Die Mechanik des Herzens - Mathias Malzieu - E-Book + Hörbuch

Die Mechanik des Herzens E-Book

Mathias Malzieu

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Beschreibung

Originalvorlage für die Verfilmung "Jack und das Kuckucksherz"

Am 16. April 1874 hat eine unnatürliche Kälte Edinburgh fest im Griff. Es ist der Tag, an dem ich auf die Welt komme. Das Erste, was ich sehe, ist Doktor Madeleine – eine Hebamme mit einer besonderen Leidenschaft: Sie repariert Leute. Sie tastet meine winzige Brust ab und wirkt beunruhigt: »Sein Herz ist hart, ich fürchte, es ist gefroren.« Sie stöbert auf einem Regal herum und nimmt verschiedene Uhren zur Hand. Mit einem Ohr lauscht sie meinem defekten Herzen, mit dem anderen dem Ticken der Uhren. »Diese hier!«, ruft sie plötzlich freudig und streicht zärtlich über eine alte Kuckucksuhr. Madeleine setzt mir die Uhr vorsichtig ein und zieht sie auf. »Tick, tack«, macht die Uhr. »Bubumm«, antwortet mein Herz. Ticktack. Bubumm. Ticktack. Bubumm. Jeden Morgen muss jetzt meine Uhr aufgezogen werden, sonst hat endgültig mein letztes Stündlein geschlagen. Und noch etwas muss ich bedenken: ich darf mich niemals verlieben, sonst könnte mein Uhrwerk verrückt spielen.

Ein phantastisches Kunstmärchen mit überbordenden Bilderwelten.

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Seitenzahl: 191

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Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel La Mécanique du Cœur bei Flammarion, Paris.
Copyright © 2007 bei Flammarion Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 bei carl’s books, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: semper smile, München Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-05665-0 V002
www.carlsbooks.de

Für dich, Acacita, denn nur deinetwegen konnte dieses Buch in meinem Bauch heranwachsen.

Erstens: Rühr deine Zeiger nicht an!

Zweitens: Zügle deinen Zorn!

Drittens: Verschenke niemals dein Herz – an niemanden!

Denn sonst wird der Stundenzeiger deiner Uhr sich dir durch die Haut bohren, deine Knochen werden bersten, und die Mechanik deines Herzens wird für immer stillstehen.

1

m 16. April 1874 schneit es auf Edinburgh. Eine unnatürliche Kälte legt die Stadt lahm, und die Alten spekulieren, es könnte der kälteste Tag aller Zeiten sein. Es ist, als hätte sich die Sonne für immer verabschiedet. Der Wind ist schneidend, die Flocken sind leichter als Luft. WEISS! WEISS! WEISS! Eine stumme Explosion. Wohin das Auge blickt. Die Häuser erinnern an Dampflokomotiven, und der schmutzig graue Rauch, den ihre Schornsteine ausatmen, bringt den bleiernen Himmel zum Flimmern.

Edinburgh und seine steilen Straßen machen eine Metamorphose durch. Die Springbrunnen gefrieren zu Blumensträußen aus Eis. Der Fluss, der seine Rolle als Fluss sonst sehr ernst nimmt, verkleidet sich als Puderzuckersee, der sich bis zum Meer erstreckt, und das Tosen der Brandung klingt wie klirrende Glasscherben. Der Raureif zaubert glitzernde Pailletten auf das Fell der Katzen, und die Bäume erinnern an dickleibige Feen in weißen Nachthemden, die ihre Äste recken und strecken, den Mond angähnen und seelenruhig zusehen, wie die Kutschen über das vereiste Straßenpflaster schlittern. Es ist so bitterkalt, dass Vögel im Flug erfrieren und tot vom Himmel fallen. Ihr Aufprall ist unheimlich sanft für ein Geräusch des Todes.

Es ist der kälteste Tag aller Zeiten. Heute ist der Tag, an dem ich geboren werde.

Schauplatz ist ein altes Haus, das auf dem höchsten Hügel von Edinburgh balanciert. Auf dem Gipfel dieses Vulkans aus blauem Quarz soll der gute alte König Arthur begraben sein. Daher auch der Name: Arthur’s Seat. Das Dach des Hauses ist spitz und unglaublich hoch. Der Schornstein ist geformt wie ein Metzgermesser und ragt zu den Sternen empor. An ihm schärft der Mond nachts seine Sichel. Hier oben ist niemand, nur Bäume.

Das Haus ist ganz aus Holz, als wäre es aus einer gewaltigen Tanne geschnitzt: grobe Balken, wohin man sieht, Fenster vom Eisenbahnfriedhof, ein aus einem Baumstumpf geschnitzter Tisch, und überall verbreiten selbst gestrickte, mit totem Laub gefüllte Wollkissen Nestwärme. In diesem Haus finden unzählige heimliche Geburten statt.

Hier lebt die wunderliche Doktor Madeleine, eine Hebamme, die bei den Einwohnern der Stadt als verrückt gilt. Für eine Dame ihres Alters ist sie erstaunlich hübsch. In ihren Augen glimmt noch immer ein Funke, nur ihr Lächeln zuckt, als hätte es einen Wackelkontakt.

Doktor Madeleine bringt die Kinder von Huren und verlassenen Frauen zur Welt – und von Frauen, die zu jung oder zu untreu sind, um unter besseren Umständen zu gebären.

Neben den Geburten hat Doktor Madeleine noch ein weiteres Steckenpferd: Sie repariert mit Hingabe Menschen. Sie ist Expertin für mechanische Prothesen, Glasaugen und Holzbeine. In ihrer Werkstatt gibt es alles, was das Bastlerherz begehrt.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bedarf es nicht mehr, um der Hexerei verdächtigt zu werden, und in der Stadt hält sich hartnäckig das Gerücht, die verrückte Alte töte die Neugeborenen, um sie zu Sklaven aus Ektoplasma zu machen. Außerdem treibe sie es mit allen möglichen Vögeln, um Monster zu gebären.

Während meine blutjunge Mutter in den Wehen liegt, sieht sie aus dem Fenster und beobachtet geistesabwesend, wie draußen Flocken und Vögel lautlos zu Boden fallen. Sie wirkt wie ein kleines Mädchen, das bloß so tut, als sei es schwanger. Aber sie ist melancholisch, denn sie weiß, dass sie mich nicht behalten wird, und sie wagt es kaum, auf ihren prallen Bauch hinabzusehen. Als ich immer eiliger hinausdränge, schließt sie langsam die Augen, und ihre Haut verschmilzt mit dem Laken, als sauge das Bett sie auf.

Auf ihrem Weg den Berg hinauf weinte sie. Ihre gefrorenen Tränen prallten auf den Boden wie die Perlen einer zerrissenen Kette. Bei jedem Schritt breitete sich vor ihren Füßen ein Teppich aus glitzernden Murmeln aus. Sie geriet ins Schlittern, lief aber immer weiter. Ihre Schritte wurden schneller und schneller, ihre Füße verhedderten sich, ihre Knöchel knickten ein, und schließlich fiel sie mit voller Wucht auf den Bauch. Drinnen machte ich ein schepperndes Geräusch.

Doktor Madeleine ist das Erste, was ich von der Welt sehe. Ihre Finger packen meinen kleinen Schädel, der die Form einer Olive hat, ein Rugbyball im Miniaturformat. Dann schmiegen wir uns gemütlich aneinander.

Meine Mutter wendet den Kopf ab. Ohnehin wollen ihre Lider nicht mehr richtig funktionieren.

»Mach die Augen auf! Sieh dir die winzige Flocke an, die du fabriziert hast!«

Madeleine sagt, ich sähe aus wie ein blasser Vogel mit großen Füßen. Meine Mutter antwortet, sie schaue nicht grundlos weg und könne auf die Beschreibung gut verzichten.

»Ich will ihn nicht sehen und nichts über ihn wissen!«

Plötzlich wirkt die Hebamme beunruhigt. Sie tastet meinen zarten Oberkörper ab. Ihr Lächeln erlischt.

»Sein Herz ist hart. Ich fürchte, es ist gefroren.«

»Glauben Sie etwa, meins nicht?«

»Nein, sein Herz ist wirklich gefroren!«

Doktor Madeleine schüttelt mich kräftig, was sich anhört, als wühle jemand in einer Werkzeugkiste.

Sie kramt auf ihrer Werkbank herum. Meine Mutter sitzt auf dem Bett und wartet. Sie zittert, aber es liegt nicht an der Kälte. Sie sieht aus wie eine Porzellanpuppe, die einem Spielzeugladen entflohen ist.

Draußen schneit es immer stärker. Silberner Efeu rankt bis unter die Dächer, und vor den Fenstern blühen Eisrosen. Katzen frieren mit den Pfoten an Regenrinnen fest und werden zu Wasserspeiern. Im Fluss ziehen gefrorene Fische Fratzen. Die ganze Stadt ist fest in der Hand eines Glasbläsers, der klirrende Kälte aushaucht.

Binnen Sekunden sind die wenigen Passanten, die sich todesmutig vor die Tür gewagt haben, zu Eissäulen erstarrt, als hätte ein Gott ein Foto von ihnen gemacht. Manche, die beim Gehen zu viel Schwung hatten, gleiten noch ein Stück weiter – wie Balletttänzer bei ihrem letzten Auftritt. Sie sind beinahe schön: Engel aus Eis, deren Schals in den Himmel ragen, steife Tänzerinnen einer Spieluhr, die sich immer langsamer dreht. Überall in der Stadt spießen sich Passanten – manche erfroren, manche kurz davor – an den Eisdornen der Springbrunnen auf.

Allein die Turmuhren lassen das Herz der Stadt weiterschlagen, als wäre nichts geschehen.

›Dabei haben mich alle davor gewarnt, hierherzukommen. Sie haben mir gesagt, dass die Alte verrückt ist‹, denkt meine Mutter.

Die Arme sieht aus, als würde die Kälte sie jeden Moment umbringen. Selbst wenn es Doktor Madeleine gelingt, mein gefrorenes Herz zu reparieren – das meiner Mutter ist ein hoffnungsloser Fall. Ich liege nackt auf der Werkbank, den Oberkörper in einen Schraubstock eingespannt, und warte. Mir ist bitterkalt.

Eine alte schwarze Katze sitzt nebenan auf dem Küchentisch. Doktor Madeleine hat ihr eine Brille gebastelt: sehr elegant, mit grünem Gestell, passend zur Augenfarbe. Die Katze beobachtet uns mit blasierter Miene – fehlen nur noch Zigarre und Zeitung.

Doktor Madeleine durchstöbert ein Regal mit mechanischen Uhren. Sie nimmt verschiedene Modelle zur Hand: eckige mit harten Konturen, rundliche mit Holzgehäuse und protzige aus glänzendem Metall. Mit einem Ohr lauscht sie dem schwachen Schlag meines defekten Herzens, mit dem anderen dem Ticken der Uhren. Immer wieder runzelt sie die Stirn. Sie benimmt sich wie ein altes Mütterchen, das eine halbe Ewigkeit braucht, um auf dem Markt eine Tomate auszusuchen. Plötzlich hellt sich ihre Miene auf.

»Natürlich! Diese hier!«, ruft sie und streicht zärtlich über eine alte Kuckucksuhr.

Die Uhr misst etwa vier mal acht Zentimeter, und bis auf Zahnräder, Zeiger und Zifferblatt ist sie ganz aus Holz.

»Etwas Solides«, denkt Doktor Madeleine laut.

Der winzige Kuckuck ist nicht größer als die Kuppe meines kleinen Fingers. Er hat ein feuerrotes Federkleid und tiefschwarze Augen. Mit seinem ewig aufgesperrten Schnabel wirkt er wie tot.

»Diese Uhr wird ein gutes Herz abgeben! Außerdem passt sie zu deinem Vogelköpfchen«, sagt Madeleine zu mir.

Die Sache mit dem Vogel schmeckt mir nicht. Aber da Madeleine versucht, mir das Leben zu retten, will ich mal nicht so sein.

Sie streift eine weiße Schürze über: Jetzt geht’s ans Tranchieren. Ich fühle mich wie ein Brathähnchen, das man vergessen hat zu töten. Madeleine kramt in einer Salatschüssel, setzt eine Schweißerbrille auf und bindet sich ein Taschentuch vor Mund und Nase, das ihr Lächeln verbirgt. Sie beugt sich über mich und lässt mich Äther einatmen. Meine Lider senken sich langsam, wie Rollos an einem lauen Sommerabend in einem fernen Land. Kurz bevor mich der Schlaf übermannt, werfe ich einen letzten Blick auf Doktor Madeleine. Alles an ihr ist rund, die Augen, die runzeligen Apfelbäckchen, sogar die Brüste. Eine seltsame Maschine, zusammengesetzt aus großen und kleinen Kugeln. Wenn ich nach der Operation keinen Hunger haben sollte, werde ich trotzdem so tun als ob, nur um an ihren Kugelbrüsten nuckeln zu dürfen.

Doktor Madeleine schneidet mir mit einer großen Zackenschere den Oberkörper auf. Die winzigen Zähne kitzeln ein wenig. Sie schiebt mir vorsichtig die Kuckucksuhr in den Brustkasten und beginnt damit, meine Schlagadern an das stillstehende Uhrwerk anzuschließen. Es ist eine heikle Arbeit, und Madeleine muss aufpassen, dass sie nichts beschädigt. Sie näht Uhr und Herz mit hauchdünnen Stahlfäden zusammen und zurrt alles mit mehreren klitzekleinen Knoten fest. Ab und zu krampft sich mein schwaches Herz leicht zusammen, aber es pumpt nicht genug Blut durch meine Adern.

»Er ist furchtbar blass!«, murmelt Doktor Madeleine.

Dann schlägt die Stunde der Wahrheit. Madeleine zieht die Kuckucksuhr in meiner Brust mit einem kleinen Schlüssel auf und stellt die Zeiger auf Mitternacht. Sie wartet. Nichts geschieht. Das Uhrwerk ist nicht stark genug, um den Herzschlag auszulösen. Mein Herz steht schon gefährlich lange still. Ich bin in einem dunklen Traum gefangen, der mit jeder Sekunde dunkler wird. Doktor Madeleine spannt die Feder ein zweites Mal, um mein mechanisches Herz in Gang zu setzen.

»Ticktack«, macht die Uhr.

»Bubumm«, antwortet endlich das Herz, und die Arterien färben sich rot.

Langsam beschleunigt sich das Wechselspiel von Ticktack und Bubumm. Ticktack. Bubumm. Ticktack. Bubumm. Mein Herz schlägt jetzt fast so schnell, wie es soll. Vorsichtig zieht Doktor Madeleine ihre Finger zurück. Das Ticken verlangsamt sich wieder. Sie dreht behutsam an den Zahnrädern, um dem Uhrwerk auf die Sprünge zu helfen, aber sobald sie loslässt, wird der Herzschlag schwächer. Es ist, als entschärfe sie eine Bombe, die jeden Moment zu explodieren droht.

Ticktack. Bubumm. Ticktack. Bubumm.

Draußen fallen die ersten Sonnenstrahlen auf den Schnee und stehlen sich durch die Fensterläden herein. Doktor Madeleine ist am Ende ihrer Kräfte. Ich bin eingeschlafen. Vielleicht stand mein Herz auch einfach zu lange still, und ich bin tot.

Plötzlich erschallt ein »Kuckuck« aus meiner Brust. So laut, dass ich vor Schreck husten muss. Ich reiße die Augen weit auf und sehe Doktor Madeleine: Sie hat die Arme hochgeworfen, als hätte sie im Endspiel der Weltmeisterschaft einen Elfmeter verwandelt.

Dann näht sie meinen immer noch offenen Brustkorb mit dem Geschick einer Schneidermeisterin wieder zusammen. Man sieht die Nähte kaum. Über das Zifferblatt und die perfekt eingepasste Holzfront klebt sie ein großes Pflaster. Von nun an muss meine kleine Uhr jeden Morgen mithilfe eines Schlüssels aufgezogen werden, sonst hat mein letztes Stündlein geschlagen.

Meine Mutter sitzt immer noch reglos auf dem Bett. Sie meint, ich sähe aus wie eine große Schneeflocke mit Zeigern. Madeleine antwortet nur, so könne man mich im Schneegestöber wenigstens nicht aus den Augen verlieren.

Es ist Mittag, als Doktor Madeleine ihre Patientin verabschiedet, und wie immer lächelt sie im Angesicht der Katastrophe. Meine Mutter setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ihre Mundwinkel zittern. Sie bewegt sich wie eine alte Frau im Körper eines jungen Mädchens. Als meine Mutter kurz darauf mit dem Nebel verschmilzt, verwandelt sie sich in ein Porzellangespenst. Seit jenem bizarren, wunderbaren Tag habe ich sie nicht mehr wiedergesehen.

2

oktor Madeleine empfängt jeden Tag Besucher. Meist sind es Patienten. Alle, die sich keinen richtigen Arzt leisten können, wenn sie sich etwas gebrochen haben, landen früher oder später bei ihr. Am liebsten repariert sie die Herzen der Leute – sei es durch Herumschrauben oder durch ein längeres Gespräch. Ich komme mir erfreulich normal vor, wenn sich einer ihrer Patienten mal wieder über seine rostende Wirbelsäule beschwert.

»Sie ist aus Eisen, und Eisen rostet nun mal!«

»Ich weiß, aber sie quietscht erbärmlich, sobald ich den Arm hebe.«

»Deshalb habe ich Ihnen beim letzten Mal ja auch einen Regenschirm verschrieben. Ausnahmsweise leihe ich Ihnen heute meinen. Aber besorgen Sie sich bis zum nächsten Mal einen eigenen.«

Neben den Patienten kommen immer wieder junge, gut betuchte Paare zu uns auf den Berg, die keine eigenen Kinder bekommen können und deshalb eins von denen adoptieren wollen, die von ihren Müttern hier zurückgelassen werden. Das läuft ein bisschen so ab wie bei einer Wohnungsbesichtigung. Madeleine preist die Vorzüge der verschiedenen Kinder: Das eine weint niemals, ein anderes isst immer brav sein Gemüse, und ein drittes ist sogar schon stubenrein.

Ich liege unterdessen auf dem Sofa und warte gespannt, bis ich an der Reihe bin. Ich bin das kleinste Modell und passe fast noch in einen Schuhkarton. Wenn sich die Möchtegerneltern dann endlich mir zuwenden, setzen sie zunächst ein gerührtes Lächeln auf, das gleich darauf jedoch erstarrt. Und es dauert nie lange, bis sie fragen: »Was tickt denn da so?«

Dann nimmt mich Doktor Madeleine auf den Schoß, knöpft mein Hemdchen auf und entblößt meine Brust. Die Paare schreien entweder entsetzt auf oder verziehen angewidert das Gesicht und sagen: »Um Gottes willen! Was ist das denn für ein Ding?«

»Wenn wir die Sache Gott überlassen hätten, säßen wir jetzt nicht hier. Dieses Ding, wie Sie es nennen, ist eine Kuckucksuhr, die das Herz des Kindes am Schlagen hält«, erklärt Madeleine trocken.

Die jungen Pärchen schauen verlegen drein und verziehen sich zum Tuscheln ins Nebenzimmer, aber das Urteil lautet unweigerlich: »Nein, danke. Haben Sie noch andere Kinder?«

»Ja, sicher. Folgen Sie mir bitte. Ich habe zwei reizende Mädchen, die an Weihnachten zur Welt gekommen sind«, antwortet Madeleine freundlich.

Anfangs bin ich noch zu jung, um das alles zu verstehen, aber später verletzt es mich immer mehr, dass die Leute mich für eine Missgeburt halten. Ich verstehe einfach nicht, was an einer stinknormalen Kuckucksuhr so abstoßend ist. Sie ist doch nur aus Holz!

Nachdem ich heute zum tausendsten Mal bei der Kinderbesichtigung durchgefallen bin, kommt einer von Doktor Madeleines Stammkunden auf mich zu. Der alte Arthur ist ein ehemaliger Polizeibeamter, der es zum obdachlosen Alkoholiker gebracht hat. Alles an ihm ist faltig und zerknittert, vom Mantel bis zu den Augenlidern. Er ist ziemlich groß und wäre noch größer, wenn sein Rücken nicht so krumm wäre. Bisher haben wir noch nie ein Wort miteinander gewechselt. Komischerweise gefällt mir unsere Art, nicht miteinander zu sprechen. Es hat immer etwas Beruhigendes, wie er durch die Küche hinkt, schief grinst und mir nur kurz zuwinkt.

Während sich Madeleine nebenan gerade wieder einmal um die gut betuchten Paare kümmert, reckt und streckt sich Arthur neben mir. Seine Wirbelsäule quietscht wie eine Gefängnistür.

»Keine Sorge, mein Kleiner!«, sagt er plötzlich zu mir. »Im Leben geht alles irgendwann vorbei. Irgendwie rappelt man sich immer wieder auf. Auch wenn es manchmal eine Weile dauert. Ich habe zum Beispiel kurz vor dem kältesten Tag aller Zeiten meine Arbeit verloren, woraufhin mich meine Frau vor die Tür gesetzt hat. Sie wollte unbedingt einen Polizisten zum Mann! Mein Traum war zwar immer gewesen, Musiker zu werden, aber von irgendetwas mussten wir ja die Miete bezahlen. Doch irgendwann wollte die Polizei mich nicht mehr.«

»Was ist passiert? Warum wollte dich die Polizei nicht mehr?«

»Ich konnte einfach nicht aus meiner Haut! Die Zeugenaussagen habe ich immer gesungen, statt sie zu lesen, und im Kommissariat habe ich mehr Zeit an den Tasten meines Harmoniums verbracht als an der Schreibmaschine. Außerdem habe ich Whisky getrunken, nicht viel, gerade genug um eine heisere Stimme zu bekommen, aber die Polizei hat einfach keine Ahnung von Musik, weißt du? Irgendwann haben sie mich rausgeschmissen, und ich war so dumm, meiner Frau zu erzählen, warum. Den Rest der Geschichte kennst du. Das wenige Geld, das mir geblieben ist, habe ich für Whisky ausgegeben. Aber das hat mir das Leben gerettet, weißt du?«

Ich mag es, wie er »weißt du« sagt. Als er weiterspricht und mir erzählt, wie ihm der Whisky das Leben gerettet hat, wird sein Tonfall feierlich.

»Am 16. April 1874 brach mir die Kälte das Rückgrat, aber der Whisky wärmte mich und rettete mich vor dem Erfrieren. Ich bin der einzige Stadtstreicher, der den kältesten Tag aller Zeiten überlebt hat. Alle anderen sind tot.«

Er zieht den Mantel aus und fordert mich auf, seinen Rücken anzusehen. Mir ist das zwar etwas peinlich, aber ich möchte ihm den Wunsch auch nicht abschlagen.

»Um den Bruch zu reparieren, hat Doktor Madeleine mir eine neue Wirbelsäule aus Eisen eingesetzt und die einzelnen Knochen wie ein Musikinstrument gestimmt. Wenn ich mit einem Klöppel gegen die Wirbel schlage, kann ich sogar das ein oder andere Lied spielen. Es klingt wunderbar. Nur leider ist mein Rücken seitdem krumm und schief. Probier mal«, sagt er und zieht einen Klöppel aus der Manteltasche.

»Aber ich weiß gar nicht, was ich spielen soll.«

»Warte, ich sing dir etwas vor.«

Er stimmt Oh When the Saints an und begleitet sich auf seinem Knochen-Xylophon. Seine Stimme wärmt mich wie ein Kaminfeuer an einem kalten Winterabend.

Bevor er wenig später wieder geht, öffnet er seine Umhängetasche und lässt mich einen Blick hineinwerfen: Sie ist voller Hühnereier.

»Warum trägst du so viele Eier mit dir herum?«

»Weil sie voller Erinnerungen stecken. Meine Frau war eine Meisterin im Eierkochen, und immer wenn ich mir ein Ei zubereite, habe ich das Gefühl, wieder bei ihr zu sein.«

»Und, bist du im Eierkochen so gut wie sie?«

»Nein, meine Eier schmecken scheußlich, aber sie halten die Erinnerung wach. Du kannst dir eins nehmen, wenn du willst.«

»Aber dann fehlt dir doch eine Erinnerung!«

»Mach dir keine Sorgen, ich habe eh zu viele davon. Und nicht alle sind schön. Das verstehst du jetzt vielleicht noch nicht, aber keine Sorge, eines Tages wirst du glücklich sein, wenn du deine Tasche aufmachst und auf eine Erinnerung aus deiner Kindheit stößt.«

Eins weiß ich jedenfalls jetzt schon: Immer wenn ich künftig die ersten Moll-Akkorde von Oh When the Saints höre, wird sich der düstere Nebel meiner Sorgen für ein paar Momente verflüchtigen.

Seit meinem fünften Geburtstag stellt mich Doktor Madeleine keinen Kunden mehr vor. Dafür stelle ich mir mit der Zeit immer mehr Fragen.

Mein Wunsch, die Stadt am Fuß des Bergs zu erkunden, wird zur Obsession. Nachts klettere ich oft auf das Dach unseres Hauses, sitze reglos da und lausche dem fernen Rauschen. Mondlicht fällt auf die verwinkelten Gassen unter mir und umgibt sie mit einem zuckrigen Heiligenschein, in den ich am liebsten hineinbeißen würde.

Madeleine sagt aber immer nur, ich würde die harte Wirklichkeit der Stadt schon früh genug kennenlernen.

»Hab etwas Geduld! Jeder deiner Herzschläge ist ein kleines Wunder. Du weißt, meine Konstruktion ist nicht die stabilste. Aber je älter du wirst, desto weniger wirst du sie brauchen.«

»Wie oft muss sich mein Stundenzeiger bis dahin noch drehen?«

»Ziemlich oft. Bevor ich dich in die Welt entlasse, muss dein Herz noch viel stärker werden.«

Zugegebenermaßen macht mir meine Uhr oft Ärger. Sie ist mein empfindlichster Körperteil, und niemand außer Madeleine darf sie anfassen. Doktor Madeleine zieht die Uhr jeden Morgen mit einem winzigen Schlüssel auf. Wenn ich mich erkälte, tun mir beim Husten die Zahnräder weh, es fühlt sich an, als würden sie meine Haut von innen durchbohren. Ich hasse das Geräusch von zerspringendem Geschirr in meiner Brust.

Am meisten ärgert mich aber meine ganz persönliche Zeitverschiebung. Abends im Bett hält mich das Ticken, das durch meinen Körper hallt, vom Schlafen ab. Deshalb nicke ich nachmittags oft im Stehen ein und bin dann mitten in der Nacht hellwach. Aber ich bin weder ein Hamster noch ein Vampir, ich bin einfach nur ein nachtaktiver Junge.

Gut, es hat auch seine Vorteile, unter einer schweren Krankheit zu leiden. Ich liebe es beispielsweise, wenn Madeleine sich im Nachthemd wie ein Gespenst mit einer Tasse heißem Kakao in der Hand in mein Zimmer stiehlt und mir ein gruseliges Schlaflied singt. Manchmal summt sie mir bis zum Morgengrauen etwas vor und streicht mir dabei sanft über das Uhrengehäuse. In diesen süßen Augenblicken fühle ich mich ganz und gar geborgen.

»Love is dangerous for your tiny heart«, flüstert sie dann immer wieder, als wäre das ein uralter Zauberspruch, der den Schlaf herbeilocken soll.

Ich liebe es, ihr zuzuhören und dabei in den sternhagelvollen Himmel zu sehen, auch wenn ich es etwas merkwürdig finde, wie sie immer wieder »love is dangerous for your tiny heart« flüstert.

An meinem zehnten Geburtstag erklärt sich Doktor Madeleine endlich dazu bereit, mich mit in die Stadt zu nehmen. Ich habe so lange darum gebettelt … Trotzdem kann sie es sich nicht verkneifen, den Aufbruch bis zuletzt hinauszuzögern: Sie läuft von einem Zimmer ins nächste und räumt wahllos Dinge hin und her.

Während ich unten mit den Füßen scharre, fällt mein Blick auf ein Regal mit Einmachgläsern. Die meisten enthalten nur »Äpfel aus dem Garten«, aber auf einigen, die so weit oben stehen, dass ich nicht herankomme, kleben Etiketten mit der Aufschrift »Tränen 1850–1857«.

»Von wem sind die ganzen Tränen?«, frage ich Madeleine, als sie endlich kommt.

»Von mir. Immer wenn ich weine, sammle ich meine Tränen in einem Glas und lagere sie hier unten, um irgendwann Drinks draus zu mixen.«

»Aber warum sind es so viele?«

»Als ich jung war, verirrte sich in meinem Bauch ein Embryo auf dem Weg zur Gebärmutter. Er blieb im Eileiter hängen, und ich begann zu bluten. Seitdem kann ich keine Kinder mehr bekommen. Und obwohl es mich glücklich macht, die Kinder anderer Frauen auf die Welt zu holen, habe ich in meinem Leben viele Tränen vergossen. Erst seit du da bist, geht es mir besser.«

Ich schäme mich für meine Frage.

»Eines Tages, als ich wieder einmal viel geweint hatte, fand ich heraus, dass es hilft, Tränen zu trinken, wenn man traurig ist – vor allem, wenn man sie mit Apfelschnaps mischt. Man darf sie allerdings nie trinken, wenn es einem gut geht, denn sonst kann man ohne einen Schluck Tränen kein Glück mehr empfinden und gerät in einen Teufelskreis: Man muss ständig weinen, damit man ab und zu glücklich sein kann.«