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Verloren in Zeit und Schweigen liegt ein uraltes Lied verborgen – kein Lied aus Worten, sondern aus Erinnerung, Verbindung und Wahrheit. Es ist kein Zauber, keine Waffe, kein Besitz. Es ist ein Zustand. Als drei Fremde – Thira, die Suchende, Elian, der Schweigsame, und Orund, der Gezeichnete – sich an einem Ort begegnen, den es nicht geben sollte, erwacht das Lied. Nicht laut. Nicht grell. Aber unaufhaltsam. Was als inneres Beben beginnt, breitet sich über die Welt aus. Alte Kräfte regen sich. In Dörfern, Ruinen und Träumen beginnen Menschen und Wesen zu spüren, dass etwas zurückkehrt – etwas, das nie ganz verschwunden war. Es ist kein Ruf an Helden. Sondern eine Einladung an jene, die hören können. Doch mit dem Lied kehrt auch das, was einst zerstört wurde – Erinnerung, Wahrheit, Schmerz. „Der Ruf der Welt“ ist ein poetischer, tiefgründiger Fantasy-Roman über Verbundenheit, Ursprung und den Mut, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Eine Geschichte über Klang, der nicht gehört, sondern verstanden werden will.
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Seitenzahl: 155
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Melodie der Verlorenen Zeit
„Ein Lied zwischen Licht und Asche“
© 2025 René Schlüns
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist
der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die
Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: René
Schlüns, Horststraße 14, 21680 Stade, Germany .
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Kapitel 1 – Schatten über Eldoria
Die Sonne versank langsam hinter den Gipfeln des Frostgebirges und tauchte das Königreich Eldoria in ein gespenstisches Licht aus Purpur und Gold. Ein eisiger Wind zog durch die Straßen von Königshafen, der prachtvollen Hauptstadt Eldorias. Die Menschen eilten schnell durch die Gassen, als ahnten sie, dass die heraufziehende Nacht Unheil mit sich bringen würde. Händler schlossen ihre Stände, Kinder wurden von ihren Eltern hastig ins Haus gerufen. Ein flüchtiger Blick zum Himmel genügte – die Sterne blinzelten nicht, sie starrten zurück.
Königshafen war eine prächtige Stadt, einst erbaut aus dem weißen Marmor der Westberge, durchzogen von breiten, gepflasterten Straßen und von hohen Mauern umgeben. Doch nun wirkte sie wie ein schlafender Riese, der das nahende Unheil spürte. Gerüchte von verschwundenen Reisenden, düsteren Gestalten in den Schatten und geisterhaften Geräuschen in der Nacht verbreiteten sich unter der Bevölkerung. Die Wachen an den Stadttoren waren doppelt besetzt, und selbst die Tavernen blieben an diesem Abend ungewöhnlich still.
Im Armenviertel zogen sich die Leute in ihre Häuser zurück, verriegelten Fensterläden und flüsterten Gebete. Alte Frauen warnten die Kinder: „Bleibt vom Brunnen fern, wenn der Wind von Osten kommt.“ Ein Junge namens Jaro beobachtete mit großen Augen den Himmel, als die ersten Fledermäuse in seltsamen Mustern flogen. Irgendetwas stimmte nicht.
Lorian Sternenflüstern stand auf dem Balkon seines Turms, dem höchsten Punkt des Magierkonzils. Sein langer, silberner Bart wehte leicht im Wind, seine blauen Augen funkelten wachsam, während er über die Stadt blickte. Tief in seinem Inneren spürte er ein Unbehagen, das er seit vielen Jahren nicht mehr gefühlt hatte. Er erinnerte sich an die Zeit des letzten Krieges, als er ein junger Zauberer war und sein Bruder gefallen war, um die Hauptstadt zu schützen. Etwas Dunkles näherte sich – nicht nur eine Armee, sondern eine alte Macht. Und er wusste, dass er bereit sein musste.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken. „Herein“, sagte er ruhig.
Die schwere Holztür öffnete sich knarrend, und Mira Nebelfängerin trat vorsichtig ein. Ihre dunklen Augen spiegelten dieselbe Sorge wider, die ihn plagte.
„Meister Lorian“, begann sie, „die Magier des Konzils sind versammelt. Einige berichten von Störungen in den magischen Strömungen.“
„Sie spüren es also auch“, murmelte Lorian. „Sag ihnen, sie sollen bereit sein. Die Zeit der Schatten ist zurück.“
Mira zögerte. „Und was ist mit der Prophezeiung?“
Lorian wandte sich langsam zu ihr um. „Wenn sie sich erfüllt, wird nicht nur Eldoria brennen.“
In der Großen Halle des Magierkonzils brannten dutzende Kerzen in schwebenden Leuchtern. Der Boden war aus schwarzem Marmor, durchzogen von leuchtenden Runen. Die Magier, in tiefblaue Roben gehüllt, standen im Kreis, als Lorian eintrat. Der Duft von Rauchkraut und alten Büchern erfüllte die Luft.
„Wir müssen wachsam sein“, sagte Lorian. „Ich glaube, einer unter uns trägt bereits das Zeichen des Verrats.“
Ein Murmeln ging durch den Raum. Mira trat näher. „Elandor fehlt erneut. Und er hat in letzter Zeit seltsame Anfragen in der Bibliothek gestellt – zu alten Ritualen der Seelenbindung.“
Zur gleichen Zeit hastete Finnian Falkenauge durch die engen Straßen. Der junge Krieger hatte wichtige Informationen, die das Schicksal Eldorias beeinflussen könnten. Hinter ihm hallten Schritte – waren es Verfolger oder nur sein Gewissen? Kurz blieb er stehen, lauschte, hörte ein leises Kichern in der Dunkelheit.
Er stoppte, zog seinen Bogen. „Wer bist du? Zeig dich!“, rief er angespannt.
Ein leises Lachen antwortete. „Du kannst das Ende nicht aufhalten, Falkenauge. Der Schlüssel ist bereits verloren.“
„Was für ein Schlüssel?“
Doch die Stimme verstummte. Finnian rannte weiter, sein Atem schwer. Unterwegs traf er einen alten Informanten: einen ehemaligen Soldaten, der ihm zuflüsterte, dass im Ostviertel ein Mann mit schwarzen Augen gesehen worden war – ein Zeichen der Besessenen.
In den Hallen des Palastes herrschte Unruhe. Prinz Kieran stand am Fenster, beobachtete die Lichter der Stadt. Er erinnerte sich an seine Kindheit, als er mit seinem Vater durch die Straßen ritt. Jetzt sprach sein Vater kaum mehr mit ihm, verschloss sich in dunklen Räumen.
„Prinz Kieran?“, fragte Garrick.
„Es wird schlimmer, Garrick. Ich spüre es.“
„Ein Späher hat berichtet, dass im Westen ein Dorf niedergebrannt wurde. Keine Überlebenden. Kein Feuer – nur Asche.“
Kieran schluckte. „Mein Vater wird nicht hören wollen, was wir zu sagen haben.“
Dann stürzte Finnian herein. „Prinz! Die Schattenwesen marschieren. Und es gibt einen Verräter in der Garde!“
Garrick fluchte. „Wir müssen handeln, bevor es zu spät ist.“
Währenddessen kauerte ein einfacher Soldat namens Brenn am Feuer vor den Mauern. Er schrieb einen Brief an seine Tochter. „Wenn du das liest, bin ich vielleicht schon gefallen. Aber ich habe dich immer geliebt.“ Er sah zum Horizont. Etwas bewegte sich dort. Nicht viele – aber schnell. Und leise. Viel zu leise.
Nicht weit entfernt hörte man das Hämmern von Metall auf Amboss. Taron Eichenherz, der Schmiedemeister, arbeitete noch spät in seiner Werkstatt. Er war kein Magier, kein Soldat – aber er wusste, dass bald Waffen gebraucht würden. Seine Hände waren schwielig, seine Stirn schweißnass. Und während er den Stahl formte, sprach er ein altes Gebet, das seine Mutter ihm beigebracht hatte: „Möge das Feuer brennen, wenn alles andere fällt.“
Hoch über all dem, tief in einem Berg, erwachte etwas Uraltes. In einem kalten Tempel öffnete ein Wesen mit schwarzen Augen die Arme. „Es beginnt.“
Die Schatten bewegten sich nun schneller. In einem vergessenen Dorf im Süden sah ein kleines Mädchen eine dunkle Silhouette am Brunnen. Sie rannte schreiend ins Haus, doch als ihre Eltern hinausliefen, war niemand mehr dort – nur der Brunnen war trocken, und das Wasser darin schwarz.
In der letzten Taverne, die noch geöffnet hatte, saß ein alter Barde. Er spielte eine traurige Melodie auf seiner Laute und sang leise:
„Wenn Nebel fällt auf Eisenstein, und Blut tränkt gold’ne Felder fein, so wache auf, du schlafend Herz, und bann mit Lied der alten Schmerz."
Keiner hörte ihm zu. Doch in seinem Blick lag Wissen – Wissen um das, was war, und das, was kommen würde.
Und über all dem, wie ein Schatten, der sich lautlos ausbreitet, zog die Nacht herauf. Eldoria atmete schwer – denn der Krieg, den man vergessen wollte, hatte begonnen.
Kapitel 2 – Der Ruf der Klingen
Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich zögerlich über die schneebedeckten Gipfel des Frostgebirges. Der Tag erwachte langsam, doch in Königshafen war die Nacht noch nicht vorüber. Dunkle Rauchschwaden stiegen aus den unteren Vierteln auf, wo in der Finsternis kleine Feuer ausbrachen – einige absichtlich gelegt, andere durch Panik entstanden. Der Himmel über Eldoria war grau, als hätte er selbst Angst vor dem, was kommen mochte.
Prinz Kieran marschierte schnellen Schrittes durch die Gänge des Palastes. Seine Rüstung war noch unvollständig, der Brustharnisch hing offen, während er Befehle an vorbeieilende Offiziere und Diener bellte. Neben ihm schritt Garrick, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, seine Schritte lautlos. In seiner rechten Hand hielt er ein Pergament, das er vor wenigen Stunden aus dem Arbeitszimmer des Hofmagiers entwendet hatte – eine geheime Liste mit den Namen aller Ratsmitglieder, die Zugang zur unteren Stadt hatten.
„Hast du sie gefunden?“, fragte Kieran leise.
Garrick schüttelte den Kopf. „Der Verräter ist wie vom Erdboden verschluckt. Aber ich habe die Wachen am Südtor verdoppelt. Wenn jemand versucht zu fliehen, wird er nicht unbemerkt bleiben.“
Kieran nickte, doch seine Miene blieb angespannt. „Wir können uns keinen Fehler erlauben. Wenn die Schattenarmee wirklich so nah ist, wie Finnian sagt, dann haben wir vielleicht nur Stunden.“
Sie erreichten den großen Versammlungssaal, wo Generäle, Magier und Gesandte auf ihn warteten. Als Kieran eintrat, erhob sich niemand. Zu groß war die Anspannung, zu real die Gefahr. Selbst sein Vater, König Tharun, war nicht anwesend – er hatte sich in seine Gemächer zurückgezogen, unfähig oder unwillig, Verantwortung zu übernehmen.
„Meine Lords und Damen“, begann Kieran laut, „wir stehen vor einer Bedrohung, wie sie Eldoria seit der Zeit der Dämmerkriege nicht mehr erlebt hat. Die Feinde sind nicht nur Soldaten aus Fleisch – sie kommen aus dem Schatten selbst. Und sie sind bereits auf unserem Land.“
Ein älterer General mit grauem Bart, Lord Halven, trat hervor. „Prinz, Eure Worte sind dramatisch. Doch wo sind die Beweise? Wir dürfen nicht unüberlegt handeln und unser Volk in Panik stürzen. Vielleicht sind es nur Aufrührer aus dem Osten.“
Finnian, der am Rand des Saales stand, trat hervor. Seine Kleidung war noch staubig von der Reise, sein Blick brannte.
„Ich habe sie gesehen. Ihre Augen – schwarz wie Pech. Ihre Stimmen – sie flüsterten in einer Sprache, die der Wind selbst fürchtet. Und sie kommen nicht, um zu verhandeln.“
Ein Murmeln ging durch die Menge. Magier tauschten Blicke, ein paar Adelige zogen sich verstohlen zurück. Kieran hob die Hand.
„Ob ihr es glaubt oder nicht – die Armee wird marschieren. Heute. Wir werden die Stadt verteidigen. Wer jetzt noch zögert, kann gehen. Doch er wird nicht mit uns untergehen.“
Stille. Dann trat eine Frau hervor – Seraphina Morgenstahl, Hauptfrau der Königlichen Garde. Ihre Stimme war ruhig, aber durchdringend.
„Ich werde kämpfen. Für Eldoria. Für unsere Kinder.“
Nach ihr erhoben sich weitere. Zögerlich, dann entschlossen. Der Wille zur Verteidigung begann zu wachsen.
Im Hintergrund verließ Garrick lautlos den Saal. Er hatte anderes zu tun. Und seine Spur führte in die alte Kanalisation unter dem Palast – zu einer Tür, die laut Legende seit Jahrhunderten nicht geöffnet worden war. Die Luft wurde feuchter, der Boden matschiger, je weiter er sich vorwagte. An der Tür angekommen, flüsterte er einen alten Spruch, den ihm einst ein Bettler beigebracht hatte – und das uralte Schloss klickte leise.
Hinter der Tür lag ein Gewölbe, das seit Jahrhunderten vergessen war. Die Wände waren mit Moos und fremden Runen bedeckt, die in schwachem Blau leuchteten. Garrick trat ein. Er wusste, dass dies nicht nur ein Versteck, sondern ein alter Übergang zur Anderswelt war. Und irgendetwas – oder jemand – hatte ihn zuletzt geöffnet.
Draußen in der Stadt versammelten sich die ersten Truppen. Im Hof der Burg wurden Waffen verteilt, Vorräte verladen und Boten entsandt. Die Menschen arbeiteten schweigend, mit dem Wissen, dass es vielleicht das letzte Mal war. Überall hörte man das Schlagen von Hämmern, das Zischen von geschliffenen Klingen. Stallburschen sattelten Pferde, während alte Männer Gebete murmelten. In den Straßen hingen Banner aus Fensterrahmen – das Wappen Eldorias, ein goldener Phönix auf rotem Grund, flatterte im Wind.
In einem kleinen Haus nahe dem westlichen Stadttor saß eine junge Heilerin namens Ilyra bei einem bewusstlosen Mann. Er war mit zerfetzter Kleidung und schrecklichen Wunden an der Schulter eingeliefert worden – einer der ersten, die dem Feind begegnet waren. Ilyra hielt seine Hand, während ihre Magie leise durch ihn floss.
„Was hast du gesehen?“, flüsterte sie, als er langsam zu sich kam.
„Flammen... Flammen aus Schatten... Sie haben gesprochen. Sie... wussten meinen Namen.“, stammelte er.
Ilyra erschauerte. Sie hatte noch nie erlebt, dass jemand der Dunkelheit entkommen war und bei Bewusstsein blieb. Als sie die Wunde reinigte, fand sie ein seltsames Zeichen auf seiner Haut: ein schwarzes Mal, das in ihrer Gegenwart zu pulsieren begann.
An den Stadttoren standen Kommandanten und beäugten den Horizont. Der Feind ließ sich nicht sehen, doch ein dunkler Nebel begann, sich wie ein Teppich über die Felder zu legen. Der Himmel blieb grau, kein Vogel sang. Die Soldaten flüsterten – manche wollten desertieren, doch Seraphina ging selbst durch die Reihen, sprach zu ihnen mit klarer, ruhiger Stimme.
„Ihr seid Eldoria. Ihr seid das Licht. Wenn wir heute fallen, dann fällt die Hoffnung mit uns. Aber wenn wir standhalten – wird unser Lied in den Jahrhunderten weiterklingen.“
In einem abgelegenen Kloster jenseits der Hügel begann eine Gruppe Mönche, uralte Bücher zu entziffern. Einer von ihnen, ein blinder Greis namens Talen, hob den Kopf. „Die Zeit ist gekommen. Das Lied des Feuers muss neu gesungen werden.“
In einem anderen Teil der Stadt bereitete sich eine junge Diebin namens Naeva vor. Sie hatte von den bevorstehenden Kämpfen gehört und wusste, dass Chaos gute Geschäfte bedeutete. Doch als sie im Schatten einer Gasse ein dunkles Wesen mit schwarzen Augen sah, wusste sie: Dies war kein gewöhnlicher Krieg. Sie war keine Heldin – aber vielleicht würde sie eine werden müssen.
Zur gleichen Stunde erklang über den Türmen Königshafens ein einzelnes Horn. Kein Ruf zum Angriff – sondern ein Zeichen des Abschieds. Und in diesem Moment wusste jeder: Der Ruf der Klingen hatte begonnen.
Kapitel 3 – Der Schwur des Feuers
Die Dunkelheit, die über Eldoria schwebte, war mehr als bloßer Schatten – sie hatte Gewicht. Selbst der Wind, sonst wild und frei über die Hügel ziehend, schien den Atem anzuhalten. In der Festung von Königshafen knirschte das alte Steinpflaster unter den Stiefeln der Wachen, und in den Hallen des Palastes zitterte das Licht der Fackeln. Es war die Art von Dunkelheit, die in die Knochen kroch, leise und unausweichlich.
Garrick Schattenläufer kehrte aus der Kanalisation zurück. Der Weg durch die alten Tunnel hatte Spuren hinterlassen: feiner Staub bedeckte seine Kleidung, und in seinen Augen lag ein Blick, als habe er etwas gesehen, das er lieber vergessen würde. Doch der Ausdruck wich nicht. In seiner Hand hielt er ein Amulett, das in dunklem Grün pulsierte – es war alt, älter als Königshafen selbst, und sein Pulsieren erinnerte an einen langsamen Herzschlag.
Er erinnerte sich an das, was er unter der Erde gesehen hatte: Einen gewaltigen Riss in der Realität, aus dem flüsternde Stimmen drangen. Schattenhafte Gestalten schwebten durch den Spalt, ihre Augen leer und voller Zorn. Eine Stimme hatte ihn angesprochen – bei seinem Namen. Garrick hatte nie zuvor solche Furcht verspürt.
Er trat in Kierans Gemach, wo der Prinz vor einer ausgebreiteten Karte saß, das Schwert neben sich. Die Kerzen flackerten im Zug der geöffneten Fensterläden, und der Geruch von Tinte, Leder und kaltem Metall erfüllte den Raum.
„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, sagte Kieran ohne aufzusehen.
Garrick warf das Amulett auf den Tisch. „Es war geöffnet. Das Portal zur Anderswelt. Und ich glaube, etwas ist hindurchgekommen.“
Kieran starrte das Artefakt an. Ein kalter Hauch strich durch den Raum.
„Wir müssen es versiegeln“, flüsterte er. „Sonst ist alles verloren.“
Garrick sah ihn ernst an. „Dafür brauchen wir jemanden, der das Feuer tragen kann. Und ich fürchte, der Einzige, der das tun könnte, ist fort.“
Kieran antwortete nicht sofort. Er beugte sich vor, betrachtete die Karte. Ein kleines Dorf war dort eingezeichnet – Alnar, nahe der südlichen Grenze. „Vielleicht nicht fort. Vielleicht nur verborgen.“
In einem kleinen Tal jenseits der Stadtmauern, wo die Ruinen eines alten Tempels standen, erwachte eine andere Macht. Lorian Sternenflüstern stand im Zentrum eines uralten Kreises, die Hände erhoben, sein Umhang vom Wind zerzaust. Um ihn herum leuchteten Runen, und die Luft vibrierte vor Magie. Mira Nebelfängerin trat zu ihm.
„Die Flammen sind schwächer geworden. Die Ahnen antworten nicht mehr.“
Lorian schloss die Augen. „Dann müssen wir selbst das Lied singen. Die Welt braucht einen neuen Schwur – den Schwur des Feuers.“
Sie begannen mit der Vorbereitung eines Rituals, das seit Jahrhunderten nicht mehr vollzogen worden war. In die Steine des Tempels ritzten sie alte Zeichen, entfachten magische Feuer, und Lorian begann in der Sprache der Alten zu sprechen. Sein Körper bebte, während die Elemente auf seinen Ruf antworteten – erst zögernd, dann mit wachsender Kraft.
Plötzlich zitterte der Boden. Eine dunkle Stimme drang in den Tempel. „Zu spät“, wisperte sie, „der Schwur wird euch nicht retten.“ Mira taumelte, doch Lorian hielt stand. „Dann wird er uns verwandeln“, flüsterte er und entfachte die letzte Rune.
Im Inneren der Stadt begannen sich derweil die Menschen zu sammeln. Es war, als spürten sie alle, dass sich etwas näherte. In Tavernen wurden Waffen verteilt, in den Straßen flüsterten Alte von der letzten Großen Schlacht. Die Kinder wurden in Klöster gebracht, fern von der drohenden Front. Die Schmiede arbeiteten ohne Pause, und die Glocken der Zitadelle schlugen dreimal – ein uraltes Signal: Die Zeit der Vorbereitung war vorbei.
Im östlichen Bezirk infiltrierte zur selben Zeit eine vermummte Gestalt ein Lager der königlichen Flammenboten. Sie legte Feuer an Kartenräume, zerschlug einen Botenstein – doch bevor sie fliehen konnte, wurde sie von einer Novizin gestellt. Es kam zum Kampf, kurz und brutal. Die Spionin starb, aber ihre letzten Worte waren Warnung und Bedrohung zugleich: „Der Norden schweigt nicht aus Feigheit. Sie bereiten sich vor.“
Hoch auf dem Turm der Stadtwache starrte Ilyra gen Westen. Die Heilerin hatte ihren verletzten Patienten in die Obhut der Ordensschwestern gegeben. Nun trug sie eine Lederrüstung, schlicht, aber fest, und an ihrer Seite ein Dolch, den ihr Bruder einst getragen hatte.
„Wenn sie kommen, werde ich bereit sein“, sagte sie leise. Ihre Augen flackerten golden im Licht des Sonnenaufgangs. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem ihr Bruder fiel – bei der Verteidigung des Passes von Kaerwald. Er hatte gelächelt, als er starb. Sie wollte dasselbe tun – nur nicht heute.
„Fremde Reiter im Süden!“ Die Alarmglocken begannen zu läuten. Soldaten liefen über die Mauern, Kommandanten riefen Befehle. Ilyra rannte die Treppen hinunter. Als sie das Tor erreichte, sah sie eine Gruppe Reiter auf staubigen Pferden – erschöpft, verletzt. Einer von ihnen trug das Banner des Hauses Varenn – ein altes Adelsgeschlecht, das eigentlich seit dem letzten Krieg als ausgelöscht galt.
„Wir kommen aus dem Dorf Daelmoor“, rief der Reiter. „Sie... sie kommen. Schatten, die in Fleisch gewandert sind.“
Ilyra nahm den schwer verletzten Reiter beiseite. Er flüsterte ihr ins Ohr: „Der Fluss ist nicht mehr sicher. Sie gehen durch Wasser wie durch Luft. Und sie kennen unsere Namen.“ Dann starb er in ihren Armen.
Im Palast trat Kieran ans Fenster, als die Glocken erklangen. Er wandte sich an einen jungen Offizier. „Schickt Boten an alle Außenposten. Und ruft die Feuerboten. Wir brauchen Antworten – jetzt.“
Ein Bote mit goldener Rüstung eilte durch die Stadt, ritt über die Brücke von Cerwyn und erreichte ein entlegenes Kloster. Dort wurden alte Waffen gehoben, Bannrunen neu gezeichnet, und eine alte Kriegerin rief: „Wir brennen. Und das Feuer vergisst nicht.“
Garrick trat erneut zu Kieran. „Der Rat muss entscheiden, ob wir Alnar aufsuchen. Dort gibt es jemanden, der vielleicht das Licht der Alten noch in sich trägt.“
„Dann reiten wir bei Sonnenuntergang. Ich selbst.“
Im Schatten der nahenden Bedrohung begannen sich Wege zu kreuzen, die lange getrennt waren. Am westlichen Ufer des Flusses, der Eldoria durchzog, sang ein Barde ein Lied – ein uraltes, das vom Erwachen des Feuers erzählte. Und irgendwo, fern von all dem, öffnete ein Kind die Augen – in den Pupillen ein Schimmer aus Gold und Glut.
Der Schwur des Feuers hatte begonnen.
Kapitel 4 – Die Flammenboten