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Zwischen zwei Atemzügen erzählt die leise Geschichte eines Mannes, der einst alles verlor – und in der Stille eines abgelegenen Hauses auf Menschen trifft, die ihn nicht verändern, sondern erinnern. Erinnern an Schuld, an das, was bleibt, und an das, was möglich ist, wenn man sich nicht abwendet. Ein Jahr lang begleitet der Roman Mike auf seinem Weg durch innere Dunkelheit, durch Fragen ohne Antworten – und hin zu einer Art Frieden, die nicht laut ist. Eine Geschichte über Vergebung, Verbundenheit und die Kraft des einfachen Daseins – zwischen zwei Atemzügen.
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zwischen zwei Atemzügen
Ein Weg zurück ins Licht
2025 René Schlüns
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist
der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die
Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: René
Schlüns, Horststraße 14, 21680 Stade, Germany .
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Kapitel 1 – Blut in der Bank
Der Sommer des Jahres 1817 lag schwer über dem kleinen Städtchen North Haven. Die Luft war staubig, heiß und roch nach Pferd, Schweiß und brennendem Holz. Am Horizont zogen schwarze Wolken auf, doch niemand beachtete sie – nicht an diesem Tag.
Mike stand vor der First National Bank, sein Atem flach, die rechte Hand fest um den kalten Griff seines Revolvers geschlossen. In seinem Herzen loderte kein Feuer der Gerechtigkeit – nur Leere. Eine Leere, die über Jahre gewachsen war, genährt von Schmerz, Verlust und Enttäuschung. Worte aus seiner Kindheit hallten in ihm wider: „Du bist nichts. Du wirst nichts.“ Vielleicht war es diese Stimme, die ihn trieb. Vielleicht war es etwas noch Dunkleres.
Mike erinnerte sich nicht an Glück. Nicht wirklich. Seine frühesten Erinnerungen rochen nach Alkohol und kaltem Zinn. Sein Vater, ein wortloser Mann mit stechenden Augen, hatte ihm früh beigebracht, dass Schwäche bestraft wird. „Hör auf zu heulen, Junge“, hatte er gesagt, während Mikes Lippe blutete. „In dieser Welt überlebst du nur, wenn du härter bist als das Leben.“ Und so lernte Mike früh, zu kämpfen. Erst gegen andere Kinder, dann gegen die Welt. Die Liebe hatte nie eine Sprache für ihn gefunden – nur das Echo der Gewalt.
Als er an diesem Tag vor der Bank stand, war es nicht Gier, die ihn trieb. Es war Wut. Auf alles. Auf sich selbst. Auf Gott. Vor allem auf Gott. „Wenn es dich wirklich gibt“, murmelte er, „dann sieh her, was aus deinem Geschöpf geworden ist.“
Er trat durch die schwere Holztür. Der Klang des Messingglöckchens über ihm war das letzte friedliche Geräusch, das dieser Ort hören sollte.
Die Menschen in der Bank froren ein, als sie ihn sahen. Vier Kunden, zwei Schalterbeamte, ein älterer Mann mit Hut – und eine Familie. Vater, Mutter, zwei Kinder. Die Tochter nicht älter als sieben, der Junge kaum fünf. Die Mutter drückte ihre Kinder an sich, als könne ihre Umarmung eine Wand gegen das Unheil sein.
Die Familie stand nahe dem Schalter. Der Vater, ein Lehrer, hatte seine Tochter gerade gefragt, ob sie nachher Eis essen wollen. Sie hatte gelächelt und genickt. Die Mutter hielt den kleinen Jungen auf dem Arm. Als Mike die Waffe hob, schrie niemand. Nicht sofort.
Die Mutter flüsterte etwas – kaum hörbar. Ein Gebet. „Heiliger Vater, beschütze meine Kinder. Wenn du willst, nimm mich. Aber bitte… bitte nicht sie.“
„Bitte“, sagte der Mann, die Hände erhoben. „Wir… wir tun, was Sie wollen.“ Mike zitterte. Nur ganz kurz. Dann drückte er ab. Der Mann fiel. Das Kind schrie. Die Mutter schrie. Und dann verstummte alles, wie ein Bild, das zerreißt. Mikes Blick wurde leer. Er sah nicht, was er tat – er fühlte es nicht. Es war, als stünde er außerhalb seines Körpers, beobachte sich selbst wie durch Wasser. Als das letzte Echo des Schusses verklang, blieb nur Blut. Und ein brennendes Pochen in seiner Brust, das nicht aufhörte. Nie wieder.
Doch der Himmel schwieg nicht.
Hoch über dem Geschehen, unsichtbar für sterbliche Augen, standen zwei Engel am Rand der Wirklichkeit. Ihre Flügel glänzten silbern im Licht des Ewigen. „Er wird es tun“, flüsterte der eine. „Er hat sich schon entschieden“, antwortete der andere. Sie sahen, wie Mike die Tür zur Bank öffnete. Wie das Licht hinter ihm erlosch.
Im Himmel erhob sich eine Bewegung. Es war, als bebte selbst die Zeit unter der Last des kommenden Blutes. Eine Stimme sprach – keine irdische, keine mit Klang. Sondern mit Wahrheit.
„Ich habe ihn gewarnt. Ich habe ihm Zeichen gegeben. Jetzt wird er fallen.“
Doch dann wurde es still. Nicht im Zorn, sondern in Schmerz. Der Allmächtige, das Licht ohne Ende, sah in Mikes Seele. Und was er dort fand, war nicht nur Dunkelheit. Es war auch ein Schrei, lange erstickt. Ein stummes Flehen, das niemand gehört hatte.
Ein anderer Engel trat vor, der älteste unter ihnen. Seine Stimme war leise, fast menschlich. „Er ist gefallen, Herr. Aber er war schon gefallen, lange bevor er zu töten lernte.“ Doch Gott antwortete nicht. Nicht jetzt. Sein Blick verweilte auf dem Moment, der unausweichlich war.
Der Himmel wandte sich ab. Und die Hölle schwieg. Denn was nun geschah, war Mikes allein.
Die Marschalls stürmten die Bank nur Minuten nach dem Massaker. Mike hatte keine Zeit zu fliehen. Vielleicht wollte er es nicht. Vielleicht hatte er gehofft, dass eine Kugel ihn von all dem befreien würde.
Drei Schüsse durchbohrten seine Brust. Er fiel. Blut füllte seine Lunge. Und in seinem letzten Atemzug hörte er etwas. Keine Stimme. Kein Geräusch. Nur das Gefühl, dass etwas wartete. Etwas jenseits.
Und dann war da nur noch er.
„War es das? War das mein Leben?“
Bilder flackerten auf – verschwommene Gesichter aus der Vergangenheit. Seine Mutter, einmal zärtlich, bevor der Schatten kam. Ein Lachen, das er vergessen hatte.
„Ich wollte nicht böse sein. Ich wollte… Frieden. Nur einen Moment ohne Angst.“
Er dachte an das Mädchen, das er getötet hatte. An den kleinen Jungen. Ihre Augen. Wie sie ihn ansahen – nicht mit Hass. Mit Furcht. Mit der Bitte, es nicht zu tun.
„Was, wenn ich anders gekonnt hätte? Was, wenn ich jemand gewesen wäre, den man liebt?“
Tränen brannten in seinen Augen. Er spürte nichts mehr. Nur Dunkelheit. Und eine leise Frage, die er an das Nichts richtete:
„Gibt es eine Gnade für jemanden wie mich?“
Die Stille nach Mikes Tod war wie ein Riss im Himmelsgewölbe.
Der ältere Engel, der alles beobachtet hatte, wandte den Blick nicht ab. Er schloss die Augen, als würde er für Mike beten.
„Er war kein Unschuldiger. Aber er war auch kein Dämon.“
Der jüngere Engel schüttelte den Kopf. „Er hat ein Kind getötet.“
„Ja. Aber verstehst du, was er hätte sein können? Hätte jemand ihn nur gesehen?“
Über ihnen formte sich der Gedanke Gottes. Nicht gesprochen, nicht entschieden – aber spürbar: Noch ist nicht alles verloren.
Der ältere Engel seufzte. „Es beginnt erst.“
Zwischen all dem Blut, den Scherben, den zersplitterten Leben bewegte sich etwas. Das kleine Mädchen. Sie lebte. Ihre Mutter hatte sich über sie geworfen.
Sie kroch hervor. Ihre Finger zitterten. Ihre Augen weit aufgerissen.
Die Marschalls fanden sie, nahmen sie vorsichtig auf.
In der Höhe sah ein Engel zu ihr herab. Ihre Seele war verwundet, aber rein.
„Sie wird ihm eines Tages vergeben“, flüsterte der Engel.
Ein anderer fragte: „Warum zählt das?“
Der erste antwortete leise: „Weil Vergebung stärker ist als Urteil.“
Kapitel 2 – Zorn des Himmels
In jener Dimension, die jenseits von Raum und Zeit liegt, wo Ewigkeit keine Grenzen kennt und Wahrheit nicht gesprochen, sondern empfunden wird – dort bebte die Stille.
Die Seele des Mörders war gefallen. Blut klebte an seiner Geschichte. Die Erde hatte geschrien. Und der Himmel hatte es gehört.
Gott schwieg.
Nicht weil er nicht sah. Nicht weil es ihn nicht bewegte. Sondern weil sein Zorn so groß war, dass jedes Wort das All erschüttert hätte.
Unzählige Engel versammelten sich um den Kristallenen Thron. Ihre Flügel verharrten reglos. Kein Laut war zu hören. Nur das pochende Echo der Entscheidung, die sich formte.
Ein Seraph trat hervor – einer, der seit Anbeginn diente. Seine Augen waren aus Licht, seine Stimme klang wie viele Wasser. „Herr, der du das Leben schufst, wie willst du richten über diesen, der es nahm?“
Die Schöpfung selbst hielt den Atem an.
Gott sprach nicht sofort. Seine Gedanken durchströmten das Gefüge der Zeit, betrachteten den Mord in der Bank, die Verzweiflung der Menschen, den letzten Blick des Mädchens. Doch er sah auch tiefer – zurück in das dunkle Leben des Täters. Missbrauch. Kälte. Vernachlässigung. Angst. Niemand hatte Mike je geliebt. Niemand hatte ihn gelehrt, wie man liebt.
Dann sprach der Herr. Nicht laut. Nicht mit Klang. Sondern mit Wirklichkeit.
„Er hat sich gegen das Licht entschieden. Doch war ihm je Licht gegeben?“
Ein Beben durchfuhr die Himmel. Einige Engel wandten sich ab. Andere senkten ihre Häupter.
Doch bevor das Schweigen weiterwuchs, trat Jeschua vor den Thron. Seine Füße berührten nicht den Boden, und doch bebte alles unter seiner Gegenwart. In seinem Blick lag kein Urteil, sondern eine unendliche, schmerzhafte Liebe.
„Vater,“ sagte er leise, „ich habe gesehen, wie er fiel. Doch ich habe auch gesehen, wie er einst die Sterne ansah – voller Sehnsucht. Ich kenne diese Herzen. Sie schreien nach Liebe, aber sie kennen nur den Schlag der Faust.“
Die Engel lauschten. Die Ewigkeit hielt inne.
„Gerechtigkeit ist dein Gesetz. Aber Barmherzigkeit ist dein Herz. Lass ihn zurückkehren – nicht in Licht, sondern in Schmerz. Und wenn er darin den Weg zu dir findet… wird dein Name groß sein unter den Gebrochenen.“
Gott sah ihn lange an. Dann sprach er nicht, aber seine Entscheidung legte sich wie Licht in alle Seelen. Der Himmel zitterte – nicht aus Angst, sondern aus Hoffnung.
In den unteren Himmeln, dort, wo das Licht auf die Schatten trifft, regte sich das Feuer des göttlichen Zorns. Es war kein menschliches Toben, kein lauter Ausbruch. Es war eine Glut, die seit Jahrhunderten genährt worden war – von Enttäuschung, Missachtung, Gewalt.
Mike war nicht der Einzige. Aber seine Tat war eine Wunde in der Ordnung, ein Riss im Gewebe der Gnade.
Einige Engel blickten finster. „Warum soll man vergeben, wo keine Reue ist?“
Ein anderer sprach: „Weil niemand ihm gezeigt hat, wie Reue aussieht.“
Aus dem Feuer sprach kein Dämon, sondern Gott selbst:
„Sollte ich mich von den Taten derer abwenden, die nie gelehrt wurden, was gut ist?“
Die Flammen loderten – nicht als Strafe, sondern als Vorbereitung. Denn was nun kam, war härter als der Tod: das Leben mit dem Wissen, dass man hätte anders handeln können.
Tief in der Halle der Erinnerungen, verborgen im Licht jenseits aller Zeit, lag die Bibliothek der Seelen. Dort schwebten Erinnerungen wie lebendige Sterne – das Gute, das Schlechte, das Unentschiedene.
Ein Engel führte einen anderen durch die Gänge. Er blieb stehen vor einer schimmernden Sphäre.
„Das ist Mike. Sein Licht flackert. Es ist nicht tot – nur verhüllt.“
Der Jüngere fragte: „Wie kann etwas so Dunkles je wieder leuchten?“
Der Ältere lächelte sanft. „Weil selbst die schwächste Flamme nicht aufhört, Licht zu sein. Und weil es einen gibt, der Asche in Glut verwandeln kann.“
Über ihnen bebte die Ewigkeit – nicht aus Angst, sondern in Erwartung.
Der Fall der Seele war kein Sturz. Es war ein Gleiten durch Dimensionen, ein Übergang vom ewig Göttlichen ins gebrochene Fleisch.
Mike glitt durch Schleier aus Licht, durch Tränen alter Engel, durch Erinnerungen, die zersplitterten wie Glas.
Stimmen flüsterten: „Er wird vergessen… aber wir nicht.“
Mit jeder Schicht verlor er etwas – Klarheit, Reinheit, Erkenntnis. Doch tief in ihm blieb ein leuchtender Splitter bestehen: die Möglichkeit zur Umkehr.
Er landete nicht auf der Erde – er wurde hineingeboren. Die Erde empfing ihn nicht wie einen Sohn, sondern wie ein Echo aus einer längst vergangenen Schuld.
Im Jahr 2007, an einem verregneten Sommermorgen, schrie ein Neugeborenes seine erste Verzweiflung in die Welt. Kein Vater war da. Keine Freude. Nur ein leerer Kreißsaal, eine erschöpfte Mutter, die das Kind kaum ansah.
Die Krankenschwester, die das Bündel aufhob, runzelte die Stirn. „Er hat keine Geburtsurkunde. Kein Name. Die Mutter ist verschwunden.“
Sie nannten ihn Mike.
Die Krankenschwester hielt das Kind in den Armen, während der Regen gegen die Fensterscheiben peitschte. Es schrie nicht mehr – es atmete nur, leise, schwach. „Du bist allein“, flüsterte sie, fast zärtlich. „Aber vielleicht… musst du das nicht bleiben.“
Sie trug ihn in ein kleines Bettchen, legte ihn vorsichtig ab und strich über seine Stirn. „Willkommen, kleiner Kämpfer.“
Hoch über ihr, unsichtbar für alle Augen, sah Gott auf diesen Moment. Sein Blick durchdrang die Mauern, die Herzen, die Zeit.
Und in seinem innersten Wesen war weder Triumph noch Bedauern – nur eine gewaltige, unbewegliche Hoffnung.
„Wenn er nur eine Seele berührt… wenn er einen einzigen rettet… dann wird mein Zorn weichen wie Nebel vor der Sonne.“
Ein Engel notierte diese Worte ins Buch des Lebens. Eine neue Seite begann.
Und irgendwo, in der Tiefe des menschlichen Schmerzes, regte sich ein winziger Keim Gnade.
Kapitel 3 – Die Strafe
Mike wuchs auf – nicht als Kind der Freude, sondern als Schattenkind. Er war niemandem willkommen. Die Familie, die ihn schließlich aufnahm, tat es aus Pflichtgefühl, nicht aus Liebe. In ihrem Haus herrschte Ordnung, nicht Wärme. Regeln, keine Umarmungen. Strenge Blicke statt Verständnis.
Bereits mit fünf spürte Mike, dass er anders war. Er hatte Albträume, die sich wie Erinnerungen anfühlten. Szenen von Blut, von Schreien, von einer Pistole in seiner Hand. Ein Mann fiel. Ein Mädchen weinte. Und jedes Mal, wenn er schweißgebadet erwachte, war da dieses Gefühl – Schuld, ohne zu wissen, wofür.
In der Schule galt er als still, seltsam, zu ernst. Die anderen Kinder verspotteten ihn. Lehrer hielten Abstand. Niemand sah, wie tief das Dunkle in ihm wuchs – und wie sehr es ihn gleichzeitig quälte.
In seinen Träumen war Mike oft jemand anderes.
Nicht ein Kind, sondern ein Mann. Er sah sich durch verstaubte Straßen laufen, hörte Hufgetrappel, roch Schießpulver. Es war eine Zeit, die er nie erlebt hatte – und doch war alles so vertraut.
Wieder und wieder sah er dieselbe Szene: eine Bank, ein Schrei, ein Vater, der sich schützend vor seine Familie warf – und ihn, Mike, mit einer Waffe in der Hand.
Manchmal wachte er schreiend auf. Manchmal weinte er stumm.
Die Sozialarbeiter erklärten es mit Fantasie. Mit einem Trauma, das er angeblich nicht habe. Aber tief in seinem Innersten wusste Mike: Das war mehr als Einbildung.
Es war ein Schatten, der mit ihm lebte.
Nach diesen Träumen ging er oft in die Kirche. Nicht, weil er glaubte. Sondern weil es der einzige Ort war, an dem ihn niemand anschrie.
Er setzte sich in die letzte Bank, sah auf das Kreuz, und fragte leise: „Wenn du mich gemacht hast, warum so?“
Die Antwort kam nie. Doch das Schweigen war tröstlicher als alles, was Menschen sagten.
Gott sah zu. Nicht mit Gleichgültigkeit, sondern mit schwerem Herzen. „Jeder Tag soll ihn formen. Nicht durch Strafe, sondern durch Leere.“ Er sollte Gutes sehen, ohne es zu bekommen. Liebe, aber nicht berühren. Lächeln, aber nie für ihn.
Engel beobachteten Mikes Leben und schrieben nieder: – Wie er beim ersten Schnee allein auf der Treppe saß. – Wie er sich den Arm brach und niemand kam. – Wie er betete, obwohl er nicht wusste, zu wem.
Doch Gott war nicht grausam. Er wollte Mike nicht zerstören – er wollte ihn verstehen lassen, was Menschen ertragen. Damit er eines Tages wählt, nicht aus Angst, sondern aus Mitgefühl.
Mit 16 stand Mike zum ersten Mal nachts draußen im Regen und fragte: „Warum bin ich hier?“ Seine Worte verschwanden im Wind. Keine Antwort kam. Nur ein inneres Brennen, das nicht schwieg.
Er begann zu rebellieren. Lief weg. Prügeleien, Diebstahl, Wut. Nicht aus Bosheit – sondern aus der Sehnsucht, endlich etwas zu spüren.
Doch keine Strafe von außen kam je an das heran, was in ihm selbst brannte.
In stillen Stunden weinte er. Oft wusste er nicht warum.
Mit 17 lebte Mike auf der Straße. Er war abgehauen, nach dem dritten Heim, nach dem letzten Schlag.
Er schlief unter Brücken, aß, was er fand, lebte von Diebstählen und Flaschenpfand. Die Kälte war sein ständiger Begleiter, und doch war es manchmal wärmer als zu Hause.
Und immer wieder kam die Wut. Gegen das Leben, gegen die Menschen, gegen sich selbst. Manchmal prügelte er sich nur, um Schmerz zu spüren. Um zu wissen, dass er noch da war.
Eines Abends, als er blutend auf dem Asphalt lag, lachte er. Ein bitteres, gebrochenes Lachen.
„Ist das alles, was du willst, Gott? Mich zerbrechen?“
In der Höhe, unsichtbar für seine Augen, hörten die Engel seine Frage.
Einer flüsterte: „Er ruft dich, Herr.“
Und Gott antwortete: „Noch ruft er gegen mich. Doch bald wird er mich suchen.“
In jener Nacht träumte Mike von Feuer, das nicht verbrannte. Von einer Hand, die ihn berührte – und zurückzog. Als er aufwachte, brannten seine Finger. Doch da war kein Feuer.
Eines Morgens kam eine alte Frau zu ihm. Sie trug einen Mantel, der nach Lavendel roch, und ein warmes Lächeln im Gesicht.
Sie reichte ihm ein belegtes Brötchen und sagte: „Du siehst aus, als hättest du vergessen, wie man isst.“
Mike nahm es – zögernd, dann mit zitternden Händen.
„Danke“, murmelte er.
„Weißt du“, sagte sie, „vielleicht bist du nicht schuld an allem, was dir passiert ist. Aber du kannst entscheiden, was du mit dem, was in dir liegt, machst.“
Mike sah ihr in die Augen. Zum ersten Mal seit Jahren sah er keinen Ekel darin. Kein Urteil. Nur Menschlichkeit.
Als sie ging, drehte sie sich noch einmal um. „Du bist kein Abfall. Du bist ein Anfang.“
Als sie hinter der Ecke verschwand, regnete es leicht. Mike blieb reglos sitzen.
Und irgendwo in seiner Brust, wo all die Dunkelheit wohnte, flackerte etwas. Ein Hauch von Gnade. Noch schwach. Aber echt.
In jener Nacht konnte Mike nicht schlafen. Der Regen hatte aufgehört, aber in seiner Brust tobte ein leiser Sturm.
Er saß auf einer Parkbank, umgeben von Dunkelheit und schwachem Laternenlicht, und hielt das Brötchenpapier noch in der Hand.
Die Worte der alten Frau hallten nach. „Du bist kein Abfall. Du bist ein Anfang.“
Er konnte sich nicht erinnern, wann zuletzt jemand an ihn geglaubt hatte. Vielleicht hatte es nie jemand getan.
Und plötzlich, ganz leise, sprach er – nicht laut, fast nur für sich selbst:
„Wenn es dich wirklich gibt… dann zeig mir, was ich tun soll.“
Keine Stimme antwortete. Kein Licht durchbrach die Wolken.
Aber er spürte einen Gedanken. Nicht aus seinem Kopf. Aus etwas Tieferem.
Fang an. Mit etwas Kleinem. Mit etwas Gutem.
Zum ersten Mal entschied Mike sich, am nächsten Morgen nicht zu fliehen. Nicht zu stehlen.
Es war kein großer Schritt.
Aber es war ein Schritt.
Und im Himmel flüsterte ein Engel: „Er beginnt zu wählen.“
Kapitel 4 – Jahrhunderte der Verdammnis
Es war, als würde jeder Tag eine neue Prüfung bringen.