Die Mission - Rod Rees - E-Book

Die Mission E-Book

Rod Rees

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Beschreibung

Ella Thomas hätte diesen Auftrag nie annehmen sollen. Aber für solche Gedanken ist es nun zu spät. Sie ist in einer Computersimulation gefangen und muss die Tochter des Präsidenten aus der virtuellen Welt der »Demi-Monde« retten. Die amerikanische Regierung entwarf diese Simulation einst als Trainingsgelände für Soldaten und schuf damit unwillentlich eine Falle, die immer mehr Menschen zum Verhängnis wird. Eigentlich ist Ella Jazz-Sängerin, doch nur sie konnte mit einer glaubhaften Tarnung in die Demi-Monde eingeschleust werden, und steht vor einer alternativen Realität, die ihre schlimmsten Albträume wahr werden lässt ...

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Rod Rees

Die Mission

Demi-Monde:Welt außer Kontrolle

Band 1

Ins Deutsche übertragenvon Jean Paul Ziller

Die Originalausgabe erschien 2011unter dem Titel »The Demi-Monde: Winter«bei Quercus, London.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Februar 2013Copyright © der Originalausgabe 2011 by Rod ReesCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv:Rod Rees/Nigel Robinson; FinePic®, MünchenRedaktion: Peter KultzenNG . Herstellung: Str.Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-08513-1www.goldmann-verlag.de

Buch

»Demi-Monde« ist die intelligenteste Computersimulation aller Zeiten. Entworfen wurde sie, damit Soldaten auf die alptraumhafte Realität der Kriegsführung vorbereitet werden können. Sie ist eine virtuelle Welt, die im ewigen Bürgerkrieg gefangen ist. Ihre 30 Millionen Einwohner werden von Duplikaten der am meisten verhassten Diktatoren der Geschichte regiert. Aber irgendetwas ist fürchterlich schiefgegangen in der Demi-Monde, die virtuelle Welt ist außer Kontrolle. Soldaten verschwinden darin und sind auch in der realen Welt nicht mehr aufzufinden. Wer in der Simulation stirbt, wird auch im wahren Leben sterben. Und dann verschwindet dort Norma, die Tochter des US-Präsidenten. Und die Einzige, die man mit glaubhafter Tarnung in die virtuelle Welt einschleusen kann, ist Ella Thomas, eine 18-jährige Jazzsängerin. Sie soll Norma retten. Aber kurz nachdem Ella die Demi-Monde betreten hat, merkt sie, dass nichts so ist, wie es scheint, und dass die Cyber-Wände nur noch mit äußerster Mühe das Grauen davon abhalten können, nach außen zu dringen. Die reale Welt scheint in größerer Gefahr, als irgendjemand es je vermutet hätte …

Autor

Rod Rees hat in seinem Leben schon viele verschiedene Kulturen kennengelernt. Er ist durch Afrika, den Mittleren Osten, Bangladesch und Russland gereist und hat längere Zeit in Qatar, Teheran und Moskau verbracht. In Dhaka hat er eine pharmazeutische Fabrik aufgebaut, in Moskau ein Satelliten-Kommunikationsnetz errichtet und in Großbritannien ein Hotel designt. Inzwischen konzentriert er sich ausschließlich aufs Schreiben und lebt mit seiner Frau Nelli und ihren zwei gemeinsamen Kindern in der Nähe von Derby, England. Weitere Informationen unter www.thedemi-monde.com.

Inhalt

Karte der Demi-Monde

Demi-Monde: Der Roman

Prolog

Teil I: Vorsingen

Teil II: Eintritt

Teil III: Warschau

Teil IV: Am Vorabend des Frühlings

Nachwort

Die Demi-Monde: Glossar

Demi-Monde (Substantiv)

eine bestimmte Schicht der Gesellschaft, deren Mitglieder einen dekadenten, unmoralischen Lebensstil führen;eine Schattenwelt, in der die Normen des zivilisierten Zusammenlebens aufgehoben sind;eine MMP-Simulation, die auf dem Betriebssystem eines ABBA-Quantum-Computers läuft und sich der Total-Reality-User-Envelopment-Technologie von ParaDigm Cyber-Research bedient, um in einem völlig realistischen Cyber-Milieu die Bedrohungskulissen und Überraschungsmomente eines hochintensiven, komplex verdichteten, urbanen asymmetrischen Kriegsszenarios hervorzubringen;Hölle

Prolog

Demi-Monde:37. Tag im Winter des Jahres 1004

Norma rannte. Hob den Rock und rannte wie noch nie. Rannte, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Scheiße … die Höllenhunde sind mir dicht auf den Fersen.

Hinter sich hörte sie, wie die Detonationen und die Querschläger die nächtliche Stille in den Straßen von London zerrissen. Mata Hari und ihre Suff-Ra-Getten hatten offensichtlich Wort gehalten und versuchten, die SS so lange wie nur möglich aufzuhalten. Und Suff-Ra-Getten waren zäh.

Lauf, Norma, lauf!, hatte Mata Hari geschrien, als Clements SS-Schergen in die Kneipe hereinstürmten. Und sie war losgerannt. Sie durfte der SS auf keinen Fall in die Hände fallen.

Diesen wahnsinnigen, gewissenlosen Ungeheuern.

Nur wusste sie nicht, wohin sie rannte.

Sie war blind.

Der Schnee fiel derart dick und dicht, dass sie kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Und der eisige Wind peitschte ihr die Flocken in die Augen, bis sie brannten und tränten.

Norma schüttelte wütend den Kopf und zwang sich, Schmerz und Kälte zu ignorieren. Sie nahm weder die eisige Taubheit in Fingern und Zehen wahr noch ihren protestierenden Körper, der gegen ihren Willen rebellierte. Sie zwang sich, alles zu ignorieren, und konzentrierte sich nur darauf, die Bestien abzuschütteln, die sie verfolgten.

Sie musste alles ausblenden, nur nicht die Notwendigkeit zu rennen. Vor allem aber musste sie diesen hinterhältigen, schleimigen Hundesohn Burlesque Bandstand aus dem Kopf kriegen.

Dreckskerl.

Sie rannte, bis ihr das Herz im Hals schlug, bis ihre Beine vor Schmerzen schrien und sie das Gefühl hatte, ihre Lungen würden Feuer fangen. Sie rannte, so schnell sie konnte, und versuchte, so gut es ging in der Fahrrinne zu bleiben, die die Gummireifen eines Dampfwagens auf der Straße hinterlassen hatten, um selbst keine Spuren im frisch gefallenen Schnee zu hinterlassen. Eine Fährte, denen ihre Häscher anschließend folgen konnten.

Nur wenige Straßen hinter ihr hallte das Signal eines Jagdhorns durch die schmalen Gassen. Offensichtlich war es den SS-Männern gelungen, die Suff-Ra-Getten in die Flucht zu schlagen. Jetzt konnten sie sich ganz auf die Dämonenjagd konzentrieren.

Lauf, Norma, lauf!

Jetzt hatte sie keine Zweifel mehr, sie konnte sie hören. Sie hörte, wie das metallische Knallen ihrer eisenbeschlagenen Stiefel durch die gepflasterten Straßen und die schmalen Gassen der Rookeries hallte. Sie hörte das laute Geschrei dieses Widerlings, Archie Clement – fast noch ein Junge –, und das wilde Bellen der Bluthunde, die er mit der Peitsche zur Jagd antrieb.

Plötzlich glitten die Ledersohlen ihrer Stiefel auf den glatten vereisten Pflastersteinen aus, sie rutschte auf Händen und Knien über die Straße und landete in der übelriechenden Gosse. Die scharfe Bordsteinkante riss ihr die Haut auf, und ein unerträglicher Schmerz durchfuhr sie. Doch das Adrenalin, das durch ihre Adern schoss, und das Wissen um das Schicksal, das sie erwartete, wenn die Kerle sie zu fassen bekamen, spornten sie unermüdlich an. Hastig sprang sie wieder auf und humpelte schluchzend vor Schmerz, Verzweiflung und Angst weiter.

Nimm dich zusammen, Norma.

Jetzt war nicht die Zeit, um Schwäche zu zeigen. Nicht jetzt, da sie verletzt war. Denn aus ihren Wunden tropfte Blut. Ein gefundenes Fressen für die Bluthunde. Sie würden verrückt werden … nach ihrem Blut. Und jetzt hätten sie keine Mühe mehr, ihrer Spur zu folgen.

Wie auf ein Stichwort hörte sie im gleichen Augenblick das traurige Heulen eines Bluthunds, der soeben die Witterung ihrer blutigen Spur aufgenommen haben musste.

Renn, gib nicht auf.

Vielleicht würden die Schneeflocken ihre Spuren verwischen … ihre Blutspur überdecken.

Bitte, bitte, fallt dichter.

An der Straßenecke verlangsamte sie ihre Schritte und versuchte, sich zu orientieren und Atem zu holen. Keuchend sah sie sich nach den Straßenschildern um. So nah: Sie war nur drei Häuserblocks von der Themse … von der Freiheit entfernt. Bloß noch ein paar hundert Meter durch die kleinen Gassen hinter der Regent Street, dann hätte sie die Rookeries hinter sich. Nur noch drei Häuserblocks und sie würde den Eichelturm sehen.

Sie atmete nun in kurzen Stößen, ihre Muskeln schlafften allmählich ab, und sie zitterte am ganzen Körper vor Kälte und Erschöpfung. Mit jedem neuen Windstoß spürte sie, wie die Graupel ihr ins Gesicht schnitten. Und durch das dünne Baumwollhemd fühlte sie die eisige Kälte wie eine scharfe Sense. Nie im Leben war ihr so kalt gewesen. Als sie aus dem Prancing Pig getürmt war, hatte sie keine Zeit gehabt, Mantel, Handschuhe oder Hut mitzunehmen.

Wenn sie jetzt nicht bald ein warmes Plätzchen fand, würde sie sterben. Erfrieren.

Konzentrier dich.

Das war kein Computerspiel. Jedenfalls nicht mehr. Und sie keine simple Spielerin. Nicht mehr. Inzwischen war sie eine von vielen Gefangenen. Eine Bewohnerin der Demi-Monde.

Verdammt nochmal, Norma, konzentrier dich. Wenn du in der Demi-Monde abkratzt, dann stirbst du auch in der Realen Welt.

Wieder vernahm sie das traurige Heulen eines Jagdhunds. Sie kamen näher.

Norma schleppte sich vorwärts. Dann glitt sie erneut auf den vereisten Pflastersteinen aus, prallte mit voller Wucht gegen eine Mauer, zerriss sich das Hemd an der Schulter und schürfte sich die Haut am Arm auf.

Ignorier es einfach.

Doch das klappte nicht mehr. Der Schmerz, die Kälte und die Erschöpfung wurden allmählich stärker als der Mut ihrer Verzweiflung. Mit allerletzter Kraft zwang sie sich aufzustehen, doch sie konnte nicht weiterlaufen, sie hatte sich völlig verausgabt.

Ihre Energie reichte gerade noch aus, um sich humpelnd in den französischen Sektor zu retten und dort nach einem Versteck zu suchen. Sie musste die Pons Fabricius erreichen … sobald sie die Themse überquert hätte, wäre sie in Paris, und dann würden sie nur noch wenige Minuten vom Portal trennen.

Bitte, Gott …

Sie konnte den Fluss riechen, diese süße, widerliche Mischung von Schiffen, Sklaven und brackigem Wasser. So nah. Nun schneite es noch dichter. Vielleicht würde der wunderbare, herrliche Schnee ihre Spuren doch verwischen.

Trotzdem ließ der Gedanke sie nicht los, dass das Ganze Wahnsinn war. All das konnte – durfte – nicht wahr sein. Sie konnte es nicht fassen, dass sie in eine derart entsetzliche Unwirklichkeit geraten war. Oder eine dermaßen grausame Wirklichkeit. O ja, die Demi-Monde war real. Viel zu real, verdammt. Der Schmerz, den sie spürte, war echt. Die Kälte war echt. Die Angst war echt.

Während sie sich vorwärtsschleppte, warf sie einen Blick über die Schulter auf die dunklen, von Schnee bedeckten Straßen der Rookeries. Sie konnte ihre Verfolger nicht mehr hören. War es ihr am Ende doch gelungen, sie abzuschütteln? Hatten sie ihre Hetzjagd aufgegeben? Mit ihren jungen kräftigen Beinen nicht Schritt halten können?

Schön wär’s.

Diese Kerle gaben niemals auf. Keiner von ihnen wollte zurückkehren und Crowley eröffnen müssen, dass sie versagt hatten. Sogar Clement fürchtete sich vor Crowley. Nein, sie würden nicht aufgeben, sondern sie wie ein Rudel tollwütiger Hunde jagen. Zudem war ihr klar, dass sie nicht mehr lange durchhalten könnte. Sie war erledigt, und die Kälte gab ihr den Rest. Sie hatte verloren. Wo sollte sie sich verstecken?

Norma blieb stehen, blickte sich um und entdeckte etwa zehn Schritte entfernt den Eingang zu einer schmalen Gasse, in der es keinerlei Straßenbeleuchtung gab. Die Dunkelheit darin war so vollkommen, dass niemand, nicht einmal Clement sie dort entdecken würde. Und vielleicht würde er ihr auch gar nicht folgen wollen. Kein Mensch wusste, was in der Finsternis der Demi-Monde auf einen lauerte, welche schrecklichen Ungeheuer aus dem sumpfigen Hub auftauchen mochten.

Super.

Norma hinkte unter Schmerzen auf die verlockende Dunkelheit zu und verschwand in der stinkenden, finsteren Gasse. Sie schleppte sich an den schiefen Mauern der Wohnhäuser entlang, die sie immer enger einschlossen, und versuchte, nicht an die unaussprechlichen Dinge zu denken, die sich womöglich hinter den Schatten verbargen. Schließlich fand sie einen dunklen Hauseingang, der ihr einigermaßen sicher erschien.

In seinem Schutz blieb sie einen Augenblick vornübergebeugt stehen, die Hände auf den Knien, und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Neue Energie in ihren kalten, schmerzenden Körper zu pumpen, das heftige Keuchen zu unterdrücken, ruhig zu sein, mucksmäuschenstill.

Bitte, lass nicht zu, dass sie mich hören.

Norma schüttelte den Kopf, um ihre Verwirrung zu vertreiben. All das stimmte nicht … alles, was sie fühlte … alles, was sie durchmachte … es war einfach nicht richtig. Immer wieder sagte sie sich, dass sie ein achtzehnjähriges Mädchen war und all das hier nichts weiter als eine Computersimulation. Achtzehnjährige Mädchen wurden in Phantasiewelten weder verletzt noch fühlten sie Schmerzen oder bekamen Panikattacken. Nicht mal in Phantasiewelten, die so real waren wie die Demi-Monde.

Computerspiele waren nicht gruselig, man bekam keine Angst, jedenfalls nicht eine solche Panik, bei der sich einem der Magen umdrehte und die Knie schlotterten. Irgendwas stimmte hier einfach nicht. Irgendwas war absolut falsch. Als wäre das, was sie – sie? – mit ihr anstellten, ein gewolltes, sadistisches Spiel.

Arschlöcher.

Sie sah sich um. Es war stockdunkel. Nur ein schwacher Lichtschein drang durch eine halb offene Haustür am Ende der gepflasterten Gasse und fiel auf die mit Graffiti beschmierte Ziegelsteinmauer gegenüber.

Nur ein toter nuJu ist ein guter nuJu

Willkommen in der Demi-Monde.

Sie versuchte, sich zu beruhigen. Diese dunkle Gasse war ein idealer Ort, um sich zu verstecken. Abgesehen … abgesehen davon, dass es eine Sackgasse war. Jetzt saß sie in der Falle. Sie spürte einen bitteren Geschmack im Hals, als ihr die Galle hochstieg. Alles drehte sich um sie herum, und sie glaubte, vor Kälte, Erschöpfung und blankem Entsetzen in Ohnmacht zu fallen. Vielleicht war sie krank. Wie hatte der Professor es noch genannt … illumnizieren?

Illumnizieren.

Ein seelischer Zustand, der sich darin äußerte, dass man die Realitäten durcheinanderbrachte. Vor allem unerfahrene Spieler von hyperrealistischen Computersimulationen wie Demi-Monde wurden davon befallen. Der Professor würde einige Fragen beantworten müssen.

Dreckskerl.

Wenn sie ihrem Vater erzählte, was sie hatte durchmachen müssen, wäre die Hölle los. Er würde in die Luft gehen. Dass seine Tochter einer Cyber-Tortur unterzogen wurde, würde dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gar nicht schmecken. Sobald sie wieder zu Hause war, würde sie ihm alles erzählen.

Falls sie jemals nach Hause kam.

Plötzlich hörte sie das Knirschen von Stiefelabsätzen auf den Pflastersteinen. Sie drückte sich noch enger an die dunkle Wand und traute sich nicht einmal, Atem zu holen. Sie spürte nur, wie ihr kalte Schauer über den Rücken liefen. Dann biss sie die Zähne fest zusammen, damit man das Klappern nicht hörte.

Ein Schrei. Eine harte, schonungslose Stimme, die aber gleichzeitig kindlich klang … Clements Stimme. Sie hätte sich denken können, dass er die Hetzjagd anführen würde. Er war zwar wahnsinnig, aber immer noch schlauer als alle anderen zusammen. Wahrscheinlich waren es seine Bluthunde, die ihr Blut gewittert hatten und ihr im Schnee gefolgt waren.

Bluthunde. Grässliche, ganz grässliche Dinger.

Sie hörte, wie jemand Befehle schrie und Clements SS-Männer knapp darauf antworteten. Sie hasste die SS. In der SS waren die fanatischsten Fanatiker überhaupt. Sie stellten einen Befehl niemals in Frage. Sie waren überzeugte Anhänger. Man hatte sie mit dem Schutz der Schwarzen Seele des ForthRights und mit der Durchsetzung der perversen Ideologie des UnFunDaMentalismus beauftragt. Sie waren für den Schutz der Demi-Monde vor Dämonen verantwortlich … Dämonen wie Norma.

Sie hörte eine aufgeregte und hitzige Diskussion, gleich um die Ecke der kleinen Gasse. Ob sie ihre Spur verloren hatten? Vielleicht war der Schnee gerade noch rechtzeitig gekommen. Vorsichtig reckte sie den Kopf aus dem Türeingang. Vielleicht konnte sie verstehen, was sie sagten. Plötzlich verstummten die Stimmen, und sie hörte nur noch das Fiepen eines Hundes. Clements Jagdgesellschaft befand sich immer noch in unmittelbarer Nähe. Die Stille war erdrückend … bedrohlich. Ihr Körper war angespannt, bereit, jeden Augenblick wieder loszurennen. Um ihr Leben zu rennen.

Nur wohin?

Als der Knüppel mit voller Wucht ihr Knie traf, war der Schmerz unsäglich; er durchfuhr ihren Körper, und der Schock lähmte sie.

Niemals hätte Norma sich vorstellen können, dass man einem menschlichen Körper solche Schmerzen zufügen konnte. Ihr zerschmettertes Knie gab nach, und sie sank auf das Kopfsteinpflaster.

Sie musste das Bewusstsein verloren haben, denn als sie wieder zu sich kam, lag sie in einer eisigen Wasserpfütze. Um sie herum standen etwa ein Dutzend Männer, die sie mit finsteren Gesichtern anstarrten. Sie spürte, wie alle Hoffnung sie verließ. Die beiden Männer, die die Meute anführten, waren in der Demi-Monde als die härtesten und grausamsten von allen bekannt.

Singularitäten.

Es waren Männer ohne Mitleid, ohne Gewissen, ohne Skrupel. Männer, die lachten, während sie die unschuldigsten und wehrlosesten Menschen abschlachteten. Echte Psychopathen.

Scheißkerle.

Das personifizierte Böse.

Norma kannte die beiden Männer, die vor ihr standen. Als sie das erste Mal in die Demi-Monde gekommen war, hatte Su Xiaoxiao sie gewarnt. Er hatte ihr eingeschärft, ihnen unbedingt aus dem Weg zu gehen, weil sie die gefährlichsten Dupes in der ganzen Cyberwelt waren, Matthew Hopkins, Clements Schöpfung, und Clement selbst, der hirnlose Jünger Seiner Heiligkeit, Kamerad Crowley.

Instinktiv analysierte die Möchtegernpolitikerin, die in Normas blutigem, aufgeschürftem Körper steckte, die beiden Männer. Psychopathen hatten schon immer eine unwiderstehliche Faszination auf sie ausgeübt. Und Crowley hatte Normas Faszination für solche Wesen ausgenutzt, um sie in die Demi-Monde zu locken. Aber es war eine Sache, wissenschaftliche Bücher zu lesen und Aufsätze über die Entstehung, Bestimmung und Behandlung von Psychopathen zu schreiben, und ganz was anderes, dem Bösen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Die Augen dieser Männer waren leer, kalt wie Kristall und schwarz wie die eines Hais. Es waren Augen, die weder Menschlichkeit noch Mitleid kannten.

Puppenaugen.

Auf einmal sprang einer der Bluthunde Norma an, offensichtlich aufgereizt von dem Blutgeruch ihrer aufgeschürften Knie. Clement versetze dem Tier einen Schlag mit seiner Lederpeitsche. »Zurück, verfluchte Ausgeburt des Loki«, fauchte er wütend und drosch auf das Tier ein, bis es sich kauernd zurückzog. »Du da«, fuhr er den Hundeführer an. »Halt ihn zurück oder ich breche dir sämtliche Knochen und steche dir die Augen aus, bei ABBA.«

Zu Tode erschrocken zerrte der Hundeführer an der Leine, die am Halsband der Bestie befestigt war, und zog das widerwärtige Tier von Norma zurück. Sie hasste diese Geschöpfe, halb Mensch, halb Tier. Sie waren Archie Clements obszöne Schöpfung. Er hatte Parfümeure aus dem Quartier Chaud zusammentreiben lassen, ihnen die Augen ausgestochen, Zunge und Finger abgeschnitten und sie damit aller Sinne beraubt, bis auf einen: ihre Spürnase. Dann hatte er ihre Mordlust bis zum Äußersten gereizt, mit dem Ergebnis, dass diese Ungeheuer einen Blutstropfen auf hundert Meter Entfernung wittern konnten. Clement setzte Bluthunde ein, um Dämonen zu jagen. Dämonen wie Norma.

Clement trat ein paar Schritte vor und baute sich vor Norma auf, die zitternd auf den Pflastersteinen lag.

Archie Clement, dieser Junge, der in der Realen Welt unter Bloody Bill Anderson für die Konföderierten in die Schlacht gezogen war und – einst ein Komplize von Jesse James – die Angewohnheit gehabt hatte, Männer, Frauen und Kinder, die er umbrachte, anschließend zu skalpieren.

Auch wenn Su Xiaoxiao sie nicht vor ihm gewarnt hätte, wäre sie ihm aus dem Weg gegangen. Ja … obwohl er klein war und fast zerbrechlich wirkte, strahlte Clement etwas so Hasserfülltes aus, dass sich sogar der furchterregende Laurentii Beria in seiner Anwesenheit zusammennahm.

Clement nahm seine Schirmmütze ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Norma war jedes Mal aufs Neue schockiert, wie wirklichkeitsgetreu die Menschen in der Demi-Monde waren. Sie waren einwandfreie Duplikate, ohne jeden Makel. Halt, nein, das stimmte nicht ganz. Sie waren gerade deshalb so vollkommen, weil sie nicht ganz fehlerfrei waren. Kleinigkeiten … etwa die Schlammflecken auf der schwarzen Uniform des Jungen, die abgelaufenen Absätze seiner Stiefel, sein ständiges Sabbern, wenn er sprach, und der künstlich erzeugte süßlich-giftige Geruch, der von seinem Körper ausging und die stille Luft in der Demi-Monde erfüllte. Ein Geruch nach Lösung, Tabak und mangelnder Körperpflege.

Die perverse Genialität der Demi-Monde steckte im Detail.

Und in der Demi-Monde war ABBA Gott.

Clement grinste Norma verächtlich an. Ein Grinsen, das seine vom Tabak geschwärzten Zähne entblößte und ihr alle Hoffnung nahm. Er stieß sie mit der Stiefelspitze an. »Sieh dir dieses Weib genau an, Hexenjäger«, befahl er mit seiner piepsigen Knabenstimme. »Ich will hundert Prozent sicher sein, dass sie diejenige ist, für die wir sie halten. Soweit ich sehe, hat sie weder Hörner noch einen Schwanz wie gewöhnliche Dämonen. Also nimm sie unter die Lupe. Ich dulde keine Schlampereien.«

Matthew Hopkins – der Hexenjäger – zeigte mit seinem Spazierstock auf das keltische Kreuz, das Norma sich auf die Schulter hatte tätowieren lassen. »Sehen Sie her, Kamerad Standartenführer, sie trägt Lokis Zeichen, ein ziemlich sicherer Beweis, dass sie eine Hexe ist. Achten Sie auf ihr schwarz gefärbtes Haar und die gottlosen Perforationen in ihrem Gesicht. Nur die Anhänger Lokis verstümmeln sich auf diese Art und Weise.« Er bückte sich zu Norma hinab, packte mit seinen schwieligen Fingern unsanft ihr Kinn und drehte ihr Gesicht ins Licht.

»Und schauen Sie hier, Kamerad Standartenführer, mit diesem gotteslästerlichen Flitter trägt sie ihre Herkunft aus einer anderen Welt offen zur Schau.« Er riss Norma die Kette mit der Inschrift »I love blood« vom Hals. Die Glasperlen rollten über das vereiste Pflaster.

Der Hexenjäger lachte in sich hinein. »Kein Zweifel … Das ist der Dämon, den wir suchen, Kamerad Standartenführer. Ich bin mir hundertprozentig sicher. Es ist allgemein bekannt, dass Dämonen die Gestalt von Weibsbildern annehmen. Genauso eins habe ich vor nicht einmal einer Stunde im Prancing Pig gesehen, wo es einen unzüchtigen und wollüstigen Tanz aufführte und vor den Augen der Öffentlichkeit gegen alle Gesetze des UnFunDaMentalismus verstieß.« Er fuhr mit seinen fetten, schmutzigen Fingern durch Normas Haar, ekelhaft. »Sie haben recht, Kamerad Standartenführer: dieser Dämon hat keine Hörner. Das will aber nichts heißen, Dämonen sind Meister und Meisterinnen der arglistigen Täuschung.« Seine Hand wanderte zu ihrem Knie. Dann packte er ihren Rock und schob ihn hoch, während er Clement ansah und die Lippen befeuchtete. »Sollte ich nachsehen, ob diese Ausgeburt des Loki einen Schwanz hat, Kamerad Standartenführer?«

Bitte, Gott, lass nicht zu, dass er mich berührt.

Clement lachte verlegen. Wie die meisten Männer des ForthRight konnte er mit Frauen nicht umgehen. Der UnFunDaMentalismus hatte nicht viel übrig für zärtliche oder liebevolle Beziehungen zwischen Männern und Frauen. »Das lass mal lieber bleiben, Hexenjäger. Weiß der Teufel, was sie unter ihrem Rock versteckt hat. Am Ende beißt es dir noch einen Finger ab.«

»Wie Sie meinen, Kamerad Standartenführer, aber sehen Sie doch, wie die Wunden an ihren Knien bluten. Nur Dämonen aus dem tiefsten Abgrund des Hel bluten.«

Clement betrachtete die Schürfwunden an ihren Knien, dann schweifte sein Blick langsam aufwärts, bis sein wahnsinniger Blick an Normas Augen hängen blieb. »Jetzt haben wir dich, du Flittchen. Hast mich und meine Leute ja mächtig auf Trab gehalten, was? Aber nicht mal der klügste Dämon kann Standartenführer Clement reinlegen.«

Mutig erwiderte Norma seinen Blick. Schwäche und Angst waren nicht gerade Tugenden, die in der Demi-Monde geschätzt wurden. Hier waren Stärke, Mut und Brutalität gefragt, wenn man im täglichen Überlebenskampf bestehen wollte. Doch ihre Schauspielerei zeigte kaum Wirkung: In Clements Blick konnte sie nichts als Wahnsinn erkennen. Klare Sache, dieser Mann war vollkommen meschugge.

»Sehen Sie nur, Kamerad Standartenführer«, bemerkte der Hexenjäger. »Die Dämonin weigert sich sogar, den Blick zu senken, wie es einer anständigen Frau gebührt. Und sehen Sie nur, wie sie ihren Charme und ihre weiblichen Reize zur Schau stellt. Dieser Dämon will uns täuschen und unsere Aufmerksamkeit auf sein sündiges Fleisch lenken. Meinen Sie nicht, Kamerad Standartenführer?«

»Doch, doch, Hexenjäger, ich bin ganz deiner Meinung. Die Kirche hat uns gelehrt, wie gerissen diese Dämonen sein können. Schließlich hat Loki sie in die Demi-Monde geschickt, um uns arme Teufel, die für ABBA wirken, in Versuchung zu führen.« Clement deutete mit dem Kinn auf Normas wunde Knie. »Merk dir eins, Dämonin: Du kannst noch so schlau sein und frech grinsen, dein Körper verrät dich trotzdem. Ich hab deinen Schwindel durchschaut, ich weiß, dass du eine Speichelleckerin des hinterhältigen Loki bist. Er ist dein Meister.« Er hielt inne und spuckte einen Klumpen Kautabak in die Gosse. »Archie Clement kannst du nichts vormachen, trotz deiner Verführungskünste und List. O nein, meine Herrschaften! Für mich und meine Jungs von der SS, Spirituelle Sicherheit, ist es eine heilige Verpflichtung, Lokis Mächte zu bekämpfen. Du müsstest wissen, was uns ABBA befohlen hat. Wir werden die verderblichen Künste der Hexerei und des Zaubers, die von Loki erfunden und von Dämonen wie dir propagiert werden, mit aller Kraft aus der Demi-Monde verbannen.«

Der Hexenjäger stellte sich neben Clement. Hopkins hatte die Hetzjagd offensichtlich Spaß gemacht. Seine enge schwarze Uniform war von Schweiß und Erregung befleckt. »Ich hoffe, Sie vergessen nicht, meine tatkräftige Unterstützung bei der Gefangennahme des Dämons zu erwähnen, Standartenführer Clement, wenn Sie Seiner Heiligkeit, Kamerad Crowley, Bericht erstatten. Es war mein Agent, Burlesque Bandstand, der uns den Tipp gab.«

»Aber sicher, Hexenjäger, das war tadellose Arbeit.« Clement nahm einen Schluck aus dem silbernen Flachmann, den er aus einer Jackentasche zauberte. »Und ich habe keinen Zweifel daran, dass du fürstlich entlohnt wirst. Seine Heiligkeit knausert nicht, wenn es darum geht, ordentliche Arbeit ordentlich zu bezahlen.« Er bot dem Hexenjäger den Flachmann an. »Hier, nimm einen Schluck Lösung, um deine Knochen aufzuwärmen.«

Der Hexenjäger trank ausgiebig. »Meine Belohnung wird die Zerstörung der Dämonen sein, die das ForthRight plagen, und aller hinterhältigen herEtikalistischen Schwestern des Suff-Ra-Gettismus, die der Hexenmeisterin Jeanne Dark dienen.« Er machte das Zeichen des Valknuts über der Brust – drei ineinander verschlungene Dreiecke, Symbol der Partei, des ForthRight und des UnFunDaMentalismus –, um das Böse abzuwehren, das die Erwähnung von Darks Namen möglicherweise freigesetzt hatte. »Nicht zu vergessen die Ausrottung dieser hinterhältigen Ungeziefer, der nuJus und der verdammenswerten Shade Zadniks, die sich selbst Blutsbrüder nennen.«

Norma lief ein Schauer über den Rücken, doch diesmal nicht vor Kälte. Hopkins’ Ausdrucksweise hatte etwas Fanatisches und Furchteinflößendes. Sein Hass auf alles, was nicht weiß und männlich war, grenzte an Wahnsinn. Kein Wunder, dass dieser rassistische Dreckskerl und Frauenhasser es in der Partei so schnell so weit gebracht hatte.

Clement zog seinen Mantel enger um die schmalen Schultern. Offenbar spürte auch er allmählich die Kälte. »Ende der Schlammschlacht, Hexenjäger«, verkündete er. »Also los, bringen wir die Dämonin von hier weg, bevor ihre Schwestern auftauchen, um sie zu befreien. Das Rote Gold, das durch ihre Adern fließt, ist einen hübschen Batzen Blutgeld wert. Ein gefundenes Fressen für die Zulus oder die Schlitzaugen.«

»Vielleicht wäre es besser, sie an Ort und Stelle zu erledigen«, wandte der Hexenjäger vorsichtig ein.

Archie Clement räusperte sich erneut und spuckte in die Gosse. »Nein, Hexenjäger. Ich habe von Seiner Heiligkeit Kamerad Crowley den strikten Befehl erhalten, sie ihm lebend zu bringen. Machen wir uns auf den Weg, bevor die Geier anfangen, über uns zu kreisen. Bestimmt wird die Hexe Mata Hari alle Hebel in Bewegung setzen, um die kleine Dämonin zu retten.«

Der Hexenjäger salutierte. »Zu Befehl, Kamerad Standartenführer.« Dann drehte er sich um und zeigte mit seinem Wurstfinger auf zwei seiner Männer. »Ihr da! Kümmert euch um die Dämonin. Seid nicht zimperlich und verschließt eure Ohren vor ihrem Gesülze. Dieses Wesen ist eine Verführerin, eine Meisterin in der Kunst der Lilithianer, die den Unvorsichtigen und Schwachen Herz und Kopf verdrehen.« Plötzlich verstummte der Hexenjäger, als hätte er eine Eingebung. »Wenn ich es mir recht überlege, wäre es am besten, wenn wir sie außer Gefecht setzten.« Er trat einen Schritt vor. Norma sah gerade noch, wie er seinen Spazierstock umdrehte und ihr mit dem harten Griff gegen die Schläfe schlug. Sie spürte einen stechenden Schmerz, und dann wurde ihr schwarz vor Augen.

TEIL IVorsingen

1

Die Reale Welt: 12. Juni 2018

Demi-Monde® ist das erste Simulationsprodukt, das für das Betriebssystems eines ABBA-Quantum-Computers entwickelt wurde. ABBA ist ein Quanputer-gestütztes System, das von ParaDigm CyberResearch Limited entwickelt wurde. Da ABBA einen Invent-TebtN-Gravitationskondensator und einen Etirovac-Felddrosselkondensator verwendet, ist er als einziger Computer in der Lage, ein volles SupraUnPositioniertes/EntWirrtes Cyber-Ambiente zu schaffen. Dies ermöglicht ABBA-Analysen in einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit (volle kabelgebundene 30 yottaQuFlops) und damit den bioNeural-kinetischen Ingenieuren von ParaDigm Zugang zu fast unbegrenzter Rechenleistung.

– Demi-Monde® Produktbeschreibung:14. Juni 2013

Tap, tap, tap machte der Bleistift des Generals auf dem Tisch.

Jemine, das macht einen ja wahnsinnig!

Offensichtlich war der Kerl meganervös, seltsam angesichts der Tatsache, dass es Ella war, die sich hier um einen Auftritt beworben hatte. Ella, die noch genau zwölf Dollar in der Tasche hatte und morgen ihre Miete von fünfzig Dollar berappen musste. Ella, die in der kommenden Woche von Luft und Liebe würde leben müssen.

Besser gesagt, es war der General, der die Fragen stellte. Und seltsamerweise schlotterten ihm die Knie und nicht Ella.

Tap, tap, tap.

Schließlich sprach das Orakel: »Sie singen, Miss Thomas …?«

Dumme Frage Nr. 1.

Wieso fragt er das, dachte Ella, vor allem, nachdem sie letzte Woche nichts anderes getan hatte als zu singen. Davon abgesehen hatte man sie von Kopf bis Fuß diversen körperlichen und seelischen Tests unterzogen: Bluttests, Gentests, Sehtests, Hörtests, Fitnesstests, Intelligenztests, dem Rorschach-Test, dem MBTI-Test, mehreren Eignungstests und noch diesem anderen, den der Arzt mit einem Endoskop gemacht hatte und über den sie lieber nicht nachdenken wollte. Im Großen und Ganzen war es eher so etwas wie eine Geduldsprobe gewesen.

Trotzdem hatte sie es bis hierher geschafft, bis zu diesem letzten Gespräch. Sie war dem Erfolg so nah, dass sie ihn förmlich riechen konnte. Ella Thomas holte tief Luft und entspannte sich. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um Amok zu laufen oder Ärger zu machen.

Ich muss cool bleiben.

Möglich, dass es das verrückteste Vorstellungsgespräch war, das sie je geführt hatte, das frustrierendste war es auf jeden Fall, aber sie brauchte diesen Job unbedingt.

Au Mann, sie musste diesen Gig kriegen.

Morgen war die Miete fällig.

Sie schenkte dem General ihr süßestes Lächeln und klimperte mit den großen braunen Augen. »Ja, General, ich singe. Der Captain dort drüben war Zeuge, wie ich die ganze letzte Woche nichts anderes getan habe.«

Die ganze Woche …

Man hatte sie vorher gewarnt. Nach dem 11.9, dem 12.12. und all den anderen terroristischen Anschlägen waren die Sicherheitsmaßnahmen für die Einstellung von neuem Personal in der Armee langwierig und streng, aber das hier war einfach lächerlich. Hätte man sie nicht dafür bezahlt, dass sie sich all diesen Befragungen und Tests unterzog, sie hätte sich längst aus dem Staub gemacht.

Tap, tap, tap.

Ella grinste dem General verschmitzt zu. »Soll ich Ihnen was vorsingen, General?«

Der General schüttelte den Kopf. Sein tadellos gekämmtes graues Haar bewegte sich kein bisschen. Wahrscheinlich hatte seine Frisur den Befehl, stramm zu liegen. Und der Mann selbst sah nicht so aus, als duldete er irgendwelchen Widerspruch. »Nicht nötig, Miss Thomas. Captain Sanderson ist unser Experte in der Armee für alles, was mit Musik zu tun hat.«

Der Blick des Generals schweifte zurück zu dem Bericht, der genau in der Mitte seines blitzblank polierten Schreibtischs lag.

»Sie singen Jazz, Miss Thomas?«, fragte er.

Dumme Frage Nr. 2.

Klar sang sie Jazz.

Nur wollte kein Mensch es hören. Nicht mehr. Jazz war Musik für alte Leute. Jazz war so out, wie man es sich nur vorstellen kann. Aber vielleicht stand der General ja auf dieses alte Zeug, dachte Ella. Gruftig genug sah er aus, andererseits wirkte er einen Hauch zu verklemmt und zugeknöpft, um ein echter Jazzfan zu sein.

Neee …

Ella konnte sich ihn nicht mit einem Barret und einer Bebop-Brille vorstellen, während er mit dem Fuß wippte und die Musik genoss.

»Ja schon, ich singe Jazz. Jazz war meine erste Liebe. Mein Vater war ein wirklich cooler Trompeter und brachte mir alles bei, was man wissen muss, um Jazz zu spielen. Daher, ja, General, singe ich auch Jazz, aber meistens nur unter der Dusche. Die Leute interessieren sich nicht mehr dafür.«

Captain Sanderson mischte sich in das Gespräch ein. »Miss Thomas hat eine wunderbare Stimme, Sir, mit einem großen Umfang und einem interessanten Timbre. Und sie hat ein hervorragendes Timing. Ich bin sicher, dass Miss Thomas eine vorzügliche Jazzsängerin abgeben wird.«

Ella reckte stolz die Brust und strahlte den General an. Sie mochte Komplimente, und es gefiel ihr, wenn attraktive Kerle wie der Captain sagten, dass sie eine gute Stimme habe. Und wenn sie es recht betrachtete, war dieser Captain irgendwie süß, wenn auch ziemlich steif, verkrampft und formell. Bürstenhaarschnitte waren auch nicht unbedingt ihr Ding.

Der General nickte zustimmend und wandte sich schweigend wieder Ellas Akte zu. »Der Gesundheitscheck scheint zufriedenstellend zu sein«, sagte er leise, nicht an jemanden speziell gerichtet. Er sah auf und musterte sie mehrere Sekunden lang ohne ein Wort. »Und hübsch genug ist sie auch«, sagte er schließlich.

Möglich, dass es als Kompliment gemeint war, aber so, wie er es sagte, kam Ella sich wie eine Kuh auf dem Viehmarkt vor. So leichthin sprach man einfach nicht über andere. Das war unhöflich. Außerdem war sie nicht »hübsch«, sondern viel mehr als das; sie war großgewachsen, schlank und wunderschön. Du kannst mich mal, Halle Berry.

»Obendrein ist sie Afroamerikanerin«, bemerkte der General abwesend.

Was sollte denn das jetzt wieder? Hatten diese Kerle noch nie was von Rassendiskriminierung gehört?

»Miss Thomas erfreut sich bester Gesundheit, und wie Sie richtig bemerkt haben, Sir, gehört sie außerdem der richtigen Rasse an«, stimmte der Captain zu. Das Ganze klang so, als unterhielten sie sich über einen Gebrauchtwagen. »Die Härte der Demi-Monde dürfte ihr keine allzu großen Probleme bereiten.«

Demi-Monde?, wunderte sich Ella. Komischer Name für einen Jazzclub.

»Psychologische Beurteilung?«

»Ausgezeichnet«, bestätigte der Captain. »Ihr Profil stimmt fast völlig mit der psychologischen Vorlage überein, die von PsychOps entwickelt wurde. Sie ist psychisch stabil, sehr flexibel und auch sehr pragmatisch. Phlegmatisch wäre wohl die korrekte Bezeichnung. Phlegmatisch mit einem Quäntchen Aufsässigkeit.«

Phlegmatisch?

Das war ein Wort, das Ella nicht jeden Tag zu hören bekam. Es war ein 10-Dollar-Wort, und sie war auf eine schäbige Schule gegangen. Die Kerle, mit denen sie herumhing, verstanden unter Phlegma das Zeug, das man auf den Bürgersteig spuckte. Sie blätterte in ihrem Sag-es-treffender. Phlegmatisch, auch bekannt als cool.

O ja, sie war cool. So cool, als käme sie geradewegs aus dem Eisfach, Mann.

»Bezüglich Serotoninrezeptoren und P-11 weist Miss Thomas fast optimale Werte auf … sie dürfte eigentlich keine Mühe haben, mit den Stresswerten der Demi-Monde fertigzuwerden. Und in puncto Führungsfähigkeiten und Initiative hat sie sehr gute, ja Bestnoten erhalten.«

O ja, wenn die Armee jemanden suchte, der in der Lage war, aus einem Haufen alter Ölfässer, Treibholz und ein paar Metern Seil ein Floß zu bauen, um einen Fluss zu überqueren, dann war Ella die Richtige.

All das hatte sie in der letzten Woche für sie machen müssen.

Ella sah sich die beiden Männer an, die sich auf so unpersönliche Art und Weise über sie unterhielten, doch keiner von ihnen erwiderte ihren Blick. Als wäre sie gar nicht anwesend. Sie musste ihre gesamte Willenskraft aufbringen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Wieder holte sie tief Luft und rief sich ins Gedächtnis zurück, wie dringend sie diesen Job brauchte.

Morgen ist die Miete fällig.

»Den Intelligenztest hat sie ebenfalls mit Bravour bestanden«, fügte der Captain ermutigend hinzu. »Sehr gut. Weit im oberen Viertel.«

Der General hob den Blick von dem Bericht und musterte Ella mehrere Sekunden lang schweigend. Er sagte kein Wort. Es war, als widerstrebte es ihm zu sprechen. Schließlich stieß er einen langen, traurigen Seufzer aus und wandte sich dem Captain zu. »Miss Thomas ist also die Kandidatin, die Sie bevorzugen? Sie ist noch sehr jung, erst achtzehn.«

»Miss Thomas ist älter, als es den Anschein erweckt, Sir. Sie war die bei weitem beeindruckendste Kandidatin, und obendrein besitzt sie eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Dupe, den Professor Bole kreiert hat.«

Sie hatte den Job!

Aber das mit dem Dupe sagte ihr nichts.

Der Captain bemerkte ihre Verwirrung. »Mit Dupe bezeichnen wir das Cyberdoppel eines echten Menschen. Sein Duplikat.« Der General sah Ella über den Schreibtisch hinweg an. Er machte einen sehr ernsten Eindruck. Die Schatten unter seinen Augen schienen mit einem Mal tiefer und härter geworden zu sein.

Es folgte ein weiteres langes Schweigen. Schließlich fragte er zögernd: »Hätten Sie Lust, eine Million Dollar zu verdienen, Miss Thomas?«

2

Demi-Monde: 40. Tag im Winter des Jahres 1004

Der UnFunDaMentalismus ist ein System von politischen, rassischen, metaphysischen, sexuellen und gesellschaftlichen Ideen und Philosophien, um die Menschenrasse der Demi-Monde zu läutern und den Siegeszug des arischen Volkes sowie die Rehabilitierung des halbmythologischen UrVolkes zu ermöglichen. Als Staatsreligion des ForthRight hat der UnFunDaMentalismus die Aufgabe, mittels eines Prozesses von Erziehung und maßvoller Selektion die Verseuchung arischen Blutes durch die minderwertigen Rassen (UnterWesen) der Demi-Monde zu verhindern (als Arier werden im Allgemeinen die angelslawischen Rassen bezeichnet) und dadurch das arische Volk wieder zu der Vollkommenheit zurückzuführen, die es besaß, bevor seine Vorfahren– das UrVolk – bei ABBA in Ungnade fielen.

– Otto Weininger, Religionen der Demi-Monde.Veröffentlichungen der Universität zu Berlin

Kamerad Kommissar Dashwood legte größten Wert darauf, vor sieben Uhr morgens in seinem Ministerium zu erscheinen. Er wusste, dass er den Termin für die Fertigstellung der neuen Eisenbahnlinie nur dann einhalten konnte, wenn er mindestens vierzehn Stunden am Tag arbeitete. Und da Führer Heydrich erklärt hatte, die Eisenbahn sei für den Erfolg der bevorstehenden Invasion Covens durch das ForthRight von größter Bedeutung, hätte es vermutlich sein Todesurteil bedeutet, wenn er den Termin nicht einhielt. Reinhard Heydrich bestrafte jedes Versagen äußerst kompromisslos.

Doch noch während sein Fahrer den keuchenden Dampfwagen vor dem Gebäude des Transportministeriums zum Stehen gebracht hatte, wusste Dashwood, dass etwas im Busch war und es kein normaler Tag sein würde. Er hatte das untrügliche Gefühl, sich heute besonders in Acht nehmen zu müssen.

Möglich, dass die Milizionäre, die oben auf den Stufen vor dem großen, doppelflügeligen Portal des Ministeriums patrouillierten, zu dieser frühen Morgenstunde deutlich weniger schläfrig waren als sonst. Möglich, dass ihr Gruß dieses Mal ein kleines bisschen strammer und inbrünstiger ausfiel, als er es gewohnt war. Kleinigkeiten, aber bedeutsam genug, um ihnen Beachtung zu schenken, wenn man in diesem mörderischen Tollhaus am Leben bleiben wollte.

O bitte, bloß nicht schon wieder eine Säuberungsaktion! Es hat doch schon genug von uns erwischt.

Während Dashwood gebieterisch über den Marmorboden des Ministeriums marschierte, versuchte er, diese beunruhigenden Gedanken zu vertreiben, indem er an all jene dachte, die den Säuberungsaktionen bereits zum Opfer gefallen waren.

Waren es hunderttausend gewesen? Oder gar zweihunderttausend?

Nein … nach den Aufständen hatte die Partei fast eine Viertelmillion Personen – Individuen – verhaften und hinrichten lassen. Man hatte ihnen vorgeworfen, Royalisten, Konterrevolutionäre und Volksfeinde zu sein, und sie ins Warschauer Ghetto oder in die Todeslager verfrachtet, die sich im sumpfigen Hub befanden. Dashwood dachte mit Schaudern daran, dass ausgerechnet er aus schierer Feigheit die Transportpapiere unterschrieben hatte. In den Nächten – die Verhaftungen hatten stets nachts stattgefunden oder wenn die Rookeries in dichten Smog gehüllt gewesen waren – hatte er mitansehen müssen, wie viele seiner Freunde, Verwandten und Angehörige des Richterstands auf Nimmerwiedersehen in den schwarz lackierten Dampfwagen der Checkya verschwunden waren.

Und er war an ihrer Vernichtung beteiligt gewesen.

Das war der Preis, den die Partei von ihm verlangt hatte, damit seine Familie und er überlebten: Beteiligung an einem Massenmord. Würde man nun auch ihn beseitigen? Während er durch die Gänge des Ministeriums ging, zerbrach er sich den Kopf, welchen Fehler er womöglich begangen hatte, um Beria – den Kopf der gefürchteten Geheimpolizei Checkya – zu veranlassen, sein Todesurteil zu unterschreiben. Er war doch so vorsichtig gewesen.

Einen Augenblick blieb er stehen.

Trixiebell etwa …

O bitte, nicht Trixiebell. Nicht seine heißgeliebte kleine Trixie.

Einen Augenblick lang war er versucht, auf dem Absatz kehrtzumachen, nach Hause zu fahren, um Trixie abzuholen, auf den nächstbesten Lastkahn zu springen, der zum Hub unterwegs war, und ins Exil zu gehen … nur wohin? Die traurige Wahrheit war, dass es in der Demi-Monde keinerlei Zuflucht gab.

Die Checkya hatte einen langen Arm, und nach dem, was er gestern in der Versammlung des Politbüros mitbekommen hatte, würde die Armee des ForthRight im Sommer Coven erobert haben und mit großer Wahrscheinlichkeit gierig nach dem Quartier Chaud greifen. Vielleicht sollten Trixie und er versuchen, nach NoirVille zu gelangen? Doch irgendwie glaubte er nicht, dass Trixie für ein Leben hinter einem Schleier geschaffen war. Der HimPerialismus war ein strenges Regime und Frauen gegenüber äußerst feindselig eingestellt, vor allem selbstständig denkenden Frauen wie Trixie. Nein, es gab keinen Ort, wohin sie hätten flüchten können. Und außerdem hatte er zu tun, er musste sich um andere Dinge kümmern.

Vor der großen Eichenholztür seines Büros blieb Dashwood stehen und nahm sich die Zeit, um einige Aschestäubchen wegzuklopfen, die der Dampfwagen auf seinem makellosen Anzug hinterlassen hatte. Dann nahm er den Zylinder ab, drückte beherzt die Klinke herunter und trat ein. Als er den Mann entdeckte, der mit einer Zigarette im Mund an seinem Schreibtisch saß und systematisch seine Korrespondenz durchsuchte, sah Dashwood seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

»Ah, Kamerad Kommissar Dashwood … endlich. Welch ein königliches Vergnügen.«

Dashwood zuckte unter Berias prüfendem Blick nervös zusammen. Den eher platten Witz, den er gemacht hatte – eine Anspielung auf Dashwoods aristokratische Herkunft als Baron Dashwood –, durfte er keineswegs auf die leichte Schulter nehmen. Nach den Aufständen waren die meisten Adligen, die wie Dashwood eine Ahnentafel aufzuweisen hatten, Berias Säuberungsaktionen zum Opfer gefallen und eines schrecklichen Todes gestorben.

Verzweifelt versuchte er, sich zusammenreißen. Er hob automatisch den Arm zum Parteigruß. »Aus zwei macht einen«, rief er.

Beria hob lässig den Arm, um den Gruß zu erwidern, und tat dann so, als werfe er einen Blick auf seine Uhr. »Ihre Sekretärin hatte mir versichert, dass ich Sie um Punkt sieben Uhr in Ihrem Büro antreffen könne. Jetzt ist es bereits drei Minuten nach. Ich will doch sehr hoffen, Kamerad Dashwood, dass dies kein Beispiel für die Laschheit ist, mit der Sie Ihr Ministerium leiten.«

»Nein, Stellvertretender Führer, Kamerad Beria.«

Stellvertretender Führer. Hatte es jemals einen passenderen Titel gegeben?

Mit einem kalten Lächeln deutete Beria auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch. Während Dashwood Platz nahm, entdeckte er den Mann hinter sich. Er wandte sich um und erkannte die große finstere Gestalt eines Offiziers, der in einer Ecke des Zimmers wartete.

»Hauptmann Jan Dabrowski, Mitglied der Checkya«, erklärte Beria träge.

Der Hauptmann machte keine Anstalten, ihn zu grüßen. Er blieb reglos stehen und starrte eiskalt und unerbittlich auf Dashwoods Nacken. Dabrowski sah aus wie der Inbegriff eines Geheimpolizisten, und Dashwood hatte keinerlei Zweifel, dass dieser polnische Hundesohn – die Abzeichen an seiner Uniform identifizierten ihn als solchen – alles tun würde, was ihm sein Herr befahl, und dabei nicht einmal vor einem Mord zurückschrecken würde.

»Mir war nicht klar, dass Sie derart laxe Arbeitszeiten haben«, begann Kamerad Beria, während er die Gegenstände auf Dashwoods Schreibtisch zurechtrückte. »Erst um sieben Uhr anzutreten – selbst an einem Sonntag – ist äußerst fahrlässig. Wie Sie wissen, stehen wir vor einem von Gott befohlenen Kreuzzug, um die Demi-Monde von den UnterWesen, den nuJus und dem Abschaum der Shades zu säubern, die unsere Welt verseuchen. Um Erfolg zu haben, verlangt das Unternehmen Barbarossa jedem Parteimitglied Schweiß und Opfer ab. Die Partei fordert von uns allen Opfer, und wir in den oberen Rängen müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Ich selbst komme nie später als fünf Uhr morgens ins Büro. Ich schlage vor, dass Sie meinem Beispiel folgen.«

»Jawohl, Kamerad Stellvertretender Führer.«

Na los, spuck’s schon aus, du Dreckskerl.

»Schließlich sind Sie, Kamerad Kommissar, einer der wenigen Überlebenden des Gerichtshofs von Henry Tudor, diesem Erzimperialisten und Unterdrücker des Volkes. Alles, was weniger als vollkommene Hingabe an die Partei und an Kamerad Führer Heydrich wäre, könnte man als Neigung zur Rückfälligkeit interpretieren.«

»Kamerad Führer Heydrich sollte an meiner uneingeschränkten und unerschütterlichen Loyalität gegenüber dem ForthRight und der Partei nicht zweifeln.«

Beria zog langsam ein Taschentuch aus dem Ärmel, putzte damit seine winzigen Brillengläser und tupfte sich vorsichtig über die feuchten Lippen. »Ich bin sicher, dass der Führer entzückt sein wird, von Ihrem Treueschwur zu hören, vor allem, weil ich Ihnen die Möglichkeit eröffnen will, dem ForthRight und der Partei einen großen Dienst zu erweisen.«

Um Haaresbreite hätte Dashwood vor Erleichterung losgeheult. Er sollte also doch nicht beseitigt werden. Jedenfalls nicht sofort. »Ich bin bereit, jede Aufgabe zu übernehmen, die unserem Führer dient.«

»Der Führer war von Ihrem Auftritt während der gestrigen Versammlung des Politbüros beeindruckt. Der Große Führer hält große Stücke auf Sie. Ihre Kompetenz in puncto Logistik ist unerreicht.«

Und wahrscheinlich auch der Grund, weshalb ich nicht beseitigt worden bin, dachte Dashwood.

Noch nicht.

Beria lehnte sich zurück und starrte an die Decke, als suchte er nach einer höheren Eingebung. »Leider kann ich dasselbe von Ihrer Familie nicht behaupten. Ich habe Hauptmann Dabrowski vor zwei Tagen zu einer gesellschaftlichen Veranstaltung unter Federführung von Mrs. Albemarle geschickt, und zwar mit der ausdrücklichen Maßgabe, eine Beurteilung Ihrer Tochter abzugeben.«

Dashword erstarrte auf seinem Stuhl und spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Im ForthRight hatte der Ausdruck »Beurteilung« viele Bedeutungen, und keine davon war gut.

»Meine Tochter?«, fragte er so beiläufig wie nur irgend möglich.

Beria antwortete nicht sofort, stattdessen kramte er eine gelbbraune Akte hervor, öffnete sie und begann, langsam in den Seiten zu blättern, während er sie mit übertriebener Aufmerksamkeit studierte. »Dafür, dass sie noch so jung ist, hat Ihre Tochter eine bemerkenswert … besser gesagt, eine unverschämt dicke Akte angesammelt.« Er schüttelte mit gespielter Verwunderung den Kopf. »Aus alldem muss ich leider den Schluss ziehen, dass Ihre Tochter sämtliche Voraussetzungen erfüllt, um sich in Zukunft zu einer echten Unruhestifterin zu entwickeln. Sie verfügt über ein hohes Potenzial an beunruhigend herEtikalistischen Tendenzen. Man muss schon eine gehörige Portion konterrevolutionärer Begeisterung haben, um noch vor seinem sechzehnten Geburtstag dermaßen aufzufallen.«

»Der Tod ihrer Mutter hat Trixiebell aus der Bahn geworfen …«

»Das ist noch lange kein Grund, über ihren Lehrer für UnFunDaMentalistische Ideologie herzuziehen, weil er angeblich, ich zitiere, ›nur dummes Zeug von sich gibt‹. Junge, Junge … Von der Tochter eines hohen Parteifunktionärs erwartet man etwas anderes. Offensichtlich hat sie sich obendrein beim Direktor ihrer Schule beschwert, weil man eine nonNix von der Schule verwiesen hatte.«

Dashwood versuchte sein Bestes, um seine Tochter zu verteidigen. »Trixiebell wurde bestraft und musste im letzten Sommer zwei Wochen in einem politischen Umerziehungslager verbringen. Ich bin sicher, dass sie mittlerweile sowohl politisch als auch ideologisch auf Linie ist.«

»Nun, ich wünschte, ich könnte Ihre Zuversicht teilen, Kamerad Kommissar. Die jungen Leute von heute sind eine echte Plage. Leider kommt der Bericht unseres verehrten Hauptmanns zu dem Schluss, dass Ihre Tochter immer noch subversive Neigungen hegt.«

Verstohlen öffnete Dashwood sein Pistolenholster. Eins stand fest: Niemals würde er zulassen, dass Trixiebell diesen degenerierten Hundesöhnen in die Hände fiel. Eher brächte er Beria um.

Der nahm ein Foto von Trixiebell aus der Akte und studierte es aufmerksam. »Ihre Tochter ist eine Schönheit.« Er feuchtete seine Lippen an. »So schlank, so blond, so sportlich, aber leider auch so eigensinnig. Es wäre eine Tragödie, nicht wahr, ein derart vollkommenes Exemplar arischer Weiblichkeit an den schändlichen HerEtikalismus zu verlieren. Der Hauptmann hegt die Befürchtung, dass aus Ihrer Tochter eine Proto-RaTionalistin werden könnte … vielleicht sogar eine Suff-Ra-Gette.«

»Niemals.«

»Nun ja, vielleicht ist das übertrieben. Trotzdem muss ich Sie warnen, Kamerad Kommissar. Ihre Tochter befindet sich auf einem Weg, der geradewegs ins Verderben führt. Andererseits berichten ihre Lehrer, dass sie über eine bemerkenswerte Intelligenz verfügt und außerdem eine begnadete Rednerin ist.« Er zog kräftig an seiner Zigarette und blies eine dichte Rauchwolke an die Decke. »Ich habe eine Aufgabe, die die Dienste eines jungen Mädchens erfordert … eines intelligenten jungen Mädchens. Eine Aufgabe, die, sollte sie gewissenhaft ausgeführt werden, zur Folge hätte, dass der kompromittierende Inhalt dieses Berichts« – er schlug die Akte zu und warf sie verächtlich in den Papierkorb – »in der Versenkung verschwinden würde.«

»Was für eine Aufgabe?«, fragte Dashwood.

3

Die Reale Welt: 12. Juni 2018

Bei Demi-Monde® wurden alle Mängel behoben, die in vorangegangenen Generationen von Trainingsprogrammen für Virtuelle Asymmetrische Kriegsführung identifiziert worden waren, sodass der Realismusquotient, die InterSektoriellen/InterPersonellen DisHarmonie-Werte, die Emotionalen und Psychologischen Einflussmotive und der Schlacht-Performance-Index gesteigert werden konnten (sie alle übertreffen die im Tender-Dokument aufgeführten um ein Vielfaches). Kurzum, die Demi-Monde® bietet das bestmögliche Umfeld, in dem US-Streitkräfte – neoFights, kriegserprobte Einheiten, NCOs, Offiziere oder Einsatzkommandos – kostengünstig und performance-effektiv in punktgenauen, schwierigen AK-Situationen trainiert und bewertet sowie Taktiken, Techniken und Verfahren extremen Tests unterzogen werden können. Schätzungen zufolge kann die Demi-Monde dem US-Militär über 4,35 Milliarden Dollar pro Jahr an Kosten für Ausbildung, Krankenhausunterbringung, Sozialhilfe, Bestattungen etc. ersparen.

– Demi-Monde® Produktbeschreibung14. Juni 2013

»Wie bitte?«

»Ich fragte, ob Sie Lust hätten, eine Million Dollar zu verdienen, Miss Thomas?«

Ella holte tief Luft, während ihr angeborenes Misstrauen immer stärker wurde. Sie warf dem General einen skeptischen Blick zu und verscheuchte gleichzeitig die angenehme Vorstellung. Aber wie schön es doch wäre, wenn sie keine Geldsorgen mehr hätte! Wenn sie sich nicht mehr um das Geld für das College und die Miete kümmern und sich keine Sorgen mehr um Billy machen, sich nicht um all die Dinge kümmern müsste, mit denen eine Achtzehnjährige sich eigentlich nicht herumschlagen sollte.

»Ist das Ihr Ernst? Erzählen Sie mir bloß keinen Scheiß! Sie verarschen mich doch nicht, oder?«

Der General nickte heftig, was Ella leicht verwirrte. »Aber ja doch, Miss Thomas, das ist mein völliger Ernst. Gewiss. Mir war es noch nie so ernst! Also frage ich noch einmal, hätten Sie Lust, eine Million Dollar zu verdienen?«

Ella überlegte und versuchte, dabei ganz ruhig zu bleiben. Der Kerl schien es tatsächlich ernst zu meinen. Aber …

»Das ist eine unlogische Äußerung, um es mit den Worten meines Rechtskundelehrers zu sagen, Mr. General. Natürlich hätte ich Lust, eine Million Dollar zu verdienen. Die Frage ist nur: Was müsste ich tun für diese Million?« Sie lächelte. »Müsste ich jemanden umbringen?«

Der General runzelte die Stirn und schüttelte vehement den Kopf. »Nein, Miss Thomas, nein. Nein, Sie müssten niemanden umbringen. Ganz im Gegenteil, was die US-Regierung von Ihnen erwartet, ist, dass Sie jemanden retten. Sie sollen eine Rettungsaktion durchführen.«

Dieses Gespräch nahm allmählich sonderbare Züge an, fand Ella. Vor einer Woche war sie nach Fort Jackson – dem Kommandozentrum für Indoktrinierung und Ausbildung der US-Streitkräfte – gekommen, um ein Vorstellungsgespräch zu führen; zumindest hatte man ihr das gesagt. Sie sollte als Jazzsängerin eine Band zusammenstellen und eine Tour durch die diversen Militärstützpunkte der US-Armee auf der Welt machen. Und nun war sie hier und wurde befragt, ob sie etwas dagegen hätte, Ella TrueHeart zu spielen, und für ihre Mühe bot man ihr eine Million Dollar an. Das klang nicht gerade koscher. Trotzdem, eine Million Dollar war eine Million Dollar.

»Ich soll also nicht singen?«

»Doch doch, das ist von größter Bedeutung. Die Frau, die wir auf diese Mission schicken, muss singen können. Es ist die einzige Möglichkeit, den Feind zu infiltrieren. Sie muss sich als Jazzsängerin ausgeben können.«

Jetzt lief das Ganze richtig aus dem Ruder. Ella beschloss, dem General auf den Zahn zu fühlen. »Hören Sie, General, ich bin bloß ein achtzehnjähriges Schulmädchen, das abends als Sängerin auftritt. Ich muss genug Geld zusammenkratzen, damit ich aufs College kann. Ich bin eine ganz gewöhnliches Person. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass der Name Ella Thomas keineswegs so was wie eine geheime Identität ist. Ich sitze nicht als mein eigenes Alter ego in Ihrem Büro. Ich bin weder Wonder Woman noch Supergirl in Verkleidung. Und Menschen wie ich führen keine ›Rettungsaktionen‹ durch. Menschen wie ich arbeiten als Kellnerin oder Kassiererin.«

Der General warf Ella ein Lächeln zu, das sie als beruhigend interpretierte. Sie wünschte, er hätte es nicht getan: Er sah aus, als litte er an Verstopfung. »Ich kann verstehen, dass Sie verwirrt sind, Miss Thomas, und ich will mich bei Ihnen entschuldigen, dass ich Sie derart überfallen habe. Aber Sie sind wirklich die ideale Besetzung für diese Mission. Wir brauchen eine junge Frau wie Sie, um diese Rolle in einer Computersimulation besetzen zu können.«

»Was … in einem Computerspiel?«

»Ja, in einem überaus ausgeklügelten Computerspiel.«

»Na schön, General. Lassen Sie hören, ich bin ganz Ohr.« Das klang nicht schlecht. Eine Rolle in einem Computerspiel zu übernehmen könnte Spaß machen.

Und eine Million Dollar war eine Million Dollar.

Der General sagte nichts. Es schien, als wüsste er nicht, wie er dieses Gespräch fortsetzen sollte. Er starrte einfach aus dem Fenster und klopfte gedankenverloren mit seinem Bleistift auf den Schreibtisch.

Tap, tap, tap.

Schließlich lächelte er Ella schuldbewusst zu und fuhr dann fort. »Bevor ich beginne, Miss Thomas, sehe ich es als meine Pflicht an, Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass diese Mission nicht völlig ungefährlich ist.«

Scheiße … das war’s also mit dem College.

Wie lautete noch das alte Sprichwort? Alles, was zu schön erscheint, um wahr zu sein, ist genau das.

Ella schluckte, um ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte, was der General ihr da erzählte. Das Vorstellungsgespräch kam ihr geradezu surrealistisch vor. Sie war bloß eine Sängerin, die versuchte, genug Geld zusammenzukriegen, um an die Uni zu gehen und ihren kleinen Bruder durchzubringen. Sie war alles andere als eine Heldin. Hielt sich aus allen Gefahren heraus. Andererseits wollten sie nur, dass sie ein blödes Computerspiel spielte. Also stellte sie die einzig logische Frage. »Wie gefährlich ist das Ganze wirklich?«

»Sehr gefährlich.«

Was für ein Computerspiel war das denn?

»Na los, lassen Sie die Katze aus dem Sack, General. Wie gut stehen die Chancen, dass ich diese Million anschließend auch ausgeben kann?«

Der General lehnte sich zurück und massierte sich das Nasenbein. Er stand unter einem schrecklichen Druck. »Okay … die Chancen, dass Sie diese Mission überleben, stehen fünfzig zu fünfzig. Aber die Million würde ausbezahlt werden, egal wie es ausgeht«, fügte er hastig hinzu. »Im Falle, dass Sie versagen …«

Versage oder umgenietet werde, wie es in weniger höflichen Kreisen heißt?

»… würde das Geld an Ihre nächsten Verwandten ausbezahlt werden.«

Geil, für mich gibt’s eine einfache Fahrkarte ins Jenseits und für Billy die Möglichkeit rauszukriegen, wie schnell man Koks im Wert von einer Million Dollar verpulvern kann.

Ella schob den Gedanken an den Tod beiseite. Darüber würde sie sich später den Kopf zerbrechen. In ungefähr siebzig Jahren.

»Warum ausgerechnet ich? Sie haben die ganze US-Armee zur Verfügung, um jemanden zu finden. Es muss doch jemand aufzutreiben sein, der eine anständige Sammlung von Tröten besitzt. Oder Jazz singen kann. Irgendwo da draußen gibt es bestimmt jemanden, der sich viel besser dafür eignet als ich.«

Der General rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Oh, sicher, in der Armee wimmelt es nur so von Jazzsängern, aber leider erfüllt keiner von ihnen die notwendigen Anforderungen, um diese Mission zu einem Erfolg zu machen, Miss Thomas. Genau aus diesem Grund haben wir dieses etwas lang geratene Vorstellungsgespräch geführt. Sie sind eine bemerkenswerte junge Frau, die all diese Eigenschaften in sich vereint: Gesangstalent, Intelligenz, Schönheit, körperliche und geistige Belastbarkeit und zusätzlich einen bestimmten rassischen Aspekt.«

Ach, kommen Sie, General, nennen wir die Dinge ruhig beim Namen. Ich habe keinen rassischen Aspekt. Ich habe eine schwarze Hautfarbe.

»Diese Kombination von Talenten bedeutet, dass Sie der einzige Mensch sind, der diese Mission erfolgreich durchführen kann. Sie sind einmalig.«

Tap, tap, tap.

Plötzlich wurde dem General bewusst, dass er mit dem Bleistift spielte, und er legte ihn mit Bestimmtheit auf den Tisch. »Daher muss ich von Ihnen wissen, ob Sie Interesse an meinem Angebot hätten, bevor ich fortfahre.«

In Wahrheit hatte sie gar keine Wahl. Das Leben, das sie vor sich ablaufen sah, ließ sich als unaufhaltsamer Absturz beschreiben. Pleite, pleiter, am pleitesten. Sie war bloß asoziales Gesindel mit einem Bruder, der an der Nadel hing, und ihre Aussichten waren gleich null, Tendenz fallend. Menschen wie sie schlugen die Möglichkeit, eine Million Dollar einzusacken, keinesfalls aus.

»Oh, ich habe durchaus Interesse, General. Und dieses Interesse ist eine Million Dollar wert. Aber bevor ich meinen Namen unter dieses Stück Papier setze, brauche ich noch jede Menge zusätzlicher Informationen.«

»Na schön, Miss Thomas. Das, was ich Ihnen mitteilen werde, unterliegt strengster Geheimhaltung. Wenn Sie auch nur ein Wort an eine nicht autorisierte Person weitergeben, machen Sie sich strafbar … Es wäre ein schwerwiegendes Verbrechen, für das Sie für sehr lange ins Gefängnis müssten. Haben wir uns verstanden?«

Nun war es an Ella zu nicken, und als sie das tat, hatte sie das Gefühl, als wäre die Falle des Generals zugeschnappt. Irgendwie ahnte sie, dass es nun noch viel dicker kommen würde.

»Wissen Sie, was asymmetrische Kriegsführung ist, Miss Thomas?«

Dumme Frage Nr. 3.

»Ja schon, ich hatte mal eine, aber dann kriegte sie einen Platten.«

Der General hatte offenbar für Humor nicht viel übrig und ging über Ellas schlagfertige Antwort einfach hinweg. »Nun, asymmetrische Kriegsführung ist die Bezeichnung der US-Armee für all die kleinen schmutzigen Konflikte, in die sich unser Land in gottverlassenen Gegenden wie Afghanistan, Irak und Pakistan verwickelt sieht. Es sind Kriege ohne Regeln und auch ohne Ehre und, um kein Blatt vor den Mund zu nehmen, Kriege, in denen die US-Armee nicht besonders bewandert ist. Tja, und als die US-Militärs damit begannen, ihre Einsätze im Umfeld asymmetrischer Kriegsführung zu untersuchen, stellten sie fest, dass ihre Soldaten, insbesondere die Offiziere, vor allem deshalb versagten, weil sie weder eine Vorstellung davon hatten, welche Art von Krieg sie führen sollten, noch, worum es dabei eigentlich ging. Um sie besser vorzubereiten, kam das Kommando für Indoktrination und Ausbildung auf die Idee, eine Computersimulation zu entwickeln, die unseren Streitkräften die Möglichkeit eröffnete, im Vorhinein zu lernen, was sie an auswegslosen Orten wie Peschawar erwartete.«

»Demi-Monde?«, fragte Ella.

»Sie haben es erraten, Miss Thomas. Demi-Monde ist die ausgeklügeltste, komplexeste und furchterregendste Computersimulation, die jemals entwickelt wurde. Wir benutzen sie, um die instinktive Angst und Beklemmung einer AKS nachzustellen …«

»AKS?«

»Einer Asymmetrischen Kriegssituation. Um in der Demi-Monde zu spielen, muss man fest darin programmiert sein, und dieser Hardwiring-Prozess sorgt für die Umleitung sämtlicher Sinneswahrnehmungen. Sie glauben dann, dass Sie tatsächlich in der Demi-Monde sind. Alle Bewohner der Demi-Monde nehmen diese als die einzig existierende Realität wahr: neoFights – das sind militärisch Auszubildende – sind komplett in die Simulation integriert.«

»Klingt gruselig.«

»Das ist es auch, und mit voller Absicht. Übrigens auch entscheidend wichtig, wenn das Ausbildungsparadigma so real wie möglich sein soll. Asymmetrische Kriegsszenarien sind nun einmal furchterregend, also muss das auch für ihre Simulation gelten. Bei konventionellen Computersimulationen wissen die Spieler genau, dass es bloß ein Spiel ist. Sie wissen, dass man nur auf die Pausentaste zu drücken braucht, wenn es einmal brenzlig werden sollte. Diese Wahl haben Spieler in der Demi-Monde nicht.«

Der General nippte an seiner Kaffeetasse, während er seine Gedanken sammelte. »Das ist aber bei weitem nicht das einzig Bemerkenswerte an Demi-Monde. Das US-Militär hatte schon zuvor Computersimulationen für Ausbildungszwecke entwickelt. Das Problem bei der Erstellung von asymmetrischen Kriegssituationen ist, dass sie völlig unberechenbar sind. Sie vollziehen sich derart chaotisch und nicht-linear, dass es fast unmöglich ist, sie zu programmieren. Umgekehrt bedeutet die Tatsache, dass man AKS programmiert, dass wir den Simulationen Gesetze aufzwingen und somit die Cyber-Repräsentationen von AKS vorhersehbar gestalten. Wir stehen also vor einem Dilemma: Einerseits brauchen wir ein Computerprogramm, um die Anarchie der asymmetrischen Kriegsführung nachzubilden, gleichzeitig wird durch den Akt der Programmierung das Ganze unanarchisch.«

Unanarchisch? Gibt es das Wort?

»Die Lösung bestand darin, das Programm der Demi-Monde nach der heuristischen Methode zu entwickeln, Miss Thomas.«

»Heuristisch?«, fragte Ella vorsichtig.

War das hier etwa so was wie Big Words 101?

»Das heißt ›selbstlernend‹. Wir haben das Betriebssystem entwickelt, auf dem Demi-Monde laufen kann, wir haben das Cyber-Milieu und die Formatierungsmodalitäten der Simulation entworfen, aber danach hat der Computer auf eigene Faust weitergemacht. Er hat Funktion und Verhalten der Dupes, die in der Simulation leben, verändert – optimiert –, um deren Performance beliebiger und damit auch realistischer zu gestalten. Vom Standpunkt der Simulation aus gesehen heißt das, dass ihre Performance und Entwicklung von dem Augenblick, da Demi-Monde hochgefahren wurde, nicht mehr in unserer Hand lag. Wir hatten keinerlei Einfluss mehr. Die Demi-Monde ist ein unberechenbares Ambiente und daher bestens geeignet, eine AKS nachzuahmen.«

»Hören Sie, ich bin zwar kein Computerfreak, General, aber das Ganze kommt mir doch ziemlich spanisch vor. Braucht man dazu nicht einen ziemlich großen Computer?«

»Demi-Monde ist das erste Programm, das auf einem Quantum-Computer der ParaDigm CyberResearch ABBA-Klasse läuft.«

»ABBA?«

»ABBA ist ein Computer, der von den Briten entwickelt wurde. Er ist das leistungsstärkste Gerät seiner Art. Mit fast unbegrenzter Rechenleistung … jedenfalls stark genug, um bei jedem der dreißig Millionen Dupes, die die Demi-Monde bevölkern, echte Empfindungen und Gefühle zu simulieren.«

»Dreißig Millionen? Das sind aber verdammt viele Dupes.« Ella kannte sich zwar mit Computerspielen nicht besonders aus, aber sie wusste, dass nicht einmal in den leistungsstärksten und besten Spielen mehr als eine Handvoll Cybercharaktere gleichzeitig auftraten.

Der General steckte sich einen Kaugummi in den Mund. »ABBA können Sie sich ruhig so vorstellen: als einen Computer, der in der Lage ist, auf einen Schlag dreißig Millionen Dupes laufen zu lassen«, sagte er und kaute selbstgefällig. »Aber das ist nur ein kleiner Teil der Magie, die in der Demi-Monde steckt. Alle Dupes, die in der Demi-Monde aktiviert wurden, sind lebenden Personen nachempfunden. Wir nennen sie JetztLebende. ABBA hat sich überall auf der Welt einfach in die DNS– und andere Datenbanken eingeloggt und anschließend diese Duplikate aus dem Gemisch von Daten erstellt, die er zuvor gesammelt hatte.«

»Diese Dupes, Ihre JetztLebenden, sind also echte Menschen?«

»Sie sind echten Menschen nachempfunden, Miss Thomas. Aber wir sind noch weiter gegangen. Wir wollten, dass die Anführer der Feinde, auf die unsere neoFights stoßen würden, so wahrheitsgetreu wie möglich sind. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass es sich bei den Warlords, die in asymmetrischen Auseinandersetzungen die feindlichen Truppen anführen, häufig um Psychopathen handelt … also Irre … Fanatiker. Die Art von charismatischen Spinnern, die wir Militärs als Singularitäten bezeichnen. Um das Cybermilieu von Demi-Monde ultrarealistisch zu gestalten, brauchten wir Feinde, die all die hinterhältigen und grausamen Eigenschaften dieser Singularitäten in sich vereinen. Wir ließen daher ABBA