter Erde roch. Er genoss es, mit seiner Nichte und dem Hund durch den Wald zu laufen, es lenkte ihn von seinem Alltag und seiner Arbeit ab. Und von den Sorgen, die ihn rundum plagten. Der Sommer hatte ihm viel abverlangt. Die letzten Fälle nagten noch an seinen Nerven, auch wenn es nun schon drei Wochen halbwegs ruhig war. Doch Richard traute der Ruhe nicht. Sie erschien ihm trügerisch. Zu vieles war noch unaufgeklärt. Dinge blieben im Verborgenen, Geheimnisse, denen er noch nicht auf die Spur gekommen war. Jeden Tag rief er Sarah an und fragte nach, ob es ihr und den Zirkusleuten auch wirklich gut ging in München. Sie arrangierte ihren Zirkus gerade zu einem Varieté-Zirkus ohne wilde Tiere um. Doch das gestaltete sich schwieriger als gedacht. Die Tiere gut unterzubringen, war nicht so leicht. Sie nach so vielen Jahren der Gefangenschaft auszuwildern, war nicht möglich. In der Wildnis würden sie nicht zurechtkommen. Doch Tierheime waren auch keine Option und die meisten Zoos ebenfalls nicht. Also waren fast alle Tiere noch in Sarahs Besitz. Sie hatte sich mit Tierschutzorganisationen zusammengetan, mit denen sie gemeinsam eine adäquate Lösung suchte.
Richard selbst vermisste die Manege. Es war lange her, dass er als Mister Domino hinter der Maske im Samtanzug mit Umhang das Publikum verzaubert hatte.
»Onkel Richie, schau mal!« Alice zeigte auf einen Baumstamm. Ein Eichhörnchen stand darauf und hielt etwas in den Vorderpfoten. Alice kicherte leise. »Das ist aber hungrig. So süß.«
»Das Eichkätzchen sammelt für den Winter. Das meiste, das es in die Backen stopft, wird es vergraben und die Hälfte davon im Winter gar nicht wiederfinden.«
Cracker zog an der Leine und wollte zum Baumstamm hechten. Richard zog ihn zurück, doch das Eichkätzchen hatte sich bereits aus dem Staub gemacht und in Sicherheit gebracht.
Alice zuckte die Achseln und machte große Augen. »Aber dann verhungert es doch!«
Richard schüttelte den Kopf. »Deshalb vergräbt es mehr, als es benötigt. Und oft wird es die Nüsse der anderen Eichhörnchen zufällig finden und umgekehrt. So ist für alle gesorgt. Das System funktioniert gut. Die Natur weiß schon, was sie tut.«
»Wenn du das sagst, Onkel.« Sie hüpfte von einem Bein auf das andere, schließlich lief sie weiter und zog an seiner Hand. »Komm, schneller, sonst versäumen wir die Fütterung. Außerdem müssen wir ganz schnell alle Kastanien, die ich gesammelt habe, hinbringen.«
Im Lainzer Tiergarten gab es jedes Jahr diese Aktion, bei der man Kastanien vorbeibringen konnte und dafür Geld bekam. Besonders bei Familien war das sehr beliebt. Man schlug zwei Fliegen mit einer Klappe. Ein schöner Familienspaziergang mit einer Aufgabe für die Jüngsten, für die sie ein bisschen Taschengeld bekamen, um sich davon eine Kleinigkeit zu kaufen. Mangels eigener Kinder machte Richard dies zum ersten Mal. Hätte ihm Theres nicht davon erzählt, wüsste er nichts darüber. Da seine Nichte aber in letzter Zeit öfter bei ihm blieb, fragte er Theres regelmäßig nach Ausflugstipps. Und wenn sein Border Collie Cracker, den er von einer verstorbenen Zeugin in Obhut genommen hatte, damit er nicht ins Tierheim musste, auch noch dabei sein konnte, war es umso besser.
Sie in ihrer Sorglosigkeit zu beobachten, rührte ihn und machte ihn gleichzeitig dankbar, dass sie so behütet aufwachsen durfte. Seine eigene Kindheit lag wie ein Schatten auf seinem Ich der Gegenwart. Er blinzelte. Heute war der Todestag seiner Mutter. Unweigerlich rauschten Bilder aus der Vergangenheit durch seinen Kopf. Ein Echo aus einer anderen Zeit, als er das Schlimmste mitansehen musste, das einem Kind passieren konnte. Er war nur ein Jahr jünger gewesen als Alice jetzt. Richard schloss die Augen und hörte sich im Geiste singen.
… aber Mutter weinte sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr …
Der Zottelbart schüttelt den Kopf. Bevor ich nicht fertig bin, wirst du hierbleiben, sagt er.
Tränen laufen über ihre Wangen. Ich betrachte ihre zusammengepressten Lippen. Ich hab Angst. Schreie wieder.
Mama richtet sich auf, schlägt auf den Mann ein. Lass mich raus!
Er drückt sie in die Laken. Du Schlampe gehst nirgendwo hin.
Mama tritt nach ihm. Er setzt sich auf ihre Beine und dreht ihr die Arme nach oben und blickt an sich herunter. Du Miststück! Jetzt hat er den Geist aufgegeben. Scheißhure! Er lässt sie los und sieht mich an. Seine Augen funkeln. Ich bring den Bengel um!
Nein! Bitte!, fleht Mama, greift dem Mann zwischen die Beine, lächelt ihn schief an und versucht, ihn wieder zu sich zu ziehen.
Er schlägt ihre Hand weg. Das wirst du mir büßen, brüllt er. Dann legt er die Hände um ihren Hals und drückt zu.
Die Augen meiner Mama quellen hervor, die Zunge hängt zwischen ihren Lippen.
Blut.
Hände am Vorhang.
Ratsch!
Fest kniff Richard die Augen zusammen, als könnte er dadurch verhindern, den Rest zu sehen. Wie seine Mutter schließlich schlaff dagelegen hatte, nachdem sie der Freier erwürgt hatte.
Das Kichern seiner Nichte riss ihn aus den Gedanken. Richard wischte sich rasch über die Augen und legte einen Zahn zu, um mit seiner Nichte Schritt zu halten. Schwanzwedelnd lief Cracker zwischen ihm und Alice hin und her. Irgendwie tat es Richard leid, dass er ihn nicht ableinen durfte, damit er frei herumlaufen konnte. Aber hier waren am Wochenende derart viele Familien mit Kleinkindern unterwegs, dass ihm nichts anderes übrig blieb, auch wenn Cracker als Hund für Menschen mit besonderen Bedürfnissen ausgebildet war und somit kaum Gefahr von ihm ausging. Als Polizist wusste er, dass oft viele Dinge mitspielten, durch die es dann doch zu einem Biss kam, auch wenn die meisten Hundebesitzer nicht wahrhaben wollten, dass es jedem passieren konnte.
Der Weg ging in eine Kurve über und Alice verschwand aus seinem Blickfeld, was ihn sofort nervös machte. Es waren so viele Menschen hier, vor allem Familien, und es war helllichter Tag und dennoch klopfte sein Herz augenblicklich schneller. Cracker zog an der Leine und er ließ noch ein Stückchen aus dem automatischen Spender heraus, das Cracker sofort nutzte. Richard hörte ihn bellen und wenige Sekunden später lief Cracker zu ihm zurück, setzte sich und wollte nicht mehr aufstehen.
Nanu? Was war hier los. Zwei andere Hunde liefen auch aufgeregt zu ihren Herrchen.
Ein greller Schrei. Er erkannte sofort die Stimme. Es war Alice.
Richard hechtete los. Als er die Kurve umrundete, sah er Alice mitten auf dem Weg stehen. Ihre Beine zitterten und sie starrte auf etwas, das Richard nicht sehen konnte, weil ihm andere Passanten, die genauso angewurzelt stehen geblieben waren, die Sicht versperrten. Vorsichtig bahnte er sich zwischen einem Paar hindurch.
Mitten auf dem Weg stand ein Wildschwein und grunzte aggressiv in Richtung der Menschen. Cracker versteckte sich winselnd hinter Richard. Auf der anderen Seite kam ein Mann in einer grünen Latzhose angeschlichen. Er umrundete weitläufig das Tier, das Richard als Bache identifizierte, und postierte sich schließlich neben einem Baum.
»Bewahrt Ruhe«, flüsterte er. »Sie beschützt nur ihre Frischlinge.«
Richard ging in die Hocke und setzte langsam einen Schritt vor den anderen, bis er bei Alice ankam und sanft seine Hand auf ihre Schulter legte.
»Geh ganz langsam rückwärts, mit mir zusammen nach hinten, Mäuschen.«
Sie nickte und ließ sich von ihm zurück geleiten.
»Alle langsam ein paar Schritte zurück«, sagte auch der Mann neben dem Baum. »Wenn sie sich nicht mehr bedroht fühlt, dann wird sie weitergehen.«
Wildschweine waren hier in ihrem natürlichen Lebensraum und es gab kaum Probleme mit ihnen. Normalerweise passierte nichts. Wenn die Tiere allerdings Nachwuchs beschützten, konnten sie schon aggressiver auftreten, sowohl die Keiler als auch die Bachen. Die Passanten traten alle zusammen so ruhig wie möglich zurück. Bald hatten sie es bis zur Biegung geschafft und Richard umarmte Alice, stand auf und hob sie hoch.
»Du kannst normal atmen, Mäuschen«, sagte er, als ihm auffiel, dass Alice ihren Atem anhielt. Sofort blies sie die Luft aus. In der Ferne raschelte es.
»Schau mal, Alice.« Richard zeigte auf die Stelle, von der das Rascheln gekommen war. Ein Schnäuzchen war zu sehen, gleich darauf hüpfte ein Frischling auf den Weg zu seiner Mutter, die mittlerweile wesentlich entspannter dastand. Ein Frischling nach dem anderen traute sich aus dem Versteck zu seiner Mutter. Alice kicherte leise in ihre Hände, die sie vor den Mund presste.
»Die sind aber süß.«
Cracker blieb brav an Richards Seite sitzen. Er war gut erzogen und wusste, wann er besser still sein sollte. Gottlob waren die anderen Hunde folgsam durch deren Besitzer angeleint worden, denn sonst hätten sie sich zusammen zu einer Jagd auf die Frischlinge bewegen können.
Gemeinsam sahen sie und die anderen Parkbesucher zu, wie die Bache und ihre sieben Frischlinge den Weg überquerten und die Familie schließlich auf der anderen Seite im Wald verschwand.
»Jetzt haben wir gar kein Foto, das wir Mama zeigen können. Wieso hast du dein Smartphone nie in der Hand?«
Richard lachte. »Ich denke, deine Mama wird damit klarkommen und wird es sich gut vorstellen können, wenn du ihr davon erzählst. Und ich komm noch aus einer Zeit, da hatte man gar kein Handy.«
»Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich muss gleich Mari schreiben.«
Richard setzte sie ab und sie tippte sofort in das Telefon, um ihrer Freundin von dem Erlebnis zu berichten. Cracker stand auch auf und lief zu einem Baum am Wegesrand, um sich zu erleichtern.
In Richards Hosentasche vibrierte es. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass sein Kumpel und gleichzeitig Partner beim LKA Paul Marek dran war. Es war Richards freier Tag, also rief er ihn womöglich aus privaten Gründen an. Paul und seine Frau luden ihn des Öfteren zum Abendessen ein. Sie war Spanierin und kochte unfassbar gute Paella. Weil Richard allein lebte, kam es ihm sehr gelegen, dass er bei ihnen ab und zu mitessen durfte.
Richard drückte auf den grünen Kreis zum Annehmen des Anrufs.
»Hallo, Richie, wo bist du denn grad?«
»Im Lainzer Tiergarten mit Alice.«
»Ist was zum Sitzen in der Nähe?«
Richard blickte sich um.
»Hier sind nur Bäume.« Richard lachte. »Aber ich vertrag schon was. Gibt’s eine Leiche?«
»Am besten kommst du nachher gleich zu uns, dann bist du heute nicht allein«, druckste Paul weiter herum.
Was war denn los? Nach all den Jahren müsste sein Partner wissen, dass Richard alles andere als zartbesaitet war. »Schieß schon los, Paul. Ich bin ohnehin schon auf dem Weg zurück. Sarah holt heute Abend Alice bei mir ab.«
Alice streichelte Cracker und zeigte ihm etwas auf ihrem Handy. Richard lächelte. Die beiden waren einander schon so vertraut. Wieder einmal war er froh, dass er den Border Collie nicht ins Tierheim gebracht hatte. Denn auch für ihn war er ein guter Freund geworden.
»Spuck’s aus, Paul.«
Ein Räuspern am anderen Ende.
»Major Bär … ist gestorben, Richie.«
Augenblicklich schien die Luft kälter, der Himmel grauer und der Tag, der so wunderschön begonnen hatte, verlor sein Licht.
Wien, SMZ Ost
Theres
Der Arzt leuchtete mit seiner Lampe zuerst in ihr rechtes Auge, dann in ihr linkes.
»Schauen Sie mal nach oben … unten … rechts … links«, wiederholte er zweimal und sie tat, was er von ihr verlangte.
Norden.
Süden.
Osten.
Westen.
Im Geiste sagte sie die Richtungen auf. Wie oft stand sie daheim vor dem Fenster oder einer anderen Lichtquelle. Während sie mit einer Hand das rechte Auge bedeckte, rollte sie das andere genau auf diese Art hin und her, um das Grau, das nicht aufzuhalten war, zu sehen. Die Dunkelheit, die anfangs nur von einer Seite eingedrungen war und nun langsam von allen Seiten bedrohlich näher kam.
»Jetzt strecken Sie bitte die Hände aus, mit den Handflächen nach oben.« Der Arzt kniff die Augen zusammen. »Drücken Sie jetzt bitte gegen meine rechte Hand … jetzt gegen meine linke …«
Theres kannte all diese neurologischen Untersuchungen schon zur Genüge. Wie ein Roboter machte sie alle Bewegungen, zu denen sie der Arzt aufforderte.
Lustlos reagierte sie. Stand auf einem Bein, ging mit geschlossenen Augen durch den Raum und ließ ihn seine Tests machen. Vom Tabakgeruch, der ihr entgegenwaberte, wenn er ausatmete, wurde ihr übel.
Die dunkle Wolke in ihrem Sichtfeld links und rechts wurde größer, wegen der Anstrengung oder des Stresses, doch das sah der Arzt nicht. Gleich nach der Entlassung würde sie erneut zu ihrem Augenarzt gehen. Auch wenn sie riskierte, dass er sie der Praxis verwies.
Zufrieden nickte der Neurologe hingegen nach seiner Untersuchung. »Es sieht gut aus, Frau Lend. Wir können Sie morgen früh entlassen. Haben Sie jemanden, der Sie abholen kann?«
Theres nickte. Richard Schwarz hatte sie nahezu täglich besucht. Als hätte er ein schlechtes Gewissen, als dächte er, Schuld daran zu tragen, dass sie beinahe gestorben war. Dabei war sie selbst unvorsichtig gewesen, und das nicht nur einmal. Und dass sie die Praline gegessen hatte, ohne zu wissen, von wem sie war, ärgerte sie noch. Das Gift hatte rasch gewirkt. Und nur weil sie bereits im Krankenhaus gewesen und Richard sofort zur Stelle war, der noch dazu den Ärzten alles erklärt hatte, hatte sie gerettet werden können. Doch die Götter in Weiß hatten eingangs bleibende Nervenschäden befürchtet und sie deshalb noch sehr lange unter Beobachtung im Krankenhaus behalten und sie rundum mehrfach untersucht.
Theres nahm die Seiten entgegen, die der Arzt ihr hinhielt. Die Buchstaben verschwammen am Rand vor ihren Augen. Nur mittig konnte sie noch scharf sehen, vorausgesetzt es gab genug Tageslicht. Aber das lag nicht am Gift, sondern an dieser grausamen Krankheit, die sie schleichend erblinden ließ: Retinitis pigmentosa.
»Füllen Sie das bitte noch aus und geben Sie es spätestens morgen der Schwester, bevor Sie fahren. Ich werde den vorläufigen Arztbrief ausfertigen und wir sehen uns zur Sicherheit in einer Woche zu einer Nachuntersuchung in der Ambulanz in unserem Haus. Wenn dann alles in Ordnung ist, können Sie bei Ihrem Haus- und Facharzt weiterbetreut werden.«
Theres nickte. Der Arzt verabschiedete sich.
Sie ging zu ihrem Bett und zog die Lade des Beistelltisches auf. Sie würde alles später ausfüllen. Müdigkeit machte sich in ihr breit. Das Aroma von Spargelcremesuppe zog vom Gang in ihr Zimmer, vermischt mit dem Geruch nach Desinfektionsmittel und anderen Gerüchen menschlicher Natur, die ihr täglich den Appetit nahmen. Ihre Bettnachbarin hatte seit Tagen nicht geduscht.
Wie sehr freute sich Theres darauf, endlich zu Hause zu essen.
In der Lade lag das Foto von der Karte samt Kuvert, die bei den Blumen und Pralinen gelegen hatte. Die Originale waren bei der Polizei. Seit besagtem Tag, an dem sie die vergiftete Praline gegessen hatte, hatte sie es sich nicht mehr angesehen. Zeit, sich ihrer Angst zu stellen. Sie nahm das Foto und betrachtete die Aufschrift auf der Karte.
Siehst du es jetzt, Theres.
J. F.
Die blutroten Lettern tanzten vor ihren Augen, verschwammen zu einer Masse aus Rot. Was meinte der Verfasser damit? Warum hatte er sie in einem Krankenhaus vergiften wollen? Am einzigen Ort, wo man ihr sofort helfen konnte. Und steckte wirklich Justus Föhr hinter dem Anschlag oder waren die gleichen Initialen nur Zufall?
Seufzend steckte sie das Foto zurück, streckte sich und klopfte ihr Kissen zurecht.
»Mittagessen, meine Damen.« Die Pflegehelferinnen kamen mit den Tabletts herein und stellten sie auf die Tische. Die Frau im anderen Bett murmelte irgendetwas und zog sich die Bettdecke wieder über den Kopf.
»Ich stell es kühl. Melden Sie sich einfach, wenn Sie Hunger bekommen.« Die Pflegehelferin lief mit dem Tablett der Bettnachbarin hinaus.
Theres hob den Deckel von der kleinen Schüssel. Spargelcremesuppe, wie erwartet. Sie legte den Deckel zur Seite und hob den anderen, der auf dem großen Teller lag. Kaiserschmarrn mit Zwetschgenröster. Sie mochte keine Zwetschgen. Mit der Gabel piekte sie ein Stück Kaiserschmarrn auf und steckte es sich in den Mund. Ihr Blick fiel auf die Karte auf dem silberfarbenen Ständer, auf der nicht nur ihr Name und ihre Zimmernummer notiert waren, sondern auch das heutige Menü.
Unter »Kaiserschmarrn mit Zwetschgenröster« stand noch »Apfelmus«.
Das Wort »Apfel« war rot unterstrichen. Nanu? Warum das denn? Sie piekste noch ein Stück Schmarrn mit der Gabel auf und nahm mit der anderen Hand die Essenskarte aus dem Ständer. Als sie sie umdrehte, fiel ihr die Gabel aus der Hand und sie hustete.
Ungläubig starrte sie auf die rote Schrift.
Pass auf, Theres!
Du willst doch nicht enden wie Schneewittchen.
J. F.
Vier Tage später, Zentralfriedhof Wien
Richard
Unter den Klängen von »Is schon still uman See«, das das Polizeiblasorchester spielte, trat Major Bär seinen letzten Weg an. Alle Offiziere gingen im Kondukt-Schritt in ihrer Galauniform für die Sargwache links und rechts neben den Trägern. Der Sarg, der in Silberoptik mit einem blauen und roten Streifen gestaltet war, war mit Blumen, ebenfalls in den Polizeifarben, geschmückt. Schwer lastete er auf Richards linker Schulter, denn er hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn direkt zu begleiten. Als Kriminalbeamter trug er einen normalen schwarzen Anzug und keine Uniform.
Cracker ging an der Seite von Pauls Frau hinten im Trauermarsch mit.
Noch schwerer als der Sarg wog die Trauer um den langjährigen Freund, der für ihn wie ein Vater gewesen war. Wie ein schwerer Mantel zog sie ihn nach unten. Major Bär hatte ihn als Sechsjährigen zum Tod seiner Mutter befragt und sich seitdem um ihn gekümmert. Daraus war eine Freundschaft entstanden, die bis zu seinem Tod gehalten hatte. Er erinnerte sich an Bär, der an seinem Krankenbett gesessen hatte.
»Haben Sie den bösen Mann geschnappt?«, hatte Richard ihn gefragt.
Der Sheriff lächelte, es sah ein bisschen traurig aus. Wie ein weinender Clown. »Leider noch nicht. Dazu brauche ich erst noch deine Hilfe. Ich stelle dir ein paar Fragen und du denkst ganz gut nach und beantwortest sie mir dann.«
Richard war stolz, dass dieser große, starke Mann ihn brauchte. »Wenn ich groß bin, werde ich auch Sheriff.«
Major Bär hatte genickt. »Mutige Männer können wir gebrauchen.«
Und Richard war tatsächlich so etwas wie ein Sheriff geworden. Er rieb sein Gesicht am Ärmel. Major Bär hatte ihn bestärkt, aber ihn auch im Zaum gehalten. Ohne ihn hätte er womöglich den Mörder seiner Mutter eigenhändig erwürgt, als er ihn endlich gefunden hatte, aber Major Bär hatte ihn davon abgehalten. Nur kurz war Richard darüber verärgert gewesen, denn, zugegeben, sonst wäre er im Gefängnis gelandet. Auch wenn der Mann ein Mörder war, durfte er selbst zu keinem Mörder werden. Im letzten Moment hatte Major Bär eingegriffen. Heute war er ihm dankbar dafür.
Der Weg war lang. Das Grab weit entfernt. Doch das störte Richard nicht. Zahlreiche Weggefährten und Kollegen waren zum Friedhof gekommen, um Major Bär die letzte Ehre zu erweisen. Aber auch viele, denen Major Bär in seiner Zeit als Polizist geholfen oder deren Leben er gerettet hatte.
Die Menschenschlange bewegte sich langsam voran und schlängelte sich zwischen den Gräbern hindurch.
Als sie ein besonderes Grab passierten, kämpfte Richard mit den Tränen. Anna Keller stand davor, Blickrichtung zu ihnen, und bekreuzigte sich, als sie mit Bärs Sarg vorbeikamen. Er nickte ihr kurz zu. Gemeinsam mit ihr pflegte er das Grab ihrer Familie, doch was Anna Keller nicht wusste, war, dass Richards Mutter ebenfalls in diesem Familiengrab lag, und es war Major Bär gewesen, der dies veranlasst hatte. Sonst wäre Richards Mutter nur das anonyme Armengrab geblieben. Es war vermutlich die einzige nicht legale Tat, die Major Bär in seinem Leben je getätigt hatte, und das ohne Eigennutz. Erst viele Jahre später hatte er Richard die Wahrheit gesagt.
Noch einmal wischte sich Richard die Tränen mit dem Ärmel seines Sakkos von den Wangen, die sich doch irgendwie ihren Weg gebahnt hatten. Paul klopfte ihm von hinten auf die Schulter. Ein stilles Verstehen. Sein Kollege hatte Bär ebenfalls gemocht, wenn er ihn auch nicht so lange gekannt hatte wie Richard.
Neben zwei Sargträgern vom Friedhof trugen vier Polizeikollegen den Sarg mit. Bärs unmittelbare Partner aus seinem Ressort, die längst in Rente waren, gingen in der Mitte, sodass die Sargträger sowie Richard und Paul den Sarg jederzeit weitertragen konnten, selbst wenn die Rentner eine Pause brauchten. Doch sie hielten sich wacker in ihren Ehrenuniformen.
Der Tross wurde angehalten. Der Pfarrer sprach ein Gebet und sang vier Zeilen eines Kirchenliedes, das Richard nicht kannte, ehe es weiterging. Sein Aufwachsen in einer Zirkusfamilie war völlig unreligiös vonstattengegangen. Vermutlich weil Artisten aus aller Welt und fast aller Glaubensrichtungen in diesem Zirkusuniversum vertreten gewesen waren. Manche hatten Kreuzanhänger getragen, andere nicht. Es war nie groß thematisiert worden, woran jemand glaubte. Im Wohnwagen eines Clowns hatte eine kleine Statue gestanden, die einen Mann mit dickem Bauch zeigte. Richard war etwa sieben Jahre alt gewesen, als ihm der Clown von Buddha erzählt hatte. Seine Zieheltern glaubten an Jesus, genauso wie Ivan. Dennoch unterschied sich der Glaube von allen etwas. Doch das war egal. Entscheidend war, dass sie aneinander glaubten und zusammenhielten, aufeinander achtgaben und sich gegenseitig halfen und unterstützten.
Die Kolonne kam zum Stillstand. Richard blinzelte. Vor ihnen war das ausgehobene Erdloch, in dem Major Bär seine letzte Ruhe finden würde. Die vorderen Sargträger gaben ihre Anweisungen. Gemeinsam stellten sie den Sarg auf die Bretter, die über dem Erdloch lagen. Dazwischen waren Seile gelegt, mit deren Hilfe sie später den Sarg hinunterlassen würden.
Neben dem Grab standen ein Eimer Rosen und einer mit Erde, in der eine Schaufel steckte. Der Pfarrer schwenkte das Weihrauchfass über dem Sarg und betete auf Latein. Auf der anderen Seite stellte sich die Polizeikapelle auf.
Ein Schluchzen ging durch die Reihen. Hinter Richard putzte sich eine Dame die Nase. Er kannte sie nicht. Richard blickte um sich. Abgesehen von den Kollegen kannte er niemanden. Was wusste er schon über Major Bär? Viel zu wenig, wie ihm gerade klar wurde. Er hatte sich um Richard gekümmert, ihn bei allem unterstützt, aber Richard selbst hatte kaum Fragen gestellt. Alles, was er wusste, waren die Dinge, die Bär ihm von sich aus erzählt hatte. Seine Taten sprachen ebenfalls für sich.
Hinter einem Grab etwas weiter weg stand jemand. Ob er herüberblickte, konnte Richard aus der Entfernung nicht erkennen. Die Gestalt trug einen dunklen Mantel und einen Hut. Es kam ihm so vor, als habe er diese Person schon einmal gesehen. Er hatte keine Ahnung, ob es eine Frau oder ein Mann war, nur die Figur und die Art, wie sie dastand, erinnerte ihn tief in seinem Unterbewusstsein an etwas. Wenn er nur wüsste, woran.
Richard kniff die Augen zusammen, um die Person klarer zu sehen, aber es nutzte nichts. Dann fixierte er einen Menschen nach dem anderen, der auf dem Friedhof war. Alte Berufskrankheit. Stets auf der Hut sein, überall konnte ein Verbrecher stehen. Er musste sich zusammenreißen. Paranoia hatte an einem Tag wie diesem keinen Platz. Auf einem derart großen Friedhof waren ständig Menschen.
Er dachte daran, als er den Mörder seiner Mutter hier gesehen hatte. Doch der konnte es diesmal nicht sein, der war schließlich gut verwahrt hinter Schloss und Riegel. Und erwartete Richards Besuch. Es schüttelte ihn.
Fest zog er seinen Mantel um sich und knöpfte ihn zu. War es gerade kälter geworden oder kam es ihm nur so vor?
Die Kapelle spielte ihr letztes Lied für heute.
Die Sargträger wiesen Richard und Paul an, die Seilenden in die Hand zu nehmen und den Sarg mit ihnen zusammen hochzuhieven. Dann zogen die Bestatter die Holzlatten unter dem Sarg hervor und stellten sie beiseite.
Die Bestatter nahmen Paul und Richard ihr Seil ab und ließen gemeinsam zu den Klängen von »Ich hatt’ einen Kameraden, einen besseren find’st du nicht« Major Bärs Sarg langsam hinunter in die Tiefe, begleitet von lautstarkem Schluchzen dreier Frauen, die neben ihnen standen. Eine der Frauen sah Major Bär ähnlich.
Paul und Richard gesellten sich zu den uniformierten Kollegen am Rand, die dort salutierten. Richard hob ebenfalls seinen Arm und legte die Hand flach an den Kopf. Die letzte Ehre.
Irgendwie fühlte er sich erst jetzt wie ein echtes Waisenkind.
Im Haus des Bösen
Der Mensch liegt auf dem Tisch aus Stahl, den du auf dem Flohmarkt erstanden hast. Ein ehemaliges Relikt aus der Berliner Charité. Du liebst Dinge mit Geschichte. Kalt und bleich ist die Haut, durch die du schneidest. Das Skalpell liegt gut in deiner Hand. Es fühlt sich so leicht an. Mühelos gleitet die Klinge durch die Haut am Hals des Menschen. Fein säuberlich trennst du danach die Muskelstränge, Sehnen, Bänder und Blutgefäße durch, wie du es gelernt hast. Blut fließt nicht mehr. Der Mensch ist bereits still und starr wie der See in dem Weihnachtslied.
Ein Schnitt durchtrennt die Luftröhre, ein weiterer die Speiseröhre. Bald liegt der Kopf abgetrennt vom Rumpf. An den Verbindungsstellen sieht es aus wie in einem Stromverteilerkasten. Lauter lose, kabelähnliche Gebilde ragen hervor. Der Anblick bringt dein Herz zum Hüpfen.
Du lässt den Rumpf liegen. Darum wirst du dich später kümmern. Der Kopf ist entscheidend. Du musst ihn sofort verarbeiten, damit das Endergebnis gut wird. Es ist eine Kunst, bei der jeder Schritt zählt und die Basis wichtig ist.
Du löst Fleisch und Fett von der Halshaut, akribisch schabst du die Reste ab. Hier ist Feinarbeit gefragt, damit die Haut nicht einreißt. Die brauchst du noch und, wenn es geht, unversehrt. Doch du bist ein Meister deines Fachs. Alles klappt.
Mit dem Skalpell schneidest du noch mehr Sehnen und Bänder durch, schälst quasi das Innere heraus, bis nur noch Halshaut am Schädel baumelt.
Zufrieden betrachtest du das Ergebnis.
Jetzt wird es schwieriger. Für deine Kunst musst du die gesamte Haut vom Schädel ziehen. Das ist komplizierter, als man es sich vorstellt. Vorsichtig musst du die Haut von den Schädelknochen trennen, auch hier muss die Haut intakt bleiben.
Als du ein Viertel freigelegt hast, zückst du die Knochensäge und schneidest in die Schädelbasis.
Sofort spritzt dir Nervenwasser entgegen. Du nimmst ein Tuch und presst es an den offenen Schädel. Wartest, bis der Stoff vollgesaugt ist. Dann sägst du weiter, bis die Öffnung groß genug ist. Mit einem langen Haken fährst du hinein und ziehst am Gehirn. Lockerst es mit Rüttelbewegungen.
In einem flutscht es auf den Tisch.
Schön sieht es aus. Einfach perfekt. Rasch holst du eine Nierenschale aus dem Schrank. Vorsichtig legst du das Gehirn hinein, deckst es mit Frischhaltefolie zu und trägst es zum Kühlschrank. Dort stellst du die Schale mit dem Gehirn in das Eiswürfelfach. Du freust dich jetzt schon darauf, es dir zuzubereiten.
Nachdem das Gehirn entfernt ist, sägst du Schritt für Schritt Teile vom Schädel ab, bis sich die Haut ganz einfach abziehen lässt und die Knochen sich entfernen lassen.
Zuletzt nimmst du die Augen und die Zunge, wickelst sie ebenfalls in Frischhaltefolie und legst sie neben der Schale mit dem Gehirn ins Eisfach.
Dann spülst du die Haut gut ab und nähst die Augenlöcher zu. Danach den Mund.
Du steckst die externe Kochplatte an das Stromnetz. Dann stellst du den Nudeltopf auf die Platte und füllst den Topf zwei Drittel voll mit Wasser.
Die Vorfreude auf das, was kommt, berauscht dich. Es ist so lange her, dass du deinem Hobby nachgegangen bist. Viel zu lange. Wie sehr hast du das Gefühl von Haut und Knochen unter deinen Fingerkuppen vermisst und den Geruch von Fleisch und Blut.
Das Wasser darf nicht kochen. Das würde alles ruinieren. Wiederholt hebst den Deckel und kontrollierst die Temperatur. Als die Gradzahl passt, legst du die Kopfhülle gewissenhaft in das Wasser.
Dann klatschst du in die Hände.
Bald wird dein neues Spielzeug fertig sein.
München, Zirkus Diadem
Sarah
Einen Spaltbreit zog sie den Vorhang auf und linste hinaus. Die Plätze im Parkett waren bereits voll und die anderen Bereiche waren gut gefüllt. Die Kunde, dass sie keine Wildtiere mehr auftreten ließen, hatte sich noch nicht überall verbreitet. Zum Zirkus kamen nach wie vor Menschen aus aller Welt. Zahlreiche Touristen machten auf ihren München-Reisen einen Stopp hier, um noch einen Zirkus im alten Stil zu sehen. Doch davon wollte Sarah sich trennen. Es musste sein. Lange hatte sie sich durch den Wechsel nach München noch über Wasser halten können. In Österreich wären sie bereits vor Jahren Konkurs gegangen, als das Wildtierverbot in Kraft getreten war und so viele Zirkusse endgültig hatten schließen müssen.
Auch wenn in Deutschland noch kein Verbot existierte, hatte Sarah nach mehrfachen Übergriffen durch Tierschützer genug davon. Schritt für Schritt hatte sie gemeinsam mit ihren Artisten überlegt, wie sie den Zirkus umgestalten konnten, ohne ihm den Glanz zu nehmen. Im Gegenteil, er brauchte mehr Glanz, um auszugleichen, was nicht mehr da war.
Zu den Brüdern Smirnoff hatte sie noch zwei weitere Artistengruppen eingestellt, die sich auf tierfreie, besondere Darbietungen spezialisiert hatten, und einen in den sozialen Medien bereits berühmten und sehr präsenten Luftakrobaten hatte sie auch für ihren Zirkus gewinnen können. Er war ein Meister an der Stange und dem Tuch. Mühelos und leicht sah es aus, wenn er sein Programm durchzog. Wie der Tanz eines Vogels, perfekt ergänzt durch die Musik von Igor Strawinskys Ballett »Der Feuervogel«. Sarah selbst konnte die Augen kaum von Pjotr abwenden, der früher mit Ivan zusammen auf die Zirkusschule gegangen war. Ivan hatte auch die Idee gehabt, ihn zu kontaktieren. Der Artist war ruhig und besonnen, redete nicht viel, aber wenn er etwas sagte, dann überraschte er sie stets. Pjotr spielte mit verschiedenen Bewegungsabläufen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Gestern war er zum ersten Mal hier aufgetreten. Sarah hatte währenddessen ins Publikum geschaut und wahrgenommen, wie gebannt alle zugesehen hatten. Frauen wie Männer, Großmütter genauso wie deren Enkelkinder. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, wenn es keine Musik gegeben hätte. Pjotrs Performance hatte etwas Magisches an sich, etwas, dem sich niemand zu entziehen vermochte.
Der anschließende Applaus war berauschend gewesen. Standing Ovations folgten. Sein Lächeln war wie das eines kleinen Jungen gewesen, der ein Spielzeug geschenkt bekam. Entwaffnend, ehrlich und irgendwie süß. Das alles zusammen machte seinen Charme aus.
Nach der Vorstellung warteten stets zahlreiche Gäste vor dem Gebäude auf ihn für ein Autogramm. Er hatte die Brüder Smirnoff als Stars der Manege abgelöst. Aber das war nichts Schlechtes. Die Brüder hatten schon einige Jahre auf dem Buckel und viele Fans, aber manchmal brauchte man etwas Neues, um Zuschauer anzulocken. Und heute waren sie bereits fast ausverkauft, weil die Zeitungen voller positiver Kritiken und Begeisterung für Pjotr waren. Auch eine Anfrage für eine Fernsehshow war bereits hereingeflattert. Der Zirkus Diadem war im Aufwind, aber es gab noch viel zu tun. Schulden hatten sich angehäuft aus den Jahren zuvor. Sie brauchten noch mehr neue Artisten oder Akrobaten, um den Saal täglich zu füllen und die Kassen aufzustocken. Sarahs Verlobter Oliver saß im Gefängnis. Richard hatte viel in Wien zu tun. Mit Ivan an ihrer Seite schaffte sie es bestimmt, dem Zirkus zu neuem Glanz zu verhelfen.
Rasch schloss sie den Vorhang und zog ihren Mantel an. Ein kleiner Spaziergang vor der Show würde ihr guttun und sie gleichzeitig aufwärmen. Danach hätte sie noch genug Zeit, sich zu dehnen. Sie und André waren erst nach der Pause dran mit ihrer Aufführung am Trapez.
Wenn sie es wieder auf das Seil schaffen würde, wäre das auch eine Sensation.
Sie wischte ihre Tränen von den Wangen, die unweigerlich liefen, wenn sie an ihre Mutter dachte, die dabei ihr Leben verloren hatte.
Als sie um die Ecke bog, rempelte sie ein Mann in einem Trenchcoat an. Er hatte den Schal über die Nase gezogen und eine Haube auf, sodass sie nur seine Augen sehen konnte. Augenblicklich lief ihr ein Schauder über den Rücken. Es erinnerte sie an ihre Entführung. Die Männer, die sie gefangen gehalten hatten, hatten ebenfalls solche Sturmhauben getragen, sodass sie nur deren Augen hatte sehen können.
Deutlich hörte sie im Geiste die Stimme des Entführers, der ihr Widerliches angetan hatte. Alles darf ich mit dir tun. Alles, was du dir vorstellen kannst. Und alles, was jenseits deiner Vorstellungskraft liegt. Ich darf dich nur nicht töten.
Sie verdrängte die Gedanken, beschleunigte ihren Schritt und lief weiter. Vielleicht sollte sie doch noch ein paar Termine mit dem Trauma-Therapeuten vereinbaren. Jedes Mal, wenn sie dachte, sie hätte es verwunden, wurde sie durch irgendetwas wieder daran erinnert.
Und dass sowohl der Boss als auch einer der Entführer noch auf freiem Fuß waren, machte die Sache nicht besser. Wenn es auch der nettere der Entführer war, der nicht gefasst worden war. Der, den sie insgeheim Sanitäter nannte, da er sie nach der Folterei stets verarztet hatte. Seine Augen hatten im Gegensatz zu den Augen der anderen Entführer eine gewisse Wärme ausgestrahlt. Oder hatte sie sich das eingebildet?
Ein weiteres Mal stand sie vor dem Eingang des Zirkusses. Kam es ihr nur so vor oder war sie heute schneller um den Häuserblock gehetzt? Vor dem Tor saß ein altes Mütterlein mit einem Korb voller Lavendelsträußchen auf den Stiegen. Als hätte Sarah eine Zeitreise gemacht.
»Wie viel kostet ein Sträußchen?«, fragte sie die Alte.
Die Frau sah hoch, doch ihre Augen waren milchig. Ihr Kopf wackelte hin und her und sie sagte mit leiser und heiserer Stimme: »Sind Sie Fräulein Sarah Engel?«
»Ja, die bin ich.«
Ihre von Heberden-Knoten gezeichneten Hände reichten ihr ein Sträußchen. Mit zitternden Fingern übergab sie ihr auch einen kleinen Zettel. Sarah stutzte. Nahm aber beides entgegen.
»Das Sträußchen ist schon bezahlt. Ich soll es ausschließlich einer Sarah Engel übergeben und diese Nachricht dazu.«
Sarah scannte die Straße mit ihrem Blick. Passanten hetzten an ihr vorbei. Am Eck standen zwei Polizisten, die miteinander debattierten. Die Fenster am gegenüberliegenden Haus waren teilweise hell erleuchtet, teilweise dunkel. In einem dieser Fenster meinte sie, kurz etwas aufblitzen zu sehen, aber vermutlich war es nur die Reflexion der Straßenlaternen oder Autolichter gewesen.
Etwa 20 Meter entfernt von ihr stieg der Mann mit dem Schal, der sie vorhin angerempelt hatte, in ein Taxi. Alles sah normal aus. Nichts verdächtig.
Dennoch gaben Sarahs Knie seltsam nach und Furcht machte sich in ihr breit. Eine diffuse Angst vor etwas, das sie nicht benennen konnte. Wie eine leise Vorahnung, dass etwas auf sie zukam. Dass sie in Gefahr war.
Sie nahm das Sträußchen entgegen und roch daran. Lavendel, eindeutig, nichts daran war verdächtig. Dann entfaltete sie den Zettel.
Das Glück ist kein Geschenk der Götter, sondern frei von der Furcht vor dem Unglück zu sein.
Sarah kannte den ersten Teil des Zitats, doch war sie sicher, dass es nach dem Komma anders weiterging.
Darunter stand:
Toi, toi, toi für die Vorstellung, Sarah!
Daneben war ein Herz gemalt.
Was zur Hölle?
»Wer hat Ihnen das gegeben?« Sarah beugte sich zur Alten.
»Ich kann nichts sehen, Schätzchen, aber die Stimme gehörte zu einem sehr höflichen Mann.«
»Was hat er gesagt?«
»Er hat zehn Sträußchen gekauft und gesagt, dass ich dieses eine zusammen mit dem Zettel einer Sarah Engel geben soll, die hier im Haus arbeitet.«
»Hat er gesagt, warum?«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Er hat gesagt, dass du gleich vorbeikommen wirst. Mehr weiß ich nicht.«
Also war es der Mann mit dem Schal? Konnte das sein? Der gerade im Taxi weggefahren war? Sarah blickte auf ihr Smartphone. Sie hatte keine Zeit mehr und musste hinein. Die Pause würde bald beginnen und sie musste sich noch dehnen und umziehen.
Aus der Tasche fingerte sie 20 Euro und legte sie der Alten in die Hand. »Danke. Gehen Sie nach Hause. Es kommt Regen auf.«
Die Alte wollte Sarah Sträußchen dafür geben, doch sie winkte ab. »Verkaufen Sie sie einfach morgen.«
»Gott hab Sie selig, junge Dame.«
Dass sie bezweifelte, dass Gott überhaupt existierte, behielt Sarah für sich. Sie verabschiedete sich und lief ins Haus.
Dort empfing sie das Kreischen des Publikums und der Applaus für Pjotr. Sarah warf den Mantel in die Ecke der Garderobe und dehnte ihren Körper.
Jegliche Zweifel, Erinnerungen und Ängste verdrängte sie.
Wien-Simmering, Restaurant Concordia Schlössl
Richard
So ein Leichenschmaus war ein seltsames Ritual. Richard überblickte den Saal, der geschmückt war wie bei einer Hochzeit. Mehrere Tischreihen mit weißen Tischdecken und roten Servietten waren bestückt mit kleinen Vasen, in denen rote Rosen steckten. Die Tischkarten waren ebenfalls in den Farben Weiß und Rot gehalten sowie die Speisekarten, auf denen drei Menüs zur Wahl standen.
Weiß und Rot, Major Bärs Lieblingsfarben. Cracker lag unter dem Tisch und trank aus einem Wassernapf.
Die Kellnerinnen rannten von Tisch zu Tisch und trugen die Speisen auf, die sie vor einer halben Stunde alle bestellt hatten. Paul saß gegenüber von Richard, neben ihm saß seine Frau. Richard war zwar allein gekommen, aber hatte nun mit Emily McSands, der Gerichtsmedizinerin mit irischen Wurzeln, Gesellschaft.
Auch wenn er es die letzten Wochen vermieden hatte, ihr zu begegnen, und alle ihre Anrufe geblockt hatte, kam er nun nicht mehr drum herum, sich mit ihr abzugeben. Er schwor sich innerlich, nur Small Talk zu betreiben.
Richard griff nach dem Suppenlöffel und streifte dabei Emilys Unterarm. Augenblicklich richteten sich die wenigen Härchen, die er auf diesem Arm noch hatte, auf. Verdammt. Sein Körper reagierte auf ihre Berührungen, selbst wenn diese unbeabsichtigt waren. Auch wenn er mit ihr Schluss gemacht hatte, bevor sich mehr entwickeln konnte, ließ das nicht unbedingt seine Gefühle von heute auf morgen verschwinden. Leider.
Ihr Ehemann war nicht mitgekommen, was Richard auch nicht wunderte. Emily und er führten eine Lavendelehe, und kaum jemand wusste davon. Da ihr Ehemann ein hochrangiger Politiker einer konservativen Partei war, durfte es auch nicht publik werden. Es würde ihn ruinieren. Eine Affäre, wie sie Emily vorgeschlagen hatte, war dennoch nichts, was Richard wollte.
»Hast du die Zucchinicremesuppe hier schon mal versucht?«, fragte sie ihn, als wäre nie etwas passiert, und zeigte in die Speisekarte. Der Kloß in Richards Hals wurde größer.
»Ich habe keinen Appetit.« Er nahm einen Schluck Mineralwasser und starrte auf die Speisekarte. Sobald er unten mit dem Lesen angekommen war, hatte er alles vergessen und fing oben wieder an. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Der Tod Bärs war das eine, Emily neben ihm das andere. Und zu allem Überfluss wartete er innerlich darauf, dass noch größere Katastrophen eintrafen. Es war noch nicht vorbei. Nichts davon. Das war ihm ebenso klar, wie die Tatsache, dass er sich seinen größten Ängsten bald stellen musste.
»Dann würde ich dir zu einer klaren Suppe raten, mit Frittaten?« Emily strahlte ihn an. »Dann geht es dir rasch besser.«
Richard nahm die Stoffserviette vom Schoß und warf sie auf den Tisch. »Herrgott, Emily, verstehst du es nicht oder willst du es nicht verstehen?«
»Aber du brauchst doch gerade jetzt etwas Warmes im Magen.« Sie nickte nachdrücklich. »Major Bär hätte auch gewollt, dass du etwas isst.«
»Was weißt du denn, was er wollte?«, schrie er sie so laut an, dass andere am Tisch herschauten. »Du kanntest ihn doch kaum!«
Sie zuckte mit den Schultern. »Wir wollen alle nur dein Bestes.«
Genug! Keine Sekunde länger würde er hier sitzen und ihrem Gesülze zuhören. Seine Faust ballte sich und er hatte Mühe, seine Finger zu lockern. »Es reicht, Emily!«
»Was hab ich denn gesagt?«
Richard sprang auf, wobei Gabel und Messer klirrend vom Tisch auf den Fliesenboden fielen, und lief aus dem Restaurant, ohne sich noch einmal umzudrehen. Draußen atmete er tief ein und aus. Sein Herzschlag verlangsamte sich, seine Hand wurde lockerer. Diese Wut, die in ihm aufwallte, machte ihm Angst. Das war neu und erst so extrem, seit er den Mörder seiner Mutter gefunden hatte. Von da an überkam ihn diese Rage öfter und manchmal aus heiterem Himmel. Diesmal hatte ihn Emily so weit getrieben, was würde es als Nächstes sein? Und wann gelangte er an einen Punkt, an dem er sich nicht mehr beherrschen konnte und bei dem es nicht mehr half, einfach wegzulaufen? Wenn beim nächsten Mal keiner in der Nähe war, der ihn vom Schlimmsten abhielt, wie Major Bär? Was passierte dann? Würde er zum Mörder werden? Waren das die Gene seines Vaters?
Ein Kribbeln lief ihm den Rücken hinab. Es war diese Art Schaudern, die man hatte, wenn man einen Horrorfilm schaute und das Ende zu kennen glaubte.
»Du siehst aus, als bräuchtest du eine Zigarette, Kollege.« Tobias Fian von der Cold-Case-Abteilung steckte sich eine Kippe zwischen die Lippen und streckte ihm die geöffnete Packung hin. Wann war er aufgetaucht?
»Ich rauche nicht.« Richard beäugte die Schachtel.
Tobias Fian zuckte die Achseln, ohne die Schachtel wegzunehmen. »Weiß ich doch.«
Richard nahm eine Zigarette und Tobias hielt ihm das Feuerzeug hin. Richard zündete erst die Zigarette von Tobias, dann seine eigene an. Er atmete tief ein und musste augenblicklich husten.
Egal. Er inhalierte noch zweimal. Entspannung breitete sich in seinem Körper aus.
»Das Leben ist seltsam«, sagte Tobias und blies Rauchkringel in die Luft.
»Wem sagst du das.«
»An Tagen wie diesen …« Fian brach ab und zeigte mit dem Arm um sich. »… habe ich noch mehr Angst um meine Schwester. Ohne zu wissen, ob sie meine Angst noch braucht.« Er zog an seiner Zigarette. »Ich meine, ich weiß doch selbst, wie unwahrscheinlich es ist, dass sie nach all der Zeit noch lebt.« Er kickte mit der Stiefelspitze eine Bierdose weg. »Aber ich bin eben nicht nur Polizist, sondern auch einfach ein Bruder, der die Hoffnung nicht aufgibt.«
Seine Schwester galt seit einer Ewigkeit als vermisst, deshalb war Tobias Polizist und Mitarbeiter der einzigen Cold-Case-Ermittlertruppe Österreichs geworden. Ob sie überhaupt noch lebte, war nicht zu sagen. Und falls sie noch lebte, wusste man nicht, welche Schäden sie davongetragen hatte. Tobias Fian hatte Richard geholfen, den Mörder seiner Mutter ausfindig zu machen, und dafür war er ihm dankbar. Gerne würde er ihm dabei helfen, seine Schwester zu finden, irgendwann. Doch das ging erst, wenn das Team, das für die Auswahl der Cold-Case-Fälle zuständig war, ihren Fall erneut für die Ermittlungen freigab. Und dabei bestand nur eine sehr geringe Chance.
Tobias drückte seine Zigarette aus und warf sie in den Papierkorb. Dann klopfte er Richard auf die Schulter.
»Es tut mir ehrlich leid um Bär. Ich weiß, dass ihr einander sehr verbunden wart.«
Richard nickte. »Mir tut es auch leid. Das mit deiner Schwester.« Er hustete erneut. Das Rauchen war wohl nichts für ihn. Er dämpfte den Glimmstängel aus und warf ihn weg.
Tobias wollte gerade etwas sagen, als Richards Handy in der Hosentasche vibrierte.
Er ging ran und hörte zu. Im selben Moment kam Paul Marek aus dem Restaurant und schlüpfte ungelenk in seine Jacke.
»Wir müssen los!«
Richard nickte. »Ich wurde auch gerade angerufen.«
»Was ist passiert?«, fragte Tobias.
»Im Lainzer Tiergarten hängt eine Leiche von einem Baum.«
Was für ein Zufall, dass er erst vor Kurzem mit Alice dort gewesen war, dachte Richard. Paranoia ergriff ihn. War es denkbar, dass es sich um keinen Zufall handelte? Warum hatte er das unbestimmte Gefühl, dass alles irgendwie miteinander verbunden war und er einfach nicht den Schlüssel fand, um das Puzzle zu lösen?
»Bitte entschuldige uns bei der Familie.«
Tobias nickte. »Geht klar. Hast du nichts im Restaurant vergessen?« Er grinste breit.
»Mensch, ja, wo hab ich heute mein Hirn? Bitte tust du mir einen Gefallen? Gibst du Pauls Frau Bescheid, dass sie Cracker ausnahmsweise mit nach Hause nehmen muss?«
Tobias nickte. »Falls das nicht geht, nehm ich ihn mit. Mach dir keine Sorgen.«
Die Tür des Gasthauses ging noch einmal auf. Emily kam heraus und hielt Richard sein Jackett hin. »Es ist schon recht kalt hier draußen.«
Er riss es an sich, ohne sie anzusehen, murmelte ein »Danke« und lief Paul nach.
Wien 22, SMZ Ost
Theres
Panisch betätigte Theres den Klingelknopf, um das Pflegepersonal zu holen. Sie würgte das bereits Gegessene in die Serviette. Ein Lichtblitz flackerte am Rand ihres rechten Auges auf. Sie musste sich beruhigen oder es würde schlimmer werden. Tief einatmen. Ausatmen.
Es dauerte nicht lange und die Krankenschwester, die seit dem Morgen Dienst auf der Station hatte, kam herein.