Die Metamoderne -  - E-Book

Die Metamoderne E-Book

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Beschreibung

Kriegerische Auseinandersetzungen, sich verschärfende soziale Konflikte, fortschreitende Umweltzerstörung: Kommt es Ihnen auch so vor, als würde unsere lange Zeit so prosperierende westliche Welt gegenwärtig von einer Krise zur nächsten taumeln, ohne dass tragfähige Lösungen in Sicht sind? Was wäre, wenn dies nur der oberflächliche Schein wäre? Was wäre, wenn es immer mehr Menschen auch angesichts aller Bedrohlichkeit gelingt, zukunftsweisende, attraktive Möglichkeitsräume zu entdecken? Was wäre, wenn wir uns aus bisherigen Denk-, Gefühls- und Handlungsmustern befreien können, die uns gemeinsam nicht weiterbringen? Der Schlüssel liegt im Lernen, im Verstehen von vermeintlich unvereinbaren Positionen und Meinungen. Wenn wir dies auf einer Metaebene als Lösung für die zu bewältigenden Probleme begreifen, sind wir einer neuen Epoche ganz nah: der Metamoderne. Wie sich diese genauer fassen lässt, damit beschäftigt sich – erstmalig im deutschsprachigen Raum – dieser Band. Experten und Expertinnen aus verschiedensten Fachbereichen erläutern theoretische Grundlagen und zeigen Gestaltungsmöglichkeiten für unseren Lebens- und Berufsalltag auf.

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Seitenzahl: 424

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Maik Hosang / Gerald Hüther (Hg.)

Die Metamoderne

Neue Wege zur Entpolarisierung und Befriedung der Gesellschaft

VANDENHOECK &RUPRECHT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © Das Coverbild erstellte Klaus Gogg mit Midjourney

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99306-5

Inhalt

Gerald Hüther und Maik Hosang

Einführung

Teil 1: Theoretische Grundlagen

Maik Hosang

Vorläufer, Gefühle und Dimensionen der Metamoderne

Gerald Hüther

Die naturwissenschaftlichen Grundlagen des metamodernen Selbstverständnisses

Jonathan Rowson

Zur Theorie- und Entdeckungsgeschichte der Metamoderne: Das kulturelle Dazwischen, das politische Danach und das mystische Darüberhinaus

Ralph Buchner

Perspektiven des Schöpferischen oder warum Kreativität auch transzendente und transformative Potenziale impliziert

Johannes B. Schmidt

Bezüge zur Transzendenz und deren Wirkkraft in der Psychotherapie

Teil 2: Praktische Perspektiven und Methoden

Udo Boessmann

Hindernisse und Chancen für die Entwicklung von Metabewusstsein aus Sicht der Tiefenpsychologie

Birgit Permantier

Metamodernes Führen – ein neuer Führungsstil in transformativen Zeiten

Markus Strobel im Inspirationsraum mit Angela Zinser

Zur Emergenz metamoderner Organisationen

Bernd Villhauer

Der Mensch im Spiegel des Geldes: Versuch über eine metamoderne Finanztheorie

Malene Gürgen

Wohlstand für die ganze Welt: Kann Wachstum klimagerecht sein?

Mike Kauschke

»Alles muss poetisiert werden«: Im Spannungsfeld zwischen Poesie und Metamoderne

Karl Hosang

Methodenkoffer der Metamoderne

Die Autorinnen und Autoren

Gerald Hüther und Maik Hosang

Einführung

Worum geht es in diesem Buch?

Unsere lange Zeit so prosperierende westliche Welt taumelt inzwischen von einer Krise zur nächsten. Tragfähige Lösungen sind nicht in Sicht. Viele Menschen sind verunsichert. Manche ziehen sich zurück und versuchen, sich nur noch um ihr eigenes Wohl zu kümmern und sich noch besser als bisher vor allem zu schützen, was sie verängstigt. Manche stürmen aber auch nach vorn und glauben, die Welt ließe sich durch den effizienteren Einsatz von Lösungsstrategien retten, die sich längst als ungeeignet erwiesen und die Probleme nur noch weiter zugespitzt haben.

Aber vielleicht braucht unsere gegenwärtige Welt diese Krisen, damit sich das endlich entwickeln und ausbreiten kann, was erfolgsverwöhnten Menschen am allerschwersten fällt: in sich hinein spüren, sich wieder mit dem verbinden, was unser Menschsein ausmacht, sich aus den eigenen Verwicklungen befreien und sich mit den aus den eigenen Fehlern gewonnenen Erkenntnissen auf den Weg machen. Bewusster, mitfühlender, verständiger, achtsamer, kreativer, mutiger und vor allem liebevoller als bisher.

Wenn das die Lösung ist, dann sollten sie einige, von Krisen vielleicht besonders durchgeschüttelte Menschen zumindest für sich selbst gegenwärtig schon gefunden haben. Von ihnen heißt es, sie hätten einen inneren Transformationsprozess durchlaufen und neue Bereiche ihres Bewusstseins aktiviert. Möglicherweise haben sie aber auch nur die beglückende Erfahrung gemacht, dass liebevolles Einfühlen in ein Gegenüber wesentlich angenehmere Folgen hat als alle Versuche, sich möglichst klar von anderen abzugrenzen. Vielleicht hat es ihnen auch nur das Herz geöffnet, als sie bemerkt haben, dass die Suche nach dem, was Menschen miteinander und mit allem Lebendigen verbindet, viel mehr Freude macht als das Lebendige in seine Einzelteile zu zerlegen und alles fein säuberlich in unterschiedliche Kisten zu packen.

Wahrscheinlich ist bei diesen Menschen beides, das Einfühlen- und das Verbindenwollen, zu einer inneren Einstellung und einem neuen Lebensgefühl geworden, die nun fortan ihr Verhalten bestimmen. Es mag sein, dass sie nun nicht mehr so recht in die alte Welt passen, aber jeder noch einigermaßen zum eigenen Denken befähigte Mensch weiß, dass wir die selbstverschuldete Unmündigkeit nur überwinden können, indem wir ihrem Vorbild folgen. Diese sich der Fragwürdigkeiten unserer bisherigen Vorstellungen bewusst gewordene Menschen wären dann die Vorhut einer neuen Bewegung, und die Erfahrung lehrt uns, dass diejenigen, die anders zu denken und zu fühlen beginnen, oft genug zunächst als Außenseiter diffamiert werden. Weil sich ihnen aber gleichzeitig immer mehr Menschen anschließen, entsteht gerade eine in vieler Hinsicht erstaunliche, noch unter der alten verborgene neue Welt – die Metamoderne.

Experten und Expertinnen aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft – aus Kultur und Wissenschaft, aus Wirtschaft und Technologie, auch aus der Politik – tragen in diesem Buch überraschend viele Indizien dafür zusammen, dass wir am Beginn dieser neuen Epoche – der Metamoderne – stehen.

Wie schnell sich diese Bewegung ausbreitet und wie gut es ihren Followern gelingt, die bedrohlichen Krisen der Gegenwart in attraktive und zukunftsweisende Möglichkeitsräume zu verwandeln, lässt sich nicht vorhersehen. Aber einige Qualitäten und Haltungen der diese neue Epoche gestaltenden Menschen sind bereits erkennbar:

Eine ihrer Kernqualitäten besteht darin, dass sie in der Lage sind, andere Menschen einzuladen, zu ermutigen und zu inspirieren, sich aus ihren bisherigen persönlichen Gewohnheiten, Denk-, Gefühls- und Handlungsmustern und anderen Verwicklungen zu befreien. So wird es immer mehr Menschen möglich, auch scheinbar unvereinbare Positionen und Meinungen zu verstehen und aus einer Metaebene als deren jeweilige Lösungen für die zu bewältigenden Probleme zu begreifen.

Bisher noch scheinbar gegenteilige Ansichten, Vorstellungen und Überzeugungen lassen sich so als das verstehen, was sie immer nur sein können: zumindest vorübergehend brauchbare Lösungen, die Menschen – als Einzelne, aber auch als Gemeinschaft oder als ganze Gesellschaft – auf der Suche nach dem gefunden haben, worauf es aus ihrer Sicht im Leben ankommt. Statt sie als falsch oder abwegig zu diskreditieren, sie zu nivellieren oder gar zu bekämpfen, kann es so endlich gelingen, unsere bisherige, von Abgrenzungs- und Abspaltungsversuchen bestimmte Beziehungskultur in eine Kultur der Begegnung und des wahrhaftigen Interesses an der Entfaltung der in jedem Menschen angelegten Potenziale zu verwandeln. Für alle Menschen, die sich so eine Kultur des Miteinander wünschen, ist dieses Buch die gegenwärtig zu empfehlende Lektüre.

Wie ist dieses Buch aufgebaut und wie kann es gelesen werden?

Um eine neue Bewegung und vielleicht sogar Epoche verstehen zu können, brauchen wir auch neue Begriffe und Weltkonzepte, da die alten unser Denken, Fühlen und Handeln zu sehr begrenzen und im Alten festhalten. Daher experimentieren die Autoren und Autorinnen dieses Buches mit solchen neuen Begriffen und Konzepten.

Im ersten Teil geht es eher um theoretische Grundlagen und im zweiten Teil eher um praktische Entwicklungen dieser neuen Epoche. Da beide Teile letztlich zusammengehören, überschneiden sie sich in den einzelnen Beiträgen.

Auch wenn das Buch aus Beiträgen vieler Autoren besteht, ist es nicht einfach ein Sammelband, sondern in seiner Form selbst Ausdruck einer oben bereits umrissenen Qualität der Metamoderne. Nur von einzelnen Menschen geschriebene Werke sind in sich runder und begrifflich einheitlicher, doch immer auch mit den mentalen, konzeptuellen und sprachlichen Begrenzungen dieser Einzelnen behaftet. Sammelbände hingegen bringen verschiedene Sichtweisen zur Sprache, doch stehen diese meist relativ unbezogen nebeneinander. Dieser Band versucht in Form und Qualität beides zu verbinden. Die alle Beiträge vereinende Essenz ist der Versuch, eine neue, erst entstehende Bewegung und Epoche zu verstehen und so in uns bewusster und hoffnungsvoller werden zu lassen. Dazu braucht es die Expertise und Kreativität von Menschen aus vielen unterschiedlichen Bereichen, die sich darin jeweils mit all ihren Kompetenzen und Erfahrungen auf neue Weise verwirklichen und weiterentwickeln können. Und es braucht zugleich deren miteinander denkendes und wirkendes Zusammenspiel, denn nur so wird das Ganze mehr als die Summe seiner Teile.

Wir laden Sie als Leserinnen und Leser ein, diese besondere Qualität der Metamoderne auch in der Art des Lesens dieses Buches zu erproben: Es geht darum, die einzelnen Beiträge, auch wenn sie sich in ihrer experimentellen Suche nach Verständnis und Worten für eine neue Wirklichkeit teilweise widersprechen, teilweise wiederholen und vieles offenlassen, nicht als Neben- oder Gegeneinander zu verstehen. Im Sinne der später im Buch noch näher erläuterten Metaxie – aus der das »Meta« der Metamoderne folgt – wird es vielleicht möglich, zwischen den verschiedenen Beiträgen zu »oszillieren« und so den Gesamtsinn des Buches beim Lesen jeweils auf eine persönliche, individuelle Weise zu erfassen und zu erspüren.

Neben diesem Oszillieren betrifft ein weiterer Aspekt der Metaxie eine Art von Hinauswachsen über das Bisherige. Und dabei gelegentlich auch das Berühren einer Dimension oder Möglichkeit, die vielleicht schon immer darüber hinaus ist, zu der wir jedoch nur hin und wieder Resonanz finden. Die Begründer der modernen Soziologie versuchten diese vor gut hundert Jahren auch im Raum der Wissenschaft zu erhalten, mit dem Fortschreiten der Moderne verlor sich diese Verbindung jedoch immer mehr. So sprach Max Weber vom »Geist« einer Epoche und Georg Simmel von der Seele als »höchste Einheit« und von Kultur als »Weg der Seele«.

Mehrere der Beiträge des Buches versuchen auf je ihre Weise wieder Worte zu finden für die Verbundenheit und schöpferische Resonanz mit dieser Dimension, die der modernen Welt weitgehend verloren ging und aus deren Nichtbezug manche Probleme dieser Welt erwachsen sind. Es geht darum, diese neu zu entdecken und als wesentliche Quelle menschlicher Existenz, Kultur und Entwicklung bewusster als bisher einzubeziehen, ohne dabei jedoch in vormoderne Formen ihrer Dogmatisierung oder Vermachtung zurückzufallen.

Der Beitrag des Arztes, Bewusstseinsforschers und Unternehmers Udo Boessmann untersucht die Voraussetzungen und erstaunlichen Möglichkeiten und Qualitäten von Metakognition und Metabewusstsein.

Der Psychotherapeut Johannes Schmidt entwirft in seinem Text eine neue Bedeutung von Transzendenz für die freie individuelle Entwicklung des Menschen. Und er reflektiert dabei die Möglichkeiten und Grenzen verschiedener Begriffe, welche im Verlauf unserer Kulturgeschichte dafür gefunden und verwendet worden sind, ob »Transzendenz«, »Feld«, »Raum«, »Geistiges«, »Numinoses« etc.

Die Psychologin und Führungskräfteberaterin Birgit Permantier nennt es die Stille und die namenlose Weite des Bewusstseinsraums, in der wesentliche Gedanken und Impulse auftauchen und aus der auch Führungskräfte verbundenere Qualitäten ihres Wirkens in Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln können.

Der Designer und Kreativitätsforscher Ralph Buchner beschreibt das schöpferische Potenzial, das nicht nur Künstler, sondern Menschen aller Bereiche zu ungewöhnlichen Ideen, Werken, Innovationen und Entwicklungen inspirieren kann, wenn sie Formen finden, in sich, mit anderen oder untereinander mit dieser Dimension zu kommunizieren.

Eine metamoderne Perspektive beabsichtigt jedoch nicht, durch die vielfältig möglichen Resonanzen mit dieser anderen Dimension unseren konkreten Lebenswirklichkeiten zu entfliehen. Vielmehr geht es darum, sich diesen praktischen Lebenswelten etwas anders, auch mit jener Dimension oszillierend und so freier zuzuwenden. Daher widmen sich einige der Beiträge konkreten Bereichen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur und erforschen das darin schlummernde Potenzial für praktische Entwicklungen, die über die gegenwärtigen Krisen hinaus und zum Beginn einer neuen, ökologischeren, friedlicheren und menschlich erfüllteren Epoche führen könnten:

Markus Strobel und Angela Zinser beschreiben die bereits sichtbaren Anfänge metamoderner Organisationen, die ihnen in ihrer Tätigkeit als integrale Führungskräftecoaches und Organisationsberater begegnen.

Bernd Villhauer sucht und untersucht als Geschäftsführer des Welt-Ethos-Instituts schon länger zukunftsfähige Perspektiven der Finanzwirtschaft und stellt uns diese in seinem Beitrag vor.

Die Journalistin Malene Gürgen entwickelt spannende Gedanken dazu, ob und wie sich zukünftig ein lebensfähiger Wohlstand für alle Menschen auf dieser Welt organisieren ließe.

Mike Kauschke wiederum wählt ein ganz anderes Wirklichkeitsfeld, die Poesie, und zeigt uns, inwiefern dieser in gewisser Weise schon immer, insbesondere aber in der Frühromantik, jene Qualitäten innewohnen, die wir in diesem Buch als Chancen einer lebenswerten Zukunft herauszuarbeiten versuchen.

Da zu dieser Zukunft auf jeden Fall auch neue, im Vergleich zur bisherigen Geschichte erweiterte Perspektiven menschlicher Bewusstwerdung gehören, gibt es mit den bereits genannten von Udo Boessmann und Johannes Schmidt gleich zwei, die dies aus Sicht der Psychologie und Psychotherapie beleuchten.

Am Anfang des Buches stehen drei Beiträge, welche die komplexen Voraussetzungen, Tendenzen und Potenziale der Metamoderne aus verschiedenen Perspektiven beleuchten:

Der Kulturphilosoph und Transformationsforscher Maik Hosang versucht, den Lesenden einen einigermaßen umfassenden Überblick über die Vorläufer, Dimensionen und Metaxien der Metamoderne zu geben.

Der Neurobiologe Gerald Hüther zeigt uns einerseits naturwissenschaftliche Grundlagen eines metamodernen Selbstverständnisses, andererseits, dass unser bisheriges modern-wissenschaftliches Herangehen unzureichend bis ungeeignet dafür ist, um diese neuen Potenziale in und um uns wirklich zu entdecken und zu entfalten.

Und der Evolutionsforscher und Schachgroßmeister Jonathan Rowson beschreibt uns sehr lebendig und dennoch filigran seine widersprüchliche eigene Entdeckungsreise der Metamoderne in immer mehr Bereichen der Wirklichkeit und ermutigt uns dazu zu schauen, ob diese neue Wirklichkeit auch bei uns schon angekommen ist.

Um den Kreis dieser vielseitigen Blicke in die erstaunlichen Möglichkeitsfelder der vermutlich menschheitsgeschichtlich notwendigen, dennoch gerade erst beginnenden Metamoderne nicht nur zu schließen, sondern auch zu konkreten persönlichen Entwicklungen und Handlungen dafür zu ermutigen, steht am Ende des Buches ein Beitrag, der diesen Aspekt behandelt: Der Physiker, Bildungsforscher und Design-Thinking-Coach Karl Hosang öffnet unseren Blick für eine erstaunliche Vielfalt an dafür geeigneten und bereits in der Praxis erprobten Verfahren und Vorgehensweisen.

Als Herausgeber danken wir allen Mitautorinnen und -autoren für ihre Beiträge, da erst durch sie dieses Buch seine geistige Stärke und Schönheit gewinnt. Ein ebenso herzlicher Dank gilt dem Verlag, vor allem Sandra Englisch und Ulrike Rastin, welche die Entstehung des Buches nicht nur mit präzisen Hinweisen, sondern auch mit spürbarer und uns ermutigender Neugier begleiteten.

Möge das Ergebnis Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, nicht nur neues Wissen, sondern auch ein Stück Begeisterung und Lust am mitgestaltenden Leben in der Metamoderne vermitteln.

Teil 1

Theoretische Grundlagen

Maik Hosang

Vorläufer, Gefühle und Dimensionen der Metamoderne

Die Entwicklungen, Herausforderungen und Krisen der Gegenwart – Digitalisierung, Internet, Künstliche Intelligenz, Klimawandel, Migrationsdruck, neue Kriege etc. – erzeugen bei vielen Menschen mehr oder weniger starke Verunsicherungen ihrer Situation, aber auch ihres Blickes in die Zukunft. Werden diese Krisen die Menschheit zurückwerfen in Zeiten von Not und Unfreiheit? Oder sind die Krisen eine Art von Geburtswehen des Übergangs in eine neue, nachhaltige und globale Menschheitskultur? Und wird beides, Aufbrüche ins Neue und Rückfälle, längere Zeit parallel laufen, bis irgendwann zukunftsfähige Stabilisierungen global gelingen?

Entstehen die Anfänge dieser möglichen Zukunft als neue Ideen und Strukturen in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur? Oder beginnen sie eher als experimentelle, teilweise sogar künstlerische Einstellungen und Gefühle, als neue Lebenspraktiken und Lebensqualitäten, aus denen sich erst später auch entsprechende nachhaltige Strukturen kristallisieren? Oder läuft auch hier beides parallel?

Diese Fragen zur künftigen Entwicklung können wir nicht beantworten, die Zukunft wird sie entscheiden. Doch um uns der Situation, ihrer Gefahren und Möglichkeiten bewusster zu werden und so vielleicht sogar individuell und zusammen mit anderen Einfluss auf die Entwicklung nehmen zu können, scheint es wichtig, sie zumindest zu stellen. Um ein differenzierteres Bild und mögliches Verständnis der Situation zu gewinnen, macht es Sinn, die in verschiedenen Kultur- und Wissenschaftskreisen laufenden Diskussionen dazu zu verfolgen. Denn darin deutet sich eine spannende Verständigung darüber an, welche neuen Entwicklungen möglich werden und wie wir diese verstehen, kommunizieren und mitbeeinflussen könnten.

Kulturen und Kultur generell sind wie ein sich ständig verändernder Fluss, ein permanentes Entstehen und Vergehen von Gesellschaften und deren Selbstreflexionen in Sprache, Kunst und Wissenschaften. Dennoch lassen sich darin größere Epochen und/oder Phasen voneinander abgrenzen und unterscheiden, die sich jeweils durch bestimmte kulturelle Muster (Meme, Symbole, Werte, Normen, alltags- und tiefenkulturelle Gewohnheiten, Techniken, Wirtschafts- und Sozialformen etc.) auszeichnen. Die gängige moderne Sozial- und Kulturwissenschaft bzw. -philosophie unterscheidet dabei meist drei in ihren kulturellen Mustern stark divergierende Epochen: Vormoderne, Moderne und Postmoderne. Seit einigen Jahren entwickelt sich mit Blick auf die Gegenwart und Zukunft jedoch eine weitere Differenzierung und entsprechende Begrifflichkeit: die Metamoderne.

Deutet sich damit eine neue Kultur und Epoche an? Wünschenswert wäre das, denn fast jeder denkfähige Mensch fragt sich, warum die lange Zeit prosperierenden Qualitäten der Moderne und dann Postmoderne gegenwärtig von einer Krise in die nächste geraten und kaum Potenzial für deren Lösung zu haben scheinen.

Der Kulturphilosoph Jean Gebser charakterisierte das Entstehen neuer Epochen vor allem dadurch, dass diese in der Lage sind, die defizienten Eigenschaften der bisherigen Epochen zu transzendieren und neue, komplexere und integrativere Qualitäten und Potenziale zu ermöglichen. Neue Kulturen, so auch die Metamoderne, sind anfangs kaum sichtbar, da die Bilder, Worte und sogar Wissenschaften von den Gewohnheiten bisheriger Kultur besetzt sind. Daher lohnt es sich, die Spuren des Neuen zu verfolgen und diese sichtbar zu machen. Die verzweigte und zuerst unabhängig voneinander sich ereignende Herausbildung der Anzeichen und des Begriffs der Metamoderne schildert Jonathan Rowson in seinem Beitrag in detaillierterer Form, daher erwähne ich hier nur einige prägnante Wegmarken und ergänze sie durch weitere Vorläufer.

Was ist die Metamoderne und wie und woraus entsteht sie?

Die Entwicklung der modernen Gesellschaft, die im Unterschied zur vormodernen Gesellschaft zahlreiche Bereiche des Lebens nach den Kriterien von Arbeitsteilung, Effizienz und Rationalität organisierte, war schon immer von zahlreichen Initiativen begleitet, die sich dieser Effizienzlogik entweder theoretisch widersetzten und/ oder praktisch zu entziehen versuchten. Die verschiedenen theoretischen Kritiken und deren Widersprüche und Grenzen sind sehr detailliert dargestellt bei Jürgen Habermas in seinem »Philosophischen Diskurs der Moderne« (Habermas, 1988). Aber auch verschiedenste praktische Handlungsansätze versuchten der Zersplitterung und Entfremdung des Menschen im modernen Getriebe unmittelbar ganzheitlichere Konzepte entgegenzusetzen. So gab es Sebastian Kneipps und zahlreiche weitere Impulse für naturverbundene Spiritualität und Gesundheit, etwa die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts nach dem Leipziger Arzt Daniel Gottlob Moritz Schreber benannte Gartenbewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstehende sog. Jugendbewegung – inklusive neuer Kunstformen wie dem Jugendstil – oder später der Kulturaufbruch der 68er-Bewegung. All die dabei aktiven Menschen verspürten Sehnsucht nach diesen oder jenen ganzheitlicherfüllteren Formen des Lebens und Arbeitens, der Kunst und Kultur; und sie folgten dieser Sehnsucht auf diese oder jene Weise. Da damals jedoch die progressiven wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungspotenziale der Moderne noch nicht ausgeschöpft waren, blieben es letztlich Randerscheinungen verschiedener Bereiche, die keinen gemeinsamen Nenner oder Fokus zu haben schienen.

Das scheint sich aktuell jedoch zu ändern, und ein gemeinsamer Nenner entsteht. In ihrem 2010 erschienenen Aufsatz »Notes On Metamodernism« im Journal of Aesthetics & Culture und als eigenes Buch auch in Deutsch 2014 erschienen, schlugen die Kulturtheoretiker Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker die Kategorie der Metamoderne als übergreifende Kategorie für verschiedene Tendenzen vor, die sowohl über die Kennzeichen der Moderne als auch der Postmoderne hinausgehen (Vermeulen u. van den Akker, 2010; 2014).

Sie entdeckten diese neuen Tendenzen und Qualitäten zuerst in der Kunst, insbesondere in neoromantischen Arbeiten junger Künstler. Diese »metamoderne Sensibilität« beschrieben sie unter anderem als eine Art »informierter Naivität« und als »pragmatischen Idealismus« und verstanden diese auch als kulturelle Reaktionen auf die jüngsten globalen Entwicklungen und Ereignisse, wie den Klimawandel, die politische Instabilität und die digitale Revolution.

Das Präfix »meta« beziehen sie dabei bewusst auf Platons Begriff der Metaxie, der eine Bewegung zwischen entgegengesetzten Polen und darüber hinaus bezeichnet. Jonathan Rowson differenziert diese für ein möglichst konkretes und umfassendes Verständnis der Metamoderne wichtige Begriffsbedeutung in seinem Beitrag weiter und beschreibt es als das kulturelle Dazwischen, das gesellschaftliche bzw. politische Danach und das mystische bzw. transzendente Darüberhinaus.

Rowson beginnt und endet seinen Buchbeitrag mit der bedenkenswerten These, dass die Metamoderne auch und vor allem ein neues Gefühl, ja sogar »eine neue, ganzheitlichere Struktur des Fühlens« sei. Und diese neue Struktur des Fühlens sei »wichtig, weil sie den Strukturen des Denkens und der Gesellschaft sowie den Bereichen des Politischen und des Epistemologischen vorgelagert ist«.

Um die hier unten weiter ausgeführten Qualitäten der Metamoderne, aber auch deren Zusammenhang mit dieser neuen Struktur des Fühlens zu verstehen, ist es hilfreich, das sog. »Eisbergmodell von Kultur« (2023) aufzugreifen. Dieses zeigt uns, dass ein Großteil der uns alltäglich umgebenden Kulturgüter wie Sprachen und Künste, aber auch Bau- und Kommunikationsstile, Moden und Techniken mit dem zu vergleichen ist, was die über dem Wasser sichtbare Seite eines Eisbergs ausmacht. Der größere Teil eines Eisbergs liegt jedoch unterhalb der Wasseroberfläche und ähnlich ist es mit der Kultur. Diese uns im Alltag weitgehend unbewusste und so unsichtbare Seite von Kultur besteht aus Gefühls-, Denk- und Handlungsgewohnheiten sowie diesen entsprechenden Codes, Normen und Werten.

Bereits Max Weber, einer der Begründer der Kultursoziologie, erkannte, dass Werte wenig bewusst sind, sondern aus der Tiefe des Gefühls kommen. Aber er hatte seinerzeit wenig Hoffnung für eine rationale Verständigung darüber (Weber, 1904–05/1988, S. 150 ff.). Auch ein späterer, ähnlich einflussreicher Soziologe, der Vordenker der sozialen Systemtheorien, Talcott Parsons, formulierte 1977 die Vermutung, dass Gefühle zentrale Austauschmedien in gesellschaftlichen Systemen sind und in ihrer Bedeutung für die Organisation von Handlungen in modernen Gesellschaften an die Stelle der traditionellen sozialen Schichtung getreten sind (nach Baecker, 2004, S. 5 ff.). Und Umberto Maturana, ebenfalls ein systemischer und fachübergreifender Denker, formulierte es 1993 wie folgt: »In der Geschichte des Ursprungs der Menschheit gehen Emotionen der Sprache voraus […]. Kultur begann, als Sprache, als die Form des Zusammenlebens in konsensuellen Koordinationen von Koordinationen von Handlungen und Emotionen Teil der Lebensweise wurde […]. Es sind unsere Emotionen, die die Handlungsbereiche konstituieren, die wir in unseren verschiedenen Konversationen leben, in denen dann Naturschätze, Notwendigkeiten und Möglichkeiten in Erscheinung treten« (Maturana, 1993, S. 21 f.).

Andere in der Kulturwissenschaft entwickelten Begriffe, um diese eher verborgenen, doch für Veränderungen bedeutsamen Dimensionen von Kulturen auszudrücken, sind Tiefenideologie oder Tiefenkultur (Galtung, 1991). Ähnlich wie das Eisbergmodell der Kultur drücken diese aus, dass entscheidende Qualitäten von Kulturen an der Oberfläche des alltäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens kaum wahrgenommen und reflektiert werden. Da dies keine Theorieabhandlung werden soll, gehen wir darauf nicht weiter ein. Diese Begriffe können jedoch mithelfen zu verstehen, dass grundlegende Veränderungen bzw. Transformationen von Kulturen und Gesellschaften zwar mit neuen Techniken und Begriffen, Moden und Kunstformen verbunden sind, dass die Stabilisierung einer neuen kulturellen Epoche aber immer auch mit der Herausbildung und Etablierung neuer Gefühle, Einstellungen, Normen und Werte einhergeht (Fränzle, Hosang u. Markert, 2005).

Max Weber untersuchte dies für die Herausbildung der Moderne und beschrieb es sehr eindrucksvoll in seiner Schrift »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« (Weber, 1904– 05/1996). Anhand zahlreicher konkreter Studien zeigt er darin, dass die moderne Industriegesellschaft nicht allein das Ergebnis von neuen Technologien – wie Buchdruck, Dampfmaschine, Webmaschine etc. – war, sondern zu ihrer Durchsetzung auch neue Gefühls- und Wertestrukturen brauchte. Viele dieser Technologien waren ansatzweise auch bereits früher in China entdeckt worden, führten dort jedoch nicht zur Herausbildung der Moderne. Dazu brauchte es noch die von Weber kurz als »protestantische Ethik« bezeichneten Emotions- und Motivationskomplexe. Er beschreibt sehr eindrucksvoll, wie diese Sublimationen christlicher Sinnstrukturen in ursprünglich vor allem protestantischen Gegenden die besonders erfolgsorientierten rationalen Handlungs- und Unternehmensqualitäten hervorbrachten, die moderne Industriegesellschaften von vormodernen Alltagswelten unterscheiden.

Mit aller Deutlichkeit charakterisierten zuerst Vermeulen und van den Akker (siehe oben) und in deren Folge zahlreiche weitere Forscher die Metamoderne als eine kulturelle Entwicklung, die nach der Moderne und der auf diese folgende Postmoderne kommt und Qualitäten beider auf neue Weise integriert. Daher ist es für das Verständnis der Metamoderne hilfreich, auch die Moderne und die Postmoderne kurz zu betrachten. Die folgenden Ausführungen wurden unter anderem inspiriert durch die Entstehung der Metamoderne reflektierende Werke von Lene Rachel Anderson (2019), Daniel Görtz et al. (2021) sowie Jonathan Rowson und Pascal Layman (2021).

Die Herausbildung der Moderne wurde anhand von Max Webers Werk »Die protestantische Ethik« schon kurz beschrieben. Davon ausgehend können wir sie als eine gesellschaftliche Epoche verstehen, die sich durch bestimmte kulturelle Gefühle, Werte und Codes sowie durch damit verbundene Weltsichten, Techniken, wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen organisiert. Die Moderne entstand im Zuge der Aufklärung, Industrialisierung und Demokratisierung und zeichnet sich durch Werte wie Wissenschaft und Vernunft, Fortschritt, Freiheit und universelle Menschenrechte aus.

Die Menschheit verdankt der Moderne viele Errungenschaften: allgemeine Bildung, moderne Medizin und Technologie, aber auch Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit und Versammlungsfreiheit. Sie befreite das menschliche Individuum aus vormodernen Abhängigkeiten geistiger oder politischer Art und ermutigte dazu, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. In den von modernen Werten regierten Nationen gibt es gleiche Rechte und zumindest potenziell auch gleiche Entwicklungschancen für alle, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Religion. All dies ist zu bewahren und möglichst allen Menschen zugänglich zu machen.

Für die Herausbildung des Begriffs und Selbstbewusstseins der Metamoderne ist eine Erkenntnis von Jürgen Habermas interessant, der in seinem »Philosophischen Diskurs der Moderne« darstellt, dass auch die Moderne sich zuerst im Vergleich zur Vormoderne neuen kulturellen, künstlerischen und ästhetischen Entwicklungen selbst erkannte. So schreibt er: »Das erklärt, warum die Ausdrücke ›Moderne‹ und ›Modernität‹ bis heute eine ästhetische Kernbedeutung behalten haben, die durch das Selbstverständnis der avantgardistischen Kunst geprägt ist« (Habermas, 1988, S. 8).

Im Laufe ihres über 300 Jahre andauernden Bestehens durchlief die Moderne verschiedene Phasen. Ihre Blütezeit erlebte sie im 20. Jahrhundert bis zur Mitte der siebziger Jahre. Durch sensible Wahrnehmung bestimmter ökologischer, sozialer und seelischer Problemfelder, die trotz der Wirtschaftswunder westlicher Industriegesellschaften nicht verschwanden, verdichteten sich seitdem zunehmend auch kritische Reflexionen der Moderne. Diese wurden zuerst von französischen Kulturwissenschaftlern formuliert, die der sich daraus formierenden geistig-kulturellen Bewegung auch ihren Namen gaben. Besonders einflussreich dabei war Jean-François Lyotard mit seiner 1979 erschienenen Schrift »Das Postmoderne Wissen«.

Der skeptische Blick der Postmodernisten relativiert den Fortschritts- und Erkenntnisglauben der Moderne in mehrfacher Hinsicht. Sie zeigen, dass Wissen immer kontextbezogen ist und daher sog. Wahrheiten immer auch hinsichtlich der diese erzeugenden und interpretierenden Machtgefüge zu hinterfragen sind. Vor allem Michel Foucault untersuchte diese Verquickungen von Wissen und Macht und kommt in seinen kulturgeschichtlichen Untersuchungen zur Schlussfolgerung, dass es darauf ankommt, zu »begreifen, dass die Macht nicht im Staatsapparat lokalisiert ist und dass nichts in einer Gesellschaft verändert sein wird, wenn die Machtmechanismen, die außerhalb der Staatsapparate, unter ihnen, daneben, auf einem sehr viel niedrigeren, alltäglichen Niveau funktionieren, nicht verändert werden« (Foucault, 1976, S. 95).

Ähnlich fasst es der bereits oben mit seinen Erkenntnissen zur kulturellen Bedeutung von Emotionen und Gefühlen zitierte Umberto Maturana: »Unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten bestehen nicht, weil wir nicht über ausreichendes Wissen verfügen oder weil es uns an technischen Fähigkeiten mangelt; unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten sind das Ergebnis eines Mangels an Sensitivität […], eines Verlustes, den wir erleiden durch unser Eingebundensein in die Konversationen der Inbesitznahme, der Macht, der Kontrolle über das Leben und über die Natur, die unsere patriarchale Kultur bestimmen« (Maturana, 1993, S. 21 f.).

Um diese Verquickung von Wissen und Macht aufzulösen, fordert die Postmoderne die Ankerkennung einer Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander bestehender Perspektiven und eine ironische bis skeptische Distanz gegenüber Wahrheitsansprüchen aller Art. Die Postmoderne hält den unter der Wasserfläche des Eisbergs der modernen Kultur verborgenen tiefenideologischen Selbstverständlichkeiten der Moderne den Spiegel vor. Sie ermöglicht es, deren unbewusst-selbstverständlichen Gefühle, Normen und Vorstellungswelten sowie verborgenen Machtstrukturen zu sehen.

Diese modernekritischen Positionen der Postmoderne ergeben jedoch ihrerseits neue Vereinseitigungen wie Relativismus, Beliebigkeit und Skeptizismus. Die berechtigte Ablehnung von unbewussten oder verdrängten Machthierarchien verleitet leicht dazu, auch sinnvolle Kompetenz- und Wertehierarchien abzulehnen. Und die Betonung der Kontextbezogenheit allen Wissens und Sprechens gerät schnell zu sinnleerer Beliebigkeit allen Denkens und Tuns.

Die Metamoderne kann als kulturelle Bewegung verstanden werden, die sowohl die genannten Schwächen der Moderne als auch der Postmoderne reflektiert. Sie integriert und transzendiert Moderne und Postmoderne und verbindet beide zugleich auf reflektierte Weise mit bestimmten Qualitäten der Vormoderne, von denen sich die Moderne im Zuge ihrer Befreiungskämpfe erst einmal distanzieren musste: Werte wie Gemeinschaftlichkeit und Transzendenz. Im Folgenden zur Verdeutlichung noch einige Beispiele dafür, wie sich bestimmte Einseitigkeiten der vorherigen Epochen in der Metamoderne verbinden könnten:

–Die Moderne glaubt an den Fortschritt, die Vernunft und die Objektivität. Die Postmoderne zweifelt an diesen Idealen und betont die Relativität, die Vielfalt und die Ironie. Die Metamoderne schwingt zwischen diesen Polen hin und her und sucht nach einer Synthese, die beide Perspektiven berücksichtigt.

–Die Moderne strebt nach einer universellen Wahrheit, die für alle gültig ist. Die Postmoderne lehnt diese Möglichkeit ab und akzeptiert nur lokale, kontextuelle und konstruierte Wahrheiten. Die Metamoderne versucht, eine neue Form von Wahrheit zu finden, die sowohl absolut als auch relativ ist, indem sie sich auf das Erleben, das Empfinden und das Mitfühlen stützt.

–Die Moderne vertraut auf die großen Erzählungen der Geschichte, der Politik und der Kunst. Die Postmoderne dekonstruiert diese Erzählungen und zeigt ihre Widersprüche, Brüche und Machtverhältnisse auf. Die Metamoderne erfindet neue Erzählungen, die sich ihrer eigenen Fiktionalität bewusst sind, aber dennoch eine Bedeutung und einen Sinn stiften wollen.

Aus der Verbindung von vormodernen, modernen und postmodernen Qualitäten entstehen auch neue, teilweise paradoxe Sprachcodes wie ironische Ernsthaftigkeit, pragmatischer Idealismus, informierte Naivität und magischer Realismus. Da diese für unsere an modernen und postmodernen Codes geschulte Gedanken und Gefühle noch ungewohnt sind, im Folgenden einige Beispiele dafür:

–Ironische Ernsthaftigkeit: Zum Beispiel eine Diskussion über Sinnfragen, bei der die Teilnehmenden sowohl ernsthafte Fragen zur Bedeutung des Lebens stellen als auch humorvolle Anspielungen auf spirituelle Themen machen.

–Pragmatischer Idealismus: Wenn Menschen sich für soziale oder politische Veränderungen einsetzen, indem sie pragmatische Ansätze wählen, die auf idealistischen Werten basieren. Dies könnte eine Gruppe sein, die nachhaltige Lebensstile fördert, indem sie konkrete Schritte zur Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks realisiert und weiterempfiehlt.

–Informierte Naivität: Ein Beispiel für informierte Naivität könnte eine Kunstausstellung sein, die auf den ersten Blick naiv und einfach erscheint, aber bei genauerem Betrachten komplexe soziale oder philosophische Botschaften enthüllt.

–Magischer Realismus: Wenn in literarischen Werken oder Filmen fantastische Elemente in realistische Settings eingebettet werden, um metaphorische oder allegorische Bedeutungen zu transportieren. Ein Beispiel wäre ein Roman, in dem Menschen in einer alltäglichen Welt mit magischen Ereignissen konfrontiert werden, die symbolisch für psychologische Konflikte stehen.

Im Unterschied zur Skepsis und Beliebigkeit der Postmoderne erkennt und akzeptiert die Metamoderne auf eine neue, reflektierte und machtfreie Weise Qualitäten wie Fortschritt, Humanismus, Liebe, Träume und Visionen. Donella Meadows, Jorgen Randers und Dennis Meadows (2004) kommen in ihren Untersuchungen über die Grenzen des modernen Wachstums zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Da ihre Worte ein sehr schönes Beispiel für frühe Vordenker der Metamoderne (ihre erste Veröffentlichung zu den »Grenzen des Wachstums« ist ja 1972 erschienen) darstellen, zitieren wir sie hier etwas ausführlicher: »In unserer Suche nach Wegen zur Ermutigung friedlicher Veränderungen eines Systems, das sich seiner eigenen Transformation ganz natürlich widersetzt, haben wir viele Mittel ausprobiert. Die offensichtlichsten haben wir ausgeführt – rationale Analyse, Datensammlung, Systemdenken, Computermodellierung und klare Worte. Dies sind die Mittel, die alle, die in Wissenschaft und Ökonomik ausgebildet sind, automatisch begreifen. Sie sind nützlich, notwendig, aber nicht ausreichend.

Wir wissen nicht, was ausreichend sein wird. Aber unsere Schlussfolgerung kommt zu anderen Mitteln, die unserer Erfahrung nach nicht optional, sondern essenziell sind für jede Gesellschaft, die langfristig zu überleben hofft. Diese werden oft als zu ›unwissenschaftlich‹ betrachtet und daher in der zynischen öffentlichen Arena nicht ernst genommen. Es sind: Visionsbildung und Vernetzung, Wahrheitserzählung, Lernen und Lieben.

In der industriellen Kultur ist es nicht erlaubt, über Liebe zu sprechen, außer im romantischen und trivialen Sinn. Jeder, der über die Fähigkeit der Menschen spricht, praktische Bruder- und Schwesterliebe zu praktizieren, Liebe der Menschheit als Ganzes und unseres Planeten, wird eher verspottet als ernst genommen […].

Individualismus und kurzsichtige Interessen sind die größten Probleme der gegenwärtigen Gesellschaften und die tiefste Ursache ihrer Nichtnachhaltigkeit. Liebe und Mitgefühl, in sozialen Formen institutionalisiert, sind die bessere Lösung. Eine Kultur, die an diese besseren menschlichen Qualitäten nicht glaubt, diese nicht diskutiert und entwickelt, leidet an einer tragischen Begrenzung ihrer Möglichkeiten […]. Die nachhaltigen Transformationen werden vor allem solche sein, welche die besten Seiten der menschlichen Natur, eher als die schlechtesten, ausdrücken und hegen […]. Die Menschheit kann bei ihrem Abenteuer der Verringerung des menschlichen Fußabdrucks auf ein nachhaltiges Niveau nicht erfolgreich sein ohne einen Geist globaler Partnerschaft. Der Kollaps kann nicht vermieden werden, wenn die Menschen nicht lernen, sich selbst und die anderen als Teil einer integrierten globalen Gesellschaft zu sehen. Beides erfordert Mitgefühl, nicht nur mit dem Hier und Jetzt, sondern auch mit den Fernen und Zukünftigen. Die Menschheit muss lernen, die Idee eines lebendigen Planeten für zukünftige Generationen zu lieben« (Meadows, Randers u. Meadows, 2004, S. 269 ff.; Übers. M. H.).

In welchen Bereichen entwickelt sich die Metamoderne?

In diesem Abschnitt stütze ich mich unter anderem auf Ausführungen von Daniel Görtz et al. (2021) und Hanzi Freinacht (2021), die meines Wissens erstmals versuchen, den Begriff und die Qualitäten der Metamoderne in verschiedenen Dimensionen und Bereichen von Kultur und Gesellschaft zu identifizieren und zu beschreiben. Wir wählen einige davon aus und ergänzen diese um weitere Bereiche. Dabei wird jeweils auf zahlreiche weitere Forscher und Autoren verwiesen, die zur besseren Lesbarkeit des Textes jedoch nur kurz genannt und nicht weiter zitiert werden. Wer mehr über deren jeweilige Konzepte erfahren will, kann im Internet reichlich fündig werden.

1. Metamoderne in Kultur und Kunst

Nicht selten sind es Künstlerinnen und Künstler, die früher als andere Berufsgruppen neue Trends erspüren und dafür Ausdrucksformen suchen und hervorbringen. Auch die Metamoderne wurde wahrscheinlich am vielfältigsten zuerst hier gesucht, erspürt und ausgedrückt: in bildender Kunst, Theater, Architektur, Literatur, Musik, Film usw. Daher konnten die Kulturwissenschaftler Vermeulen und van den Akker (siehe oben) zuerst in der Kunst neue Qualitäten identifizieren, welche die spielerische Freiheit und Formoffenheit der Postmoderne bewahren, doch deren Ironie und Zynismus durch einen neuen Ernst und tiefere Wertbezüge wieder auflösen. Beispiele metamoderner Kunst:

–Metamoderne Qualitäten finden sich z. B. bei Laurie Anderson, einer experimentellen Künstlerin, die Musik, Performance, Multimedia und Technologie miteinander verschmilzt. Ihre Werke sind oft reflexiv und kombinieren persönliche Erzählungen mit philosophischen Anliegen. Ihre kreative Freiheit und ihr Spiel mit verschiedenen Medien spiegeln die metamoderne Offenheit für diverse Ausdrucksformen wider.

–Die Künstlerin Anohni nutzt ihre Musik, um Themen wie soziale Gerechtigkeit, Umweltprobleme und menschliche Identität anzusprechen. Ihre Texte verbinden emotionale Intensität mit einem bewussten politischen Ansatz. Dieser pragmatische Idealismus und die Fähigkeit, persönliche Empfindungen mit globalen Anliegen zu verknüpfen, sind metamoderne Qualitäten.

–Jenny Holzers Werke, oft in Form von LED-Installationen oder Projektionen, verbinden politische Botschaften mit ästhetischem Ausdruck. Auch darin zeigt sich die metamoderne Tendenz zur Verbindung von tieferen Inhalten mit spielerischer künstlerischer Form.

–Als einer der prägnantesten Vertreter metamoderner Kunst gilt Olafur Eliasson, der durch Formoffenheit und Verbindung vielfältiger Genres – Skulptur, Musik, Film, Licht, Tanz und Performance – seine Werke zu Fühlern und Inspiratoren für Ökologie und Transzendenz werden lässt (Eliassion, o. J.). Seine Kunst geht über die rein ästhetische Ebene hinaus und lädt die Betrachtenden dazu ein, über tiefere Bedeutungen nachzudenken. Eliassion hat dabei ein ganzes Künstlerteam um sich.

–Noch deutlicher wird die co-kreative metamoderne Kunst beim »teamLab«, einem internationalen Kunstkollektiv, dessen gemeinsame Praxis darauf abzielt, den Zusammenfluss von Kunst, Wissenschaft, Technologie und der natürlichen Welt ästhetisch und interaktiv zu gestalten. Ihre Kunst, die sie auch »FutureWorld« nennen, soll die Beziehungen zwischen dem menschlichen Selbst und der Welt sowie neue Formen der Wahrnehmung erforschen: https://www.teamlab.art/e/artsciencemuseum/

Viele weitere Beispiele finden sich auf https://whatismetamodern.com (o. J.), einer mehrere Genres umfassenden Sammlungs- und Übersichtsplattform zu Projekten und Werken metamoderner Kunst.

2. Metamoderne als gesellschaftliche Epoche

Es gibt verschiedene Konzepte dafür, um Epochen oder Entwicklungsstufen der Menschheitsgeschichte zu betrachten und zu unterscheiden. Einige dieser Konzepte, wie das von Oswald Spengler (»Der Untergang des Abendlandes«) und etwas flexibler auch das von Arnold Toynbee (»Der Gang der Weltgeschichte«), betrachten die Geschichte vor allem als Auf und Ab, als Entstehen, Aufstieg und Vergehen von verschiedenen Kulturen. Andere sehen zwar auch das Entstehen und Vergehen von Kulturen, erkennen darin jedoch auch eine zumindest tendenzielle Weiterentwicklung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, technischen Errungenschaften, sozialen Strukturen und humanen Kompetenzen. Dazu gehören die Konzepte von Johann Gottlieb Fichte, Karl Marx, Max Scheler und Jürgen Habermas. Wenn wir jedoch vom weiter oben ausgeführten Eisbergmodell von Kultur ausgehen, treten einige im 20. Jahrhundert entstandene komplexere Geschichts- und Entwicklungskonzepte in den Blickpunkt, die im äußeren Auf und Ab von Gesellschaften eine tendenzielle Verstärkung und Bewusstwerdung von kulturellen Kernkompetenzen, Grundwerten und -gefühlen erkennen. Dazu gehören insbesondere das bereits erwähnte Konzept des Kulturphilosophen Jean Gebser und die daran und an Erkenntnisse des Sozialpsychologen Clare Graves anschließenden Kompetenz- und Wertentwicklungsmodelle von Individuen, Organisationen und Gesellschaften, die oft als »Spiral Dynamics« oder »integrales Entwicklungsmodell« bezeichnet werden.

Vor dem Hintergrund des vorigen Kapitels lässt sich dies wie folgt verdichten: Seit ca. 400 Jahren entwickelten sich die im Vergleich zur Vormoderne in vieler Hinsicht befreienden tiefenkulturellen Grundwerte, gesellschaftlichen Gefühle, technischen Errungenschaften und kulturellen Codes der Moderne. Darin inkludierte unbewusste Vereinseitigungen, emotionale Verdrängungen und ökonomischpolitische Machtverquickungen bewirkten jedoch neue Entwicklungsblockaden bis hin zu neuen, modernen Kriegen (Vietnamkrieg). Ausgelöst von Kriegsprotesten und inspiriert von kritischen Kulturphilosophen wie Herbert Marcuse (»Der eindimensionale Mensch«), Erich Fromm (»Haben oder Sein«), Michel Foucault (»Sexualität und Wahrheit«) und anderen entstanden seit ca. siebzig Jahren die bereits dargestellten modernekritischen Ideen, ironischen Gefühle und kulturellen Codes der Postmoderne. Da diese stark an einer Kritik der Moderne orientiert waren und zu überbordender Ironie, Beliebigkeit und Sinnleere tendieren, sind sie unzureichend für die Entwicklung und Etablierung wirklich neuer, ermutigender, in den heutigen Krisen Hoffnung gebender Werte, Gefühle, Ideen und Taten. Die sich seit ca. zehn Jahren entwickelnden neuen Codes, Werte, Gefühle und Ideen der Metamoderne könnten daher der Beginn einer neuen Kultur- und Gesellschaftsepoche sein.

3. Metamoderne als Bewusstseins- und Persönlichkeitsentwicklung

Verschiedenen Entwicklungspsychologinnen und -psychologen (Erik Erikson, Jean Piaget, Clare Graves, Jane Loevinger, Susanne Cook-Greuter u. a.) erkannten und erforschten, dass menschliche Individuen verschiedene Stadien ihrer kognitiven, moralischen, emotionalen und existenziellen Kompetenzen durchlaufen. Dabei entwickeln Menschen als Kinder zunächst präverbale, dann konkrete und relativ einfache Denkweisen, schließlich als Erwachsene abstraktere und konventionellere Denk- und Beziehungsweisen und oft später auch postkonventionelle und integrierte Denk-, Beziehungs- und Kompetenzformen.

Wie Udo Boessmann in seinem Beitrag ausführt, können diese höheren (wertfrei betrachtet) und komplexeren psychischen Kompetenzen auch als Metakognition bezeichnet werden, da sie uns befähigen, unsere weniger integrierten psychischen Funktionen von einer Art innerer Metaebene aus zu betrachten und zu organisieren. Dazu zählt er unter anderem:

–die Beobachtung und Steuerung unser eigenen Gedächtnis-, Denk- und Lernvorgänge;

–die Fähigkeit zu zweifeln, uns selbst und unsere Erfolge und Misserfolge zu reflektieren sowie Prioritäten setzen zu können;

–eine selbstkritische und selbstverantwortliche Haltung gegenüber unserer Willensfreiheit;

–die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz;

–die Fähigkeit, zwischen unserer eigenen Perspektive und fremden Perspektiven hin und her zu wechseln;

–die Fähigkeit, andere empathisch und zugleich realistisch wahrzunehmen.

Diese Fähigkeiten, nicht nur die Außenwelt wahrzunehmen, sondern auch die eigenen inneren Prozesse und die anderer Menschen zu reflektieren und aus dieser integrierten Perspektive auch mehr oder weniger bewusst mitsteuern zu können, werden von Boessmann und anderen Bewusstseinsforschern als Herausbildung eines Metabewusstseins gedeutet.

Aus der Perspektive einer metamodernen Gesellschaftstheorie, die gesellschaftliche Entwicklung als Wechselwirkung individueller, interindividueller und gesellschaftsstruktureller Bedingungsgefüge versteht, kann ein solches Metabewusstsein als entscheidendes subjektives Potenzial für metamoderne gesellschaftliche Entwicklungen verstanden werden. Denn daraus ergeben sich Impulse für einen weiteren Bereich der Metamoderne:

4. Metamoderne als soziales und politisches Projekt

Metamodern orientierte Menschen verstehen die eigene innere Entwicklung auch als Grundlage für soziale und politische Projekte, Innovationen und Transformationen. Und diese wiederum als Chance, um in der Moderne und Postmoderne ungelöste soziale und ökologische Probleme anzugehen und vielleicht lösbar werden zu lassen. Dabei geht es auch darum, co-kreative Brücken zwischen solche Lösungen bisher blockierende Gegensätze verschiedener politischer Lager zu entwickeln: zwischen links und rechts, zwischen Traditionalisten und Progressiven, zwischen ökologischen und wirtschaftsliberalen Parteien.

Im Buch »The Listening Society: A Metamodern Guide to Politics« umreißt Hanzi Freinacht Ideen für eine der entstehenden globalen, digitalisierten und nachhaltigen Gesellschaft entsprechende Politik. Persönliche Entwicklung und psychologisches Wachstum ist aus seiner Sicht entscheidend für eine künftige Gesellschaft, die »sozial kompetenter, emotional intelligenter und existenziell reifer« als die gegenwärtige sein wird. In so einer Gesellschaft wird jeder Mensch gesehen und gehört werden. Dazu braucht es ein parteiübergreifendes politisches Denken und Handeln, welche voreingenommene Meinungen und emotional ausartende Ego-Probleme in Schach hält und darauf abzielt, das allgemeine Klima des politischen Diskurses zu verbessern. »Ich entwickle mich, wenn du dich entwickelst. Auch wenn wir anderer Meinung sind, kommen wir der Wahrheit näher, wenn wir bessere Dialoge führen und die Standards für den Umgang miteinander erhöhen« (Freinacht, 2017, S. 12; Übers. M. H.).

Wenn metamoderne Entwicklungen im Unterschied zu modernen immer auch integrativer bzw. ganzheitlicher gedacht und realisiert werden, dann sind soziale und politische Innovationen nicht ohne diese ergänzenden wirtschaftlichen Innovationen denkbar.

5. Metamoderne als wirtschaftliche Innovation

In Anlehnung an die unter 2. kurz umrissenen soziokulturellen Entwicklungstheorien veröffentlichte der Organisationsforscher Frederic Laloux (2014) sein weltweit viel beachtetes Werk »Reinventing Organizations« über und für Unternehmen, die über moderne und postmoderne Organisationsformen hinausgehen. Darin untersucht und beschreibt er bei ihren Mitarbeiter:innen und Kund:innen außergewöhnlich beliebte und auch wirtschaftlich sehr erfolgreiche Unternehmen aus verschiedensten Branchen: Automobilzulieferer, Energieversorgung, Nahrungsmittelsektor, Software, Bildung, Gesundheit und Pflege.

Der Begriff der Metamoderne war damals noch nicht etabliert, aber die von ihm identifizierten neuen Qualitäten dieser Unternehmen weisen deutlich in metamoderne Richtungen. Er erkennt und beschreibt insbesondere drei neue Organisationsprinzipien: Selbstführung, Suche nach Ganzheit und Orientierung an einem evolutionären Sinn (Laloux, 2014, S. 53 ff.).

Durch Selbstführung werden Entscheidungen nicht nur von wenigen Manager:innen getroffen, sondern von vielen Mitarbeiter:innen, die in ihren jeweiligen Aufgabenbereichen die konkreten Herausforderungen sachgerechter erspüren und lösen können. Zugleich wachsen dabei ihre Selbstkompetenz und ihr Selbstvertrauen und damit die Produktivität des Ganzen.

Bei der Ganzheit geht es darum, möglichst die gesamte Tätigkeit, die Arbeitsplätze und auch das Arbeitsumfeld der Organisation so zu gestalten, dass Menschen sich dabei wohlfühlen, ihre Potenziale entfalten und möglichst viel von sich selbst in ihre Arbeit einbringen können.

Auch durch die Erweiterung der Unternehmensziele über Effektivitäts- und Profitorientierung hinaus auf einen evolutionären Sinn entstehen neue Kraftquellen. Die Sehnsucht nach einer Arbeit, die in der Welt eine sinnvolle Aufgabe erfüllt, spüren viele Menschen tief in sich. Bietet ihre Organisation ihnen die Chance, diese Sehnsucht zu aktivieren, fühlen sich die beteiligten Menschen verbunden mit der größeren Energie der Evolution und sind leichter in der Lage, ihre eigene Kreativität, Weisheit und Lebenskraft zu entfalten.

An Laloux’ Forschungen anknüpfend, entwickelte ein internationales Netzwerk von Unternehmern und Unternehmensberatern die »Reinventing Organizations Map«1: Das ist eine webbasierte Bildungsplattform mit interaktiven Elementen, um Organisationen in aller Welt zu unterstützen, sich der Menschen, die dort arbeiten, ihrer Kunden und der Umgebung, in der sie arbeiten, in all den oben genannten Dimensionen bewusster zu werden und diese Werte in ihren eigenen Strukturen zu verwirklichen.

Wenn infolge dessen technische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Innovationen in immer mehr Bereichen nicht mehr als getrennte, sondern als einander notwendig ergänzende Facetten nachhaltiger Transformationsprozesse verstanden, gefördert und entwickelt werden, könnten die gegenwärtigen düsteren Wolken von globalen Wirtschafts- und Gerechtigkeitsungleichgewichten und Umweltzerstörungen tendenziell einer in friedlichen metamodernen Entwicklungswettbewerben blühenden globalen Menschheit weichen. Aber dafür braucht es noch einer weiteren Dimension der Metamoderne, die zuletzt in den neuen Organisationswerten »Ganzheit« und »evolutionärer Sinn« bereits durchklang.

6. Transzendenz und co-kreativer Flow

In seinem Beitrag beschreibt Johannes Schmidt, dass viele Menschen mehr denn je nach neuen, freieren und intimeren Formen und Erfahrungen dafür suchen, mit sich selbst, den Mitmenschen, dem Leben, der Umwelt und letztlich dem Weltganzen auf eine tiefe und umfassende Weise verbunden zu sein. Damit berührt er dieselbe Thematik, die Frederic Laloux als neue Orientierungssuche nach unserem evolutionären Sinn umreist.

In vormodernen Jahrhunderten wurde dieses Bedürfnis durch die verschiedenen Religionen abgedeckt. Da damit oft auch politische und persönliche Vermachtungen verbunden waren, befreite sich die Moderne im Zuge der Aufklärung davon und sublimierte diese Sinnenergien in vorwiegend materielles Erfolgsstreben (Weber, 1904– 05/1996). Die damit in der individuellen Psyche oft hinterlassene seelische Leere der Moderne konnte auch die Skepsis und Ironie der Postmoderne nicht füllen. Im Gegenteil: Die postmodernen Auflösungen jeglicher großen Erzählungen und Wertbegründungen verstärkten die moderne Sinnleere eher noch. Und öffneten aber zugleich neue äußere und innere Freiräume dafür, auf vielfältige, unverkrampfte und pragmatische Weise auch spirituelle Themen und Fragen ganz individuell auszuprobieren.

Der Soziologie Hartmut Rosa thematisiert diese widersprüchliche Situation in seinem Buch »Demokratie braucht Religion« (2022) und zeigt darin auf, dass klassische Religionen wie Judentum, Christentum, Hinduismus, Buddhismus, Islam ein vertikales Resonanzbedürfnis des Menschen abdecken. Sie verbinden den Menschen mit einem – als so oder so benannten – beseelten Kosmos, der im Unterschied zum Universum der modernen Naturwissenschaft nicht schweigend, gleichgültig, kalt oder feindlich, sondern eher zuhörend und im besten Fall sogar liebevoll antwortend gestimmt ist.

Aufgrund der bereits ausgeführten vormodernen Vermachtungen und Verdrängungen klassischer Religionen suchen ihrer-selbst-bewusste Menschen jedoch neue Sinnlösungen. Diese zeichnen sich aus durch undogmatische Organisation, lebensnahe Kommunikation, tiefe Einsichten, berührende Gefühle, schöpferische Kreativität und Offenheit für moderne Wissenschaften.

Wie viele Erkenntnisse moderner Wissenschaften auf die Existenz eines im Detail bisher kaum erforschten universellen Feldes subtiler Energie hinweisen, hat die Wissenschaftsjournalistin Lynne McTaggart in ihrem Buch »Das Nullpunktfeld« (2007) zusammengetragen. Ausgehend von Pionieren der Quantenphysik wie Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg, Niels Bohr und Wolfgang Pauli wurden in den letzten Jahrzehnten insbesondere in den Randbereichen der Physik, Biologie und Medizin erstaunliche Erkenntnisse über die vielfältigen Wechselwirkungen unserer Gedanken, Gefühle und Intentionen mit diesem universellen Feld gesammelt.

In diesem Buch, das auch ihre eigene Entdeckungsreise in diese neuen Wissenschaftsbereiche sehr lebendig schildert, achtet McTaggart deutlich darauf, diese von esoterischen Interpretationen und Beliebigkeiten abzugrenzen, und zitiert zahlreiche Studien, die diese neuen Erkenntnisse unterstützen. Doch neue Erkenntnisse, die über bisher geltende Grenzen des Denkens hinausgehen, haben es nicht leicht, in etablierten Strukturen moderner Wissenschaft Gehör zu finden. Womit wir wieder bei der bereits ausgeführten Thematik sind, dass moderne Gesellschaften trotz aller offiziellen Freiheit der Wissenschaft auch von subtilen Machtstrukturen durchzogen sind, die grundlegend neue Entwicklungen anfangs oft eher blockieren als fördern.

So stellt sich auch nach wie vor die Frage, welche Begriffe wir dafür finden, um diese neuen metamodernen Erkenntnisse und Weltsichten auszudrücken. Für diesen zuletzt ausgeführten Bereich subtiler Verbundenheit und Wechselwirkung des Menschen mit dem gesamten Universum bietet sich der im Beitrag von Johannes Schmidt vorgeschlagene Begriff »Transzendenz« an. Im Sinne eines »Nullpunktfeldes« lässt sich Transzendenz sowohl als subtiles universelles Energiefeld als auch als tiefe menschliche Sehnsucht danach verstehen. Dementsprechend entdeckte der Begründer der Humanistischen Psychologie, Abraham Maslow, in der Weiterentwicklung seiner Bedürfnispyramide auch Transzendenz bzw. Selbsttranszendenz als ein allgemeines menschliches Bedürfnis. »Durch die Einführung dieser sechsten Stufe bietet Maslow eine theoretische Möglichkeit an, menschliches Denken und Handeln jenseits individueller Bedürfniserfüllung und Nutzenmaximierung zu verstehen. Im Gegensatz zu Selbstverwirklichung geht es hierbei auch nicht mehr primär um die persönliche Entwicklung eines Menschen, sondern um die Identifizierung mit der gemeinschaftlichen, ganzheitlichen Entwicklung der Welt« (Dietrich, 2017).

Die an die Geschichte menschlicher Selbstverständigung über diese »metaphysische« Dimension menschlicher Existenz anknüpfende metamoderne Transzendenzauffassung verbindet diese auf undogmatische Weise auch mit jenen evolutionären Grundwerten, die seit Platon als Gutes, Wahres und Schönes begriffen werden. In seinem Werk »Symposium« fasste er dies noch etwas konkreter und beschreibt die Quelle alles Schönen in und um uns als eine Art von Liebe, die Menschen mit dem Universum verbindet. Doch diese metamoderne Neubewertung von Platons Gutem, Wahrem und Schönem und die Offenheit für mögliche Einbettung in und Wechselwirkungen mit einem universellen Nullpunktfeld schöpferischer Verbundenheit braucht ausreichend modernen Zweifel und postmoderne Ironie, um sowohl vor Verabsolutierung und Vermachtung als auch vor Freiheits- und Verantwortungsabgabe jeder Art gefeit zu sein. Um dabei jedoch nicht wieder »das Kind mit dem Bade auszuschütten«, könnte ein erstaunlicher Gedanke von Simone Weil – einer sehr frühen und leider viel zu früh verstorbenen metamodernen Philosophin – Orientierung bieten: »Ihrer wahren Wesensbestimmung nach ist die Wissenschaft das Studium der Schönheit der Welt. Die Erfahrung des Guten gewinnt man nur, indem man es vollbringt. Deshalb ist das einzige Organ für den Kontakt mit der Existenz die Akzeptanz die Liebe« (Weil, 1940–42/2021, S. 109 f.).

Nicht so unmittelbar zu Schönheit und Liebe ermutigend, doch dafür andere Aspekte einer metamodernen Synthese dieser Dimension finden sich bei Hanzi Freinacht: Die grundlegendste Realität sind nicht uns bekannte Fakten, sondern Potenziale und schöpferische Potenzialität. Was wir normalerweise Realität nennen, ist nur eine Perspektive und Möglichkeit eines unendlich größeren, hyperkomplexen Möglichkeitsfeldes. Die uns bekannte (Quanten-)Physik und das Bewusstsein sind dabei untrennbar miteinander verbunden, keines von ihnen bildet allein die Grundlage der Realität (Freinacht, 2017, S. 339).

Diese schöpferischen Potenziale der Realität begegnen uns auch im von Mihály Csíkszentmihályi (2010) geprägten Flow-Begriff, den er als ein spielerisches, angst- und stressfreies Aufgehen im Tun beschreibt. Wenn wir diesen Flow-Begriff mit dem zuvor von Simone Weil zitierten Gedanken des liebevollen Vollbringens verbinden, lassen sich unmittelbare Bezüge zum oben erläuterten Transzendenzbegriff erspüren und der Transzendenzbegriff sich um schöpferisches Tun bzw. um kreativen Flow erweitern. Kreativität hat unmittelbar praktische Qualitäten wie die Entwicklung und Gestaltung neuer Techniken, Kunstwerke oder Gebrauchsgüter. Aber sie hat auch die unmittelbare Lebenspraxis transzendierende Flow-Qualitäten, die sich als intuitive und produktive Resonanzen des Menschen mit dem »schöpferischen Feld« oder der »evolutionären Energie« oder dem »universellen Möglichkeitsraum« begreifen lassen. Mehr dazu siehe in unseren Forschungen zu integraler Kreativität (Hosang, 2023) und auch im Beitrag von Ralph Buchner.

Oszillation und Faszination der metamodernen Bewegung

Um die Bedeutung und die Zukunftspotenziale der Metamoderne zu verstehen, ist neben den in den vorherigen Kapiteln geschilderten historischen Vorläufern (Vormoderne, Moderne und Postmoderne) und den heutigen Bereichen ihrer Entwicklung auch noch ein Blick in ihre generellen neuen Qualitäten hilfreich. Was macht ihre Faszination aus? Warum ermutigt sie und begeistert sie uns? Welche grundlegenden neuen Potenziale für die Gestaltung der Zukunft und die Entwicklung unserer selbst bietet sie uns? Als Ausgangspunkt dafür ist ein genauerer Blick auf ihre Wortbedeutung hilfreich.

Vermeulen und van den Akker beziehen in ihrem Grundlagentext (2010) die Vorsilbe »meta« bewusst auf Platons Metaxie und verbinden damit zwei wesentliche Bedeutungsakzente:

–Zum einen pendelnde, schwingende und oszillierende Bewegungen zwischen verschiedenen, teilweise entgegengesetzten Polen.

–Und zum anderen eine aus solcher Schwingung zwischen Gegensätzen hin und wieder erwachsende Bewegung darüber hinaus: in neue Strukturen des Fühlens, auf neue Ebenen des Bewusstseins, zu neuen Perspektiven von Kunst, Kultur, Wirtschaft und Gesell schaft.

Als Beispiele metamoderner Oszillationen werden vor allem Moderne und Postmoderne, Aufrichtigkeit und Ironie, das Persönliche und das Politische genannt. Im Folgenden weiten wir es jedoch aus auf weitere Metaxien, deren Oszillation und Schwingen in neue Dimensionen für das neue Lebensgefühl und dessen kulturelle Formen bedeutsam sein könnte. Dazu gehören die Polaritäten von:

–Natur und Technologie,

–Romantik und Effizienz,

–Produktivität und Gemeinwohl,

–Kreativität und Co-Kreativität,

–Intensität und Distanz,

–Sinn und Spiel,

–Verbundenheit und Freiheit,

–Sein und Bewusstsein,

–Fühlen und Wissen,

–Immanenz und Transzendenz,

–Ego und Higher Self.

Um sowohl das Oszillieren vielleicht etwas besser zu verstehen als auch um konkretere Bilder und Gefühle von den erstaunlichen Potenzialen der Metamoderne zu finden, wird im Folgenden auf eine dieser Metaxien etwas näher eingegangen.

Die Metaxie von Ego und Higher Self

Mit »Ego« und »Höheres Selbst« nutzen wir zwei in den letzten Jahrzehnten bei vielen sich selbst reflektierenden Menschen angekommene Begriffe, um eine der vielleicht spannendsten und für kulturelle Zukünfte bedeutsamsten Metaxien zu betrachten. Die Unterscheidung von zwei sehr verschiedenen Qualitäten des menschlichen Ichs hat eine lange Tradition. Bereits in den jahrtausendealten Weisheitslehren der Veden findet sich eine deutliche Unterscheidung zwischen »Prakriti«, dem auf unseren Körper begrenzten Ich-Gefühl, und »Purusha«, dem universellen Bewusstsein oder der Transzendenz in uns.

Auch die westliche Kultur unterscheidet diese schon lange. Bereits Sokrates, der Urvater des kritischen Denkens und menschlichen Selbsterkennens, unterschied die zu engen Sorgen und Gedanken von jenen Geistesinhalten, die uns mit einer größeren, unendlichen Weisheit verbinden. Diese Stimme der universellen Weisheit in uns nannte er unser »Daimonium«. Baruch Spinoza, einer der wichtigsten Philosophen der Neuzeit, unterschied Mitte des 17. Jahrhunderts in seinem Hauptwerk »Ethik« zwei grundsätzlich verschiedene Gefühls- und Denkqualitäten in uns Menschen: die eher kleinen, nur auf uns bezogenen und oft negativen wie Angst, Ärger, Eifersucht etc. nannte er »passions«. Die eher weiten Gefühle und Bewusstseinsformen wie Liebe, Großmut und Intuition nannte er »actions«, weil wir nur mit diesen im wirklichen Sinne aktiv und lebendig sind.